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Jakob

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»Los, du Grashüpfer, ab ins Bad mit dir. Du musst deine Zähne putzen. Fang schon mal an, ich gebe Anton noch sein Futter und komme dann nach.« Lillie springt in Richtung Badezimmer und singt dabei wie immer lauthals das Biene-Maja-Lied. Ein wenig zu laut und zu schief, aber anders kenne ich es nicht von ihr. Antons Futternapf fülle ich mit dem ganzen Inhalt der Dose Hundefutter und stelle es unserem schwanzwedelnden, treuen Begleiter auf den Boden. Er hat heute am See viel mit Lillie herumgetobt, kein Wunder also, dass er sich mit solch einem Heißhunger auf sein Fressen stürzt. Als ich mich aufrichte, kann ich über den Flur in das Bad blicken. Natürlich putzt meine kleine Madame nicht ihre Zähne. Lieber benutzt sie ihre Zahnbürste als Wasserspritze und lacht sich dabei kaputt. Seufzend schließe ich die Augen, atme einmal tief durch und öffne sie wieder. Da ich mich nicht in Luft auflösen kann, eile ich zu ihr.

»O Lillie, was ist das denn für eine Sauerei? Wieso spritzt du den ganzen Spiegel voll und putzt dir nicht die Zähne, wie ich es gesagt habe?«, frage ich sie aufgebracht. Lillie weiß, wie man mich um den Finger wickeln kann, versucht abzulenken und umarmt mich fest.

»Papa, ich möchte erst mal mit dir kuscheln«, sagt sie dabei mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht. Ich streiche über ihren Rücken und antworte: »Schatzi, wir kuscheln so oft am Tag, jetzt werden deine Zähne geputzt. Du möchtest doch, dass ich dir später noch etwas vorsinge, oder?« Hektisch stößt sie sich von mir los und rührt übertrieben heftig mit der Bürste in ihrem Becher. Dabei spritzt das Wasser aus diesem heraus und verteilt sich im Waschbecken.

»Lillie, etwas ruhiger bitte!«, ermahne ich sie. »Lass uns jetzt deine Zahnpasta auftragen und dann zeigst du mir, wie toll du das kannst.« Nachdem wir nach langem Diskutieren das Zähneputzen endlich hinter uns gebracht haben, befreie ich ihre Haare von ihren Spangen und Gummis und bürste sie durch.

Anschließend begleite ich sie in ihr Zimmer, öffne das Fenster, ziehe das Rollo herunter und decke sie in ihrem Bett zu. Dabei zappelt sie noch mit ihren Beinen herum. Schnell stelle ich sie ruhig, indem ich sanft meine Hände auf diese lege und mit unserem Ritual beginne.

»Weißt du eigentlich, weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe?«, singe ich ihr vor, den nächsten Satz sprechen wir gemeinsam – wie jeden Abend. »Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe, kleiner brauner Hase? Bis zum Mond und wieder zurück!« Danach gibt es einen kurzen Gutenachtkuss, anschließend verlasse ich leise ihr Zimmer.

Das Zuziehen der Kinderzimmertür am Abend ist für mich der Punkt, ab dem die wenige Zeit, die ich nur für mich habe, beginnt. Aus dem Kühlschrank hole ich mir ein Bier, schlendere in mein Wohnzimmer, in welchem Anton schon vor dem Sofa liegt, und lasse mich auf diesem nieder. Gedankenversunken kraule ich Anton das Fell und genehmige mir währenddessen einen Schluck des kühlen Augustiner. »Na, mein Dicker, hat es dir heute am See gefallen? Die Wärme schlaucht auch dich, nicht wahr?« Ich tätschle ihm den Kopf und lehne mich nach hinten. Erschöpft lege ich meinen Kopf auf die Lehne und schließe die Augen. Nach ein paar ruhigen Augenblicken öffne ich sie wieder und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Bei einem Buch, welches auf meinem eisernen Couchtisch liegt, bleibe ich hängen.

Das muss das Buch sein, das Magdalena hier vergessen hat. Ein ansprechendes Cover, geht es mir durch den Kopf. Meine Neugier ist geweckt und ich lehne mich nach vorn, um an das Buch meiner jüngeren Schwester zu gelangen. Neugierig blättere ich auf die erste Seite des Buches ›Lieb mich noch mal‹. Die ersten Zeilen sind schnell gelesen und ich muss über den ironischen, witzigen Schreibstil der Autorin schmunzeln. Schnell zieht mich die Geschichte in ihren Bann. Während des Lesens hole ich mir mit dem Buch in der Hand ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank.

Die spitze Zunge der Protagonistin hat es mir angetan, heiß geht es zwischen ihr und einem Mann namens Sven her.

Mitten in der Nacht stelle ich fest, dass ich mein erstes Buch seit der Schulzeit vom Anfang bis zum Ende und in einem Rutsch durchgelesen habe. Noch dazu handelt es sich dabei um ein Buch, in dem es um die große Liebe, Enttäuschungen, Hoffnung und Humor geht. Durch die Wärme des Sommers merke ich das zweite Bier heute schneller als sonst und aus diesem Grund schlägt meine positive Überraschung über den Inhalt des Buches schnell in Frust um. Mein Leben stemme ich allein, mit meiner siebenjährigen Tochter und unserem Hund. Allein heißt dabei auch wirklich allein – ohne Partner eben. Gelegenheitssex gibt es bei mir selten. Oft gehe ich nicht aus. Zwar unterstützen mich meine Eltern und meine Schwester, wo sie nur können, doch ich habe meinen Stolz und meine kleine Motte am liebsten um mich – ganz für mich allein. Meine Mutter meint, es sei die Angst, die tief in mir sitzt. Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn ich sie nicht um mich habe. Sie hat sicher recht damit, aber sie ist auch der Meinung, ich sollte eine Frau kennenlernen, mich wieder für eine Beziehung öffnen und Lillie somit die Chance auf eine neue Mutter geben. Doch meine Familie kann nicht nachempfinden, wie kräftezehrend mein Leben momentan ist. An die wahre Liebe glaube ich nicht mehr, seit mich Jasmin im Stich gelassen hat. Deshalb ärgere ich mich jetzt auch auf einmal über diese Liebesgeschichte, die ich in den letzten Stunden gelesen und genossen habe: Frau erwischt ihren Lebensgefährten mit einer anderen im Bett und flüchtet zu ihren Eltern. Dort trifft sie auf ihre Jugendliebe und – zack! – ist wieder jedes Klischee eines Liebesromans erfüllt. Frei nach dem Motto: Nach jeder Enttäuschung kommt auch immer etwas Tolles. Heißen Sex, gemeine Intrigen und – wie immer – ein Happy End hatte das Buch dann natürlich auch noch zu bieten. So etwas Bescheuertes gibt es wirklich nur in so einem Frauenroman. Mit aufsteigendem Groll setze ich mich an meinen Computer.

Das ist so typisch für Frauen. Wieso lieben sie solche Schmachtfetzen? Geht denn im wahren Leben auch alles gut aus? Nein!, rattert es erzürnt durch meine Gedanken. Ich kann nicht anders und bemerke, dass ich wie nebenbei eine Rezension verfasse, als ich schon drei Sätze in das kleine Feld getippt habe:

Wie viel Klischee passt eigentlich in ein Buch? Ist das wirklich das, was Frauen lesen wollen? Intrigen, Herzschmerz und immer mit einem Happy End versehen? Muss ein Mann nur Blümchen zücken, nachdem er in fremden Gewässern Schiffe versenken gespielt hat, und die Welt der Liebe ist trotz der bösen Macht wieder in Ordnung? Meiner Meinung nach schaut die Autorin zu viel ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹.

Ich drücke mit der linken Maustaste, ohne meine Worte noch einmal zu lesen, auf ›Senden‹ und meine Bewertung wird weitergeleitet. Meine private Situation hat zwar nichts mit der Autorin zu tun, da ich mich recht gut unterhalten gefühlt habe, doch ihr Buch kam mir gelegen, um meinem lange aufgestauten Frust Luft zu machen.

Den Rest meiner Unzufriedenheit putze ich mir anschließend beim Wohnungssäubern von der Seele wie ein Wahnsinniger – trotz der späten Uhrzeit. Andere Möglichkeiten habe ich, wenn ich genau drüber nachdenke, ja nicht. Natürlich versuche ich, dabei möglichst leise zu sein, um Lillie nicht aufzuwecken.

Das Leben wird vom Schicksal gelenkt, das sagt man doch, oder? Man muss sich ja nur einmal die Menschen ansehen, die man am meisten liebt. Die man braucht, weil sie einem Kraft geben oder es zumindest sollten. Doch ehe man sich versieht, werden sie einem aus dem Leben gerissen. Also, weshalb schreiben Frauen immer solche Schnulzen mit gutem Ende, wenn das wahre Leben nun mal nicht gut ausgeht? Diese Fragen plagen mich während meines Putzwahns.

Das Schicksal hat mir mehr als einmal gezeigt, wie es zuschlägt und einen in die Dunkelheit zieht. Das ist mein Leben. Dunkel. Bis auf Lillie – sie ist mein einziger Funke in einem sonst so düsteren Leben. Aus diesem Grund beende ich diesen Tag, streife meine Kleidung vom Körper und gehe ungeduscht in mein Bett.

Um Punkt Viertel vor sechs in der Früh klingelt mein Wecker. Mein erster Gang führt zur Terrassentür, um Anton in den Garten zu lassen. Dann muss ich Lillie wecken. Morgens haben wir einen engen Zeitplan: Raus aus dem Bett, im Bad anziehen, Haare machen, die Zähne putzen. In der Küche haben wir noch Zeit für ein schnelles Frühstück. Um halb sieben steht das Taxi vor unserer Tür und holt die Kinder aus unserem Bezirk, die gemeinsam die Sonnenschein-Schule besuchen, nacheinander ab. Spätestens mit den Worten »Dein Taxi kommt gleich, Schatz« lenke ich sie vom Trödeln ab und sie zieht sich schnell vor lauter Vorfreude an. Aufgeregt, wie an jedem Morgen, steht sie an der Haustür und wartet. Ein schneller Abschiedskuss und mein Wirbelwind ist weg, sobald das Auto zum Stehen kommt.

»Tschüss, Schatz, und viel Spaß!«, rufe ich ihr hinterher.

Die Zeit, die Lillie in der Schule verbringt, nutze ich für Hausarbeit, Einkaufen oder die Termine in meinem Tattoo-Studio. In meinem Job als Tätowierer bin ich gut, sehr gefragt und verdiene ausgezeichnet. Für einen Termin bei mir wartet man gern einmal bis zu einem halben Jahr. Doch da mir mein prallvoller Terminplaner als alleinerziehender Vater etwas zu viel wurde, bin ich in letzter Zeit ein wenig kürzergetreten. Daher habe ich Sue als Unterstützung und Entlastung eingestellt. Sie ist unkompliziert, studiert nebenbei Kunst und liebt und lebt die Fünfzigerjahre.

Heute beginne ich erst am Nachmittag mit dem Arbeiten. Lillie kommt mittags aus der Schule, bis dahin werde ich den Saustall in Lillies Zimmer auf Vordermann bringen und den hochgewachsenen Wäscheberg mit meinem Bügeleisen bezwingen. All die Aufgaben, die man sich sonst mit seinem Partner teilt. Aber ich möchte mich nicht beschweren. Ich bin heilfroh, mit Lillie in Ruhe Leben zu können. Wir, besser gesagt sie meistert ihr Leben und macht enorme Fortschritte durch die Schule, die Therapien und durch Anton. Unser Alltag ist holpriger als der eines normal entwickelten Kindes. Doch Lillie kennt es nicht anders. Sie nimmt das Leben, wie es kommt. Sie liebt es und genau das strahlt sie auch aus. Mein Sonnenschein. Lillie ist eines der wenigen Kinder, die sich jeden Tag aufs Neue auf die Schule freuen. Der Zusammenhalt und der Umgang der Schüler untereinander sind wahnsinnig gut. Ich merke von Tag zu Tag mehr, dass Lillie die Förderung und das Verständnis, welches ihr dort entgegengebracht wird, viel geben. Die Herzlichkeit, die Lillie selbst ausstrahlt, bekommt sie dort unter Gleichgesinnten in vollem Maße zurück.

Als es für Lillie Zeit ist, nach Hause zu kommen, warte ich bereits wie immer an der Haustür auf das Taxi, das jede Minute um die Ecke biegen müsste. In dem Moment, in dem das Taxi kommt, deute ich dem Fahrer meinen Gruß, während Lillie aussteigt und zu mir hüpft. Ich nehme ihr den Schulranzen ab und hauche einen Kuss auf ihr Haar.

»Hallo, Sonnenschein, wie war es in der Schule?«, erkundige ich mich, doch für solche Fragen hat sie wie immer keine Zeit. Viel lieber möchte sie wissen, was es zu essen gibt.

»Ich habe einen Monsterhunger. Wo ist Anton?«, fragt sie aufgeregt.

Lächelnd antworte ich ihr: »Zieh deine Schuhe aus und komm erst einmal rein. Wasche deine Hände, aber bitte mit Seife. Du weißt, ich werde den Riechtest machen, danach wirst du sehen, was auf deinem Teller liegt. Anton ist im Garten. Er ruht unter eurem Baum im Schatten.«

Sie folgt meinen Worten und ist viel zu schnell wieder in der Küche. Skeptisch schaue ich sie an. Lillie lässt den Kopf sinken, ergibt sich und geht noch mal ins Bad – diesmal kann ich auch das Wasser plätschern hören. Als sie zurück in die Küche eilt, schaut sie mit großen Augen auf ihren Teller, fährt mit ihrer Hand Kreise auf ihrem Bauch nach und freut sich über die Lasagne, die ich heute gekocht habe.

»Papa, ich liebe dich«, gibt sie übereifrig von sich, umarmt mich stürmisch und wie üblich mit viel zu viel Kraft. Es ist ein wenig unangenehm, wie sie ihre Arme fest um meinen Hals schlingt, also versuche ich mich sanft aus ihrer Umklammerung zu lösen.

Nach dem Essen bleibt noch etwas Zeit für ihre Hausaufgaben, was sich als ein wahrer Kampf herausstellt. Jedes Mal ermahne ich mich selbst zu mehr Geduld. Nörgeleien, Ablenkungsversuche, Wutausbrüche oder Müdigkeitsanfälle hindern uns heute abwechselnd am Abarbeiten der Deutschaufgabe. Am Ende meistern wir es irgendwie schließlich doch.

Am Nachmittag, nachdem ich meiner kleinen Prinzessin einen Kuss gegeben und ihr viel Spaß bei ihrer Oma gewünscht habe, richte ich meinen Raum in meinem Tattoo-Studio her. Ich lege alles bereit, was ich für meinen nächsten Termin zum Tätowieren benötige. Lillie wird in fünf Minuten von meiner Mutter abgeholt. Sie wollte mit Anton unbedingt auf der Holzbank vor dem Studio auf ihre Oma warten, deshalb habe ich mich schon von ihr verabschiedet. Angst, dass sie mit Fremden mitgeht, brauche ich keine zu haben. Anton sorgt schon dafür, dass genau das nicht passiert. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Und ich weiß, dass er immer auf sie aufpasst und Alarm schlagen würde, sollte meinem Sonnenschein Gefahr drohen.

Als der Türgong ertönt, gehe ich nach vorn, um meine erste Kundin für heute zu begrüßen. Meine Mutter hält in diesem Moment mit ihrem Auto vor dem Laden, lädt die beiden ein und braust wieder davon. Mein Blick fällt auf meine heutige Kundschaft, die sich mit ihrem Handy beschäftigt, während sie sich mir im Zeitlupentempo nähert. Ich nutze diesen Augenblick, um mir die Frau näher anzuschauen.

Braune Haare, eine zierliche Gestalt, lachsfarbene lackierte Nägel, lange Beine – o mein Gott, diese endlosen Beine. Dafür braucht sie sicher einen Waffenschein. Zum Glück ist es so heiß draußen, sonst hätte sie heute sicher nicht so eine kurze Hose angezogen. Eine wirklich sehr, sehr kurze Hose. Wow, an dieser Frau ist alles heiß, denke ich und muss schwer schlucken.

Sind es die Augen, dieses wunderschöne Gesicht, die gepflegten Haare, diese Frische, die sie ausstrahlt? Keine Ahnung, ich komme aber auch gar nicht weiter zum Nachdenken. Ein plötzlicher Knall lenkt mich ab. Meine Augen folgen dem Geräusch und ich sehe, dass ihr Handy in lauter Einzelteilen auf dem Boden liegt. Die Schönheit vor mir geht schnell in die Hocke, um es aufzusammeln. Es ist sicher unhöflich von mir, ihr nicht dabei zu helfen, doch ihr betörender Anblick wirft mich aus der Bahn. Ihr Fluchen, das kurz darauf durch meinen Laden schallt, bringt mich wiederum zum Schmunzeln. Denn es passt so gar nicht zu ihrem engelsgleichen Aussehen, dass sie so aus der Haut fahren kann. Ja, dass sie so temperamentvoll ist. Als sie sich wieder erhebt, strecke ich ihr meine Hand zur Begrüßung entgegen. Die Berührung fühlt sich gut an. Mehr als gut.

»Clara?«, frage ich, während wir uns noch immer die Hände halten. Ich stelle mich ihr als Jack vor und dirigiere sie in mein sogenanntes ›Arbeitszimmer‹.

Als ich ihre Tattoovorlage auf ihre Haut gebracht habe, lächelt sie mich an und sieht dabei zum Anbeißen lecker aus. Ich setze mich vor sie und betrachte sie eingehend. Sie hat sich ein wirklich schönes Motiv ausgesucht. Die Bedeutung dahinter würde mich brennend interessieren, doch ich möchte nicht zu neugierig wirken. Ich versuche, nicht weiter an diesen wahnsinnig schönen Körper zu denken, der so willig vor mir liegt, oder darüber zu fantasieren, auch wenn ich diese unglaublich zarte Haut berühren muss. Meine Hände schwitzen heute stark, deshalb bin ich froh darüber, während meiner Arbeit Handschuhe tragen zu müssen. Mir wäre es mehr als unangenehm, wenn sie bemerken würde, dass sie mich nervös macht. Ich versuche mich zu konzentrieren und sammele für die bevorstehende Aufgabe all meine Energie. Ihre Frage, ob es denn wehtun würde, sich dieses Tattoo stechen zu lassen, bringt mich allerdings wieder voll aus dem Konzept. Sie liegt halb nackt vor mir, hat die Tattoovorlage schon auf der Haut und fragt mich allen Ernstes, ob es wehtun wird. Das ist so skurril, dass es mich sofort zum Lachen bringt. Ich weiß, dass das unprofessionell ist, doch es lockert die aufgeladene Stimmung zwischen uns ein wenig auf.

Hoch konzentriert und voller Elan steche ich die Farbe mit meiner Nadel in ihre Haut. Wie immer möchte ich nur ein perfektes Ergebnis erzielen.

Doch bei ihr muss es mehr als perfekt werden. Es muss sie vom Hocker reißen und völlig umhauen, hoffe ich innerlich.

Ihr Handy klingelt plötzlich, fragend schaut sie mich an und ich gebe ihr zu verstehen, dass ich eine kurze Pause machen werde. Dankbar nimmt sie das Gespräch an und die Art und Weise, in der sie spricht, lässt mich interessiert lauschen. Sie bietet ihrem Gesprächspartner Paroli, eine Tatsache, die mich an dieser kleinen und zerbrechlich wirkenden Schönheit sehr fasziniert.

In ihr steckt mehr, als der erste Anblick offenbart. Sie ist eine kleine Wildkatze. So kann man sich also täuschen, runde ich in Gedanken meinen Eindruck von ihr ab. Ihrem Telefonat nicht zu lauschen, ist schier unmöglich, denn ihre gepfefferten Antworten an den Mann am anderen Ende der Leitung lassen mich laut loslachen. Am Anfang versuche ich mir das Lachen noch etwas zu verkneifen, doch mein Körper bebt so stark, dass ich mich nach einigen Sekunden geschlagen geben muss und mich richtiggehend schüttele.

Nach dieser kleinen, aber heiteren Unterbrechung führe ich mein Werk in vollster Präzision fort – bis zur Vollendung. Claras Augen leuchten, als sie ihr Tattoo im Spiegel betrachtet. Ein regelrechtes Strahlen stiehlt sich in ihre Augen und ist mir Bestätigung und Würdigung genug. Es macht mich nicht nur stolz wie bei meinen üblichen Kunden, sondern wirklich glücklich. Weshalb mich bei ihr dieses Glücksgefühl überkommt, kann ich allerdings nicht sagen. Merkwürdig, wieso gerade bei ihr? Was ist so anders an ihr, dass ich mich so fühle? Ich bin wirklich glücklich, denke ich irritiert.

Meine Arbeit lässt mich stets in eine fremde und aufregende Welt eintauchen. Eine Welt der Unbeschwertheit. Des Vergessens. Für die Dauer, die ich in meinem Studio verbringe, bin ich gelöst, abgelenkt. Zu tätowieren, andere Menschen mit meinem Talent erfreuen zu können, tut mir gut. Auch heute ist meine Arbeit wieder wie Balsam für meine Seele. Normalerweise bin ich jedoch sehr professionell, was den Umgang mit meinen Kunden angeht. Heute allerdings ging meine Fantasie mit mir durch. Die Nähe, welche ich bei Clara eben genossen habe, berührt etwas in mir. Sie hat mich während des Tätowierens nervös gemacht. Clara zu berühren, war mehr, als nur Haut unter den Händen zu spüren und diese zu tätowieren. Jeden Tag fasse ich die unterschiedlichsten Körperstellen von Kunden an, um sie zu verschönern. Doch diese makellose, leicht gebräunte Haut war samtweich und roch unglaublich gut. Fast zu gut. Sie war alles andere als gewöhnlich – in jeder Hinsicht.

Am frühen Abend fahre ich wie abgesprochen zu meinen Eltern. Sie leben ebenfalls in München, ganz in unserer Nähe. Am Straßenrand läuft eine junge Frau mit braunen Haaren entlang. Als ich auf ihrer Höhe bin, verlangsame ich das Tempo und schaue erwartungsvoll in ihre Richtung, um ihr Gesicht zu erkennen. Die Ernüchterung trifft mich schwer, denn es ist nicht Clara. Ich gebe Gas, schaue nach vorn und konzentriere mich auf die Straße, um pünktlich um 18:30 Uhr zum Essen zu kommen.

Während des gesamten Abendessens, der selbst gemachten Pizza meiner Mutter, schleichen sich ständig mandelförmige braune Augen in meine Gedanken. An Clara zu denken, lenkt mich ab. Ich bin nicht hundertprozentig bei Lillie oder dem Essen und es macht mich langsam wahnsinnig. So etwas ist mir noch nie passiert. Klar gab es schon Frauen, aber keine, die sich so in meine Gedanken geschlichen und mir den Verstand geraubt hat, nachdem ich sie nur einmal gesehen habe. Zweimal fragt mich meine Mutter – oder ist es Lillie? – etwas und ich reagiere nicht darauf, da ich noch immer nur an diese zarte, leicht gebräunte Haut denken kann. Claras Haut. Zu gern hätte ich sie nach dem Stechen noch in ein Gespräch verwickelt, aber ich stand mir mal wieder selbst im Weg. Ich wusste nicht, was ich hätte fragen können, ohne dass es so wirkt, als würde ich sie ausquetschen wollen. Dabei interessiert es mich wirklich, wie sie lebt, wie sie ihren Alltag bestreitet, mit was sie sich ihren Lebensunterhalt verdient. Clara ist ein Mensch voller Widersprüche und Gegensätze. Ihr zartes Wesen in Kombination mit ihrer scharfen Zunge macht sie so interessant für mich. Klein und zart ist ihre Gestalt, doch ihre Antworten kommen schnell, provokant und alles andere als schüchtern. Diese Mischung aus zerbrechlich wie Porzellan und scharf wie Chili bringt meine Gedanken völlig durcheinander. Das Einzige, was ich über sie weiß, ist, dass sie mit ihrem schwulen Freund zusammenwohnt. Klar habe ich ihre Daten, also ihre Adresse, doch ich kann ja wohl schlecht bei ihr zu Hause auflaufen und sagen: »Hey, ich bin es, dein Tätowierer. Was machst du heute noch so? Lust auf nen Kaffee – mit mir?« Nein, das geht doch nicht, versuche ich die Gedanken an sie abzuschütteln und widme mich wieder dem Essen und meiner Familie.

Nach dem Abendessen versorgt uns meine Mutter noch mit Essen zum Mitnehmen, welches sie in ihren heiß geliebten „Lock & Lock“-Dosen verstaut. Meine Einwände, sie müsse das nicht tun, habe ich schon längst aufgegeben. Sie macht es gern, das betont sie jedes Mal aufs Neue. So läuft meine Mutter Maria mit ihrem Göttergatten, meinem Vater Korbinian, Arm in Arm mit uns zum Tor ihrer Einfahrt. Wir umarmen uns zum Abschied und bedanken uns für die leckere Pizza. Anton bellt zum Dank. Lillie quittiert ungeduldig unsere Verabschiedung, indem sie sich an mich hängt, mit ihren Händen an meinen Armen zerrt, immer lauter wird und schließlich fragt: »Papa, darf ich mal wieder bei Oma und Opa schlafen? Es ist schon so lange her.« Sie blickt so bettelnd und mitleidig drein, dass ich einen unbeholfenen Blick zu meinen Eltern werfe.

Meine Mutter legt ihren Kopf schief und antwortet an meiner Stelle: »Aber natürlich, mein Schatz. Dieses Wochenende geht es leider nicht, wir sind mit Karin und Andreas zum Kartenspielen verabredet. Aber was hältst du vom nächsten Wochenende?«

Mein Vater wendet sich ebenfalls an Lillie und ergänzt: »Lass mich beim Schafkopfspielen gewinnen und ich lade dich und deine Oma auf ein großes Eis ein.«

Lillie hüpft vor Freude auf und ab, zieht an meinem Arm und ruft beschwingt: »Juhu, ich freue mich so. Ich schlafe bei Omi und Opi. Juhu!« Dankend und zugleich vorwurfsvoll schaue ich meine Eltern an.

»Ihr wisst schon, dass sie mich jetzt eine Woche lang jeden Tag mindestens zwanzigmal fragt, wann sie bei euch schläft?«, sage ich in verzweifeltem Tonfall.

Mein Vater meint darauf bloß: »Stimmt, das war unüberlegt von uns. Aber man muss auch Opfer bringen, mein Sohn.« Anschließend klopft er mir kurz auf die Schulter, wie um seine Worte zu unterstreichen. Wir verabschieden uns nochmals und gehen dann zum Auto. Anton springt in den abgetrennten Kofferraum meines Jeeps und Lillie nimmt hinten auf ihrer Sitzschale Platz.

Wir winken wie jedes Mal aus den geöffneten Fensterscheiben, während wir die Einfahrt der besten Großeltern der Welt entlangfahren.

Auch wenn ich mit Lillie alles so gut wie möglich alleine meistere und stolz darauf bin, so weiß ich doch, dass wir ohne die Unterstützung meiner Eltern und meiner Schwester Magdalena nicht da wären, wo wir heute sind.

Mit einem Baby alleine dazustehen und das auch noch als Mann, ist nicht ohne. Arbeiten und sich gleichzeitig um das erkrankte Kind kümmern zu müssen, das infolge eines Hirnschlages eine Behinderung davongetragen hat – was auch erst einmal verarbeitet sein will –, war und ist einfach die Hölle.

Man versteht nicht, was und wieso das alles passiert ist. Als wäre man in einem Strudel gefangen, der einen immer weiter in die Tiefe zieht. Und es bleibt einem nichts anderes übrig, als auf den harten Aufprall zu warten, der einfach nicht kommen will.

Meine Eltern waren und sind mein Netz, mein Halt. Sie haben mich immer aufgefangen und unterstützt.

HerzWinter

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