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Kapitel 1 / Clara

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»… Es sind die Begegnungen mit Menschen,

die das Leben lebenswert machen …«

(Guy de Maupassant)

Aufgeregt verlasse ich mein Haus und laufe die Straßen entlang zu dem zehn Minuten entfernten Tattoo-Studio, in dem ich gleich einen Termin habe. Heute ist der Tag, auf den ich schon seit Wochen hingefiebert habe. Mein erstes Tattoo. Da ich nicht weiß, was auf mich zukommt, bin ich umso nervöser. Den Termin habe ich telefonisch vereinbart. Im Internet habe ich mich vorher natürlich genauestens über das Studio informiert und laut der Bewertungen und der Fotos auf der Homepage ist es eines der besten hier in München. Schon allein die Stimme des Typen am anderen Ende der Leitung gab meiner Fantasie genug Raum, sich auszuleben.

Ist es nicht oft so, dass man sich eine Person nach der Stimme baut? Bekommt diese Stimme schließlich ein Gesicht, ist man oftmals enttäuscht, da sich die eigene Fantasie einen griechischen Gott ausgemalt hatte und die Realität nicht ganz dieser Vorstellung entspricht. Die Stimme, die einem im Kopf rumspukt, kann nur zu einem verbotenen Traum gehören – zumindest denkt man das und erwartet es daher auch irgendwie. Doch dann steht besagter Gott vor einem und – zack! – man wird wachgerüttelt.

Also bin ich auf alles gefasst, sogar auf einen kleinen Gnom mit Halbglatze und Bierbauch. Oder einen blassen rothaarigen Typen mit Sommersprossen – natürlich inklusive strengem Körpergeruch und ekelerregenden Zähnen.

Nur noch eine Querstraße und ich habe es geschafft, denke ich aufgeregt.

Nachdem ich diese hinter mir gelassen habe, blicke ich auf mein Ziel. Das Tattoo-Studio liegt genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es ist alles andere als unscheinbar und sieht aus, wie es auf der Homepage bereits abgebildet war – neu, sauber und durch die Werbetafel an der Hausfassade sehr cool und auffällig. Diese sticht an der weißen Wand total hervor. Eine Hand mit Tätowiernadel schreibt ›Jack’s Art‹ auf einen grasgrünen Untergrund. Damit wirkt es hell, fast strahlend und somit gar nicht wie die meisten Studios, deren Logos überwiegend düster und mit schwarz-weißen Totenköpfen versehen sind.

Auf dem breiten Gehweg steht vor der Fensterfront eine Holzbank, auf der ein kleines Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren sitzt. Sie redet mit einem Hund, der es sich neben ihr gemütlich gemacht hat. Ich nehme an, dass der Hund, welchen ich als weißen Labrador identifizieren kann, ihr gehört. Die Nachbarn meiner Eltern hatten früher einen, daher erkenne ich diese Rasse auf Anhieb. Die beiden wirken sehr vertraut miteinander.

Dieser Anblick, diese Verbundenheit, die man anhand ihrer Körpersprache beobachten kann, zieht mich für einen kurzen Moment in ihren Bann. Die kleine Hundeliebhaberin, die ihre Beine kräftig hin und her baumeln lässt, scheint zu spüren, dass ich sie beobachte, denn sie dreht sich in meine Richtung und lacht mich sofort an.

»Hallo, wie heißt denn du?«, fragt sie mich freundlich.

Überrascht von ihrer Offenheit blinzle ich hektisch und antworte lächelnd: »Hallo, ich bin Clara. Und wer bist du?« Die kleine Frohnatur bekommt ein breiteres Lächeln und offenbart mir dabei eine entzückende Zahnlücke. Mein Erscheinen scheint sie irgendwie sehr glücklich zu machen.

»Ich bin die Lillie«, freut sie sich.

»Wow, Lillie ist ein wahnsinnig schöner Name.« Meine Schwärmerei für ihren Vornamen macht sie so fröhlich, dass sie kraftvoll ihren Hund umarmt und herzt. Ihr süßes Gesicht drückt sich in das Fell des Hundes, der sich überhaupt nicht daran stört, dass sie ihn so fest umklammert. Ich habe zwar nicht so viel Ahnung von Haustieren, da ich als Kind nur ab und an mit des Nachbars Floyd gespielt hatte, trotzdem weiß ich, dass auch Tiere Gefühle haben. Deshalb überrascht es mich ein wenig, dass Lillies Verhalten so rein gar keine Reaktion in ihm hervorruft. Doch dann wird mir bewusst, dass sehr viel Vertrauen zwischen den beiden bestehen muss, sonst wäre solch ein Verhalten gar nicht möglich.

Lillie reckt ihr Kinn in die Höhe, sodass sie mich ansehen kann, und sagt: »Das ist Anton, mein Hund.«

Voller Stolz betont sie die letzten beiden Worte, was ich sehr niedlich finde.

Aufgeregt, auf mich schon fast hektisch wirkend, fragt sie mich schließlich: »Was machst du jetzt?«

Die neugierige kleine Dame, die schon mindestens zweimal Bekanntschaft mit der Zahnfee gemacht hat, wartet gespannt auf meine Antwort. Ihr Interesse reißt mich aus unserem Gespräch und lässt mich erschrocken auf meine Armbanduhr blicken.

»O Mist, Lillie, es tut mir leid, doch ich muss los. Ich habe total die Zeit vergessen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.« Mit diesen Worten winke ich ihr und Anton zu, gehe vier Schritte weiter und betrete das Tattoo-Studio. Im Inneren schaue ich durch die Fensterfront nach draußen, zurück zu ihr. Lillie dreht sich auf der Bank noch einmal um, lächelt mir durch das Glas zu und winkt zurück. Anschließend widmet sie sich wieder Anton und legt ihren Arm um diesen.

Die beiden sind echt goldig zusammen, denke ich und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Der Gong, der lautstark ertönte, als ich das Studio betreten habe, hat mich augenscheinlich angekündigt. Aus den hinteren Zimmern kommt ein Mann nach vorne an den Tresen, der den Wartebereich von den Tätowierräumen abtrennt. Jedenfalls nehme ich das an. Auf meinem Handy habe ich noch schnell den Ton ausgestellt, da ich es immer als sehr unhöflich empfinde, wenn es plötzlich laut klingelt, während man einen Termin wahrnimmt. Gerade als ich es in meine kleine braune Umhängetasche stecken möchte, schaue ich auf und blicke einem Mann entgegen, der so gar nichts mit einem bierbäuchigen Gnom gemein hat. Er besitzt auch keine Sommersprossen – sofern ich das erkennen kann –, sondern einen tollen, ebenmäßigen Teint. Er mustert mich mit einem intensiven Blick, was mich tief einatmen lässt, sodass ich das Gefühl habe, mein Brustkorb würde sich in Slow Motion bewegen. Seine dunklen Augen wirken auf mich fast schwarz. Alles an seinem Gesicht ist scharfkantig, streng und einfach zu intensiv für mich. Plötzlich vernehme ich ein Geräusch, als würde irgendwo Plastik hart aufschlagen, was mich allerdings zunächst nicht wirklich ablenkt, bis sich sein Blick auf den Fliesenboden heftet. Ich folge diesem und schaue zu meinen Füßen. Der Bann, der sich in den letzten Sekunden zwischen uns aufgebaut hat, ist wie weggeblasen, als ich erblicke, was da so laut gescheppert hat.

»Mist!«, entfährt es mir und in Sekundenschnelle gehe ich in die Hocke.

Gott, bin ich vielleicht bescheuert. Da steht einmal ein hammermäßiges Geschöpf von einem Mann vor mir und ich Kuh lass mein Handy auf dem harten Boden zerschellen, rattert es in meinen Gedanken. Schnell sammle ich die Einzelteile auf. Während mir die Situation und sein nun belustigt wirkender Blick erst jetzt richtig bewusst werden, kann ich nicht verhindern, dass mein Kopf eine rötliche Färbung annimmt.

Beladen mit vielen kleinen Einzelteilen, die eigentlich ein Ganzes ergeben sollten, schaue ich verunsichert zu ihm auf und verfluche mich in meinem Inneren für meinen Fauxpas.

»Clara?«, fragt er mich schmunzelnd, während er eine Augenbraue in die Höhe zieht.

Atme, Clara, atme!

Ich nicke verlegen und antworte einsilbig: »Ja.«

Sein Lächeln wird breiter, als er entgegnet: »Freut mich, ich bin Jack.« Er reicht mir seine Hand. Von dieser Begrüßung in einem Tattoo–Studio bin ich keineswegs ausgegangen und jongliere mit den Überbleibseln meines Smartphones in meinen Fingern, sodass ich nur mit Mühe eine Hand frei bekomme, um sie Jack zu reichen. Sein Händedruck ist angenehm, ich hätte ihn mir stärker vorgestellt. Jack ist groß, recht muskulös – was ich persönlich sehr ansprechend finde – und aufgrund seines harten, intensiven Blickes wirkt es fast zärtlich, wie er meine kleine Hand sanft in seiner großen hält. Nicht, dass ich mich beschweren würde, es ist sehr angenehm. Ich genieße seine Berührung, die einen Moment länger als nötig anhält. Wie sagt man so schön, Gegensätze ziehen sich an.

Und Gegensätze sind wir – der große, starke Jack und die kleine, zierliche Clara.

Jack zieht mich in seine Richtung und legt mir seine freie Hand auf den Rücken. Damit lotst er mich in einen der hinteren Räume, den er bereits für meinen Termin vorbereitet haben muss, denn es liegt alles bereit.

Als Erstes puzzle ich fix mein Handy wieder zusammen. Auch mein Motiv, das ich ihm per Mail geschickt hatte, liegt schon ausgedruckt auf seinem Tisch. Er greift danach und betrachtet es kurz, aber intensiv.

Jack bittet mich, auf einer Liege Platz zu nehmen. Seine raue Stimme und sein auffordernder und zugleich forschender Blick lösen regelrechte Herzrhythmusstörungen in mir aus. Etwas angespannt und nervös komme ich seiner Bitte nach, während er mich eingehend dabei beobachtet. Sein Blick ist so durchdringend, dass ich tief einatmen muss, während ich auf weitere Anweisungen von ihm warte. So richtig weiß ich nicht, was er jetzt von mir erwartet. Fragend blicke ich ihn an, und mit einem Schmunzeln im Gesicht fragt er schließlich: »Clara, wärst du so nett und sagst mir, wo du das Tattoo hinhaben möchtest?«

Völlig unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, deute ich auf meine rechte Rumpfseite. »Dann zieh doch bitte dein T-Shirt aus, Clara.« Seine Aufforderung lässt eine Gänsehaut über meinen Körper krabbeln. Schon allein, wie er meinen Namen ausspricht und dabei klingt, als hätte er ein Reibeisen verschluckt, ist der absolute Wahnsinn. Schnell überlege ich im Kopf, welchen BH ich heute trage, doch ändern könnte ich es sowieso nicht mehr, sollte es der falsche sein. Dafür ist es jetzt eindeutig zu spät.

Ich räuspere mich kurz und sage: »Klar.« Ich versuche locker rüberzukommen, doch ich weiß, dass mir das nicht so wirklich gelingt. Es klingt alles andere als locker, eher gezwungen und verunsichert. Als verklemmt würde ich mich normalerweise allerdings auf keinen Fall bezeichnen. Doch da sitzt mir ein Mann gegenüber, bei dem ich völlig meinen Kopf vergesse und der mich unendlich nervös macht. Da mir das bisher noch nie passiert ist, bin ich ziemlich verzweifelt und weiß beim besten Willen nicht, wie ich diese Sitzung hier überstehen soll. Immerhin wird er mir gleich ziemlich nahe sein und mir dabei den ein oder anderen Schmerz zufügen.

Das gewisse Etwas hat er ja – die dunklen Augen sind zusammen mit diesem Teint eine hammermäßige Kombination. Dann noch sein fast schwarzes Haar. Man könnte durchaus sagen, dass er einen südländischen Touch hat. Er ist auch nicht so zugepierct, wie ich es zunächst bei einem Tätowierer erwartet hatte. Der einzige Schmuck, den ich bei ihm ausmachen kann, sind die dominanten Tunnel-Ohrringe, die er trägt. Sein Gesamtbild und seine ganze Person, wie er sich mir gegenüber gibt, sprechen mich sehr an, machen mich nervös. Vor allem, da mir mein größtes Problem noch bevorsteht – das Tattoo selbst. Ausgerechnet er wird es mir stechen.

Heute trage ich ein, wie ich finde, zuckersüßes korallenfarbiges Shirt, welches mit Spitze besetzt ist und perfekt zu meinen Hotpants aus Jeans passt. Leicht zögerlich ziehe ich es mir über den Kopf und lege es neben mich. Erleichtert atme ich auf, als ich mich selbst dabei betrachte, wie ich mich so vor ihm auf der schwarzen Lederliege präsentiere: Meine Ballerinas sind farblich passend zu meinem Oberteil, ansonsten trage ich nur meine ultrakurzen Hotpants sowie einen braunen BH.

Jack beobachtet jede meiner Bewegungen aufmerksam, kurz verweilt sein Blick auf Höhe meiner Brüste, und ich bin froh, mein B-Körbchen gut auszufüllen.

Mich würde ja brennend interessieren, auf welchen Typ Frau er steht. Er ist bestimmt vergeben – so ein Typ wie er. Wie seine Freundin oder gar Frau wohl aussieht? Ob er eher schlanke oder wohl geformte Linien bevorzugt? Ich kann meine Gedanken einfach nicht unterdrücken, dafür sieht er zu gut aus.

»Auf die rechte Seite wolltest du es haben, richtig?«, fragt er schließlich, schaut mir dabei wieder ins Gesicht und entreißt mich meiner Neugier. Seine Stimme klingt leicht kratzig, sodass er sich kurz räuspern muss. Er schüttelt leicht seinen Kopf, hat sich einen Augenblick später aber wieder unter Kontrolle und gibt sich nun professioneller. Meinem Selbstwertgefühl hat diese kleine, aber feine Reaktion einen Kick gegeben. Ich drehe mich auf meine linke Seite und präsentiere ihm die entscheidende Stelle. Mit einem langen und tiefen Atemzug ziehe ich den gerade so bitter nötigen Sauerstoff in meine Lunge, als Jack mit seinen Fingerspitzen über meine Haut fährt und mir sogleich wieder den Atem raubt. In mir macht sich Begeisterung breit, als ich in seinen Augen ein loderndes Feuer erkennen kann.

Ihn lässt diese Situation also auch nicht kalt, denke ich zufrieden. Oder irre ich mich?

»Das wird fantastisch aussehen, wenn es fertig ist«, sagt er und sieht mich dabei erneut forschend an. »Obwohl es schon fast schade um deine makellose Haut ist«, ergänzt er und lässt noch einmal seinen Blick über die Stelle an meinem Körper, welche ich für das Tattoo vorgesehen habe, wandern.

»Bist du dir auch wirklich sicher, Clara?«, fragt er, nur um sicherzugehen.

Ich antworte ihm mit einer Gegenfrage: »Wird es wehtun?«

Entgeistert schaut Jack mich an, sein Blick fixiert direkt meine Augen. Einen Moment später bricht er in schallendes Lachen aus und seine Lider ziehen sich dabei zusammen.

»Du bist der Hammer, Clara. Das fragst du mich jetzt, wo du schon halb nackt vor mir liegst?«

Mir wird bewusst, wie bescheuert meine Frage ist. Schmerzempfinden ist bei jedem anders und das hätte ich mich wirklich eher fragen können. Nach einem kurzen Moment der Fassungslosigkeit hat Jack sich wieder beruhigt, neigt seinen Kopf leicht zur Seite und schaut mich abermals schmunzelnd an.

»Ein bisschen vielleicht, aber du packst das sicher. Bisher haben es noch alle geschafft, die ich gestochen habe. Außerdem wird es wunderschön an dir aussehen«, versucht er mich zu beruhigen, und seine Worte berühren etwas tief in mir, sodass ich kräftig schlucken muss. Vertrauensvoll sehe ich zu ihm auf. Er hält meinem Blick stand und fragt mich kurz darauf: »Hat es eine Bedeutung für dich? Das Motiv, meine ich?«

Auf meinem Gesicht zeichnet sich ein immer größer werdendes Lächeln ab.

»Ja, die hat es!«, entgegne ich glücklich, aber bestimmt und unterstreiche meine Aussage mit einem Nicken.

Jack nickt ebenfalls und sagt: »Das freut mich zu hören.«

Nachdem meine Haut desinfiziert und mein Motiv auf der gewünschten Stelle positioniert ist, legt Jack auch schon los.

Der Schriftzug ›Storys can move your heart‹ wird von einer Feder gezeichnet. Dem Ende der Feder entspringen kleine Vögel, die davonfliegen. Das Tattoo soll vom unteren Brustansatz bis zu meinem Hüftknochen reichen. Jack arbeitet sauber und es ist unheimlich schön, ihn bei seiner Arbeit zu beobachten. Seine Kiefermuskeln arbeiten, sobald die Tätowiernadel meine Haut berührt. Er konzentriert sich darauf, haargenau den vorgemalten Linien zu folgen. Seine definierten Oberarme spannen sich an, wenn er die Nadel führt, und zeichnen sich unter seinem T-Shirt ab. Dieser Anblick ist wirklich alles andere als unangenehm und lenkt mich von dem leichten Stechen auf meiner Haut ab. Auch wenn seine Hände meine Haut nicht mehr so zart berühren wie bei unserer Begrüßung, genieße ich es trotzdem.

Immer wieder starre ich auf seine Oberarme und stelle mir gedanklich die Frage: Wieso ist seine Haut nicht mit einem einzigen Tattoo versehen?

Ihn danach zu fragen, kommt mir allerdings nicht in den Sinn, denn das wäre irgendwie zu persönlich. Mir hat sich in der Zeit, in der ich mich mit dem Anblick seines Körpers ablenken wollte, eine andere Frage wie von selbst beantwortet: Der Schmerz. Am Anfang ging es noch, doch je öfter Jack den Schriftzug nachfährt, desto mehr fühlt es sich an, als schabe er auf meinem blanken Fleisch. Immer und immer wieder fährt er mit der Nadel über die geschundene Haut, und so langsam kann ich ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht mehr unterdrücken.

Ja, du dumme Kuh, das hast du nun davon. Wer schön sein will, muss eben leiden. Da musst du nun durch, schelte ich mich gedanklich.

Das Aufleuchten meines Handydisplays, empfinde ich als eine willkommene Ablenkung. Jack lässt in diesem Moment von mir ab. »Geh ruhig dran, ich möchte kurz etwas trinken.«

Dankbar und vorsichtig nehme ich das Handy in meine Hand, immer darauf bedacht, die geschundene Haut nicht zu berühren, und führe es in Richtung Ohr. Daher erkenne ich auf dem Display Leos Namen. Leo – was eine Abkürzung für Leonard ist – ist mein Seelenverwandter. Beim Annehmen des Anrufes muss ich schon schmunzeln. Ich begrüße ihn wie immer: »Na, Sugardaddy, was gibt’s?« Bei meinen Worten kann ich Jacks neugierigen Blick eindeutig auf mir spüren, doch ich möchte ihm nicht das Gefühl geben, dass ich nur darauf warten würde, dass er mich anschaut, also ignoriere ich ihn. Ich höre Leo, meinem besten und homosexuellen Freund, gebannt zu, als dieser zu erzählen beginnt.

»Pass auf, Zuckerschnute, wir gehen heute Abend aus. Zieh dir ein kurzes, knappes Kleid an. Ich habe eine Mission.«

An Leos selbstgefälligem Ton merke ich, dass er auf Rachefeldzug ist. Schmollend gebe ich zurück: »Warum muss ich mir immer knappe Fummel anziehen, wenn einem deiner Zauberstäbe der Sprit ausgegangen ist und er den Weg nicht wieder nach Hause findet?«

Jack kann ruhig wissen, dass der Mann am anderen Ende der Leitung schwul ist, nicht, dass er denkt, ich sei vergeben oder so. Nicht, dass ihn das interessieren würde oder dass es ihn etwas anginge. Nein. Nur so zur Sicherheit, rede ich mir im Stillen ein.

»Zick nicht rum, mach es einfach, okay?«, bittet mich mein bester Freund aufbrausend. Bei Leos Lautstärke bin ich mir sicher, dass Jack jedes einzelne Wort verstehen kann.

»Ich zick überhaupt nicht rum, doch ihr spielt Doktorspielchen für Erwachsene, dann verhaltet euch auch entsprechend.« Wie froh ich bin, dass Jack die Nadel von meiner Haut genommen hat. Bei meinen aufgebrachten Worten zuckt mir der ganze Körper. Unsicher schaue ich zu Jack, der mir seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Sein Körper beginnt vor lauter Lachen nun ebenfalls zu zittern.

»So, und jetzt lass mich in Frieden, sonst sticht mir der Tätowierer meines Vertrauens noch aus Versehen ›Zauberstab‹ auf die Haut.«

Leo muss prompt lachen, doch kurz darauf hört er schlagartig damit auf und sagt: »Du verarschst mich. Du bist beim Tätowierer, ohne mir etwas davon zu erzählen?« Er klingt fassungslos.

»Leo, wir wohnen zwar zusammen, doch ich muss dir nicht alles erzählen und jetzt lege ich auf. Bis später.« Damit habe ich unser Telefonat beendet und beobachte Jack, der immer noch lacht. »Entschuldige die Störung«, bitte ich ihn. »Wir können jetzt weitermachen.«

»Das würde ich nicht als Störung bezeichnen, eher als eine kurze und erfrischende Pause.« Seine Antwort lässt mich lächeln. Meine Hand samt Handy lege ich vor mir ab.

»Du wohnst nicht mit deinem Freund zusammen?«, möchte er plötzlich von mir wissen, während er die Nadel wieder an meine Haut setzt.

»Nein, ich genieße meine Freiheit und das Zusammenleben mit meinem besten Freund. Bei ihm gibt es genug Herzschmerz, glaub mir, das reicht für zwei.« Weitere Fragen stellt er nicht, eine Reaktion kam auch nicht auf meine Antwort.

Mehr Desinteresse kann man gar nicht zeigen, oder? Aber weshalb hat er dann überhaupt gefragt? Zwangloser Small Talk, oder was?, frage ich mich sichtlich enttäuscht.

Jack stützt sich auf meine Seite, beugt sich zu mir und strafft zwischen seinen Fingern meine Haut, um die aufgebrachten Linien exakt nachstechen zu können. Er kommt mir dabei so nahe, dass eine Duftwolke seines Parfüms mich einhüllt und mir das Atmen erschwert – er riecht einfach zu gut. Leider kann ich diesen Duft nicht so recht zuordnen, doch ich bin mir sicher, dass er mir nicht mehr aus der Nase gehen wird. Es ist nicht stark, eher dezent. Doch es wird reichen, um meine Träume zu beherrschen. Jacks Kraft, die er an mir anwendet, hat zwar überhaupt nichts mit zärtlichen Berührungen gemein, dennoch genieße ich es, wie er zupackt. Ihm so nahe zu sein, seinen Atem leicht auf meiner Haut zu spüren, lenkt mich von den Schmerzen ab. Es lässt meiner Fantasie freien Lauf. Gedanklich mache ich mir Notizen für eine neue Geschichte. Für mich als Autorin sind persönlich erlebte Situationen die besten Ideenstifter für neue Kurzgeschichten.

Nach kurzer Zeit ist es auch schon vorbei und Jack legt die Nadel zur Seite. Meine Qualen, welche dieser geschuldet sind, haben endlich ein Ende. Vom seitlichen Liegen ist mir mein Arm eingeschlafen und deshalb bin ich froh, dass ich endlich wieder aufstehen darf. Ich schüttle meine Hand sowie meinen Arm, um die Durchblutung zu fördern, während ich vor einen großen Spiegel trete. Ich betrachte mich, meine rechte Körperhälfte, die gerade mit Farbe bearbeitet wurde. Ich kann es nicht fassen, der Anblick, der sich mir trotz der Rötung bietet, stimmt mich wahnsinnig glücklich. Ich bin stolz auf mich, es tatsächlich getan zu haben. Dass ich den Mut aufgebracht habe. Am allerliebsten würde ich mit meinen Fingern über die Stelle streichen, um die Schwellung der Haut zu fühlen. Wahrscheinlich grinse ich gerade wie ein Kind, doch das ist mir im Moment egal. Auch, dass ich leicht bekleidet vor einem fremden Mann stehe, kümmert mich nicht weiter. Das Tattoo ist einfach zu schön geworden.

»Jetzt musst du deine hübschen Augen von deinem Tattoo trennen«, sagt Jack und hat damit meine volle Aufmerksamkeit. »Ich mache dir eine Creme darauf, die du bitte zur Pflege daheim einige Zeit weiterverwendest«, ergänzt er und wendet sich ab, um besagte Salbe zu holen. Während ich mir seine Worte im Geiste nochmals sage, steht Jack plötzlich wieder vor mir und legt seine starken Hände an meine Hüften, dreht mich mit leichtem Druck zur Seite und beugt sich nach unten, um meine Haut mit Creme zu versorgen. Sein Gesicht ist nahe meines Busens und die Erkenntnis über diesen Umstand lässt mich schlagartig hektischer atmen. Seine Nähe, sein Duft, sein Auftreten haben eine magische Art, mit mir zu spielen. Als er die Salbe vollständig aufgetragen hat, richtet er sich wieder auf, sieht mir direkt in die Augen und lächelt mich verschmitzt an. Ein Grübchen kommt an seiner linken Wange zum Vorschein. Ich lege meine Hand auf seinen Unterarm und flüstere ein leises »Danke«. Ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren, so nahe sind wir uns. Noch immer schaut er mich intensiv an, wie vorhin schon einmal. Nimmt dabei meine Augen mit seinen gefangen.

»Ich danke dir, es ist wundervoll«, wispere ich, zu mehr bin ich nicht mehr fähig. Mit einem Stück Frischhaltefolie bedeckt er die malträtierte Körperstelle.

Er findet meine Augen hübsch, erinnere ich mich an seine Worte von zuvor und sie sind Balsam für meine Seele. Wenn er wüsste, was ich so alles an ihm hübsch finde.

Kurze Zeit später ist mein Oberkörper wieder mit meinem Top bedeckt.

Wir stehen im Empfangsbereich an der kleinen Ladentheke, ich bezahle das Tattoo sowie die Creme und lächle ihn dankbar an.

»Tja, dann sag ich danke schön. Es ist wirklich toll geworden«, verabschiede ich mich von ihm.

Ich möchte noch nicht gehen, doch kann ich schlecht sagen, dass ich noch Zeit habe, bis mein Bus fährt, und dass ich gern hier warten würde. Bei der Einverständniserklärung musste ich meine Daten angeben. Wäre zu peinlich, wenn er bemerkt, dass ich nur ein paar Straßen weiter wohne, rast es in meinen Gedanken. Deshalb hebe ich meine Hand und winke ihm zum Abschied leicht zu, schließlich drehe ich mich um und will gerade gehen, als ich seine Stimme hinter mir vernehme. Hoffnungsvoll bleibe ich stehen und drehe meinen Kopf in seine Richtung.

»Sollte irgendwas sein, auch wenn es nur eine Frage ist oder so, ruf mich einfach an, Clara«, sagt er und hält mir lächelnd seine Visitenkarte über die Theke vor die Nase. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und ein Strahlen stiehlt sich auf mein Gesicht, doch dann merke ich, wie bescheuert ich mich hier verhalte. Ich freue mich über etwas, was er sicher jedem Kunden, oder besser gesagt jeder Kundin, nach einem Tattoo gibt, ich dumme Nuss. Die entgegengenommene Karte stecke ich ernüchtert in die Gesäßtasche meiner Hotpants und verlasse das Geschäft.

Nachdem ich ein paar Schritte gelaufen bin, habe ich die Enttäuschung überwunden, für ihn nur eine Kundin wie jede andere gewesen zu sein, und erfreue mich einfach an meinem Tattoo. Ich bin glücklich über meinen neuen Körperschmuck und fühle mich dadurch noch heißer, vor allem, wenn man bedenkt, wer es gestochen hat.

Kurzfristig beschließe ich, zu Jutta zu fahren.

Sie ist wie eine Mutter für mich und hat immer ein offenes Ohr. Zu meinen leiblichen Eltern habe ich keine wirkliche Bindung, denn bei ihnen dreht sich alles nur um sie selbst. Zuhören oder für mich da sein können sie nicht. Jedenfalls nicht so wie Jutta, die ich vor Jahren in einem Café kennengelernt habe, als ich ihr – ein Schussel, wie ich bin – heißen Kaffee über ihre Kleidung gegossen habe. Aus Versehen, natürlich. Sie nahm es damals glücklicherweise mit Humor, wir quatschten eine Weile und tauschten schließlich unsere Nummern aus. Ich wollte ihr die Reinigung bezahlen, doch sie lehnte mein Angebot zur Entschädigung rigoros ab. Dafür zauberte ich ihr einen leckeren Kuchen, schließlich wollte ich mich noch einmal gebührend für mein Missgeschick entschuldigen. Mit ebendiesem bewaffnet, stand ich einige Tage später bei Jutta auf der Matte. Gemeinsam mit ihrem Mann Heinz ließen wir uns den Kuchen schmecken. Gemütlich saßen wir eine Weile beisammen, fanden ernste Gesprächsthemen und lachten später bei lockeren Geschichten, mit einem von Heinz gefüllten Sektglas in der Hand, unbeschwert. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Jutta ist ein paar Jahre älter als ich und wurde mir dadurch nicht nur zu einer sehr guten Freundin, sondern auch zu einer Art Ersatzmutter. Egal, welchen Rat ich brauche, von ihr bekomme ich ihn und eine immer ehrliche Meinung noch dazu.

Als ich nun bei Jutta ankomme, öffnet mir Heinz strahlend die Haustür.

»Hallo, Feder«, begrüßt er mich. Diesen Spitznamen hatte er mir verpasst, als ich den beiden an besagtem Tag im Rausch gestanden hatte, Bücher zu schreiben. Ich konnte an dem Abend das ein oder andere Glas Sekt nicht ablehnen, da ich meinen ersten Autorenvertrag bekommen hatte. Seitdem sind die beiden Feuer und Flamme für meine Geschichten und unterstützen mich, wo es nur geht. Diese Art von Zusammenhalt und Interesse würde sich jedes Kind von seinen Eltern wünschen. Aus diesem Grund bin ich so froh, die beiden zu meinem Kreis der Familie zählen zu können.

»Hallo, Heinz«, entgegne ich liebevoll, während ich ihn umarme.

Er winkt mich herein und erwidert: »Komm rein, Jutta sitzt im Garten.«

Ich folge ihm quer durch das Erdgeschoss. Durch das große Fenster im Wohnzimmer erkenne ich seine bessere Hälfte im Stuhl auf der Terrasse sitzend.

Als sie uns heraustreten hört, blickt sie auf und ihre Miene erhellt sich schlagartig.

»Na, wen haben wir denn da? Eben habe ich noch an dich gedacht und mich gefragt, was du wohl treibst.«

Wir umarmen uns, Jutta bietet mir einen Stuhl neben sich an und sucht in meinem Gesicht nach etwas, was ihr Klarheit verschafft.

»Wieso hast du so ein Grinsen auf deinen Lippen? Wer ist dir Hübsches begegnet?«, fragt sie mich neugierig. Da ich über ihre Frage nicht wirklich erstaunt bin – immerhin bin ich dafür bekannt, sämtliche Gefühle nach außen zu transportieren und wirklich nichts für mich behalten zu können –, beginne ich zu schmunzeln. »Ich habe mir heute selbst etwas geschenkt«, antworte ich, während ich aufstehe, was Heinz und Jutta überrascht dreinblicken lässt. Als ich vor ihnen stehe, drehe ich mich zur Seite und ziehe mein T-Shirt ein Stück nach oben. Weit genug, dass man einen guten Blick auf mein Tattoo erhaschen kann.

»Durch die Creme und die Folie kann man es jetzt nicht ganz so gut erkennen, doch es ist wunderschön geworden«, erkläre ich ein bisschen stolz.

»Wow, das hast du eben machen lassen?«, möchte Heinz aufgeregt wissen.

»Ja, ich bin direkt danach zu euch und ich bin noch so hibbelig«, antworte ich ihm ehrlich. Er lächelt sanft und auch Jutta freut sich aufrichtig für mich, das kann ich an ihren Gesichtszügen erkennen. Sie legt interessiert ihren Kopf schräg und schaut mich auf die Art und Weise an, wie es nur eine Mutter machen würde – oder aber eine Freundin, die einen wahnsinnig gut kennt.

»Du möchtest mir also weismachen, dass du nur wegen des Tattoos so grinst?«, fragt sie ungläubig und zieht dabei eine Augenbraue nach oben.

Das ist echt unglaublich, sie kennt mich einfach zu gut, stelle ich für mich fest.

Ihre nur allzu typische Reaktion entlockt mir lautes Lachen und ich komme nicht umhin, zu entgegnen: »Miss Marple ermittelt wieder, was?«

Meine Schlagfertigkeit bringt beide zum Lachen, bis Jutta das Wort an mich richtet: »Tja, meine Liebe, das mag daran liegen, dass ich in dir wie in einem offenen Buch lesen kann. Also, raus mit der Sprache.« Nachdem ich mich wieder gesetzt habe, lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und atme einmal tief durch. Mit geschlossenen Augen beginne ich zu schwärmen: »Hättest du dem Mann zugesehen, der die Tätowiernadel gehalten hat, würdest du auch so grinsen wie ich.« Meine Augen öffnen sich wieder, ich lehne meinen Oberkörper ein Stück weit nach vorn und erzähle weiter. »Mir ist vor lauter Sabbern mein Handy aus der Hand gefallen. Im Ernst, ich dachte bisher immer, dass alle Frauen gänzlich beschränkt wären, wenn sie so von einem Mann reden. Heute wurde ich eines Besseren belehrt. Als ich ihn vorhin gesehen habe, dachte ich wirklich: Kneif mich, du bist der Wahnsinn. Jack, so heißt er, ist im Ganzen einfach der Hammer. Dazu diese wahnsinnig attraktiven Gesichtszüge, puh! Die runden alles ab, was ihr euch so als Vollkommenheit und puren Sex bei einem Mann vorstellen könnt. Als er mich mit seinen Augen in seinen Bann zog, war es um mich geschehen. In seinem Blick hat sich so viel geregt. Obwohl seine fast schwarz wirkten, waren sie keinesfalls leblos. Als er dann noch seinen Mund aufgemacht hat, war es bei mir gänzlich vorbei. Ich konnte nicht mehr klar denken und so weiter. Das volle Programm eben. Seine raue Stimme hat mir Gänsehaut beschert. Er ist einfach wahnsinnig sexy, vor allem seine Selbstsicherheit, seine Bewegungen.«

Jutta und Heinz hängen an meinen Lippen. In ihren Augen leuchtet etwas auf, und ich frage mich, ob es Freude ist.

Nachdem ich meine Ausführung beendet habe, fragt Jutta mich: »Schatz, weißt du, wann du das letzte Mal so gestrahlt und geschwärmt hast? Also ich meine, wann du von einem Mann so wahnsinnig angetan warst?« Meine Augen werden immer größer und ungeduldig warte ich ihre Antwort ab.

»Noch nie. Du hast noch nie über einen Mann so detailliert berichtet oder von ihm geschwärmt. Als du mit Daniel zusammen warst, da wart ihr einfach nur zusammen. Da fehlte mir von Anfang an das Strahlen, das Feuer in deinen Augen und auf deinen Lippen ebenso. Da fehlte mir die Begeisterung und Leidenschaft, wenn du von ihm erzählt hast. Es ist sehr schön, zu sehen, wie du von Jack redest. Wann seht ihr euch wieder?« Ihre Ehrlichkeit erstaunt mich.

Eigentlich erschreckend, dass ich von einem fremden Mann so begeistert bin, es bei meinem damaligen Freund aber nicht war. Wann wir uns wiedersehen werden – was soll ich Jutta denn darauf antworten?, frage ich mich in Gedanken. Ich habe absolut keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich, wenn ich mich erneut tätowieren lasse.

»Du denkst doch nicht im Ernst, dass so ein Mann wie er ein Single ist. Nee, nee, da bin ich bestimmt zu spät.« Natürlich habe ich mich auch schon gefragt, ob er noch zu haben ist. Aber seien wir doch mal ehrlich: Er muss einfach in einer Beziehung sein. So gut, wie er aussieht, ist er sicher schneller vom Markt, als Frau gucken kann. Alles andere wäre unrealistisch.

Dass Heinz sich just in diesem Moment verabschiedet, kommt mir sehr gelegen. Jutta wollte gerade zu einer neuen Frage ansetzen und sicher wäre mir diese nur wieder unangenehm vor Heinz gewesen. Ich kann bereits an dem Funkeln in ihren Augen erkennen, in welche Richtung diese geht. Heinz entschuldigt sich, was Jutta kurz aus dem Konzept bringt, und verschwindet zu seinem wöchentlichen Stammtisch. Er war über zwanzig Jahre lang als Fußballtrainer tätig und trainierte sowohl die Jugend als auch die Senioren. In dieser Zeit sind wahre Freundschaften fürs Leben entstanden und mit einigen trifft er sich seither zu einem Trainerstammtisch.

Seinen Aufbruch nutze ich für einen Themenwechsel. »Mal was anderes – mir ist gestern eine Idee gekommen, als ich einen Artikel über die Sonnenschein-Schule hier in der Münchener Zeitung gelesen habe. Ich habe mich entschlossen, auch zu helfen, und würde gerne die behinderten Kinder dort unterstützen, indem ich Lesepatin für eine Schülerin oder einen Schüler werde.«

Jutta zeigt sich kurz überrascht, entgegnet aber dann begeistert: »Das ist eine tolle Idee und echt lieb von dir. Diese Kinder haben es eh schon schwer genug in ihrem Leben, zeig ihnen, wie viel Spaß das Lesen machen kann.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm, mit dem ich mich auf ihrem Beistelltisch aus Holz abstütze.

»Danke, es freut mich, dass du es ebenso siehst wie ich. Ja, ich möchte den Kindern zeigen, dass Buchstaben durchaus Spaß bringen können. Nächste Woche habe ich einen Termin mit der Direktorin der Schule. Mal schauen, wie dieser abläuft. Sie war begeistert, als ich anrief und mich den Schülern als Patin anbot. Den Zeitungsartikel zur Schule von neulich fand ich so interessant, da kam mir urplötzlich die Idee, mich auf diese Weise einzubringen.«

»Den Bericht habe ich auch gelesen. Fand ich toll, die Schule auf diese Art vorzustellen. Sehr interessant, was den Kindern für Therapiemöglichkeiten geboten werden. Ruf mich bitte nach deinem Treffen mit ihr an und erzähl mir, wie es gelaufen ist. Ich finde, das ist eine fantastische Sache. Ich ziehe den Hut vor dir, dass du keine Scheu vor Behinderten hast. Es gibt genug Menschen, die im Umgang mit ihnen Probleme haben, da sie sich anders verhalten oder weil sie anders aussehen. Alles, was in der heutigen Zeit nicht der Norm entspricht, wird abgestoßen«, sagt sie mit einem gequälten Lächeln. Ich nicke bedrückt und stimme ihr mit den Worten zu: »Ja, du hast recht, oftmals ist es einfach die Unsicherheit, da viele nicht wissen, wie sie mit ihnen umzugehen haben.« Jutta pflichtet mir bei. Eine Weile reden wir noch über belanglose Dinge und schließlich verabschiede ich mich von ihr mit dem Versprechen, mich bald wieder zu melden.

Ein Blick auf meine Armbanduhr hat mich mit Erschrecken feststellen lassen, dass ich nicht mehr allzu viel Zeit habe, um mich für meine Verabredung mit Leo herzurichten. Als Leos Pseudofreundin sollte ich schon eine gute Figur machen, sonst könnten wir uns das ganze Drama auch sparen.

Mein Abend mit Leo geht schneller dem Ende entgegen, als ich zunächst gedacht hatte. Unser Auftritt als Paar klappt super, denn Leos entflohenem Zauberlehrling entgleiten die Gesichtszüge. Leo kennt einfach keine Schamgrenze, wenn es um Eifersucht geht.

Ben, seine heiße Nummer, bekommt dies gerade deutlich zu spüren, da er sich in andere Gefilde vorwagte, obwohl von beiden Seiten eindeutiges Interesse war.

Leo möchte deutlich machen, dass man mit ihm nicht spielt, dass man ihn nicht verletzt. Niemand darf das. Bens schamloses Flirten mit dem Barkeeper vor ein paar Tagen verletzte Leo sehr. Nachdem Leo ihm verdeutlicht hatte, dass er enttäuscht und eifersüchtig ist, legte Ben trotz allem noch einen Gang zu. Die Toleranz, welche sich Ben anscheinend von Leo erhofft hatte, ging schlicht nach hinten los.

Es hat sich wieder einmal mein Verdacht bestätigt, dass auch Leo in seinem tiefsten Innern nach der wahren großen Liebe Ausschau hält.

Wir beiden tanzen eng umschlungen, seine Hand wandert hin und wieder über meinen Po und er flüstert mir Dinge in mein Ohr, die auf andere unanständig wirken sollen, in Wirklichkeit aber Erinnerungen an unseren letzten gemeinsamen Kreta-Urlaub sind. Diese lassen mich glückselig schmunzeln, sodass ich mich ihm noch mehr nähere und mich an ihn schmiege. Für einen Außenstehenden sieht dies sicher so intim aus, wie es sich mein kleiner Racheengel erhofft. Wahrscheinlich wirkt es so, als würde er einer Frau heiße Dinge ins Ohr flüstern, um sie so für sich zu gewinnen und die Nacht mit ihr im Bett enden zu lassen. Nachdem der Zauberlehrling seine Lektion von seinem selbst ernannten Meister erteilt bekommen hat und aus unerklärlichen Gründen sauer den Club verlässt, beenden Leo und ich unser Schauspiel.

Wir setzen uns an die Bar und genießen einen leckeren Drink. Während Leo dabei mit den umherstehenden Gästen flirtet, was das Zeug hält, übe ich mich im Beobachten meiner Umgebung. Das habe ich schon immer gern getan. Eine ganze Weile sehe ich mir stillschweigend an, wie sich Leo und ein echt gut aussehender Typ schon allein mit ihren Blicken gegenseitig ausziehen. Meine Anwesenheit ist ab diesem Moment mehr als überflüssig, aus diesem Grund verabschiede ich mich wenig später von meinem besten Freund. Die beiden überlasse ich ihrem Schicksal, welches bei Leo oft nur eine Nacht lang wilden Spaß bedeutet.

Ein Taxi bringt mich wohlbehalten nach Hause. Dort gönne ich mir erst einmal in Ruhe eine kleine Wohlfühlauszeit in meinem Badezimmer. Zuvor habe ich mir allerdings noch zwei Cocktails gemixt. Auch versorge ich erneut mein Tattoo mit der antiseptischen Creme.

Eine Abschminkorgie in Kombination mit zwei Sex on the beach, welche ich bereits intus habe, ist wesentlich lustiger, als sich nüchtern das Make-up aus dem Gesicht zu reiben.

Sex on the beach und Wein, das muss sein, sage ich mir in Gedanken, als ich wieder vor dem Kühlschrank stehe und mir abermals einen einschenke. Deshalb zieht der Alkohol als mein treuer Begleiter mit mir von einem Zimmer ins nächste.

Unsere Endstation ist mein Schlafzimmer im ersten Obergeschoss. Gerade als wir es uns gemütlich machen wollen, höre ich die Haustür ins Schloss fallen.

Das muss Leo sein. Ob er alleine ist? Es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder er hat ihn gleich in der Bar vernascht oder sie spielen hier weiter, denke ich und kann ein Grinsen dabei nur mühsam unterdrücken. Ich höre eine zweite Männerstimme.

Es ist also Option zwei geworden, lache ich in mich hinein. Wie um mich abzulenken, nippe ich an meinem Glas, trinke schneller, damit ich nicht in Versuchung komme, den beiden zu lauschen. Mit meiner freien Hand öffne ich mein Nachtschränkchen, neidisch blicke ich in Richtung meines Vibrators und frage ihn gedanklich: Magst du vielleicht mit mir spielen oder nicht?

Ich höre, wie die beiden Herren einen Augenblick später in Leos Zimmer verschwinden und schrecke auf, als die mir unbekannte Stimme kreischt: »Aaaah, ist der süß.«

O Gott, der wird doch wohl nicht…, rast es in meinen Gedanken. Unsere Schlafzimmer liegen nebeneinander, deshalb kann ich Leos Gast gut verstehen. Mehr als gut. Zu gut. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich meine Tür einen Spalt breit geöffnet habe, natürlich nur, um es der Luftzirkulation leichter zu machen.

Ist es wahnsinnig heiß hier drin heute oder liegt das am Alkohol?, frage ich mich und lausche noch ein bisschen intensiver den Geräuschen aus dem Nebenzimmer, selbst wenn ich das nicht sollte.

Puh, das halt ich nicht aus, ich muss hier weg.

Mit meinem Glas flüchte ich vor dem Kopfkino, welches mir durch die nicht für meine Ohren bestimmten Wortfetzen, die immer noch zu mir dringen, beschert wird, in die Küche. Den Geräuschen nach zu urteilen, die aus Leos Zimmer zu mir nach unten dringen, reißen sich die beiden gerade gegenseitig die Kleider vom Leib. Immer wieder bahnen sich die Worte ›süß‹ und ›putzig‹ ihren Weg zu meinem Ohr.

Ob das Leos Ego keinen Abbruch tut?, frage ich mich in Gedanken. Plötzlich höre ich, wie sich eine Tür schnell und laut öffnet und wieder schließt. Die beiden stürmen die Treppe runter. Zwischen Hausflur und Küche befindet sich keine Tür, sondern ein offener Durchgang, da wir der Meinung waren, dass es so einladender wirkt. So kann ich sehen, wie Leo die Beute seines Abends zur Haustür hinausschiebt.

Wohl doch ein Flop, denke ich ernüchtert.

Völlig entgeistert kommt Leo in die Küche und stockt für einen kurzen Moment, als er mich dort sitzen sieht. Er schaut spöttisch zu mir, schüttelt kurz den Kopf und greift sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Anschließend öffnet er es und sagt ungläubig: »Nicht zu fassen«, und genehmigt sich ein paar Schlucke. Die skurrile Situation, der ich eben beiwohnen durfte, kann ich einfach nicht aus meinen Gedanken schieben und versuche mir ein schelmisches Lächeln zu verkneifen.

»Deinem dämlichen Grinsen nach zu urteilen, hast du alles gehört«, entgegnet mein bester Freund schnippisch und blickt mich dabei vorwurfsvoll an.

Ich zucke verhalten mit den Schultern und antworte: »Ja, aber ich verstehe nicht, wie er deinen Penis putzig und süß finden kann. Immerhin ist er nicht gerade von der kleinen Sorte.« Als seine beste Freundin weiß ich das schließlich zu beurteilen, außerdem haben wir uns damals auf Kreta ein Doppelzimmer geteilt und das Bad des Öfteren zur gleichen Zeit genutzt. Da blieb es nicht aus, dass ich das ein oder andere gesehen habe. Verstecken muss Leo sich also wirklich nicht.

Bei meinen Worten verschluckt sich Leo an seinem Bier. Nachdem er sich nach einem letzten Huster wieder weitestgehend beruhigt hat, sagt er fassungslos: »Nein, o mein Gott! Den hat er nicht zu Gesicht bekommen. Er meinte den Zwerghamster.«

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

»Den was? Den Zwerghamster?«, frage ich mehr als verwirrt und schaue ihn interessiert an. Ergeben stellt er sein Bier ab und rollt mit seinen Augen.

»Ja, komm mit«, erwidert er, greift nach meiner Hand und zieht mich an dieser nach oben in sein Zimmer.

»Ich war heute shoppen. Als ich an einem Schaufenster vorbeilief, sah ich den kleinen Kerl. Er tat mir so leid. Also bin ich in die Tierhandlung und habe ihn samt Käfig und allem, was man für seine Haltung braucht, gekauft«, offenbart er mir mit einem schiefen Lächeln. Unter seinem Fenster steht ein großer Käfig, in dem ein kleines Fellknäuel sitzt.

Mein Herz wird weich bei diesem Anblick. Ich schaue erst ihn an und dann wieder zu Leo und sage in herzerwärmendem Tonfall: »Der ist wirklich zuckersüß.«

Dann setze ich mich vor dem Käfig in den Schneidersitz, um den Zwerghamster in aller Ruhe zu betrachten, bis mir plötzlich die eigentliche Situation von vorhin wieder in den Kopf kommt. Ich kann nicht mehr an mich halten und beginne herzhaft zu lachen. Irritiert schaut Leo mich an und fragt: »Was ist denn jetzt so lustig?«

»Ganz ehrlich, Leo? Das musst du doch selbst sehen. Ich meine, ehrlich jetzt. Der Hengst der Stadt – also du! – schleppt nacheinander die heißesten Typen ab und einer von diesen kreischt vor Begeisterung, als er den kleinen Hamster mit seinen großen Kulleraugen entdeckt, und wird dann rausgeworfen. Das ist zu genial.« Ich kann einfach nicht mehr mit dem Lachen aufhören. Leo steht mit verschränkten Armen vor mir und stimmt irgendwann ergeben mit ein.

»Entweder du belässt es dabei und wirst bei jedem deiner Bettbesucher als der warme Bruder mit dem großen Herz für kleine Nager abgestempelt oder der Hamster zieht ins Wohnzimmer um. Da er nachtaktiv ist, wirst du früher oder später eh merken, dass du mit ihm nicht in einem Zimmer schlafen kannst. Somit bewahrst du dir auch deinen Titel als heißester Feger Münchens mit dem eiskalten Herzen.«

Leo lässt sich neben mir auf dem Fußboden nieder.

»Was habe ich nur für eine schlaue Freundin. Gut, dann zieht er um«, stimmt er meinem Vorschlag zu.

Ich schaue ihn an, nicke und frage: »Wie heißt er denn eigentlich? Hat er schon einen Namen?«

Leo zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich habe ihm noch keinen Namen gegeben, denn ich wollte auf dich warten. Immerhin bist du jetzt seine Mutter. Er kann nicht nur einen Vater haben. Wenn ich beruflich unterwegs bin, wäre er sonst zu allein«, gesteht er mir.

»Okay, da ich Mutter eines Hamsters geworden bin, ohne vorher gefragt worden zu sein, bestimme ich auch alleine den Namen und nenne ihn Jak«, entgegne ich in ernstem Tonfall, kann aber ein leichtes Zwinkern nicht unterdrücken. Jetzt schaut Leo mich misstrauisch an und fragt: »Wieso ausgerechnet Jak?«

»Das, mein Lieber, erzähle ich dir, wenn unser Sohn sein richtiges Zimmer bezogen hat.«

HerzWinter

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