Читать книгу Leni Behrendt Staffel 3 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 5

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Silvester war’s. Nur noch drei Stunden waren dem alten Jahr beschieden, dann mußte es abtreten und dem neuen Platz machen. Nun, dann sollten ihm seine ungebärdigsten Trabanten wenigstens noch den Abschiedsmarsch blasen, was sie denn auch mit dem größten Vergnügen taten.

Huuuiii! orgelte der Nordost mit Hohngelächter. Sein starker Atem blies die Flocken durcheinander, die vom grauverhangenen Himmel kamen und ausgeschickt waren, um die Erde warm und weich zuzudecken mit ihrem schneeigen Weiß. Doch bevor sie noch die Erde erreichten, ließ der blanke Frost, ein Spießgeselle des Nordosts, sie zu Eisnadeln erstarren.

Wehe dem Menschen, der bei dem eisigen Wetter unterwegs war. Der irrte bei dem Schneegestöber bestimmt vom Weg ab und konnte Gott danken, wenn er irgendwo ein schützendes Dach erreichte, bevor er selbst zu Eis erstarrte.

Und die sich unter solch einem schützenden Dach befanden, wußten es bei dem Unwetter gar wohl zu schätzen. Wie zum Beispiel die Bewohner des Herrenhauses vom Hörgishof. Das Dach war stabil, die Stube warm, und die Polster waren weich, in denen man saß. Auf dem Tisch standen Gläser mit dampfendem Silvesterpunsch, ein bunter Knabberteller, und in der Röhre des vor Hitze fauchenden Kachelofens brutzelten Bratäpfel, gar lieblich ihren würzigen Duft verströmend.

Vier Menschen waren es, die auf dem bequemen Ecksofa saßen. Die Herrin des Hauses, Freiin Erdmuthe von Hörgisholm, eine stattliche Dame von zweiundfünfzig Jahren. Das dunkelblonde Haar, im Nacken zu einem weichen Knoten geformt, zeigte noch keinen grauen Faden. Aus dem rundlichen Gesicht mit den frischen Farben schauten zwei blaue Augen freundlich in die Welt. Eine gebietende Persönlichkeit, die Achtung erheischte, wohin sie auch kam.

Die zweite Dame, Ermenia von Hörgisholm, war klein und zierlich, flink und munter wie ein Wiesel. Unter dem mittelblonden, schlicht gescheitelten Haar lachten dunkelblaue Augen verschmitzt, das Gesicht der Endvierzigerin war rotwangig wie ein Äpfelchen.

Der ältere der beiden Herren, Rupert von Bärlitz, war groß und hager, das Gesicht wie gegerbtes Leder, das Augenpaar von intensiver Bläue. In dem rechten Auge klemmte das Monokel wie festgewachsen, beileibe nicht lächerlich wirkend, sondern die Persönlichkeit dieses Feudalherrn noch unterstreichend. Auf dem schmalen Kopf stand das leichtergraute Haar dicht wie eine Bürste.

Jedenfalls sah man auch heute noch dem vitalen Fünfziger den früheren Offizier sofort an, der er ja auch gewesen war in einem vornehmen Ulanenregiment. Genauso wie sein Schwager, Baron von Hörgisholm, der Gatte der Frau Erdmuthe. Als dann die Herrlichkeit nach dem Krieg zu Ende war, wurden sie beide Landwirte in fremden Diensten. Ein Schicksal, das sie mit tausenden andern teilten.

Leider starb Hilbrecht von Hörgisholm vor zwei Jahren und erlebte es somit nicht mehr, daß sein Sohn, gleichfalls ein Landwirt, von seinem Onkel zweiten Grades den Hörgishof erbte.

Dieser junge Erbe, Arvid von Hörgisholm, war der vierte in der gemütlichen Runde und unbestritten eine blendende Erscheinung. Wie Jung-Siegfried anzuschauen in seiner Blondheit, dem prächtigen Wuchs, dem rassigen, kühngeschnittenen Gesicht und den blitzblauen Augen mit dem scharfen Blick eines Falken. So die richtige Traumgestalt der schwärmerischen Frauenwelt.

Vor sieben Monaten hatte er das Erbe des Onkels angetreten – und zwar mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem lachenden, weil er nach jahrelanger Abhängigkeit in fremden Diensten sozusagen über Nacht zur eigenen Scholle kam, mit dem weinenden, weil das große Rittergut schon ziemlich heruntergewirtschaftet war. Denn Jasper Hörgisholm hatte damit Raubbau getrieben. Hatte immer nur Geld aus dem Besitz gepreßt, um seine kostspieligen Liebhabereien damit bezahlen zu können. Na was, leibliche Erben besaß er keine, und der andere bekam immer noch genug.

Doch der sollte nicht etwa denken, daß er das Gut so ohne weiteres verkaufen und sich das Geld dafür einstecken konnte. O nein, der sollte nur arbeiten, daß ihm die Schwarte knackte, wenn er Wert auf den Besitz legte. Wenn nicht, fiel er an eine Stiftung, so lautete das Testament.

Nun, der junge Freiherr hatte natürlich nicht verzichtet, er übernahm das verschuldete Gut.

Daß seine Mutter mit ihm ging, war selbstverständlich. Auch seine Tante Ermenia, die Schwester seines Vaters, die von jeher in dessen Haus gelebt hatte. Aber daß auch der vorzügliche Landwirt Rupert von Bärlitz sich anschloß, gleichfalls der tüchtige Kämmerer des Gutes, auf dem Arvid als Inspektor gearbeitet hatte, war für diesen ein außerordentlich großer Gewinn. Mit solchen Kräften zur Seite sollte es dem jungen Besitzer wohl gelingen, allmählich Ordnung in die Verwahrlosung zu bringen.

Übrigens gehörte noch jemand zu den Verschworenen. Und zwar der Diener des Verstorbenen, der laut Testament von dem Erben auf Lebenszeit zu übernehmen war. Jasper hatte ihn nämlich als verwaisten Knaben bei sich aufgenommen und sich in ihm einen vorbildlichen Diener herangezogen. Und so wie dieser dem einen Herrn gedient, so diente er auch dem andern. Und nicht nur als ausgesprochener Diener, sondern als Faktotum. Wenn irgendwo Not am Mann war, so war Franz zur Stelle – denn er hörte, sah, wußte und konnte alles.

Soeben trat er mit einem Tablett ein, auf dem Tassen und eine Kanne standen, aus der es aromatisch duftete. Ein Mann Anfang Dreißig, von mittelgroßer, geschmeidiger Gestalt. Tadellos rasiert und frisiert, mit der herablassenden Miene des herrschaftlichen Dieners. Peinlich saubere Hose und gestreifte Weste, ein Anzug, den Franz bei jeder Arbeit trug. Zu einer gröberen band er allerdings eine grüne Gärtnerschürze um.

Was da hinter ihm sichtbar wurde, war ein Wesen, das seinen Namen, Josepha Freundlich, zu Unrecht trug. Denn sie war eher mürrisch, die große, starkknochige Person, aber seit zwei Jahrzehnten ihrer Herrschaft treu ergeben, zuerst als Hausmädchen und jetzt als Mamsell. Überall fand sie sich zurecht und konnte arbeiten für zwei – genauso wie Franz.

»Sephchen, das stand doch gar nicht auf dem Tagesprogramm«, bemerkte die Hausherrin lachend, als ihre Getreue einen Teller mit knusprigbraunen Krapfen auf den Tisch stellte, und resolut erfolgte die Antwort:

»Ob Programm oder nicht, zu Silvester gehören diese Dinger nun mal. Guten Appetit.«

Weg war sie, gefolgt von Franz, und die anderen machten sich mit Vergnügen über die goldbraunen Bälle her.

Schön knusprig waren sie, der Zucker darauf glitzerte wie Christbaumschnee.

»Kinder, was geht es uns doch bloß gut«, stöhnte Ermenia vor Wohlbehagen beim Genuß des dritten Krapfens. »Wir haben bei diesem grausigen Wetter ein Dach überm Kopf, eine warme Stube und allerlei lukullische Genüsse. Ich muß schon sagen, daß für uns das alte Jahr einen guten Abschied nimmt.«

»Wenn auch mit Donnerwetter«, spann Rupert den Faden weiter. »Draußen muß ja Himmel und Erde zusammensein. Wehe den Ärmsten, die jetzt unterwegs sind.«

Kaum hatte er ausgesprochen, als die beiden Hunde anschlugen, die am warmen Ofen lagen. Jetzt schnellten sie auf, sprangen an der Tür hoch und vollführten einen Spektakel, der das Klopfen am Fenster übertönte. Erst als es sehr laut wurde, vernahmen es auch die vier Menschen.

»Gebt Ruhe, ihr Trabanten!« gebot Arvid, während er die Tür öffnete, durch die dann Spaniel und Langhaardackel kläffend sprangen und auf die Haustür zustürmten, gegen die von draußen jemand trommelte, und dann Sekunden später dem jungen Baron buchstäblich in die Arme sank.

»Hallo, hallo!« sagte er erschrocken, während er die Gestalt in die Halle zog, wo sich indes alle versammelt hatten, die zum Hause gehörten. Stumm sahen sie auf den späten Gast, von dem man zuerst nicht sagen konnte, ob er Männlein oder Weiblein war, weil er Skidreß trug. Erst als man die Haare bemerkte, die naß und strähnig unter der Kapuze hervorhingen, tippte man auf Femininum.

Und dieses bemühte sich nun, die klappernden Zähne auseinanderzukriegen.

»Draußen – auf dem Feld – liegt – meine – Verwandte. Sie konnte – nicht mit, sie ist – verletzt.«

Damit war das erschöpfte Menschenkind am Ende seiner Kraft und sackte zusammen. Doch schon packte Arvid es bei den Schultern und schüttelte es derb.

»Machen Sie gefälligst nicht schlapp, meine Gnädigste! Wir müssen wissen, wo die Verunglückte liegt, sonst geht sie bei dem Eissturm elendiglich zugrunde. Zum Kuckuck, so reißen Sie sich doch zusammen!«

»Ich – kann – doch – nicht mehr …«

»Sie müssen! Es geht hier um ein Menschenleben! Wo ließen Sie Ihre Verwandte zurück?«

»Weiß ich – doch nicht«, mühte sie sich verzweifelt ab. »Ich sah – schemenhaft – so ein langes – Gebäude, wahrscheinlich eine – Scheune. Darauf ging ich zu, dann sah ich – Licht.«

Das konnte sie gerade noch hervorstammeln, bevor Ohnmacht sie umfing. Da hob Arvid sie auf seine sehnigen Arme, trug sie ins Wohnzimmer, legte sie auf den Diwan und sagte kurz:

»Nehmt euch ihrer an, während wir drei Männer uns auf die Suche begeben. Bei diesem Höllenwetter wahrscheinlich kein Vergnügen.«

Damit eilte er dem Onkel und Franz nach, um sich zu dem schweren Weg zu rüsten. Zehn Minuten später trafen sie wieder in der Halle zusammen, im pelzgefütterten Skidreß, den Kragen hochgeschlagen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Augen durch eine große Schneebrille geschützt. Im Rucksack, den Franz trug, steckte außer anderen wichtigen Dingen auch eine Gurtentrage.

Draußen schlüpften sie in die Bretter und schlugen den Weg zur Scheune ein, die beiden Hunde zur Seite. Heulend umbrauste sie der Sturm, jagte ihnen den Eisschnee ins Gesicht, die Nadeln stachen wie spitze Messer. Im Nu waren Pelzkragen und Pelzmütze bereift.

Des ungeachtet strebten die drei Männer vorwärts, mit dem starken Schein ihrer Taschenlampen, die sie am Riemen um den Hals trugen, die weiße Fläche absuchend.

So mühsam der Weg auch war, sie mußten ihn gehen. Ein Mensch befand sich in Gefahr.

Und dann waren es die beiden Hunde, welche die Gesuchte aufspürten. Wie ein Häuflein Unglück kauerte sie am Boden, schon halb von Schnee bedeckt, über den sich bereits eine Eiskruste gebildet hatte. Als Arvid sie vorsichtig aufrichtete, stöhnte sie und griff mit der im dicken Fäustling steckenden Hand nach dem rechten Knie, worauf der Mann es behutsam abtastete.

»Etwa ausgeschlagen?« fragte Rupert kurz.

»Nein. Wahrscheinlich nur verrenkt oder durch Fall verletzt.«

Fünf Minuten später lag die Halberstarrte, fest in eine Decke gewickelt, auf der Bahre, die aus stabilen Gurten und zusammenlegbaren Stäben bestand. Arvid hatte dieses praktische Utensil im Nachlaß des Onkels gefunden, das nun gute Dienste leistete. Ohne es hätte man den Findling tragen müssen, was bei der Entfernung von gut zwei Kilometern und vor allen Dingen bei dem eisigen Schneesturm wohl kaum möglich gewesen wäre. So jedoch spürten der Baron und sein Diener die Last kaum, als sie auf den Skiern dahinglitten, zwischen sich die Trage. Günstig war noch, daß man jetzt den Wind im Rücken hatte und somit nicht gegen ihn anzukämpfen brauchte. Außerdem ließ das Schneegestöber nach, und man hatte bessere Sicht.

Wie dunkle Schemen wirkten die Gebäude des Gehöfts, auf das man Kurs nahm. Voran die beiden Hunde, hinterher die drei Samariter, so strebte man durch die weiße eisige Winternacht der warmen Stube zu.

Indes war man auch im Herrenhause nicht müßig gewesen. Hatte sich um die im wahrsten Sinne des Wortes Hereingeschneite emsig bemüht, ohne sie nach Nam’ und Art zu fragen. Hatte der völlig Erschöpften die nassen Kleider vom Körper gezogen, sie in ein warmes Flanellhemd aus Sephchens Bestand gehüllt, sie mit vereinten Kräften nach dem Fremdenzimmer getragen, wo das Hausmädchen indes den Kachelofen »eingeknallt« und das Bett mit warmen Krucken versehen hatte.

Kurz und gut, man hatte alles getan, was sich nur tun ließ, und wartete nun unten im Wohnzimmer bangklopfenden Herzens auf die zweite Fremde, während Grete oben bei der ersten Wache hielt. Und gerade, als die drei ersehnten Samariter mit der Trage über die Schwelle der Portaltür schritten, holte in der Halle die alte, behäbige Standuhr zu zwölf Schlägen aus.

»Prosit Neujahr«, sagte Rupert trocken. Und so mußte man lachen, obwohl das jetzt gar nicht angebracht war.

Oder doch? Denn sie lebten ja, die beiden hereingeschneiten Gäste, und das war wohl die Hauptsache.

»Wohin mit ihr?« fragte Arvid.

»Ins Fremdenzimmer«, gab die Mutter ebenso kurz Antwort, worauf man denn schweigend die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe mit den recht abgewetzten Läufern erstieg, mit vollzähligem Gefolge.

Es war ein geräumiges Zimmer, in dem die beiden Träger die Bahre abstellten. Nicht gerade elegant wirkend mit seinem zusammengewürfelten Hausrat, aber urgemütlich. Noch war es kalt in dem Raum, weil ja der Kachelofen erst vor einer halben Stunde geheizt worden war, aber die prasselnden Holzscheite würden bald für Wärme sorgen.

»So, nun waltet ihr Weibsen weiter eures Amtes«, brummte Rupert, dabei einen scheuen Blick nach dem Bett werfend, wo nichts weiter als ein dunkler Schopf sichtbar ward, so tief war der erste Fremdling unter das wärmende Deckbett gekrochen. Schleunigst entfernten sich die beiden Herren nebst ihrem Diener, und als erstere eine Weile später das Wohnzimmer betraten, wo sich indes auch die beiden Damen eingefunden hatten, waren sie frisch gekleidet von Kopf bis Fuß.

»Nun, wie geht’s unserm Findling?« erkundigte sich Rupert. »Ist er schon aufgetaut?«

»Das schon«, gab die Schwester zögernd Antwort. »Nur hat sich die junge Dame das Knie verletzt. Zwar zeigt es keine Wunde, ist jedoch erheblich geschwollen. Sephchen meint wohl, daß ihre Wundersalbe helfen wird, aber wenn es nicht der Fall sein sollte, werden wir den Arzt zu Rate ziehen müssen.«

»Wie ist ihr Zustand sonst?«

»Sie ist völlig erschöpft, wie ihre Begleiterin auch. Kaum daß diese imstande war, Nam’ und Art zu nennen, da übermannte sie auch schon wieder der Schlaf.«

»Und wer sind die Damen?«

»Die jüngere ist die Tochter des Industriellen Wiederbach aus der Kreisstadt, die ältere, deren Verwandte, ein Fräulein Arnhöft.«

»Nanu, wie kommen solche Damen der ersten Gesellschaft um Mitternacht in unsere einsame Gegend, dazu noch bei dem Winterwetter?«

»Das konnte sie nicht mehr erklären, weil sie zu erschöpft war. Als ich sie fragte, ob man Herrn Wiederbach benachrichtigen müßte, meinte sie, daß es nicht erforderlich wäre.«

*

Am Neujahrsmorgen hatte wohl der Sturm nachgelassen, aber es schneite unentwegt weiter.

Auf dem riesengroßen Gutshof herrschte heute Feiertagsruhe. Selbst das Geflügel befand sich bei der Kälte von minus 16 Grad in dem warmen hellen Stall.

Erst kaum vernehmbar, dann immer lauter drang in diese feierliche Stille ein Geratter. Es rührte von der Kleinbahn her, die sich eilfertig die Schienen entlangschlängelte und dann zischend vor der Wellblechbude hielt, die auf Hörgishöfer Gelände stand und dessen Bewohnern, zu denen ja auch die Leute aus den Insthäusern zählten, eine bequeme Verbindung zur Stadt bot. Gleichfalls den Kleinbauern, die ihre Höfe in der Nähe hatten und über kein Auto verfügten.

Heute jedoch stieg kein Fahrgast weder aus noch ein. Denn erstens war Feiertag, wo es für die Landbewohner in der Stadt nichts zu besorgen gab, und dann war es, wie schon gesagt, bitter kalt. Da blieb man, wenn man nicht unbedingt hinaus mußte, in der warmen Stube, wohin auch die beiden Männer strebten, nachdem sie die Milchkannen eingeladen hatten. Eine tägliche Beschäftigung, die selbst an Sonn- und Feiertagen ausgeführt werden mußte.

Bevor die Lokomotive sich wieder schnaufend und zischend in Bewegung setzte, stieß sie einen grellen, langgezogenen Pfiff aus, der im Herrenhaus ein junges Mädchen aus tiefem Schlaf riß. Erschrocken fuhr es aus dem Kissen hoch, um gleich wieder mit einem Wehlaut zurückzusinken. Die Hand tastete zum rechten Knie, das mit einer Binde umwickelt war. Die Augen hasteten durchs Zimmer und blieben dann an dem gegenüberstehenden Bett hängen, unter dessen Zudecke es sich nun auch zu regen begann. Ein dunkelhaariger Kopf hob sich, zwei grüngraue Augen trafen sich mit zwei blauen.

»Guten Morgen, Gun«, sprach dann eine lachende Stimme. »Du machst ja ein Gesicht, als ob die Katz donnern hört.«

»Mach jetzt keine Witze«, kam es ungnädig zurück. »Sag mir lieber, wo wir uns befinden.«

»Im Hause unserer Retter.«

»Und wer sind die …?«

»Keine Ahnung. Als du stürztest und nicht wieder hochkommen konntest, bin ich losgetaumelt, immer dem Lichtschein zu, der von irgendwo blinkte und Rettung verhieß – die uns dann auch wurde, sonst lägen wir bestimmt nicht in so molligen Betten. Aber was das für Menschen sind, die sich unserer Not erbarmten, weiß ich nicht, ich war zu futsch und weg. Kein Wunder, nach dem entsetzlichen Weg durch den Eissturm, durch den ich mich mühsam Schritt für Schritt ringen mußte. Und alles nur wegen deiner verflixten Flirterei und der Feigheit, die Konsequenzen zu tragen.«

»Schilt jetzt nicht«, warf die andere kläglich ein. »Mein Knie tut mir so weh.«

»Geschieht dir ganz recht«, kam es brummend zurück. »Was man mit dir für Scherereien hat, steht wohl einzig da.«

»Willst du nicht mal nach meinem Bein sehen, liebes Karlchen?«

»Wollen bestimmt nicht, höchstens müssen, da ich Ärmste ja so eine Art Sklavin von dir bin.«

Also stand sie auf und stolperte mal erst über das Nachthemd, das für ihre zierliche Figur viel zu lang und zu breit war.

»Du meine Güte, wem mag der Talar wohl gehören?« beäugte sie neugierig das Kleidungsstück aus buntgemustertem Flanell, das lange Ärmel hatte und bis zum Hals geschlossen war. Dann hob sie das Gewand an beiden Seiten hoch und bekam so die Füße frei. Drei Schritte, dann stand sie vor dem anderen Bett und sagte lachend:

»Deine Umhüllung scheint das Pendant zu meiner zu sein, so richtig solide siehst du aus. Schade, daß deine Anbeter dich nicht so sehen können.«

»Ich wüßte nicht, daß ich mich jemals meinen Anbetern im Nachthemd gezeigt hätte.«

Es klopfte, und gleich drauf steckte sich ein Kopf durch den Türspalt.

»Ist’s erlaubt einzutreten?«

»Man immer zu«, ermunterte Karola, worauf denn Josepha sichtbar wurde. Sie bot einen guten Morgen und trat zu den beiden Mädchen, die ihr mit begreiflicher Neugier entgegensahen.

»Nun, wie geht’s denn den Damen?«

»Danke, Frau …?«

»Ich bin keine Frau, ich bin die Mamsell«, wurde Karola kurz belehrt. »Was macht denn Ihr Bein?«

»Es tut weh. Allerdings nur, wenn ich es bewege.«

»Dann halten Sie es still. Lassen Sie mal sehen.«

Nachdem Josepha das Knie kritisch betrachtet hatte, nickte sie zufrieden.

»Die Geschwulst ist erheblich zurückgegangen. Kein Wunder bei meiner Salbe.«

»Und doch sieht das Knie immer noch böse genug aus«, wagte Karola einzuwenden. »Könnten Sie vielleicht einen Arzt herkommen lassen?«

»Können schon. Aber warum den Mann bei so einem bißchen aus der warmen Stube jagen, dazu noch am Feiertag. Das da krieg ich mit meiner Salbe sehr gut hin.«

Sie zog aus der Schürzentasche ein Büchschen mit der Wundersalbe, die sie auf das verletzte Knie des Mädchens schmierte.

So grob die Hände auch aussahen, so behutsam gingen sie um. Dann wurde wieder die Binde umgetan, ein ­kleines Kissen unter die Kniekehle geschoben und Karola eingehend betrachtet.

»Na, Sie sehen ja ganz munter aus. Gehen Sie wieder ins Bett zurück, damit Sie sich nicht erkälten.«

»Die ist vielleicht kurz angebunden«, sagte Gun unbehaglich, nachdem sich die Tür hinter Josepha geschlossen hatte. »Die macht ja gar kein Hehl daraus, wie unerwünscht wir hier sind.«

»Wundert dich das etwa?« fragte Karola achselzuckend, während sie sich unter das wärmende Deckbett streckte. »Ich weiß nicht, ob wir sehr liebenswürdig wären, wenn zwei Wildfremde störend in unsere Silvesterfeier hineinplatzten und eine davon bei einem mörderischen Schneesturm auf der Bahre ins Haus geholt werden müßte, wie es ja bei dir der Fall war. Ich habe zwar so gut wie gar nichts von dem allen mitgekriegt, weil ich total fertig war, aber soviel immerhin, daß wir das Haus hier gewissermaßen auf Stützen stellten. Und das alles in der Silvesternacht – peinlich genug.«

Sie wurde durch den Eintritt Josephas unterbrochen, die ein besetztes Tablett trug, während das Hausmädchen Grete mit einem zweiten folgte, lachend über das ganze rotbackige Gesicht.

»Stell das Tablett auf das Tischchen, und dann hilf mir das Fräulein da aufsetzen«, gebot Josepha brummig. »Aber sei dabei bloß vorsichtig, das rate ich dir.«

»Ich werd’ schon«, versprach die dralle Maid und packte dann doch so herzhaft zu, daß es bestimmt blaue Flecken auf den zarten Mädchenarmen hinterließ. Aber Gun saß, und das war ja schließlich die Hauptsache. – Sie bekam ein Tablett vorgesetzt, Karola das zweite, und Sephchen knurrte:

»Jetzt essen Sie, alles Weitere wird sich finden.«

Gewichtigen Schrittes ging sie, von Grete gefolgt, hinaus, und die beiden Mädchen machten sich über das Frühstück her, obwohl es ihnen nicht gerade freundlich gereicht worden war. Sie hätten es gewiß abgelehnt, wenn sie nicht so hungrig gewesen wären; denn sie hatten seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Also ging der Hunger über ihren Stolz, und sie ließen sich das ländliche Frühstück gut munden.

*

Bevor Karola nach unten ging, sah sie sich hier oben erst einmal um und bemerkte einen langen, breiten Korridor, der rechts eine Anzahl Flügeltüren und links Nischen mit Fenstern aufwies. Obwohl das alles dringender Reparatur bedurfte, machte es dennoch irgendwie einen feudalen Eindruck, wie man diesen nur in alten Herrenhäusern findet. Ein Duft umwehte sie wie von Rosen und Lavendel.

Langsam stieg Karola die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe hinab, deren Läufer immer noch dick und weich war, obwohl er abgetretene Stellen aufwies.

Und dann die Halle mit ihrem Mosaikboden, den altertümlichen Truhen und Schränken, den wuchtigen Sesseln vor dem Marmorkamin, den nachgedunkelten Bildern in schweren Gold­rahmen, den Fellen, altertümlichen Waffen – das alles machte Karola Arnhöft, die als Pflegekind der reichen Wiederbachs an allerlei Pracht gewöhnt war, nun doch beklommen. Wo war sie hier nur hingeraten!

Zögernd stand sie da, nicht wissend, welche der vielen hohen und reichgeschnitzten Türen sie öffnen sollte, bis sie hinter einer Stimmen hörte, da gab sie sich einen Ruck, klopfte.

Und stand gleich darauf in dem Wohngemach, wo Familie Hörgisholm vollzählig versammelt war. Mollig warm war es darin und ungemein traulich. An dem Sekretär, ein Prunkstück alter solider Wertarbeit, saß die Hausherrin und machte Eintragungen ins Wirtschaftsbuch. Ermenia strickte, und die beiden Herren lasen landwirtschaftliche Berichte. In einer Ecke tickte die Standuhr, auch ein altes Prachtstück mit gemütlichem Brummton, in der Ofenröhre summte das Wasser. Die einzigen Geräusche in dieser friedlichen Stille, die dann der Eintritt des Fremdlings unterbrach. Die beiden Herren sprangen auf, Rupert von Bärlitz trat auf sie zu – und als Karola in das hagere Aristokratengesicht mit dem Monokel sah, da festigte sich die Vermutung, die sie auf dem Weg hierher hatte.

»Oha, da haben wir ja schon eines unserer Schneevöglein, die uns die eisige Silvesternacht ins Haus wehte«, klang seine tiefe Stimme auf. »Darf ich nachholen, was wir angesichts Ihrer gestrigen Erschöpfung unterlassen mußten, und Sie willkommen heißen? Gestatten: Rupert Bärlitz, und die andern, meine Schwester mit ihrem Sohn und ihrer Schwägerin, nennen sich Hörgisholm.«

Nachdem die allgemeine Begrüßung erfolgt war, nahm man Platz, und Erdmuthe sagte nach einem prüfenden Blick in das Gesicht des Gastes:

»Angegriffen sehen Sie schon noch aus, Fräulein Arnhöft. Schließlich auch kein Wunder nach der entsetzlichen Strapaze.«

»Die ich jedoch ganz gut überstanden habe«, entgegnete Karola verlegen. »Es ist mir nur so schrecklich peinlich, daß ich Ihnen hier die Silvesterfeier störte.«

»Nun, nun«, wehrte die Hausherrin liebenswürdig ab. »Es braucht Ihnen gewiß nicht peinlich zu sein, was wir als Selbstverständlichkeit erachten. Wie geht es Fräulein Wiederbach?«

»Auch sie hat alles ganz gut überstanden – bis auf das Knie. Wohl ist die Geschwulst erheblich zurückgegangen, aber vielleicht ist es doch besser, wenn meine Verwandte in ärztliche Behandlung kommt. Daher werde ich zu Hause anrufen und den Wagen bestellen, ich müßte nur wissen, welchen Weg der Chauffeur einschlagen muß. Wollen Sie mir bitte den Weg erklären?«

»Gern«, gab Rupert Antwort. »Aber ich fürchte, daß der Wagen nicht durch die Schneemassen kommt, die vom scharfen Nordost stellenweise zu Schanzen aufgeweht sind. Wohl könnten wir Ihnen einen Schlitten zur Verfügung stellen, aber ob er es schafft, ist gleichfalls fraglich. Die einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen, wäre die Kleinbahn – wenn nicht auch sie wegen Schneeverwehungen die Fahrt einstellen muß.«

»Aber es gibt doch Schneepflüge, um die Straßen frei zu machen.«

»Was einer Danaidenarbeit gleichkäme«, warf Bärlitz trocken ein. »Schauen Sie doch mal nach draußen, wie es da lustig weiterschneit. Diese weißen Massen decken im Nu wieder zu, was die Pflüge wegschafften. Die müssen sowieso schon Tag und Nacht auf Tour sein, um wenigstens die Hauptstraßen einigermaßen befahrbar zu halten, wir jedoch liegen drei Kilometer von der Chaussee entfernt.

Und nun machen Sie nicht so ein unglückliches Gesicht, gnädiges Fräulein. Wenn Sie einige Tage hier ausharren müßten, wäre das denn so schlimm?«

»Ganz gewiß nicht, aber wir können Ihnen doch nicht noch länger zur Last fallen.«

»Na, so unleidlich werden Sie sich doch wohl nicht benehmen«, lachte Erdmuthe. »Am wichtigsten ist momentan, daß Sie sich zu Hause melden, wo man sich um Ihr und Fräulein Wiederbachs Ausbleiben Sorge machen wird, oder etwa nicht?«

»Nein, gnädige Frau. Man nimmt dort an, daß wir uns in der Schneeberger Skihütte befinden, wo wir mit anderen Mitgliedern des Skiklubs Silvester feiern wollten. Bei uns kann nämlich jeder nach seiner Fasson selig werden.«

»Auch die Tochter des Hauses?«

»Die ganz besonders, gnädige Frau. Gudrun bekam schon als Kind jeden Willen, weil die Eltern in sie vernarrt waren. Also kein Wunder, daß sie sich zu einer kleinen Tyrannin auswuchs, die nur einen Willen kennt: den eigenen.«

»Ach du liebes bißchen«, kratzte Rupert sich den Kopf. »Jetzt sagen Sie bloß noch, gnädiges Fräulein, daß die junge Dame schön und reich ist.«

»Stimmt«, lachte Karola. »Dazu verfügt sie noch über einen Charme, dem niemand sich entziehen kann – ich leider auch nicht immer. Damit macht sie mir meine Beschützerrolle bestimmt nicht leicht.

Ich habe nämlich ihrer Mutter, die vor vier Jahren an einer unheilbaren Krankheit langsam zugrundeging, versprechen müssen, Gudrun nie zu verlassen, was ich ohnehin nicht getan hätte. So kann ich wenigstens den Dank an die Tochter abstatten, zu dem ich der Mutter stets verpflichtet war. Denn sie nahm mich, als die meine starb und ich somit verwaiste – mein Vater war schon zwei Jahre früher gestorben – in ihr Haus, behandelte mich genauso liebevoll wie ihr eigenes Kind und hat mich im Testament auch noch mit einem guten Batzen bedacht. Und wenn ich nun noch sage, daß der Witwer nach Ablauf des Trauerjahres die Witwe seines Konkurrenten heiratete, dadurch die beiden Werke miteinander verschmelzend – und daß die Witwe einen Sohn mit in die Ehe brachte, so habe ich alles das gesagt, was Sie wissen müssen von Ihren Gästen – auch wenn es nur hereingeschneite sind.«

»Und wir danken Ihnen für Ihr Vertrauen, Fräulein Arnhöft«, sagte Erdmuthe herzlich. »Darf ich nun noch fragen, wie das Verhältnis zwischen Stieftochter und Stiefmutter ist?«

»Die vertragen sich gut, weil sich einer um den andern nicht kümmert.«

»Und was sagt Herr Wiederbach dazu?«

»Der ist zufrieden, daß es keinen Streit gibt. Er gehört nämlich zu den Menschen, denen persönliche Ruhe heilig ist.

Im übrigen lebt es sich gut in dem großzügigen Hause, wo Geld gewiß keine Rolle spielt. Und daß es immer noch mehr wird, dafür sorgt Wiederbach als vorzüglicher und sehr vorsichtiger Kaufmann. Zwar ist er wagemutig, Spekulationen jedoch verabscheut er.

Dem Hausstand ist seine Schwägerin eine vorzügliche Repräsentantin. Sie knausert keineswegs, hält aber Verschwendung für ein Laster.«

»Und wie verhält sich die Hausherrin zu alledem?« fragte Rupert interessiert.

»Die ist froh, daß sie mit dem ganzen Wirtschaftskram nicht behelligt wird, ist Gast im eigenen Hause.«

»Also eine Mondäne?«

»Kann man so nennen. Ihr Sohn, ein netter Bengel von zehn Jahren, hängt an seinem Stiefvater und an uns bedeutend mehr als an seiner Mutter.«

»Darf er vielleicht auch machen, was er will?« fragte der junge Baron trocken, und Karola lachte.

»Jawohl, da ja bei uns jeder nach seiner Fasson selig werden kann, wie ich vorhin schon bemerkte. Darf ich mal den Apparat benutzen?«

»Bitte sehr.«

Da die Verbindung auf sich warten ließ, wollte Karola schon den Hörer ablegen, als sich endlich am andern Ende der Diener meldete. Und was er da sagte, ließ sie überrascht aufhorchen.

»Wann sind denn die Herrschaften aufgebrochen? Gegen Abend? Nun, da war das Wetter ja noch manierlich. Hören Sie mal gut zu, Jan. Wenn Herr Wiederbach anruft, dann sagen Sie ihm, daß auch wir eingeschneit sind. Es ist absolut keine Veranlassung zur Beunruhigung, es geht uns gut. Sobald wie möglich kommen wir nach Hause. Haben Sie alles verstanden? Na schön. Ende.«

»So was nennt man Duplizität der Ereignisse«, legte sie lachend den Hörer auf. »Denn meine Verwandten sind genauso eingeschneit wie Gudrun und ich. Wie mir der Diener sagte, ist gestern gegen Abend ein Bekannter erschienen und hat die Gesellschaft, die sich bereits zur Silvesterfeier eingefunden hatte, in Bausch und Bogen nach seinem Jagdhaus entführt. Und da sich dieses mitten im Wald befindet, so liegt denn auch die ganze Gesellschaft mit ihren Wagen fest. Man soll aber recht fidel dabei sein, wie Wiederbach dem Diener sagte. Also sehe ich nicht ein, warum ich Trübsal blasen soll.«

»Recht so«, lachte die Hausherrin gleich den andern. »Was die dort können, das können wir hier auch. Und damit Fräulein Wiederbach da oben so allein nicht wirklich Trübsal blasen muß, holen wir sie nach unten. Wozu haben wir denn zwei Männer mit starken Armen.«

»Die hoffentlich nicht gebraucht werden!« fiel Karola hastig ein. »Zu leicht wollen wir es dem unnützen Ding denn doch nicht machen, es womöglich noch auf Händen tragen. Mag sie nur auslöffeln, was sie sich mit ihrer verflixten Flirterei wieder einmal einbrockte. Dadurch sind wir ja nur in so eine entsetzliche Notlage geraten, die für uns zum Verhängnis geworden wäre, hätten sich nicht Menschen gefunden, die uns in ihrer Hilfsbereitschaft davor bewahrten …

Das war nämlich so«, fuhr sie verlegen fort. »Zwei Klubmitglieder, mit denen das unverbesserliche Gör zu gleicher Zeit lustig drauflos flirtete, gerieten ihretwegen in Streit, worauf sie denn feige von der Bildfläche verschwand, um nach Hause zurückzukehren. Ich mußte natürlich mit, da ich doch nun mal ihr geplagtes Kindermädchen bin.

Zuerst ging auch alles ganz gut, bis der Schneesturm losbrach und wir dadurch Sicht und Richtung verloren. Zum Unglück stürzte Gudrun noch, schlug mit dem Knie auf die Kante des einen Ski, blieb hilflos liegen, und ich konnte zusehen, wo ich Hilfe aufstöberte. Man hat schon seine Not mit dem charmanten Flirt, wie ihr Vater sie schmunzelnd nennt«, schloß sie seufzend, und Erdmuthe sagte lachend:

»Es scheint aber eine liebe Not zu sein, nicht wahr, Fräulein Arnhöft?«

»Na ja, was soll man schon machen«, kam es gottergeben zurück. »Sie ist mir doch nun mal ans Herz gewachsen, trotz ihrer Unnützigkeit. Und wenn sich nicht ein Mann findet, der mich von meinem Beschützeramt erlöst, so kann ich das schwere Amt schleppen bis an mein seliges Ende.«

Es klang so kläglich, daß die andern amüsiert auflachten. Und mit ihnen die dralle Maid, die sich ins Zimmer schob.

»Nun, Grete, was gibt’s?« fragte die Hausherrin freundlich. »Du siehst mir so aus, als ob du etwas auf dem Herzen hättest.«

»Hab’ ich nicht, Frau Baronin«, wurde treuherzig behauptet. »Ich soll bloß das Fräulein da zu dem andern nach oben schicken, weil es ungeduldig ist und Launen hat. Das Knie tut nicht mehr weh, sie will man bloß Gesellschaft haben.«

»Für ihre Launen?« fragte Rupert dazwischen.

»Aber nein doch, Herr von Bärlitz, für sich. Und nun geh’ ich, weil ich alles bestellt habe.«

Damit trollte sie zufrieden ab, und Karola folgte ihr auf dem Fuß.

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, brummte Gudrun, nachdem ihr Karola die Klemme, in der sie steckten, erklärt hatte. »Was sind das da unten eigentlich für Leute?«

»Du wirst lachen! Die ›Leute‹ sind die Frau Baronin von Hörgisholm mit Schwägerin, Sohn und Bruder, einem Herrn von Bärlitz, denen man ihre vornehme Abstammung sieben Meilen gegen den Wind ansieht.«

»Ach du lieber Gott«, sagte Gudrun erschrocken, fing sich dann aber rasch wieder und fragte neugierig:

»Wie alt sind die Herren denn ungefähr?«

»So um die Achtzig.«

Zuerst war Gudrun verblüfft, doch dann lachte sie hellauf.

»Na, dann muß die Mutter des Barons so um die Hundert sein. Wenn du schon schwindelst, Karlchen, dann tu es nächstens geschickter.«

»Und du tu mir den Gefallen und fang nicht womöglich mit den Herren an zu flirten nach beliebter Art. Damit würdest du uns höchstens blamieren.«

»Aber Karlchen, wer tut denn so was«, tat Gun entrüstet, während der Schelm ihr aus den Augen lachte.

»Wenn die Herren damit nicht anfangen, ich tu’ es bestimmt nicht.«

»Gott gäb’s«, seufzte Karola. »Was macht dein Knie? Wirst du aufstehen und nach unten kommen können?«

»Ich will es versuchen. Du mußt mir beim Ankleiden helfen.«

Zehn Minuten später humpelte sie denn am Arm Karolas davon, tapfer den Schmerz verbeißend, den ihr das geprellte Knie bei jedem Schritt verursachte. Trotzdem strahlte sie, als sie im Wohnzimmer stand, und strömte das Fluidum aus, das sie so unwiderstehlich machte.

So ein richtiges holdes Mädchenwunder, dachte Rupert, der dann auch die Vorstellung übernahm, worauf Gudrun auf die Hausherrin zuhumpelte und sich artig über ihre Hand neigte.

»Verzeihen Sie, Frau Baronin, daß ich Ihnen so viel Unruhe ins Haus brachte«, bettelte sie mit Augen und Lippen. »Und wie mir meine Verwandte eröffnete, sind wir durch den starken Schneefall gezwungen, Ihnen weiter zur Last zu fallen.«

»Darauf möchte ich Ihnen dieselbe Antwort geben wie vorhin Fräulein Arnhöft«, entgegnete die Dame trocken. »Nämlich: So unleidlich werden Sie sich doch wohl nicht betragen, um uns zur Last zu fallen. Und nun nehmen Sie rasch Platz; denn das Stehen tut Ihrem verletzten Knie bestimmt nicht gut. Haben Sie noch arge Schmerzen?«

»Nur wenn ich das Bein strecke und aufsetze, aber auch dann ist der Schmerz erträglich. Die Salbe der Mamsell hat tatsächlich Wunder gewirkt.«

»Für uns schon längst mehr kein Wunder, dieses Wunder. Hier kuriert alle und alles unser Sephchen mit der Salbe, vom Schnupfen angefangen bis zum …«

»Liebeskummer«, warf Rupert schmunzelnd ein. »Sephchens Elixier aufs Herzchen geschmiert, hokuspokus, hinweg ist der Liebe Zaubermacht. Wenn die Damen also Verwendung haben sollten, Josepha Freundlich steht gern zu Diensten.«

»Josepha Freundlich?« dehnte Gudrun. »Heißt etwa die Mamsell so?«

»So ist es.«

»Ach du lieber Gott«, sagte Karola nur, doch es sprach Bände und löste bei den andern herzliches Lachen aus.

Nachdem Gun auch die andern begrüßt hatte, wobei sie nicht unterlassen konnte, die beiden Herren mit ihrem »nichtsnutzigen« Blick zu bedenken nahm sie in dem Sessel Platz, den Arvid ihr zurechtschob. Ermenia schob ihr ein Sofakissen unter die Kniekehle und so saß sie denn da, alle der Reihe nach anlachend.

Ein Menschenkind, einfach bezaubernd in seiner Jugendmaienblüte. Rank und schlank gewachsen, mit feinem Gesicht, hellbraun glänzendem Gelock und Augen so leuchtend wie kostbare Saphire. Dazu aus gutem Hause, tadellos erzogen, dazu noch reich, was Wunder, wenn die Männer ihr da eifrig den Hof machten.

Gudrun, die natürlich über ein selbstsicheres Auftreten verfügte, fühlte sich hier irgendwie beklommen, obwohl die Umgebung nicht die Prachtentfaltung aufwies, wie sie sie allein schon von ihrem Zuhause gewohnt war und die daher gar keinen Eindruck mehr auf sie machte. Doch dieser große Raum strömte ein Fluidum aus, für das sie keine Bezeichnung finden konnte.

Das machte wahrscheinlich die ganze Einrichtung, die gewiß nicht »dem letzten Schrei« entsprang, sondern aus einer Zeit stammte, wo noch Wert auf vornehme Gediegenheit gelegt wurde, wo noch jedes Stück ein Kunstwerk darstellte. Die Flächen der Mahagonimöbel glänzten wie Spiegelglas, die Beschläge gleißten wie pures Gold. Der Flügel, der inmitten des Raumes unnahbar seinen Platz behauptete, zeigte wundervolle Intarsien. Echte Teppiche, bequeme Postermöbel, duftige Gardinen gaben dem Gemach die Wärme, die Topfblumen auf den breiten Fensterbrettern etwas Fröhliches und die alte, herrliche Standuhr, so hoch und breit, daß man ohne weiteres in sie hineinkriechen konnte, mit ihrem brummenden Ticktack die Traulichkeit.

Und dann war da ein großes Gemälde, das im schweren Gold­rahmen an der einen Wand hing. Es zeigte eine Dame, die an die Königstöchter alter deutscher Sagen erinnerte – einen großen, schlanken Offizier in der Galauniform der Ulanen und einen vielleicht dreijährigen Knaben im grünen Samtanzug mit Spitzenkragen und Manschetten. Blonde Locken hingen diesem bildschönen Kind bis auf die Schultern, große Blauaugen strahlten aus dem weichen Gesichtchen.

Und dieses Bild gab dem Raum eine ganz besonders vornehme Note. Es raunte von Glanz und Pracht längst vergangener Zeiten. Wo es noch feudale Reiterregimenter gab und deren Offiziere stolz darauf waren, sich dazu zählen zu dürfen.

Wie gebannt schaute Gudrun Wiederbach auf das Gemälde, und als sie den Blick dann endlich von ihm losriß, ging er verstohlen zu der Hausherrin, die sich lebhaft mit Karola unterhielt, während die andern interessiert zuhörten.

Ja, das war unverkennbar die gleiche Dame wie auf dem Bild, nur um vielleicht ein Vierteljahrhundert älter geworden. Aber schön war sie auch heute noch – und vornehm.

Der kleine Knabe konnte wohl kein anderer als ihr Sohn sein, der mittlerweile ein Mann geworden war und daher keine Ähnlichkeit mit dem bildschönen Kind haben konnte.

Jetzt ging Gudruns Blick verstohlen zu ihm hin, der im Sessel saß und über etwas sprach, das sie nicht erfaßte. Sie lauschte nur der sonoren Stimme, der etwas Herrisches anhaftete, und stellte nachdenklich fest, daß ihr noch nie ein Mann begegnet war, der über ein so blendendes Aussehen verfügte. Keine Filmschönheit, bewahre, sondern durchaus männlich und rassig bis in die Fingerspitzen.

Jetzt lachte er, wobei die prachtvollen Zähne durch die hartgeschnittenen Lippen nur so blitzten. Die kräftige Linke, an der ein schwergoldener Ring blitzte, fuhr sich über das leichtgewellte Haar, das die Farbe reifen Korns hatte, die blauen Augen unter den dunklen Brauen blitzten.

»Kommt immer ganz auf das Wie an, mein gnädiges Fräulein«, bemerkte er neckend, und da Gudrun dem Gespräch nicht gefolgt war, wußte sie auch nicht, worum es ging. Aber da auch die andern lachten, mußte es schon etwas Amüsantes sein. Mal hinhören.

Doch bevor sie dazu kam, hallte der Gong, worauf die Hausherrin sich erhob und sich in ihrer liebenswürdigen Art, der jedoch eine gewisse Zurückhaltung anhaftete, an die beiden Mädchen wandte.

»Ich darf wohl die Damen bitten, an unserem Mittagsmahl teilzunehmen. Wird es mit dem Pfötchen gehen, Fräulein Wiederbach, oder soll mein Sohn Sie auf seine starken Arme nehmen? Er tut’s gern, nicht wahr, mein langer Schlingel?«

»Ehrensache, Muttchen«, entgegnete er schmunzelnd. »So lassen Sie sich denn von mir auf Händen tragen, mein gnädiges Fräulein.«

»Ach nein«, warf sie ihm einen ihrer nichtsnutzigen Blicke zu. »Ich spüre lieber Boden unter den Füßen. Aber Ihren Arm nehme ich gern.«

»Und meinen von der andern Seite«, trat Rupert rasch hinzu. Ohne Ziererei hakte Gudrun sich bei den Herren ein und hopste so frischfröhlich in das Speisezimmer, wo sie an der Tafel landete.

Nach der Suppe gab es einen delikaten Entenbraten nebst Schmorkohl, dazu trank man einen leichten Wein. Franz servierte mit der Feierlichkeit, die man sonst eigentlich nur bei den alten Herrschaftsdienern findet. Alles an ihm blitzte nur so vor Sauberkeit.

Der Tisch war so gedeckt, wie es der feinen Lebensart entspricht und wie man es anders hier auch gar nicht erwarten durfte. Auch hier war die Einrichtung alt und wunderbar gepflegt.

Mit dem Dessert endete dann das Mahl.

Man ging hinüber nach dem Frühstücksstübchen, dessen Boden von einem dicken Teppich bedeckt war. An den Wänden hingen wunderbare Gobelins, und Gobelinpolster zeigten auch die reichgeschnitzten Stühle, die den Tisch umstanden, über dem in einem schmiedeeisernen Gestell eine entzückende Laterne hing, durch deren buntes Glas das Licht in allen Farben schillerte. Durch das klare Glas des kunstvoll gearbeiteten Eckschrankes erblickte man wertvolles Porzellan, auf den Borden standen altertümliche Humpen.

Einzig schön war die Buntmalerei des Spitzbogenfensters und die Stickerei aus feinen Metallfäden, welche bis zur Hälfte den grünen Friesvorhang zierte, der an der gewölbten Öffnung zwischen Speise- und Frühstückszimmer hing. Wenn man den Vorhang bewegte, gab es einen klingenden Ton.

»Na, das ist hier vielleicht schön«, sagte Gudrun entzückt. »So ein trauliches Frühstücksstübchen sah ich noch nie.«

»Es ist auch unser ganzer Stolz«, verriet die Baronin, sich mit frohen Augen umschauend. »Was jedoch da mitten auf dem Tisch steht, ist wiederum der Stolz unseres Sephchens. Keine versteht die Waffeln so delikat zu backen wie sie.«

»Ist das ein Berg!« staunte Karola. »Den kann man doch unmöglich wegputzen.«

»Haben Sie eine Ahnung«, rieb Ermenia sich den Magen. »Sie sollen mal sehen, wie rasch der goldene Berg verschwindet. Wir sind nämlich Landleute, die essen, nicht nur naschen wie die Städter, die ja ständige Angst um ihre schlanke Linie haben. Die allerdings würden eine ganze Woche daran knabbern und dann die Hälfte noch weggeben.«

»Na, Ermelchen, wenn übertreiben – denn«, zwinkerte der Neffe ihr zu. »Tu nur nicht so großartig, die du auf dem Lande nicht für voll genommen wirst, weil du ein so schlechter Futterverwerter bist.«

»Na warte, du Schlingel!« drohte sie ihm entrüstet, lachte dann jedoch mit den anderen. Vergnügt nahm man am Tisch Platz, dann bewahrheitete sich das, was Ermenia voraussagte – die goldbraunen Herzen verschwanden gewissermaßen im Handumdrehen; worüber die beiden Gäste nicht wenig staunten.

Allerdings konnten sie nicht wissen, daß diese Waffeln feinster Art hier nicht oft gebacken wurden, weil die Zutaten hierfür recht kostspielig waren.

Wie sollten sie das auch wissen, die aus einem Hause kamen, wo Geld keine Rolle spielte, wo man die teuersten Delikatessen als Selbstverständlichkeit hinnahm. Sie hätten wohl große Augen gemacht, wenn man ihnen erklärte, daß hier selbst eine Mark von Bedeutung war. Daß man sie tatsächlich erst umdrehte, ehe man sich entschloß, sie für etwas auszugeben, was nicht unbedingt notwendig war. Daß man rechnen mußte, immer nur rechnen.

Nun, das erzählte man Gästen natürlich nicht, schon gar nicht solchen aus reichem Hause. Erstens wäre man auf Verständnislosigkeit gestoßen – und dann trugen die vier Menschen, die einst in Pracht und Glanz gelebt, nicht ihr Herz auf der Zunge.

In diesem kleinen Gemach gab es keinen Ofen. Da brannte im Kamin ein helles Feuer, das genügend Wärme spendete. Doch in den anderen Räumen, die durchweg hoch und weit waren, hätten die Kamine nicht genügt.

Und die Zentralheizung in Betrieb zu setzen, verschlang zuviel Geld. Mit dem, was der Koks kostete, konnte man schon ein anderes Loch zustopfen, deren es ja so viele gab.

Daher war man froh über die Kachelöfen, von denen es allerdings nur vier gab, im Wohn- und Speisezimmer und in den Arbeitszimmern der beiden Herren. Die konnte man mit Holz heizen, das der große Waldbestand reichlich abwarf.

Jedenfalls wurde das Wort Sparsamkeit in dem Hause recht groß geschrieben. Das Sattessen gönnte man sich natürlich, wenn es auch nicht gerade aus Delikatessen bestand. Auch alles andere wurde ohne weiteres angeschafft, was zu einem kultivierten Leben gehörte. Man ging nicht in geflickten Kleidern und auf Holzpantinen, aß auch nicht auf einer Glanztuchdecke mit Blechlöffeln von Steingutgeschirr, sondern kleidete sich gut, benutzte Damast, kostbares Porzellan nebst Silber, zumal das alles von früher her stammte, bediente sich überhaupt der verfeinerten Lebensart, an die man von Kindheit an gewöhnt war.

Wie hätten die beiden Gäste also wohl darauf kommen sollen, daß man hier nicht so unbekümmert drauflos lebte wie bei ihnen zu Hause? Ein anderes Leben, wo man sich nicht alles kaufen konnte, was das Herz begehrte, hatten sie ja nie mitgemacht.

Als sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, daß es hier kein Auto gab, fragte Gudrun verständnislos:

»Aber wie kommen Sie denn zur Stadt?«

»Mit der Kleinbahn, die wir ja hier sozusagen vor der Tür haben«, gab Arvid Antwort.

»Das wäre mir zu zeitraubend.«

»Na eben, Sie haben ja auch jeden Tag von sieben Gänsen Wurst zu machen, wie man es bei uns nennt. Reichen die vierundzwanzig Stunden da wenigstens aus?«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Herr Baron?«

»Täte ich gern. Fürchte nur, daß Sie es sich nicht gefallen lassen.«

»Käme auf einen Versuch an«, warf sie ihm einen »nichtsnutzigen« Blick zu. Entzückend war sie anzusehen, wie sie so dasaß in all ihrer strahlenden Schönheit. Denn alles strahlte an ihr, die Augen, das Lachen, selbst der flauschige Pullover aus leuchtendblauer Wolle. Kein Wunder, daß so ein bezauberndes Menschenkind in der Herrenwelt Furore machte. Daß es nicht nur Verehrer, sondern auch Begehrer fand, zumal es noch ein Goldfischchen war. Aber da es auch die Gewohnheiten eines solchen hatte, würde es wohl nie eine bequeme Ehefrau abgeben. Ergo: Vorsicht!

*

Da am nächsten Morgen schon in aller Frühe der Schneepflug die Kleinbahnschienen freigemacht hatte, stand der Abfahrt der beiden Gäste nichts im Wege. Eben verabschiedeten sie sich von der Hausherrin, die ihnen nebst Ermenia bis zum Portal das Geleit gab, während die beiden Herren es bis zur Kleinbahn zu tun gedachten. Als die vier Menschen sich bereits in Bewegung gesetzt hatten, rief Erdmuthe ihnen nach:

»Lassen Sie sich doch wieder mal hier sehen!«

»Danke, Frau Baronin!« rief Karola zurück und warf dann Gudrun einen Blick zu, den diese gut zu deuten wußte.

Lassen Sie sich doch wieder mal hier sehen. –

Nein, das durfte man nun wirklich nicht für bare Münze nehmen. Eine Redensart, nichts weiter.

Es war ein herrliches Winterwetter. Hell strahlte die Sonne von einem unwahrscheinlich blauen Himmel. Gudrun, deren Knie wieder ganz in Ordnung war, sagte bedauernd:

»Schade, daß unsere Skier futsch sind, sonst wäre ich bestimmt …«

»Aber ich nicht«, schnitt Karola ihr kurz das Wort ab. »Mein Bedarf an Skitouren ist fürs erste gedeckt. Wenn ich mich dennoch dazu entschließen sollte, dann gewiß nicht mit dir allein, sondern immer nur in größerer Gesellschaft.«

»Nanu, Karlchen, seit wann bist du denn feige?«

»Meine liebe Gudrun, gebranntes Kind scheut das Feuer.«

»Sehr richtig«, bekräftigte Rupert. »Ich würde an Ihrer Stelle genauso handeln.«

»Das sieht dir gerade ähnlich«, lachte der Neffe ihn aus, dem das Draufgängertum des Onkels ja nicht unbekannt war, und dieser schmunzelte.

»Man muß doch weise Lehren erteilen, das steht dem Alter zu. Und nun mal hurtig, damit der Expreß uns nicht an der Nase vorbeifährt. Dort rast er nämlich schon heran.«

Also beschleunigte man die Schritte und kam gerade zurecht, als das Bähnlein hielt. Ein rascher Abschied, die Mädchen stiegen ein und wurden dann am offenen Fenster sichtbar.

»Wie eingerahmt«, spöttelte Arvid. »Ein wirklich schönes Bild.«

Zu einer Antwort kam es nicht, da die Lokomotive sich schnaubend in Bewegung setzte. Ferner wurden die Gesichter, die aus dem weißen Pelzwerk der Kapuze herauslachten, bis sie hinter einer Biegung ganz verschwanden.

»Man müßte noch mal zwanzig sein«, seufzte Rupert elegisch, und der Neffe lachte.

»Was würde dir das nützen, Onkelchen? Du wärst selbst für die Jüngere zu jung.«

»Und daher noch dumm genug, um mich von so einem charmanten Flirt, wie der Vater es treffend nennt, betören zu lassen. Junge, Junge, wer die mal kriegt, der wird sich über eine langweilige Ehe wahrlich nicht zu beklagen haben. Die wird ihn schon mit ihren Extravaganzen in Atem halten.«

»Oder auch nicht«, entgegnete Arvid achselzuckend. »Denn Fräulein Wiederbach wird sich wahrscheinlich einen Mann aussuchen, der genauso oberflächlich ist wie sie. Somit käme eine der modernen Ehen zustande, wo die Ehepartner ihre eigenen Wege gehen und sich daher gut vertragen.«

»Bis ihnen mal etwas doch nicht nach der Nase ist und sie sich scheiden lassen wegen seelischer Grausamkeit«, bemerkte Rupert trocken. »Na, unsere Sorge soll es nicht sein – Gott sei Dank!«

»Gott sei Dank«, sagte auch Karola, sich aufatmend in das Polster sinken lassend. Gudrun sah sie erstaunt an.

»Warum denn dieser Stoßseufzer, Karlchen?«

»Weil du nun endlich begriffen zu haben scheinst, wie leichten Herzens man uns ziehen ließ – und daß ein Wiederkommen unerwünscht ist. Oder hältst du diese Redensart: Lassen Sie sich doch wieder mal hier sehen, etwa für eine ernsthafte Einladung?«

»Natürlich nicht«, brummte Gudrun, die Beine ungeniert von sich streckend, da sie beide allein in dem Abteil Zweiter Klasse waren. »So ganz in Ordnung ist mein Knie doch noch nicht. So kurz der Weg zur Kleinbahn auch war, es war nicht leicht für mich, ihn zu gehen.«

»Da hättest du ja nur den Mund aufzumachen brauchen, was du sonst ja so gut verstehst.«

»Und was hätte mir das genützt? Sollte etwa der arrogante Herr Baron sich herablassen und mich zur Bahn tragen?«

»Warum denn gleich so kraß«, zuckte Karola die Achsel. »Ein Rodelschlitten hätte es auch getan. Nun stell deine schlechte Laune weg, du hast keinen Grund dazu. Schau lieber zum Fenster hinaus und freu dich über die wunderbare Winterlandschaft, durch die das Bähnlein so eifrig zuckelt. Herrlich finde ich diese Fahrt, doch mal was anderes.«

Gudrun, die nie lange mißmutig sein konnte, wurde bald wieder so vergnügt, wie es ihrem sonnigen Wesen entsprach. Da die Kleinbahn fast jede fünf Minuten hielt, dauerte die Fahrt zweimal so lange als mit dem Auto. Allein sie wurde den beiden Mädchen nicht langweilig, weil es auf den Haltestellen manches für sie zu sehen gab, was ihnen neu war – und alles Neue hat nun mal seinen Reiz. Als man in den Bahnhof der Stadt einfuhr, sagte Gudrun bedauernd:

»Schade, daß wir schon angelangt sind. Hast recht, Karlchen, das war doch mal was anderes.«

Erwartet wurden sie natürlich nicht, da man ja zu Hause nicht wußte, wann und woher man sie erwarten sollte. So nahmen sie denn ein Mietauto, das Karola am Ziel sogar bezahlen konnte, da sie immer ein kleines Portemonnaie in der Tasche ihrer Skihose trug, so für alle Fälle. Und einer dieser Fälle war nun da.

Es war ein pompöses Haus, das hinter dem schmiedeeisernen Tor prunkte. Nachdem Karola den Knopf gedrückt hatte, öffnete es sich wie von Geisterhand bedient. Ein Fliesenweg führte zum Portal, wo ein Diener stand, der groß die Augen aufriß.

»Die – die Damen – sind schon – da?«

»Warum denn nicht?« fragte Gudrun verwundert. »Wir waren ja nicht auf dem Mond. Ist mein Vater schon zurück?«

»Nein, gnädiges Fräulein«, hatte der Mann sich wieder gefangen. Sein Gesicht trug den gewohnt blasierten Ausdruck, obwohl ihm nicht so ganz wohl in seiner Haut war. Hoffentlich hörte seine kleine Freundin, mit der er in der Halle scharmuziert hatte, seine Worte und verdrückte sich schleunigst, was dann auch der Fall war. Jedenfalls fand man keinen vor, und dem Diener fiel der berühmte Stein vom Herzen.

»Wünschen die Damen einen Imbiß?« erkundigte er sich beflissen, doch Karola winkte ab.

»Danke, wir haben gut gefrühstückt.«

Hinter Gudrun stieg sie nun die Treppe hinauf, die pompös war wie alles hier im Haus. Traulichkeit fand man allerdings nicht darin, dafür war alles zu unpersönlich, zu steif, zu hypermodern. Wenn man von der Seele eines Hauses sprechen darf, dann hatte dieses Haus bestimmt keine.

Die Räume der beiden jungen Damen waren natürlich auch höchst elegant eingerichtet. Die Schlafzimmer lagen nebeneinander, denen sich Ankleideraum und Bad anschlossen, was beide miteinander teilten, ebenso wie die Zofe, während die Hausherrin ihre eigene besaß.

Das erstere Kätzchen erschien nun, sehr niedlich, sehr adrett, und wurde von Gudrun beordert, ein Bad zu richten.

»Ich lechze geradezu danach«, erklärte sie, nachdem die Kleine abgewippt war. »Stell dir mal vor, zwei Tage ohne Bad.«

Mit Vehemenz warf sie sich in einen Sessel, worauf Karola fragte: »Willst du gestiefelt und gespornt ins Bad kriechen?«

»Ach, ich bin zu faul, um mich auszuziehen. Resi kann das machen.«

»Hab’ ich Aussicht, auch ins Bad zu kommen?«

»Natürlich, Karlchen, ich werde mich sehr beeilen.«

Eine Stunde später standen dann die beiden Mädchen da wie frisch gewaschen und frisch geplättet. Sehr elegant sahen sie aus, sehr gepflegt. Sie überlegten gerade, ob sie vor dem Mittagessen noch etwas unternehmen sollten, als der zehnjährige Enno ins Zimmer stürmte.

»Bloß gut, daß ihr da seid«, umhalste der hübsche Krauskopf beide Mädchen zugleich. »Wir dachten schon, ihr seid verschüttgegangen. Wo ward ihr denn überhaupt, erzählt mal.«

»Man nicht so stürmisch, junger Mann«, lockerte Karola die feste Umschlingung des temperamentvollen Bürschchens. »Gehen wir nach unten, da sollst du gleich den anderen alles erfahren. Denn zweimal über ein Abenteuer zu sprechen, ist zu anstrengend.«

»Abenteuer – wirklich?« wurden die hübschen Braunaugen kugelrund. »Dann ist bestimmt die Gun daran schuld.«

»Danke, sehr liebenswürdig«, fuhr diese ihm lachend in den Schopf, der sich nun bei den Mädchen einhakte und sie ungeduldig nach unten zog wo man im Wohnzimmer das Ehepaar und den guten Geist des Hauses, Christine Wiederbach, vorfand. Eine Dame Mitte Dreißig, nicht ausgesprochen schön, doch gepflegt und elegant.

Die Hausherrin hingegen war mondän. Sie tat weiter nichts als sich zu pflegen, Modesalons in Aufregung zu versetzen und in der Gesellschaft tonangebend zu sein. Ihr Gatte, ein eleganter Endvierziger, paßte ganz gut zu ihr, nur er arbeitete.

Schaffte reichlich das Geld herbei, das seine Familie mit vollen Händen ausgab, und er natürlich mit. Dazu der sündhaft teure Haushalt, also gehörte schon ein ordentlicher Batzen dazu, um all die Ausgaben zu bestreiten, sein großes Unternehmen auf der Höhe zu halten und ein dickes Guthaben sein eigen zu nennen.

Eben versuchte dieser erfolgreiche Mann aus dem klug zu werden, was sein Stiefsohn hervorsprudelte.

»Langsam, langsam!« stoppte er ab. »Was du da sprichst, daraus kann ja kein Mensch klug werden, Kerlchen. Was ist das denn für ein Abenteuer?«

»Das Rola und Gun erlebten.«

»Moment mal!« wurde nun der Vater stutzig. Forschend sah er zu den beiden Mädchen hin, die indes Platz genommen hatten.

»Abenteuer, Karola? Vielleicht erklärst du mir das.«

Sie tat’s – knapp und klar. Und je länger sie sprach, um so nervöser wurde Wiederbach. Als sie dann mit ihrem Bericht zu Ende war, sprang er auf, durchquerte einige Male den großen Raum, blieb dann vor Karola stehen und sagte gereizt:

»So, das bekomme ich so ganz nebenbei zu hören, in welcher Gefahr ihr euch befunden habt, ihr schrecklichen Mädchen. Ihr wußtet doch, wo ich war, hättet ihr mich da nicht anrufen können?«

»Wir unterließen es absichtlich, um dich nicht zu beunruhigen«, entgegnete sie ruhig. »Wenn ich da immer wieder beteuerte, daß Gun wohlbehalten ist, hättest du mir das geglaubt, Onkel Egon?«

»Hundertprozentig kaum.«

»Also! Da ist es doch viel besser, daß du ahnungslos warst. Dadurch blieb dir die Sorge erspart.«

»Hast auch wieder recht, Karolchen. Da hast du dir ja wieder einmal was Nettes geleistet«, wandte er sich jetzt der Tochter zu, die ihn freundlich anlachte. »Erst flirtest du mit den beiden Herren, spielst sie gegeneinander aus und wenn sie sich dann eifersüchtig in den Haaren liegen, bist du feige und kneifst aus. Diese verflixte Flirterei hört endlich auf, verstanden?«

»Jawohl«, stand sie gewissermaßen stramm, während ihr der Schalk aus den Augen blitzte. »Es soll wirklich das letzte Mal gewesen sein, geliebtes Papsileinchen.«

»Na du, über die Brücke geh’ ich nicht. Übrigens wäre es gut, wenn du dich endlich für Rolf oder Peter, die ja wohl deine hartnäckigsten Bewerber sind, entscheiden würdest. Sie sehen beide gut aus, sind aus bestem Hause und die Nachfolger ihrer mehr als gutsituierten Väter …«

»Nanu, Papichen, ist dein Portemonnaie denn schon so schlapp, daß du deine Tochter um des schnöden Mammons willen verkaufen willst?« unterbrach sie ihn lachend, doch er winkte unwirsch ab.

»Natürlich nicht, du keckes Ding. Aber ein reicher Schwiegersohn ist mir verständlicherweise lieber als einer, den ich womöglich noch unterhalten muß. Man kann ja bei deiner Nichtsnutzigkeit nicht wissen, was du mir ins Haus bringst. Schon deshalb wäre es mir lieb, wenn du einen von den beiden nehmen würdest, die ich von klein auf kenne.«

»Ich heirate nur einen Mann«, erklärte die Gun pathetisch.

»Und was sind denn die beiden?«

»Hampelmänner.«

»Na, nun schlägt’s dreizehn«, war der Vater verblüfft, während die anderen amüsiert lachten. »Du vergißt wohl, mein liebes Kind, daß Rolf überall als Löwe der Gesellschaft gilt.«

»Eben, eben. Ich weiß, Papichen, du meinst es gut. Aber ich bin mit meinen zwanzig Lenzen doch noch zu jung, um mich in Eheketten schmieden zu lassen. Ich flirte doch nun mal zu gerne, am liebsten mit einem Dutzend zugleich. Das macht doch so viel Spaß.«

»So lange, bis du mal an einen gerätst, der dir dein nichtsnutziges Fellchen vergerbt«, warf er trocken ein. »Ein Wunder, daß es Baron Hörgisholm nicht tat, als er um deinetwillen in das Höllenwetter dieser eisigen Silvesternacht hinaus mußte. Der soll nämlich nicht lange fackeln.«

»Kennst du ihn denn?« fragte sie neugierig.

»Persönlich nicht, nur vom Sehen und Hörensagen. Man stellt ihm allgemein das beste Zeugnis aus, ebenso seinem Onkel, dem früheren Ulanenrittmeister, Herrn von Bärlitz. Die waren weiß Gott an ein glanzvolles Leben gewöhnt und mußten nach dem Zusammenbruch Landwirt werden und in fremde Dienste treten.

Wohl erbte der junge Baron als letzter Hörgisholm den Familienbesitz, aber in keinem guten Zustand. Er wird sich arg plagen müssen, um ihn halten zu können, und sein treuer Onkel Bärlitz, der wohl der Bruder seiner Mutter ist, mit ihm. Aber wie schon gesagt, persönlich kenne ich die Herren nicht. Was machten sie auf dich für einen Eindruck, Karola?«

»Einen vornehmen, Onkel Egon. Dazu müssen es noch echte Kerle sein. Denn es gehörte schon Mut dazu, sich in der Silvesternacht nach draußen zu wagen, wo tatsächlich Himmel und Erde zusammen waren. Für diese Aufopferung schulden wir ihnen wirklich Dank.

Auch den beiden Damen, die sich so selbstlos um uns bemühten. Das ganze Haus haben wir mobil gemacht. Dann hinterher diese selbstverständliche Gastfreundschaft, wir fühlten uns dort tatsächlich wie zu Haus.«

»Hm, hm«, brummte Wiederbach. »Nobel, wirklich nobel. Jedenfalls fahre ich, sobald das Auto durch den Schnee kann, nach dem Hörgishof, um meinen Dank abzustatten.«

»Ich komme mit, Papi«, erbot Enno sich eifrig, der dem Gespräch mit Spannung gefolgt war. »Ich möchte dem Herrn Baron und seinem Onkel auch Dank sagen, daß sie die Rola und die Gun aus dem Schneesturm geholt haben, sonst wären sie bestimmt erfroren …«

»Junge, hör bloß auf!« unterbrach der Vater ihn nervös. »Man darf gar nicht daran denken, geschweige denn in Worte fassen. Was sagst du bloß dazu, Stella?«

Die sagte gar nichts, zuckte nur die Achsel. Was gingen sie die beiden Mädchen an? Da war ihr eins so gleichgültig wie das andere. Wenn ihnen etwas passiert, wäre es ihr deshalb nur unangenehm gewesen, weil das Unruhe ins Haus gebracht und man außerdem hätte weder Gesellschaften geben noch welche besuchen dürfen. Das wäre allerdings fatal gewesen.

Wenn Wiederbach die Gedanken der Gattin gekannt, hätten sie ihn wohl entsetzt. Aber um ihre Gedanken bis ins kleinste zu erforschen, dafür fehlte zwischen ihnen die gewisse Seelengemeinschaft, wo eins ins andere aufgeht.

Trotzdem führten sie eine gute Ehe. Wahrscheinlich deshalb, weil sie voneinander nicht zuviel verlangten. Wo eben jeder nach seiner Fasson selig werden durfte, wie Karola es richtig bezeichnete.

Die Ehe war zustande gekommen, weil die Frau dem Mann gefiel und sie ihm außerdem das Konkurrenzunternehmen als Mitgift einbrachte. Sie hatte den Mann geheiratet, weil er ihr gleichfalls gefiel und sie das Erbe des Gatten in die Hände eines Ehrenmannes legen konnte, der dazu ihrem Sohn noch ein guter Vater war. Daß sie den Schritt nicht zu bereuen brauchten, dafür war die jetzt drei Jahre währende Ehe ein Beweis. Man hatte sich gern, man vertrug sich – und wurde im übrigen nach seiner Fasson selig.

*

Daß in dem großgeführten Hause alles so reibungslos verlief, war allein das Verdienst der Schwägerin des Hausherrn, Frau Christine Wiederbach. Der Schwager hatte sie vor drei Jahren zu sich genommen, als sein jüngerer Bruder, ein Leichtfuß und Hasardeur, bei Nacht und Nebel verschwand und somit seine Frau mittellos zurückließ. Wohin er sich gewandt hatte, wußte auch heute noch niemand.

Christine, die ihren Mann aus Liebe gefreit und die ihm eine gute Gattin gewesen war, litt zuerst sehr unter dem allen. Doch allmählich fand sie sich mit ihrem Schicksal ab und war nun ganz zufrieden.

Warum auch nicht? Es ging ihr ja gut bei den noblen Verwandten, die sie wie ein vollwertiges Familienmitglied behandelten und ihr für die Arbeit ein Entgelt zahlten, von dem sie sich viel leisten konnte und es trotzdem nicht verbrauchte.

Christine nahm das Erlebnis der Mädchen, die ihr beide ans Herz gewachsen waren, nicht so gleichgültig auf wie Stella. Der Schreck steckte ihr noch in den Gliedern, als man an der Mittagstafel saß. Das Essen war delikat, dafür sorgte Christine schon. Wenn sie sich auch nicht direkt an den Herd stellte, sondern das der Köchin überließ, so sah sie auch da, wie ja überall, stets nach dem Rechten. Den servierenden Diener hatte sie soweit gedrillt, daß sie ihn mit den Augen dirigieren konnte.

Daß alles so vorzüglich klappte, dafür wäre eigentlich die Hausherrin zuständig gewesen. Allein, die machte sich das Leben leicht, war Gast im eigenen Haus.

Einige Tage später betrat Wiederbach das Wohnzimmer, wo man sich vollzählig eingefunden hatte, weil es kurz vor dem Abendessen war. In dem weiten Raum roch es wohl nach Geld, aber man saß in ihm wie auf einem Präsentierteller, was gewiß nicht zur Gemütlichkeit beitrug.

Wohnzimmer war überhaupt nicht die richtige Bezeichnung, weil man gar nicht in ihm wohnte, sondern sich kurz vor den Mahlzeiten in ihm zusammenfand. Sonst waren die Familienmitglieder ständig unterwegs, selbst am Abend. Und wenn mal eines von ihnen zu Hause blieb, hielt es sich in den eigenen vier Wänden auf.

Daß die Mahlzeiten pünktlich eingenommen wurden, dafür sorgte Christine. War einer unpünktlich, wurde auf ihn nicht gewartet. Dann aß er eben außerhalb – Punktum!

Nachdem der Hausherr die Häupter seiner Lieben gezählt hatte, ließ er sich in einem wohl kostbaren, aber unbequemen Sessel nieder, schlug ein Bein über das andere, tippte die Fingerspitzen gegeneinander, räusperte sich und begann:

»Ich traf heute im Ratskeller, wo ich mit meinem Geschäfts­partner verabredet war, Herrn von Bärlitz mit seinem Neffen, die bei einem Imbiß saßen. Da packte ich die Gelegenheit beim Schopf, trat an den Tisch der beiden Herren, machte mich mit ihnen bekannt und sprach meinen Dank für die Rettung unserer Mädchen aus. Wohl war man höflich, aber zum Kuckuck, ich konnte mit ihnen nicht warm werden. Den Dank lehnte man für eine Selbstverständlichkeit ab, erkundigte sich nach dem Ergehen der beiden jungen Damen und ging im übrigen aus seiner Zurückhaltung nicht heraus, so daß ich es tatsächlich nicht wagte, meinen Vorschlag zu unterbreiten. Ich wollte ihnen nämlich als Dank ein Darlehen mit niedrigem Zinssatz anbieten, um ihnen so ein wenig unter die Arme zu greifen, aber wie schon gesagt, habe ich es angesichts so kühler Reserviertheit nicht gewagt. Nun, wer nicht will, der hat. Ich werde ihnen mein gutes Geld gewiß nicht aufdrängen.«

»Wäre ja auch noch schöner«, meinte Stella, dabei weiter in dem Modejournal blätternd. Denn was der Gatte da erzählte, interessierte sie absolut nicht.

Viel interessanter waren die aufregend schicken Kleider.

»Schau mal, Christine, wie findest du das da?« fragte sie die Schwägerin, die einen Blick darauf warf und nur ein Wort sprach:

»Verrückt.«

»Mein Gott, wie kann man nur so geradeheraus sein«, preßte die Mondäne nervös die Fingerspitzen gegen die Schläfen, und Tinchen lachte.

»Soll ich etwa über etwas in Entzücken ausbrechen, was ich scheußlich finde?«

»Du hast eben keinen Geschmack.«

»Möglich.«

»Haltet bitte Ruhe«, zog der Hausherr unbehaglich die Schultern hoch, weil er seine Bequemlichkeit bedroht fühlte. »Über Geschmack soll man nicht streiten. Jedem das Seine.«

»Hör mal, Papi, fährst, du nun nicht nach dem Hörgishof?« fragte Enno enttäuscht.

»Nein, Kerlchen. Ich habe ja meinen Dank abgestattet und daher keine Veranlassung mehr, den Hörgishof aufzusuchen.«

»Das tut mir aber leid«, schob das Bürschchen die Unterlippe vor. »Ich bin nämlich noch nie auf einem Gut gewesen.«

»Da ist im Winter bestimmt nichts los, mein Junge. Alles tiefverschneit, die Tiere eingestallt, in den Zimmern lausig kalt.«

»Das stimmt ja nun nicht«, schaltete sich Karola ein. »Es war in den Räumen mollig warm, die Kachelöfen fauchten nur so.«

»Was, Kachelöfen?« rümpfte Stella geringschätzig die Nase. »Wie altmodisch. Und dementsprechend wird ja auch alles andere sein bei den armen Menschen. Es steht wirklich schlimm um den verarmten Adel.«

»Nun, nun, von verarmtem Adel kann man bei den Hörgisholms doch wirklich nicht sprechen«, unterbrach der Gatte sie, peinlich berührt. »Denn der Hörgishof ist ein ausgedehnter Herrensitz. Wenn auch jetzt noch verwahrlost, so kann er bei guter Bewirtschaftung gewiß wieder auf die Höhe kommen, was natürlich nicht von heut auf morgen geht, weil das Kapital fehlt.«

»Das soll unsere Sorge nicht sein«, meinte sie gelangweilt. Was ging sie das Geschick anderer Menschen an? Die Moden in dem Heft waren weit wichtiger.

Gudrun hatte alles schweigend mit angehört. Jetzt biß sie sich auf die Lippen, um nicht Worte durchrutschen zu lassen, die der Stiefmutter nicht genehm gewesen wären, die weiter nichts war als eine hohle Gesellschaftspuppe. Noch nie war dem Mädchen das so kraß aufgefallen wie heute.

*

Es war ein stattlicher Besitz, den Dr. rer. pol. Detlef Honneck seit einigen Monaten sein eigen nannte. Die Fabrik, ein großer stabiler Bau, beanspruchte schon allein einen beachtlichen Platz. Dazu kamen noch die Verwaltungsgebäude, Labor, Maschinenhaus, Speicher, Ställe, Garagen, die Häuschen der Arbeiter, das Herrenhaus, das ein wenig abseits in einem mäßig großen Park stand, um die zehn Morgen Land, alles in allem gab das schon einen Riesenkomplex.

Ganz aus der Branche war der Besitzer all der Herrlichkeit wohl nicht, aber immerhin annähernd. Denn vorher war er Teilhaber eines Mühlenwerkes gewesen – und Mehlprodukte und Zucker vertragen sich ja gut. Also fiel es ihm gar nicht schwer, sich in dem neuen Betrieb einzuarbeiten.

Hanna, seine Schwester, die schon immer viel für das Landleben übrig hatte, war nun so richtig in ihrem Element. Sie schwang in der komfortablen Villa das Zepter mit Energie, während der Bruder es im Betrieb tat.

Eben betrat er das Speisezimmer, wo bereits der Tisch zum Abendessen gedeckt war. Durch eine andere Tür kam die Schwester hinzu, und Detlef begrüßte sie schmunzelnd.

»Guten Abend, Hansinchen. Siehst ja prächtig aus. Mir scheint, du wirst jeden Tag jünger und hübscher!«

»Hast du etwa ein böses Gewissen, weil du mir so beflissen Komplimente machst?« fragte sie lachend, doch er winkte großartig ab.

»Mein Gewissen ist so rein wie eine Frühlingsblume. Aber einen Mordshunger hab’ ich.«

»Sollst ihn herrlich stillen, Bruderherz. Jost wird sofort servieren.«

Jost war der Diener, den Hannas Gatte mit in die Ehe brachte und dann der Gattin testamentarisch vermacht hatte. Also ein Inventarstück, mit den Allüren des herrschaftlichen Die­ners. Würdig servierte er das Mahl, das aus einem ländlichen Gericht bestand. Schmackhaft zubereitet; denn die Köchin war vorzüglich.

Nach dem Essen ging man ins Wohnzimmer hinüber, nahm am Kamin Platz, griff zur Zigarette und plauderte.

Das villenartige Haus war sehr geräumig. Unten befanden sich außer der Diele sechs Räume, darunter ein sehr großer für gesellschaftliche Zwecke. Im ersten Stock lagen die Schlafzimmer der Geschwister nebst einer Anzahl Fremdenzimmer, im zweiten Stock die Räume der Dienerschaft mit mancherlei Nebengelaß, die Wirtschaftsräume barg der Anbau, und das alles bot einen schmucken, gepflegten Eindruck, nach dem der neue Besitzer es hatte renovieren lassen.

Auch innen war alles komfortabel eingerichtet. Man hatte dazu die Sachen Hannas verwendet und die fehlenden hinzugekauft. Jedenfalls befand sich kein Stück ihres Elternhauses darunter, man hatte es in Bausch und Bogen verkauft.

»Sag mal, Detlef, wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken«, fragte die Schwester ungeduldig. »Schon dreimal habe ich dich dasselbe gefragt.«

»Entschuldige, Hansichen, frage ein viertes Mal.«

»Hast du den Herren deinen Vorschlag unterbreitet?«

»Jawohl.«

»Was machten sie für Augen?«

»Graugrüne.«

»Wie bitte?«

»Ach ja, so«, lachte er verlegen. »Ich bin tatsächlich etwas zerstreut.«

»Nur gut, daß du es zugibst«, lachte sie amüsiert. »Nun mal gebeichtet. Wer hat denn grüngraue Augen?«

»Eine entzückende junge Dame.«

»Aha, nun kommen wir der Sache schon näher. Wie sieht sie sonst aus?«

»Zierlich, brünett …«

»Dazu helle Augen, gar nicht übel. Wo bist du ihr begegnet?«

»Im Café Krone. Ich begrüßte dort Herrn von Bärlitz, der dort die beiden Damen traf, die in der Silvesternacht in den Schneesturm gerieten. Die ältere von ihnen hat wunderbare Augen, grüngrau, umrahmt von einem dichten dunklen Wimpernkranz. Es sind die schönsten Augen, die ich jemals sah«, schloß er wie ein trotziger Junge, und Hanna besah ihn sich kopfschüttelnd.

»Ja, sag mal, mein Sohn, sollte wirklich das Wunder geschehen und du dich so gründlich in ein Mädchen verlieben, daß du es am liebsten vom Fleck weg heiraten möchtest? Darüber würde sich kein anderer so mit dir freuen wie ich. Denn deine Gleichgültigkeit den Frauen gegenüber hat mir gar nicht gefallen.«

»Nanu, Hansinchen, du hast mir doch mehr als einmal den Schwerenöter vorgeworfen, der mit jeder Frau flirtet, und nun das …«

»Eben – flirten und den Mädchen dabei den Kopf verdrehen, das hast du erstklassig raus. Aber mal so richtig ernst machen, dafür bist du zu feige.«

»Ist es bei dem Fiasko, das ich in meiner Ehe erlebte, vielleicht ein Wunder?«

»Herrgott, Junge, wenn mal einige Apfel faul sind, braucht es doch nicht gleich der ganze Äppelkahn zu sein«, stellte sie in ihrem Eifer den komischen Vergleich, der den Bruder laut herauslachen ließ. Und da dieses Lachen so ansteckend wirkte, mußte sie wohl oder übel mithalten.

»Ist doch wahr«, griff sie dann den Faden wieder auf. »So ein Prachtkerl wie du, der muß doch zusehen, daß er Nachwuchs bekommt. Schließlich bist du Mitte Dreißig, also höchste Zeit, wenn du den Anschluß nicht ganz verpassen willst. Ob das Mädchen mit den schönen Augen dich vielleicht …«

»Halt, halt!« stoppte er ihren zunehmenden Eifer. »Ich bin mit der jungen Dame noch keine halbe Stunde zusammen gewesen, wobei sie, weil sie eben eine Dame ist, sich sehr zurückhaltend verhielt. Vielleicht treffe ich überhaupt nicht mehr mit ihr zusammen. Höchstens in der Stadt auf der Straße, aber da kann ich sie doch unmöglich ansprechen.«

Nein, das konnte er als wohlerzogener Mann nicht. Dafür tat es jedoch jemand anders, der mal so ein bißchen Vorsehung spielen wollte. Zwar soll man das nicht tun – aber vielleicht, vielleicht.

Es war einige Tage später. Hanna, die eifrig bemüht war, sich eine erstklassige Geflügelzucht zuzulegen, hatte beim Werkmeister einen Hahn erstanden, ein wahres Prachtexemplar seiner Rasse, den ein Lehrling im Korb zum Stall tragen sollte.

An seiner Seite ging Hanna, so richtig stolzgeschwellt über den bildschönen Zuwachs des Hühnerhofes. Wer sie sah, wie sie so dahinschritt, hochbeinig, vollschlank, mit dem runden Gesicht und den blühenden Farben, dem blonden, leichtgewellten Haar, hätte sie nie für die Schwester des dunklen Detlef gehalten. Das kam daher, weil sie ihrem Vater und er seiner Mutter glich.

Ausgesprochen hübsch war Hanna wohl nicht, aber alles an ihr wirkte ungemein klar und sauber. Außerdem gewann sie durch ihre natürlich aufrechte Art und ihren fröhlichen Sinn.

Also ging sie auch jetzt frohgemut dahin, frisch und äußerst gepflegt. Auf den Hahn gab sie nicht weiter acht, weil sie ihn in dem Korb sicher glaubte. Und da der Lehrling dasselbe tat, so konnte es kommen, daß der Herr Hahn aus seinem Gewahrsam entfloh und mit Geschrei Reißaus nahm.

Zuerst waren die beiden Menschen wie erstarrt, doch dann kam Leben in sie. Wie die wilde Jagd stürmten sie dem listigen Ausreißer nach, der über den Hof wetzte und dann über die Chaussee, die an der Parkmauer entlangführte. Mit Entsetzen sah Hanna, wie das verängstigte Tier in ein Auto hineinlief, das im flotten Tempo daherkam. Da sie es bereits verloren glaubte, bedeckte sie die Augen mit der Hand, um den Tod des prächtigen Zuchthahns wenigstens nicht mit ansehen zu müssen.

Was dann kam, geschah in Sekundenschnelle. Die Reifen radierten, die Bremse kreischte – und als Hanna zögernd die Hand von den Augen nahm, bemerkte sie in dem offenen Wagen zwei lachende Mädchen und zwischen ihnen den Ausreißer, der in seiner kopflosen Angst in den Wagen geflattert war.

Und wer konnten diese beiden Mädchen wohl anders sein? Keine anderen als Karola Arnhöft und Gudrun Wiederbach.

Während erstere ausstieg, hielt letztere den Herrn Hahn, der natürlich mächtig revoltierte, so lange fest, bis die nun Draußenstehende ihn in Empfang nehmen konnte. Lachend reichte sie den buntgefiederten Prachtkerl seiner Eigentümerin hin – und als diese die graugrünen Augen bemerkte, hielt sie diese gewiß nicht alltägliche Begegnung für einen Wink des Schicksals. Blitzschnell schoß es ihr durch den Sinn, daß sie es daraufhin wohl wagen dürfte, Vorsehung zu spielen.

Doch zuerst reichte sie den Hahn dem verdatterten Lehrjungen und schärfte ihm ein, das Tier nicht in den Korb zurückzutun, sondern es fest in den Arm zu nehmen und es im Geflügelhof an maßgebender Stelle abzuliefern, was der Junge eifrig versprach.

Und kaum, daß er abgetrollt war, tat Hansinchen etwas, das ihrer aufrichtigen Natur eigentlich so gar nicht lag. Sie stützte sich nämlich auf die Kühlerhaube, verzog das Gesicht und erklärte, den rechten Fuß nicht aufsetzen zu können. Wahrscheinlich hatte sie ihn bei der hitzigen Lauferei vertreten.

Schäm dich, Hanna, so unverfroren zu lügen! schalt sie sich wohl selber aus, allein von den andern beiden wurde dieses listige Manöver ohne weiteres geglaubt. Es geschah auch, was die Schwindlerin erhoffte. Man bot ihr besorgt an, im Wagen Platz zu nehmen und sie nach Hause zu fahren.

»Herzlichen Dank«, murmelte Hanna, die sich nun wirklich schämte. Aber da man, wenn man A gesagt hat, auch B sagen muß, blieb ihr nichts anderes übrig. Mit Karolas Unterstützung nahm sie neben dem Führersitz Platz und erklärte Gudrun, wie sie fahren sollte.

»Ich bin nämlich die Schwester des Besitzers der Zuckerfabrik und heiße Hanna Diersk«, stellte sie sich vor, worauf sie auch die Namen der beiden Mädchen erfuhr. Einige Minuten später hielt der Wagen vor dem Portal, und da Hansinchen ja nicht ohne Unterstützung gehen konnte, wurde sie von den Mädchen ins Haus geführt und in der elegant eingerichteten Diele in einen Sessel gesetzt.

»Man müßte einen Arzt herrufen«, meinte Karola zögernd, doch Hanna, die dieses ihrer so unwürdige Spiel nicht auf die Spitze treiben wollte, winkte hastig ab.

»Danke, Fräulein Arnhöft. Ich möchte damit doch lieber warten, bis mein Bruder kommt.«

Und siehe da, wie auf ein Stichwort trat dieser ein, stand zuerst mal beim Anblick der beiden jungen Damen wie erstarrt zwischen Tür und Angel. Wohl hatte er vor dem Portal den kostbaren Wagen bemerkt, aber nicht gewußt, zu wem er gehörte.

Nun machte sein Herz einen Freudensprung, was sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. Es strahlte nur so, als er die beiden jungen Damen in seinem Hause willkommen hieß, sah dann jedoch recht betreten aus, als er von der »Verletzung« der Schwester hörte. Besorgt beugte er sich nieder, tastete behutsam den Knöchel ab, wobei er Hanna so nahe war, daß sie ihm zuflüstern konnte:

»Trick, um deinen Schwarm ins Haus zu bekommen.«

Er vernahm es wohl, zuckte aber dabei mit keiner Wimper. Langsam richtete er sich auf und meinte achselzuckend:

»Nicht weiter tragisch, Hanna, der Fuß ist nur ein wenig verknackst. Schmerzhaft ist so was schon, und du kannst von Glück sagen, daß du den beiden Damen begegnetest, die sich so lieb deiner annahmen.«

Wieder strahlte er die beiden Mädchen an, wobei es Karola ganz eigen ums Herz wurde.

»Ich darf doch die Damen weiterbitten, nicht wahr?« schmeichelte seine Stimme weich wie Samt. »Oder wird meine Bitte als aufdringlich empfunden?«

»Keineswegs«, entgegnete Gudrun rasch. Denn sie hätte ja kein weibliches Wesen sein müssen, wenn sie nicht die Bewunderung gespürt, die der Mann für Karola empfand. Deren ärgerlichen Blick ignorierend, lachte sie ihn freundlich an, der nun auch von dieser hellsonnigen Schönheit entzückt war, und doch gefiel ihm die dunkle Schönheit besser.

»So darf ich denn die Damen bitten«, zeigte er mit einer einladenden Handbewegung nach der geöffneten Flügeltür, hinter der ein sehr hübscher Salon sichtbar wurde.

»Gehen Sie bitte schon voraus, ich komme mit meiner Schwester nach.«

Damit zog er sie aus dem Sessel hoch, umfaßte ihre Schultern, und Hansinchen humpelte davon, was ihr einen spöttischen Blick des Bruders eintrug.

»Schäm dich!« raunte er ihr zu, was sie dann auch tatsächlich tat.

Im Salon ließ er sie in einen Sessel gleiten und wandte sich dann den beiden Mädchen zu, mit der ganzen Liebenswürdigkeit, die ihm eigen.

»Nehmen Sie bitte Platz, meine Damen.«

»Danke, Herr Doktor«, zögerte Karola. »Es ist wohl besser, wenn wir uns verabschieden.«

»Auf keinen Fall!« protestierte er dringlicher, als die Vorsicht gebot. »Warum wollen Sie denn gehen?«

»Weil Ihre Frau Schwester den Arzt hinzuziehen muß. Da kann unsere Gegenwart nur störend wirken.«

»Ich brauche keinen Arzt«, erklärte Hanna hastig. »Schauen Sie mal, ich kann den Fuß ganz gut bewegen.«

»Na also«, schmunzelte der Bruder und schob zwei Sessel zurecht, in welche die Mädchen sich dann auch setzten. Eine Erfrischung oder gar ein Schnäpschen lehnten sie jedoch entschieden ab, nahmen nur eine Zigarette.

Da sie alle vier weltgewandte Menschen waren, kam bald ein Gespräch zustande, wobei sich Karola allerdings reserviert verhielt.

Dafür schwatzte Gudrun munter drauflos. Und als die Mädchen sich nach einer halben Stunde verabschiedeten, hätte Detlef sich am liebsten an ihre Fersen geheftet.

»Nun, wie hab’ ich das gemacht?« fragte Hanna stolz, als sie mit dem Bruder allein war, und schmunzelnd kam es zurück:

»Ich hab’ bisher gar nicht gewußt, daß du so heucheln kannst, Hansinchen. Man muß sich ja vor dir in acht nehmen.«

»Aber gefallen hat dir meine Heuchelei trotzdem, nicht wahr?« zwinkerte sie ihm vergnügt zu. »Es wäre sehr dumm von mir gewesen, diesen Wink des Schicksals zu ignorieren. Denn daß es gerade das Auto sein mußte, in dem der entfleuchte Hahn Zuflucht suchte, gibt doch wohl zu denken. Ich hab’ dir nun den Weg geebnet, jetzt sieh zu, daß du ihn fest und unbeirrt weitergehst.«

»Worauf du dich verlassen kannst, Schwesterherz. Jedenfalls hab’ herzlich Dank, daß du mir so lieb geholfen hast, wenn auch mit List«, setzte er lachend hinzu, doch sie tat großartig ab.

»Auf den Schleichpfaden der Liebe ist jede List gestattet. Ich bin neugierig, was du unternehmen wirst, um deinem Schwarm wieder zu begegnen.«

»Indem ich zum Hörgishof fahre, was ich geschäftlich sowieso vorhatte. So kann ich nun das Geschäftliche mit dem sehr Angenehmen verbinden und die wiedersehen, die es tatsächlich fertiggekriegt hat, mein jahrelang so eisgekühltes Herz heiß zu machen. Denn von der entzückenden Gun wissen wir ja, daß die beiden Mädchen sich von dem Hörgishof kaum trennen können.

Doch nun mal die Frage, die so sehr wichtig ist: Wie gefällt dir Fräulein Arnhöft überhaupt?«

»Gut, sehr gut sogar. Aber warum ist das so wichtig? Du willst sie doch heiraten, nicht ich.«

»Allerdings. Doch da du ja schließlich auch unter einem Dach mit ihr leben mußt, wäre es eine Zumutung, dir einen unsympathischen Menschen sozusagen auf die Nase zu setzen.«

»Ach, wenn es danach geht, könnte ich mir mein eigenes Heim einrichten …«

»Stopp ab, Hanna!« unterbrach er sie erregt. »Ehe ich das zuließe, würde ich eher verzichten. Ich weiß doch, wie wohl du dich hier fühlst, wie du so ganz in deinem Element bist. Und da sollte ich den traurigen Mut haben – nein, Hansinchen, über den verfüge ich nicht.«

»Hm, aber über Fräulein Arnhöft scheinst du bereits zu verfügen«, sagte sie warnend. »Mäßige da nur dein Ungestüm, Junge. Warte erst einmal ab, ob sie dich überhaupt heiraten will. Den Eindruck macht die junge Dame nämlich nicht, daß sie dir gleich beim ersten Wink beseligt in die Arme sinken wird. Mir schwant so, als ob du nicht der einzige bist, der sie zur Frau begehrt. Dafür ist sie denn doch zu anziehend, und die Männer haben ja schließlich Augen im Kopf. Na, werden wir leben, werden wir sehen.«

Allein, es sollte dem Mann, den die Liebe so spontan gepackt hatte, vorerst nicht beschieden sein, seines Herzens Traute wiederzusehen. Denn es gab in den nächsten Tagen im Betrieb so Dringendes für ihn zu tun, daß er einfach nicht dazu kam, den Hörgishof aufzusuchen.

Doch sobald es irgend anging, erschien er dort, wo er, weil es Sonntag war, die Familie vereint antraf.

»Man immer hereinspaziert in die gute Stube!« empfing Rupert aufgeräumt den Gast. »Reihen Sie sich ein in unsere traute Runde. Was trinken Sie?«

»Nichts, Herr von Bärlitz, ich bin mit dem Wagen da. Danke, eine Zigarette nehme ich gern.

Und nun will ich gleich mit der Tür ins Haus fallen, wie Sie mir so nett rieten. Wollen Sie mir die Ecke Land, die an meinen Besitz grenzt, verkaufen, Herr Baron? Ich möchte da nämlich Zuckerrüben anbauen. Seien Sie also nett und geben Sie es mir ab. Ihnen bleibt noch immer übergenug.«

»Schön wär’s«, seufzte Arvid. »Aber leider ist es nicht möglich. Laut Testament darf ich kein Land veräußern, wenn ich nicht des Erbes verlustig gehen will, und das steht nicht in meiner Absicht.«

»Das ist allerdings fatal«, sagte Honneck betroffen. »Hm, hm, macht mir einen ordentlichen Strich durch meine Rechnung. Wenn ich nun nicht den Acker kriegen kann, darf ich dann wenigstens hoffen, daß Sie ihn mit Zuckerrüben bestellen?«

»Gar nicht so übel. Was meinst du dazu, Onkel Rupert?«

»Daß man es mal versuchen könnte, mein Junge. Rentiert es sich nicht, lassen wir die Finger davon. Also kein Risiko.«

»Das ist doch ein Wort!« freute Honneck sich. »Rentieren wird sich der Anbau bestimmt, er tut es bei den andern Landwirten ja auch.«

Man unterhielt sich nun noch weiter über das Zuckerrübengeschäft, wobei Detlef jedoch nicht ganz bei der Sache war. Immer wieder ging sein Blick verstohlen zu den Türen hin, lauschte sein Ohr auf jedes Geräusch, allein diejenige, welche er so sehnsüchtig erwartete, erschien nicht. Ob sie wohl gar nicht hier war?

Sie war es tatsächlich nicht, wie er auf eine geschickt gestellte Frage erfahren sollte. Gudrun lag nämlich mit einer Erkältung zu Bett, und da war es selbstverständlich, daß Karola bei ihr blieb.

Ganz nebenbei wurde das erwähnt. Man konnte ja nicht wissen, wie brennend sich der Besucher dafür interessierte. So richtig enttäuscht verabschiedete er sich.

Und während er darüber nachgrübelte, wie er wohl zu einer Begegnung mit Feinsliebchen kommen könnte, grübelte der Besitzer vom Hörgishof darüber nach, wie er wohl zu dem Geld kommen sollte, das zu der Summe fehlte, die er morgen, am ersten April, als Zinsenzahlung einer Hypothek abliefern mußte.

»Es will einfach nicht reichen«, legte er soeben müde den Stift auf das Papier, das kreuz und quer mit Zahlen bedeckt war. »Wie einfach wäre alles, hätte ich das Stück Land an Herrn Honneck verkaufen können.

Ja, was machst du denn da?« fragte er verblüfft die Mutter, die neben ihn getreten war und eine Anzahl Scheine auf den Schreibtisch zählte. »Was ist denn das?«

»Geld«, war die lakonische Antwort. »Wenn du es zu dem andern legst, reicht es dann zur Zinsenzahlung?«

»Reichlich sogar«, entgegnete er, dabei auf die Scheine starrend, als wären sie nicht geheuer. »Es reicht sogar, um den Dachdecker zu bezahlen. Darf ich fragen, woher du das Geld hast, Mutter?«

»Zum Teil aus dem Erlös der Schneeglöckchen, die reißenden Absatz fanden. Wir konnten gar nicht soviel pflücken, wie verlangt wurden. Hätten die beiden Mädchen nicht so eifrig dabei geholfen, lägen weit weniger Scheine hier. Ja, und dann habe ich einige Sachen an das große Antiquariat verkauft. Laß die drohende Falte zwischen den Brauen, man kann ja Angst kriegen. Was ist denn schon dabei? Hier liegen die Sachen ja doch nur herum.«

»Durch wessen Vermittlung ist der Kauf zustande gekommen? » fragte er kurz dazwischen. »Etwa durch die der beiden jungen Damen?«

»Ah, daher weht der Wind«, bemerkte sie trocken. »Beruhige dich, die Damen haben nichts damit zu tun. Ich las in der Zeitung ein Inserat, daß die Handlung ständigen Bedarf an Antiquitäten hat.«

»Da bist du hingegangen und hast sie – angeboten.«

»Ich bin nicht und ich habe nicht, sondern Franz tat es. Ist es vielleicht eine Schande, wenn man etwas verkauft? Du tust es mit deinen landwirtschaftlichen Erzeugnissen ja auch.«

»Ist ja schon gut, Muttichen«, drückte er seine Lippen schmeichelnd auf ihre Hand. »Nun ich weiß, daß du nicht selbst in den Laden gegangen bist, sondern den Verkauf Franz überlassen hast.«

»Ist mir auch keine Perle aus der Krone gefallen«, warf sie lachend ein. »Daß du doch davor immer Angst hast, du dummer Junge. Übrigens sagte Franz, daß er im Antiquariat alte Schriften entdeckt hat. Ob wir dem Inhaber des Geschäfts mal die hinterlassene Sammlung Jaspers anbieten, die für uns doch ganz wertlos ist? Was meinst du dazu, Rupert?«

»Ich meine, daß diese Schriften, für die Jasper seinen Besitz ruinierte, nicht so leicht an den Mann zu bringen sein werden, wenigstens für einen angemessenen Preis nicht.«

»Und da wir keine Ahnung haben, wieviel sie überhaupt wert sind«, sprach Arvid weiter, »müssen wir sie von einem Experten abschätzen lassen – und der kostet Geld, das wir nicht haben. Ich bitte daher dringend, Mutter, veräußere nichts mehr ohne mein Einverständnis, warten wir damit noch ab.«

*

Abwarten! Ein Wort, das wohl in jedes Menschen Leben mehr oder weniger eine Rolle spielt. Und das dann oft ein Ende findet, wenn man nicht damit rechnet.

So erging es auch Detlef Honneck. Tagelang wartete er ungeduldig auf ein Wiedersehen mit Karola Arnhöft, und als sich dann sein Wunsch erfüllte, geschah es dennoch unerwartet.

Ganz plötzlich stand er ihr gegenüber, als er in der Stadt ein Geschäft betreten wollte, das sie gerade verließ, und sein Ausruf:

»Gnädiges Fräulein, das ist aber mal eine freudige Überraschung«, war gewiß keine Redensart, denn seine Augen strahlten sie an.

Und sie? Sie freute sich auch, was nun wiederum ihm nicht entging. Das gab ihm den Mut, ihr seine Begleitung anzubieten, was sie ihm gewährte, ­wobei sie jedoch nicht verhindern konnte, daß ihr das Blut heiß ins Gesicht schoß.

Sie fühlte sich überhaupt ihm gegenüber so gehemmt, wie noch bei keinem Mann zuvor. Ihre ganze Selbstsicherheit geriet ins Wanken unter seinem strahlenden Blick, der warmen Stimme, die sie berührte wie zärtliches Streicheln und ihr Herz in Verwirrung brachte.

Obwohl sie das gar nicht wollte, schritt sie an seiner Seite dahin. Verfehlte sogar die Querstraße, in die sie hätte einbiegen müssen, um nach Hause zu kommen. Als sie es bemerkte, verhielt sie, unwillig über sich selbst, den Schritt und sagte kühl:

»Ich muß mich verabschieden, Herr Doktor Honneck, weil ich in diesem Haus zu tun habe.«

»Das ist aber schade«, bedauerte er und stutzte dann, als sein Blick auf den einstöckigen Bau fiel, wo neben der Haustür ein großes Schild angebracht war, auf dem zu lesen stand: Heiratsvermittlungen.

Nun, Detlef Honneck war taktvoll genug, eine lachende Bemerkung zu unterdrücken, zumal er den erschrockenen Blick bemerkte, mit dem Karola das Schild überflog. Doch dann lachte sie und fand mit diesem frohen Lachen die Sicherheit wieder, die sie sich im gesellschaftlichen Verkehr längst angeeignet hatte.

»Da will ich natürlich nicht hin«, gestand sie freimütig, und er schmunzelte.

»Das dürften Sie auch wirklich nicht nötig haben, mein gnädiges Fräulein. Darf ich Ihnen auch sagen …«

»Lieber nicht«, wehrte sie hastig ab. »Übrigens wird es gleich regnen. So muß ich mich denn beeilen, wenn ich trocken nach Hause kommen will.«

»Sind Sie denn zu Fuß unterwegs?«

»Ja. Als ich nämlich aufbrach, war das schönste Sonnenwetter, das zu einem Spaziergang verlockte. Leider vergaß ich, daß wir April haben.«

»Ich fahre Sie natürlich nach Hause, gnädiges Fräulein. Hoffentlich erreichen wir noch den Parkplatz.«

Nein, sie erreichten ihn nicht, sondern gerade noch eine kleine Konditorei mit knapper Not. Und da auch noch andere Straßenpassanten vor dem plötzlich losbrechenden Platzregen in das Lokal flüchteten, war es bald so voll, daß die beiden mit einem kleinen Ecktisch vorliebnehmen mußten, der neben einer Tür stand, durch welche die Bedienung flitzte.

»Dieser April ist doch ein zu launenhafter Bursche«, sagte Karola, und Detlef lächelte spitzbübisch.

»Mir gefällt er.«

Warum, das konnte sie sich wohl denken, die natürlich schon herausgefühlt hatte, wie gut sie dem Mann gefiel.

Und er ihr?

Diese Frage zu beantworten, gestattete sie sich nicht – noch nicht. Da mußte sie erst die Gewißheit haben, daß es nicht nur flüchtiges Gefallen war, das er für sie empfand.

Und wenn es mehr sein sollte?

Dann – vielleicht.

Mit diesem Schlußsatz war für sie die Angelegenheit vorerst erledigt. Denn zu den Mädchen gehörte sie nun wirklich nicht, um in jedem Mann, der sich für sie zu interessieren schien, gleich einen Bewerber zu wittern. Dafür war sie nicht eingebildet und auch nicht mehr ganz jung genug.

Aber nett fand sie es schon, mit dem Mann zu plaudern, seine leuchtenden Augen zu sehen, sein warmes Lachen zu hören. Auch seine zurückhaltende Art gefiel ihr, wie sie ja leider nicht alle Männer an sich haben und das die spröde Karola immer so abstieß. Sonst wäre sie mit ihren neunundzwanzig Jahren gewiß nicht mehr unverheiratet; denn an Bewerbern hatte es ihr nicht gefehlt.

»Ich glaube, gnädiges Fräulein, der Stuhl, den Sie da er­wischt haben, ist nicht besonders«, eröffnete Detlef das Gespräch. »Meiner ist entschieden bequemer. Wollen wir tauschen?«

»Danke, nein, ich fühle mich hier ganz wohl. Um so mehr, wenn ich einen Blick nach draußen werfe, wo es wie mit Kannen gießt. Hoppla, Fräulein, das war stürmisch!«

Das galt der jungen Bedienung, die sich an dem Tisch vorbeizwängte und leicht stolperte, wobei das vollbesetzte Tablett ins Wanken geriet. Eine Tasse rollte ab, den Kaffeerest über den Ärmel von Karolas heller Seidenbluse ergießend. Wie mit Blut übergossen war das Gesichtchen der erschrockenen Kleinen, die Augen füllten sich mit Tränen.

»Gnädiges Fräulein, ich – ich …«, schluckte sie erbärmlich, doch schon winkte Karola lachend ab.

»Seien Sie doch nicht so unglücklich, Mädchen, das ist doch noch lange kein Beinbruch. Aber wenn Sie meinen, gutmachen zu müssen, dann bedienen Sie uns außer der Reihe mit je einem Kännchen Kaffee.«

»Sofort, gnädiges Fräulein, sofort! Auch Kuchen?«

»Einen Windbeutel.«

»Sofort, und dem Herrn gewiß dasselbe.«

Weg war sie, und Detlef, dem dieser kleine Zwischenfall die Sprache verschlagen hatte, fand sie jetzt wieder.

»Das ist doch wirklich …«

»Nichts weiter als ein kleines Malheur«, warf Karola gelassen ein. »Und gewiß keiner Aufregung wert.«

»Aber der Ärmel ist doch naß, überhaupt die hübsche Bluse verdorben.«

»Den Ärmel kremple ich hoch, und die Bluse kommt in die Reinigungsanstalt. Noch etwas?«

»O ja, noch viel mehr, nämlich: Daß mir eine so menschenfreundliche Dame noch nicht vorgekommen ist – außer meiner Schwester natürlich. Jedenfalls hätten sich die meisten anders verhalten.«

»Wie zum Beispiel?«

»Nun, eine – Dame, der ungefähr dasselbe passierte, hat die Bedienung geohrfeigt.«

»Ist doch bloß gut, daß sie die Bezeichnung Dame gewissermaßen in Anführungsstriche setzen«, lachte Karola. »Ich bin ganz zufrieden mit meinem nassen Ärmel: Bekommen wir doch bald den Kaffee, auf den wir sonst bei der Überfüllung noch lange hätten warten oder gar auf ihn verzichten müssen. Da erscheint die niedliche Kleine ja schon, lachend über das ganze Gesicht.«

»Der Kaffee ist schön heiß«, sagte das Mädchen eifrig, indem es Kännchen nebst Windbeutel abstellte. Bevor es abtrollte, setzte es noch mit verlegenem Lächeln hinzu:

»Ich danke auch schön, gnädiges Fräulein.«

»Na, also«, meinte Karola vergnügt. »Das war mal eine kleine Ursache ohne große Wirkung.«

Was nicht ganz stimmte. Die große Wirkung war schon da, wenn auch in anderem Sinne. Wirkte doch das vornehme Verhalten des Mädchens so stark auf den Mann, daß er ihm mit jeder Faser seines Herzens verfiel.

Und jetzt erst begann das Hangen und Bangen, ob seine Liebe von dem warmherzigen Menschenkind auch erwidert würde. Am liebsten hätte er es sofort darum befragt, besaß jedoch immerhin noch so viel Vernunft, um sich zu sagen, daß man ein Mädchen wie Karola nicht einfach überrumpeln durfte. Um das mußte man werben – und dabei sein Herz fest in beide Hände nehmen, damit es nicht durchging vor der Zeit.

Wenn das nur nicht so schwer wäre. Ein tiefer Seufzer ließ Karola von ihrem Windbeutel aufsehen.

»Was haben Sie, Herr Doktor? Ist der Kaffee denn so schlecht?«

»Nein, mir tut das Herz weh.«

»Nanu, sind Sie denn herzkrank?«

»Ja.«

»Dann dürfen Sie den starken Kaffee nicht trinken«, griff sie energisch nach seiner Tasse, doch er hielt sie lachend fest.

»Lassen Sie nur, gnädiges Fräulein, der tut mir nichts. Aber es ist lieb von Ihnen, daß Sie um meine Gesundheit so besorgt sind.«

Er horchte auf; denn Musik setzte ein, die wohl von Schallplatten herrührte, und was sie spielte, gehörte nun wirklich hierher. So richtig stillvergnügt summte Detlef die Weise mit. Keinen Blick dabei von Karola lassend, die sich bemühte, harmlos zu tun, was für sie nicht ganz einfach war, weil sie den Text kannte.

In einer kleinen Konditorei,

da saßen wir zwei

bei Kuchen und Tee.

Und das elektrische Klavier,

das klimpert leise eine Weise

von Liebeslust und Weh.

Wie oft hatte Karola das reizende Liedchen gehört, aber noch nie hatte es sie so eigen berührt wie jetzt. Es klang etwas in ihrem Herzen wie eine Äolsharfe so zart und süß. Sie wollte lachen, irgendeine Bemerkung machen, allein es gelang ihr nicht. Wie benommen saß sie da, wagte nicht den Mann anzusehen, dessen Blick sie fühlte. Erst als die Musik schwieg und gleich darauf ein höllenspektakelndes Gekreisch einsetzte, das riß sie aus ihrem süßduseligen Bann.

»Daß die Menschen doch immer von einem Extrem ins andere fallen müssen«, sagte der Mann ungehalten. »Nach dieser wirklich ansprechenden Musik nun dieses Gezeter und Gejohle, als wären alle Teufel losgelassen. Das ist ja nicht zu ertragen.«

»Gehen wir also«, schlug Karola vor. »Eben bricht die Sonne durch das aufgerissene Gewölk. Da dürfte es draußen angenehmer sein als in dem von Menschen vollgepfropften Raum und dem mißtönenden Spektakel.«

»Da sprechen Sie mir direkt aus der Seele, gnädiges Fräulein. Wollen wir also zusehen, daß wir die nette Kleine erwischen, damit ich zahlen kann.«

Nach dem freudestrahlenden Gesicht des Mädchens zu urteilen, mußte das Trinkgeld nobel ausgefallen sein. Mühsam schlängelte man sich durch die Tische, immer gewärtig, über ungeniert ausgestreckte Beine zu stolpern oder über Kinder, die überall herumschwirrten.

Doch dann standen sie endlich auf der Straße, die von der Sonne überflutet war. In den Rinnsteinen strömte das Wasser den Gullys zu, wo es dann glucksend verschwand. Von den Pflastersteinen stieg Dampf auf, dessen erdigen Geruch man tief in die Lungen zog.

»Ein wahres Labsal nach der stickigen Luft in dem Lokal«, sagte Karola, leuchtenden Auges um sich schauend. »Jetzt werde ich nach Hause spazieren, und zwar auf einem Umweg durch die Anlagen.«

»Darf ich Sie begleiten, gnädiges Fräulein?« fragte er bittend, wogegen sie nichts einzuwenden hatte. Durch die Straßen gingen sie ziemlich rasch. Doch als sie die Anlagen erreicht hatten, verlangsamten sie den Schritt. Die Wege waren von dem Platzregen noch naß, von den Bäumen tropfte das Wasser.

Doch das machte den beiden Menschen nichts aus. In lebhafter Unterhaltung schlenderten sie dahin. Und wenn sich das Gespräch auch um Nichtigkeiten drehte, so war es dennoch irgendwie für sie von Bedeutung.

Viel zu schnell verging für Detlef der Spaziergang, aber auch Karola war ganz erstaunt, als die Villa in Sicht kam.

»So kurzweilig ist mir noch nie ein Weg erschienen«, gab sie unumwunden zu. »Schönen Dank für Ihre Begleitung, Herr Doktor Honneck.«

»Darf ich auf Wiedersehen sagen, gnädiges Fräulein?«

»Das ist nicht ausgeschlossen«, kam die Antwort viel zu ablehnend für seine Ungeduld. »Wir müssen ja immer an Ihrem Besitz vorbei, wenn wir zum Hörgishof fahren.«

»Wann wird das sein?«

»Das hängt von dem Gesundheitszustand meiner Verwandten ab.«

»War die junge Dame denn schwer krank?«

»Schwer gerade nicht, aber immerhin stark erkältet. Seit gestern ist sie außer Bett, somit dürfte alles wieder in Ordnung sein. Schauen Sie mal, dort steht sie am Fenster und winkt. So muß ich denn eilen, damit sie mir nicht entgegenkommt. Fertig kriegt sie es schon.«

Nach raschem Abschied schritt Karola davon, leichtfüßig wie ein Gemslein, wie der ihr Nachschauende entzückt wahrnahm. Der geöffnete leichte Seidenmantel blähte im Wind, über dem gelockten dunklen Haar schienen Goldfünkchen zu huschen. Ein tiefer Atemzug hob des Mannes Brust, in die Augen trat ein frohes Leuchten. Um dieses Mädchen lohnte ein ritterliches Werben – aber er mußte sein Ziel erreichen.

*

Des reichen Wiederbachs Tochter gab sich einer Beschäftigung hin, die gar nicht zu ihr paßte, ihr aber Freude machte. Eifrig streute sie Samen in ein großes Rundbeet, das Franz umgegraben, geformt und mit Rillen versehen hatte. Blumen sollten darauf wachsen, fröhlich, lustig, kunterbunt. Also aus diversen Tütchen, die sie dem Gärtner zu Hause stibitzt hatte, den Samen in eine Schüssel getan, alles gut vermengt – und dann hinein in die lockere Erde.

So was machte Spaß, wenn auch das Kreuz von der ungewohnten Arbeit schmerzte. Das gab sich wieder, wie Sephchen tröstend meinte, zumal dann, wenn die berühmte Salbe Wunder wirkte.

Gudrun war mit ihrer Arbeit, die sie sehr wichtig nahm, beinahe fertig, als Baronin Erdmuthe in Begleitung ihres Sohnes zu ihr trat und lachend sagte:

»Zünftig wie eine Gärtnerin. Tut’s Kreuzchen noch nicht weh?«

»Etwas schon«, ließ die emsige Gärtnerin sich nicht stören. »Aber macht nichts. Ich bin ja bald fertig, dann hat das Kreuz Feierabend.«

»Oder auch nicht. Ich hab’ nämlich für Sie einen Auftrag.«

»Da bin ich aber neugierig«, richtete Gun sich auf, was allerdings nicht ganz ohne einen kleinen Schmerzensschrei abging. Beide Hände gegen den Rücken pressend, sah sie gespannt die Baronin an, die sie lächelnd betrachtete. Kein Wunder bei dem herzerfrischenden Anblick, der sich ihr bot.

Rank und schlank stand es da, das junge bezaubernde Menschenkind. Aus dem gebräunten, leicht geröteten Gesicht schauten zwei Augen so blau wie der Himmel am Maientag. Unter dem malerisch um den Kopf geschlungenen Seidentuch stahlen sich goldene Löcklein hervor, das einfache Gartenkleid umschmiegte den jugendschönen Körper. Etwas Strahlendes ging von dem Mädchen aus, etwas Klares, Unberührtes.

Das war also Gun, wie man sie einfach beim Vornamen nannte, wie Karola auch. Anders klang es zu steif, zu fremd, und man war jetzt doch hier schon zu Hause. Nur Arvid machte da nicht mit, ihm war das zu vertraut. Wohl hatte er das »gnädige« gestrichen, aber das »Fräulein« war geblieben.

»Gun, passen Sie mal auf«, sprach jetzt die Baronin. »Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie in Begleitung Karolas zur Zuckerfabrik, bringen Sie Frau Diersk eine Glucke mit ihren Küken. Sie wissen ja, daß die Dame eifrig darum bemüht ist, sich eine erstklassige Geflügelzucht zuzulegen. Warum sehen Sie mich so verschmitzt an?«

»Och, tu’ ich das denn?« fragte der Schelm harmlos, während die Augen blitzten. »Natürlich bin ich Ihnen gern gefällig. Frau Baronin, aber ist es überhaupt erforderlich, daß Karola mitgeht?«

»Doch, sie muß es«, kam es lachend zurück. »Und daß sie es tut, dafür werden Sie sorgen, Sie Schalk. Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Arbeit erst vollenden, so sehr eilt das andere ja nicht.«

»Das möchte ich allerdings gern. Ich werde mich sehr beeilen.«

»Na schön. Wenn Sie soweit sind, dann melden Sie sich bei mir.«

Sie ging mit dem Sohn davon, und als man außer Hörweite war, fragte dieser verwundert:

»Seit wann stehst du mit Frau Diersk in so freundschaftlichem Verhältnis, daß du ihr Küken schickst?«

»Seitdem sie heute früh auf einen Sprung hier war und mich bat, mich mit ihr zu verbünden und zu helfen, Karola Herrn Honneck näherzubringen.«

»Nanu, hat er sich denn in die junge Dame verliebt?«

»Über Kopf und Kragen, wie seine Schwester behauptet.«

»Und weshalb macht er ihr da nicht einfach einen Heiratsantrag?«

»Weil er nicht weiß, woran er bei ihr ist, und daher einen Korb fürchtet. Sie soll nämlich äußerst zurückhaltend sein.«

»Und da nimmst du an, daß sie ohne weiteres in ein Haus gehen wird, wo sie noch keinen Antrittsbesuch gemacht hat?«

»Den hat sie bereits hinter sich«, entgegnete die Mutter und erzählte die lustige Begebenheit mit dem Hahn und von dem Trick Hannas, worauf Arvid kopfschütteld meinte:

»So viel List hätte ich Frau Diersk nicht zugetraut. Sie machte auf mich einen offenen Eindruck.«

»Dem sie auch standhalten kann. Mit dieser kleinen List wollte sie doch nur ihrem Bruder helfen, zumal die Gelegenheit, Karola ins Haus zu bekommen, so günstig war.«

»Da sieht man doch wieder, daß man euch Frauen nicht trauen kann. Es ist …«

»Wasser auf deine Mühle«, warf die Mutter trocken ein. »Wenn du den Frauen gegenüber immer so skeptisch bleibst, wirst du bestimmt dereinst als alter, verbitterter Junggeselle in die Grube fahren. Denn so ein vollkommenes weibliches Wesen, wie es dir wahrscheinlich vorschwebt, gibt es nicht. Das laß dir nur gesagt sein, mein lieber Sohn.«

»Doch, Muttichen – dich«, schob er schmunzelnd seinen Arm unter den ihren. »Und nebenbei noch Ermelchen.«

»Na, Gott sei Dank, daß wenigstens zwei Frauensleut Gnade vor deinen Augen finden.«

Indes hatten sie die Terrasse erreicht, wo Ermenia mit Karola saß. Auf dem Tisch häuften sich Blumen, die vier flinke Hände bündelten, mit Garn umwanden und die Sträuße auf den Nebentisch legten. Narzissen, Tulpen, Osterglocken, Stiefmütterchen, Tausendschön, alles Blumen, die in dem weiten Park so üppig blühten, daß, nachdem man schon eine Menge davon gepflückt hatte, kaum Lücken entstanden waren in dieser herrlichen Blütenpracht.

»Also hätte man noch viel mehr pflücken können, doch die große Gärtnerei, an die der Hörgishof laufend Blumen lieferte, nahm nur eine bestimmte Anzahl davon ab. Aber die sie abnahm, war schon so beträchtlich, daß bei der monatlichen Abrechnung ein ganz nettes Sümmchen in die schmale Kasse der Hörgisholmer floß.

Wozu die beiden Mädchen auch ihren Teil beitrugen, die zu Hause keinen Finger regten, außerdem noch wie die Prinzessinnen bedient wurden. Hier jedoch halfen sie, wo es etwas zu helfen gab. Natürlich handelte es sich dabei nur um leichte Beschäftigung, die jedoch Zeit sparen half. Und Zeit war auf dem Hörgishof knapp und daher kostbar.

Warum sich die beiden verwöhnten Mädchen so emsig betätigten, war den Bewohnern des Herrenhauses schon längst klar. Sie wollten sich erstens von den älteren Damen nicht beschämen lassen und dann sich den Aufenthalt verdienen, den sie den vornehmen Menschen ja nicht bezahlen konnten. Das war allen klar. Doch warum die beiden fast mehr auf dem Hörgishof als zu Hause weilten, darüber war man verschiedener Meinung.

Das heißt, drei teilten dieselbe, und zwar daß die Mädchen im Herrenhause vom Hörgishof die traute Harmonie fanden, die sie in der pompösen Villa Wiederbach vermißten.

Der junge Baron jedoch hielt es, wenigstens bei Gudrun, für die Marotte einer übersättigten Tochter aus reichem Hause. Sobald sie dieses Spleens überdrüssig wäre, würde der Hörgishof ein überwundener Standpunkt für sie sein.

Ob er recht hatte?

Das mußte die Zukunft lehren.

Momentan jedenfalls war dieses Mädchen, das sich dank des Reichtums seines Vaters keinen Wunsch zu versagen brauchte, sich den Aufenthalt in den teuersten Bädern leisten konnte, auf den Hörgishof wie versessen. Eben kam es angestürmt, nahm die Stufen der Terrasse mit Vehemenz – und stand dann da wie das personifizierte lachende Leben.

»Ich bin bereit, Frau Baronin, die Puttehühnchen zu befördern. Hoffentlich entfleuchen sie mir nicht wie damals der Herr Hahn. Daher ist es schon besser, wenn du mitgehst, Karlchen.«

»Wohin denn?«

»Zu Frau Diersk. Wir sollen ihr eine Glucke mit Küken hinbringen.«

»Wir?« dehnte Karola. »Mich schalte aus.«

»Das wäre ungezogen!« trumpfte Gudrun auf. »Es wird nämlich gewünscht, daß du mitgehst. Nicht wahr, Frau Baronin?«

»Ich hätte es jedenfalls gern«, schwächte sie ab. »Obwohl ich die Tierchen sorgsam im Korb verpacken werde, könnten sie dennoch auskneifen. Und was fängt dieser Irrwisch dann ohne Hilfe an?«

»Wenn Sie es wünschen, Frau Baronin, dann gehe ich natürlich mit«, erklärte Karola steif, was die andere jedoch nicht zu bemerken schien.

»Das freut mich, Karlchen. Bin ich nun doch sicher, daß unser Firlefänzchen keine Dummheiten macht.«

»Was sehen denn meine bildschönen Augen«, empfing Hanna Diersk die beiden Mädchen. »Die jungen Stadtdamen höchstpersönlich mit einem Korb am Arm, in dem es so ländlich kribbelt und krabbelt.«

»Es war gar nicht so einfach, den Korb zu transportieren«, lachte Gudrun vergnügt. »Die Kükenmama pickte ständig nach meinem Arm, und das Kleinzeug hopste durcheinander, daß ich den Korb kaum halten konnte. Du, fang nicht wieder an«, drohte sie der Henne, die erneut nach ihrem Arm hackte und empört spektakelte, weil sie ihre Kleinen bedroht glaubte, die im Korb lustig krabbelten, der mit einem porösen Tuch fest umspannt war. Von dem Huhn steckte nur der Kopf heraus, den sie hin und her reckte, ihre Umgebung dabei mißtrauisch beäugend.

»Was für ein reizendes Bild«, kam es von der Tür her, durch die der Hausherr rasch trat und die Gäste freudig begrüßte. »Bringen die Damen uns die stattliche Frau Henne etwa zum Geschenk?«

»Sie und noch mehr«, tat Gudrun großartig. »Ihre ganze Kinderschar nämlich. Ein nachbarliches Geschenk der Frau Baronin, jawohl!«

»Und damit müssen Sie sich selbst bemühen, meine Damen?« fragte er befremdet. »War denn niemand von der Die­nerschaft da?«

»Nein, die sind alle zu beschäftigt. Wir beförderten das lebende Geschenk gern, nicht wahr, Karlchen?«

»O ja«, kam es einsilbig zurück. »Viel habe ich dazu ja nicht beigetragen. Ich ging ja nur nebenher.«

»Was aber vollkommen genügte«, tat Gun harmlos, und da war der Mann im Bilde. Sein lachender Blick ging zu dem schönen Mädchen hin, das Hanna gerade den Korb überreichte.

»Gnädige Frau, hiermit überreiche ich Ihnen die Krabbelei heil und unversehrt. Bitte, eine Quittung darüber auszustellen, daß alles wunderbar geklappt hat.«

»Nu geben Sie schon her, Sie Schalk«, lachte Hanna, die bei dem Wort alles mehr heraushörte als die beiden andern. »Detlef, unterhalte indes die Damen, bis ich das Kleinzeug mit ihrer argwöhnischen Frau Mama dahin gebracht habe, wohin sie gehören.«

»Mit dem größten Vergnügen«, gab der Bruder beflissen zurück. »Meine Damen, nehmen wir gemütlich Platz. Das heißt, ich werde es erst tun, wenn ich Sie mit einer kleinen Leckerei versorgt habe.«

Worauf er dann an Süßigkeiten herbeitrug, was er nur erwischen konnte, bis Gudrun abwehrte.

»Halten Sie ein, Herr Doktor! Wie süß wollen Sie uns wohl machen?«

»Bis zum Anknabbern«, blinzelte er ihr verschmitzt zu. Nachdem er noch einen Trunk verabfolgt hatte, nahm auch er Platz, und ein lebhaftes Gespräch begann, an dem sich Karola nur wenig beteiligte. Es war ihr einfach nicht möglich, dem Mann mit der Harmlosigkeit zu begegnen, wie Gudrun es tat.

Als dann Hanna hinzukam, wurde es besser. Da fühlte Karola sich nicht mehr so gehemmt, ging mehr aus sich heraus. Jedenfalls verbrachte man eine gemütliche Stunde und war sich dabei ein gutes Stück nähergekommen, was hauptsächlich den verliebten Detlef beglückte.

Aufs herzlichste von Hanna eingeladen, doch recht bald wiederzukommen, nahmen die Mädchen Abschied und langten kurz vor dem Abendessen auf dem Hörgishof an, wo sie etwas erfahren sollten, was sie so gar nicht freute. Sie bekamen es aber erst zu hören, als sie über den erledigten Auftrag Bericht erstattet hatten, worüber sich die andern köstlich amüsierten, hauptsächlich über Gudruns drollige Schilderung. Da erst entledigte sich die Baronin ihres Auftrags:

»Die Frau Tante rief an und läßt Ihnen durch mich sagen, daß Sie unverzüglich nach Hause kommen möchten. Der Herr Papa ist nämlich von seiner Reise zurückgekehrt und soll sehr ungehalten über Ihre Abwesenheit gewesen sein.«

»Nanu, das ist ja ganz was Neues«, wunderte Gudrun sich. »Er hat uns doch sonst nie vermißt.«

»Gun«, sprach Karola mahnend dazwischen, und da lief das feine Gesichtchen rot an.

»Ist doch auch wahr«, brummte sie. »Da muß doch etwas dahinterstecken. Was meinst du, Karlchen?«

»Rätseln wir nicht lange herum, sondern fahren wir nach Hause. Dann werden wir schon hören, ob dort etwas Besonderes los ist.«

»Und wenn ich nicht fahre?«

»Das kannst du dir nicht leisten, Gun«, blieb Karola bei dem trotzigen Ton gelassen. »Bedenke, daß du noch nicht mündig bist und somit unter dem Gebot des Vaters stehst. Da kannst du ihm doch nicht einfach den Gehorsam verweigern, wohin soll das wohl führen.«

Da senkte sich der flimmernde Mädchenkopf, der Mund, schon heftige Worte auf den Lippen, blieb stumm. Und Karola, der gute Geist dieses eigenwilligen Mädchens, hatte wieder einmal gesiegt.

*

»Na endlich geruht ihr zu erscheinen«, empfing Wiederbach die Eintretenden gereizt. »Wie mir Christine erzählte, seid ihr während meiner Abwesenheit kaum einen Tag zu Hause gewesen. Wo habt ihr denn um alles in der Welt gesteckt! Etwa auf dem Hörgishof?«

»Ja.«

»Das gibst du so gelassen zu, Karola?«

»Was sollte ich denn sonst wohl tun, ableugnen?«

»Natürlich nicht, das würde ich mir auch ernstlich verbitten. Aber schämen solltet ihr euch, sich von den Menschen, die schwer um ihre Existenz ringen müssen, durchfüttern zu lassen.«

»Was wir da essen, das erarbeiten wir uns auch«, erklärte Gudrun lakonisch, und der Vater sah seine Tochter so entgeistert an, als zweifle er an ihrem Verstand.

»Was – tut – ihr?« fragte er dann langsam.

»Wir arbeiten. Das heißt, arbeiten ist zuviel gesagt, wir machen uns dort nützlich.«

»Na, das ist ja reizend!« lachte der Mann verärgert auf. »Meine Tochter arbeitet für fremde Menschen. Meine Tochter, die sich zu Hause von oben bis unten bedienen läßt. Darf ich fragen, ob du auch Kühe melkst und Schweine fütterst?«

»Darauf bleibe ich dir die Antwort schuldig, Papa.«

»Soso«, besah sich dieser sein einziges Kind so eingehend, als sähe er es heute zum ersten Mal. Doch Gudrun hielt dem inquisitorischen Blick so offen stand, daß der Vater es war, der den seinen zuerst abwandte. Einige Male holte er tief Atem, dann sagte er kurz:

»Komm mit, ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen.«

Achselzuckend erhob Gudrun sich, warf Christine und Karola, die dem Gespräch mit Bangen gefolgt waren, einen gottergebenen Blick zu und folgte dann dem Vater in sein Arbeitszimmer. Während sie sich auf die Lehne eines der wuchtigen Klubsessel setzte, ging er unruhig im Zimmer auf und ab, bis die Tochter ermunternd sagte: »Nun sprich schon, Paps. Oder ist das so schwer?«

»So was ist immer schwer«, ließ er sich ihr gegenüber nieder. »Ich – möchte nämlich, daß du – heiratest.«

»Das habe ich mir so ungefähr gedacht«, blieb sie ganz gelassen. »Wer soll’s denn sein?«

»Bruno Woirach.«

»Diesen Modejournaljüngling«, lachte sie amüsiert auf, was den Vater nervös zusammenzucken ließ. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Papa?«

»Lach nicht so albern!« wies er sie scharf zurecht, was jedoch nicht aus Ärger allein, sondern mehr aus Verlegenheit geschah. »Selbstverständlich ist mir die Sache ernst, sonst würde ich nicht mit dir darüber sprechen.«

»Und weshalb soll ich ihn heiraten?« forschte Gudrun gespannt. »Befindest du dich etwa in Geldnot?«

»Natürlich nicht. Ich stehe besser da, als je zuvor.«

»Kannst du mir darauf dein Ehrenwort geben?«

»Na hör mal, Gudrun, das geht denn doch zu weit.«

»Kannst du mir dein Ehrenwort geben?«

»Was man sich so alles von seinen Kindern bieten lassen muß, das sollte man kaum für möglich halten. Also hier hast du mein Ehrenwort, daß meine Finanzen gut, wenn nicht gar sehr gut stehen. Hattest wohl vor dem Armwerden Angst, du verwöhnte Prinzeß, wie?«

»Das kann ich ja nicht gut werden, da Mamas Erbe hinter mir steht«, gab sie ungerührt zu bedenken. »Wenn es dir finanziell schlechtginge, dann könnte ich deinen Wunsch, das reiche Brunchen mit mir zu verheiraten, sogar verstehen. Aber wenn du selbst reich bist, warum willst du denn deine Tochter verschachern?«

»Kind, drück dich doch nicht so vulgär aus«, zog er unbehaglich die Schultern hoch. »Ich bin doch kein Rabenvater.«

»Na, siehst du, Papa, nun kommen wir uns schon näher«, lachte sie ihn lieblich an. »Eben weil du kein Rabenvater, sondern ein guter Vater bist, wirst du deine Tochter den Mann heiraten lassen, den sie sich zum Gatten erwählt.«

»Und der wäre?«

»Weiß ich noch nicht.«

»So?« dehnte er, sie aus verengten Augen musternd. »Na schön. Aber fragen darf ich doch wenigstens, warum du den jungen Woirach nicht heiraten willst? »

»Weil er mir nicht gefällt. Außerdem weiß ich ja gar nicht, ob er mich überhaupt haben will.«

»Den Mann gibt’s ja gar nicht, der eine Gudrun Wiederbach nicht haben will«, sprach nun der ganze Vaterstolz aus ihm. »Du brauchst doch wahrlich nur die Hand auszustrecken.«

»Halt ein, Paps!« rief sie lachend dazwischen. »Ich hab’ ja gar nicht gewußt, was für ein eitler Vater du bist.«

»Ich hab’ auch allen Grund dazu, stolz auf dich zu sein, mein Kind.«

»Und dann willst du mich Brunchen ausliefern? Stell dir mal vor, was für ein Paar wir abgeben würden. Er ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich, wiegt mindestens fünf Pfund weniger. Dazu ist sein Haar so schütter, daß er mit dreißig Jahren wahrscheinlich eine Glatze hat. Außerdem ist er ständig erkältet und muß sich vor jedem frischen Windzug schützen, und so was soll ich heiraten? Aber, Paps!«

»Mein liebes Kind, du hast wohl alle Nachteile des jungen Mannes aufgezählt, aber die Vorteile nicht. Denn er ist nicht nur der Sohn eines reichen Vaters, sondern auch der Neffe eines amerikanischen Multimillionärs. Wenn er den erst beerbt hat, fürchte ich, daß die Woirachs dann so ungeheuer viel Geld haben, daß sie die anderen Industriellen glatt an die Wand drücken können.«

»Aber Bruno ist doch jetzt als Erbe seines Onkels ausgeschaltet«, sagte Gudrun verwundert, und da hob der Vater interessiert den Kopf.

»Inwiefern?«

»Sein Onkel hat doch eine Witwe mit drei Kindern geheiratet.«

»Woher weißt du das?«

»Von Bruno persönlich. Karola und ich trafen ihn. Moment, wann war das – also ja, wir trafen ihn vor drei Tagen auf dem Parkplatz, wo er in seiner Mordskutsche saß und ein so verdrießliches Gesicht machte, als wären ihm alle Felle weggeschwommen. Nun, Felle waren es gerade nicht, aber die Millionen seines Onkels, wie Brunchen uns voller Empörung verriet. So ein alter Narr, mit sechzig Jahren noch zu heiraten, und dann gleich eine Witwe mit drei Kindern. Wenn er nur wüßte, wie er sich auf die Kabelbotschaft verhalten sollte. Sein Vater wäre verreist, und ­ohne ihn möchte er nichts unternehmen.

So rieten wir ihm dann, sich mit seinem Vater telegrafisch oder telefonisch in Verbindung zu setzen und ihm die Entscheidung zu überlassen. Über diesen Vorschlag war Brunchen direkt begeistert, bat uns, über diese ›üble Geschichte‹ zu schweigen, und brauste dann wie ein wildgewordener Kohlenkasten ab.«

»Das ist ja sehr interessant«, dehnte Wiederbach. »Na, so ein alter Gauner.«

»Warum denn, Paps? Willst du es mir nicht sagen?«

»Nein, das will ich nicht. Seien wir froh, daß sich der Zufall uns als Freund erwies. Denn ohne die interessante Neuigkeit, die du von Bruno erfuhrst … Na, Schwamm drüber.«

»Jawohl, Schwamm drüber!« bekräftigte Gudrun. »Ist nun alles wieder klar zwischen uns, Papilein?«

»Bis auf deine Vorliebe für den Hörgishof. Willst du mir nicht offen sagen, was dich dahin zieht? Denn über dein Zuhause kannst du dich doch wahrlich nicht beklagen.«

»Das wäre auch undankbar«, gestand sie ehrlich, während sie zum Vater trat, sich auf die Sessellehne setzte und ihren Kopf an den des Mannes schmiegte. »Aber schau mal, Papichen, wir haben doch so gar kein Familienleben. Ständig sind wir unterwegs, betrachten unser Zuhause eigentlich nur als feudales Speiselokal und Nachtquartier. Solange ich nichts anderes kannte, habe ich gewiß nichts entbehrt. Hetzte von einem Vergnügen zum andern und fühlte mich glücklich dabei. Doch seitdem ich die traute Harmonie, die herzliche Familiengemeinschaft im Herrenhause vom Hörgishof kennengelernt habe, läßt sie mich nicht mehr los. Gönne mir doch ein Plätzchen dort.«

»Meine liebe Gun, hast du eine Ahnung, was alles dir dein Vater gönnt. Und was du von unserem Familienleben sagst, das stimmt schon. Aber sieh mal, mein Kind, ich kann nun mal zu einer trauten Harmonie nichts beitragen. Ich muß ja ständig unterwegs sein, wenn mein Unternehmen florieren soll, denn ins Haus geflogen kommt einem Geschäftsmann wahrlich nichts.

Und Stella? Die ist nun mal eine mondäne Dame, die kein Verständnis für Familienleben hat. Die müssen wir eben so nehmen, wie sie ist.

Aber da gibt es doch noch Christine, außerdem hast du Karola als Treugespann. Ist das einem verwöhnten Prinzeßchen immer noch nicht genug, was da um ihre werte Person herumscharwenzelt. Und so was geht nun bei fremden Menschen arbeiten.«

»Papa, bitte!«

»Na ja, ist schon gut«, winkte er beschwichtigend ab. »Meines Erachtens ist es nur die Marotte einer übersättigten Tochter aus reichem Hause. Oder ist es mehr?«

Prüfend sah er sein Kind an, das den Blick offen zurückgab.

»Nur das frischfröhliche Leben auf dem Hörgishof.«

»Soso, na schön.«

Einige Herzschläge lang war es zwischen ihnen still, dann sprach Gudrun zögernd:

»Du, Paps, ich möchte dir etwas sagen, selbst wenn ich eine Indiskretion damit begehen sollte. Aber dem Vater gegenüber ist das nicht so schlimm, stimmt’s?«

»Stimmt. Also erleichtere dein Herz.«

»Ja, das ist nämlich so: kennst du Herrn Doktor Honneck, den Besitzer der Zuckerfabrik näher?«

»Näher nicht«, entgegnete er langsam, die Tochter dabei erstaunt musternd. »Wenigstens als Mensch nicht. Was soll überhaupt diese Frage, Gun?«

»Der Mann interessiert sich für Karola.«

»Ja, aber Kind, kennen die sich denn?«

»Natürlich.«

»Na du, so natürlich ist das nicht. In der Gesellschaft haben sie sich jedenfalls nicht kennengelernt, wo denn sonst?«

»Das erste Mal sahen sie sich im Café Krone«, erstattete Gudrun Bericht über alles bis ins kleinste. Sie tat es so drollig, daß der Vater herzlich lachen mußte.

»Und du hast dir so ohne weiteres den Korb mit dem Hüh­nerzeug auf den Arm hängen lassen, Gun?«

»Na, was denn sonst? Du kennst eben die Baronin nicht und kannst nicht wissen, wie charmant sie alles sagt und tut. Dann die Baronesse und die Schwester Honnecks, ach, Paps, solche Damen haben wir in unserer Gesellschaft bestimmt nicht aufzuweisen. Die glauben immer, ihrer Vornehmheit etwas zu vergeben, wenn sie natürlich sind. Und dabei ist es mit der Vornehmheit zumeist gar nicht soweit her, wie bei Familie Hörgisholm. Die Menschen brauchen sich ja gar nicht vornehm zu geben, sie sind es einfach, und so ist auch der Zuschnitt des Hauses.«

Ganz in Eifer hatte sie sich geredet, und der Vater meinte versonnen:

»Weiß Gott, Gun, du verstehst es mit deiner lebendigen Schilderung, den Wunsch in mir zu erwecken, das Leben auf dem Hörgishof kennenzulernen. Leider ist das vorerst nicht möglich, weil ich morgen wieder auf längere Zeit verreisen muß. Doch wenn ich zurückkomme, dann lege ich eine längere Pause ein, in der ich dem Hörgishof meinen Besuch abstatten werde. Nun wieder zu Karola zurück. Du meinst, daß sich Herr Doktor Honneck ernstlich für sie interessiert?«

»Ganz bestimmt, Paps. Du solltest mal sehen, wie seine Augen strahlen, sofern Karlchen auftaucht.«

»Und dir gilt das nicht?«

»Ach, woher denn! Er hört und sieht bloß Karola.«

»Wie ist seine Schwester?«

»Mal erst Dame. Und dann noch eine vorzügliche Hausfrau, die sich nicht scheut, mal selbst Hand anzulegen.«

»Sie steht jetzt dem Hause ihres Bruders vor?«

»Ganz recht. Die Geschwister scheinen sehr aneinander zu hängen.«

»Hm. Ein gutes Haus soll es ja sein, wie man so hört, und daß der Honneck glänzend dasteht, weiß ich. Ein schneidiger Kerl ist er auch, also wäre er schon etwas für unser Karlchen. Na, zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Warten wir der Dinge, die da kommen sollen.

Nun ab mit dir! Ich habe nämlich noch mancherlei zu erledigen und möchte wenigstens einige Stunden schlafen, bevor die Reise wieder losgeht.«

»Dann sehen wir uns morgen nicht mehr?«

»Nein. Wenn ich abfahre, liegst du noch im süßen Schlummer.«

»Sag mal, Paps, Stella dehnt ihre Reise diesmal aber recht lange aus.«

»Ja, Kind, dagegen können wir nichts machen. Jeder muß nach seiner Fasson selig werden. Ich weiß mein Haus auch ohne sie gut bestellt, und das ist ja schließlich die Hauptsache. Laß Christine nicht so viel allein hier, das hat sie nicht verdient. Gehab dich wohl, mein Kind, und mach keine Dummheiten.«

»Keine Angst, Karlchen paßt schon auf mich auf. Bist doch der beste Vater der Welt.«

Einen Kuß auf seine Wange drückend, huschte sie ab. Lächelnd sah er ihr nach.

*

»Was hat es denn gegeben?« fragte Christine gespannt, als Gudrun in das Zimmer stürmte, wo auch Karola weilte. »Deiner vergnügten Miene nach zu urteilen, scheint es nicht schlimm gewesen zu sein.«

»War es auch nicht«, ließ Gun sich in einen Sessel sinken und griff zur Zigarette. »Papa wollte mich nur verheiraten.«

»Das nennst du nur?« fragte Karola kopfschüttelnd.

»Natürlich. Man braucht ja nicht zu tun, was von einem verlangt wird.«

»Deine Pomadigkeit möchte ich haben! Wer ist denn der Heiratskandidat, Rolf oder Peter?«

»Keiner von beiden. Bruno Woirach sollte dran glauben.«

»Woirach? Der steht doch gar nicht auf der Liste. Wie kommt dein Vater auf diesen Außenseiter?«

»Möchte ich auch gern wissen«, blieb Gudrun seelenruhig, was die anderen beiden nicht begreifen konnten. »Leider hat Papa seine Karten nicht ganz aufgedeckt. Wahrscheinlich hatte er den Heiratsplan mit dem alten Woirach ausgeheckt. Mir sagte er nur, daß er die Verbindung deshalb wünsche, weil die Woirachs, wenn Bruno seinen Millionenonkel beerbte, so enorm viel Geld hätten, daß sie die anderen Industriellen glatt an die Wand drücken könnten.«

»Sagtest du deinem Vater denn nicht, daß dieser Onkel eine Witwe mit drei Kindern geheiratet hat und das Erbe dadurch für den Neffen futsch ist?«

»Habe ich gesagt, und das war ausschlaggebend. Ich brauche den miesepetrigen, ewig erkälteten Modejournaljüngling nicht zu heiraten.«

»Na, Gott sei Dank!« atmete Karola auf. »Somit bist du mit deinem Vater gut auseinandergekommen?«

»Bestens sogar. Papa ist übrigens gar nicht so. Als ich ihm nämlich erklärte, mich nicht verschachern zu lassen, wies er mich darauf hin, daß er kein Rabenvater wäre.«

»Na, also«, lachte Christine. »Dann bist du gerade nur so mit dem berühmten blauen Auge davongekommen. Und wir haben hier schon Angst um deine Freiheit geschwitzt.

Was ist übrigens mit Stella los? Warum bleibt sie in diesem Jahr so lange fort? Sonst war sie doch immer mit Frühlingsanfang zu Hause.«

»Darüber kann ich dir auch nichts sagen, Tinchen. Als ich Papa darum befragte, meinte er, daß jeder nach seiner Fasson selig werden müßte. Dann fügte er noch hinzu: Laßt Christine nicht so viel allein, das hat sie nicht verdient.

Also, schließen wir einen Kompromiß. Drei Tage in der Woche verbringen wir hier, vier auf dem Hörgishof.«

»Ist doch nur gut, daß du für den einen Tag länger bestimmst«, lachte Christine. »Übrigens hat mich die Frau Baronin, als ich heute fernmündlich mit ihr sprach, eingeladen und ich habe das Gefühl, daß sie es sogar ehrlich meinte. Einige Tage früher hätte ich die Einladung wahrscheinlich angenommen, aber jetzt geht das nicht.

Ich bekam nämlich vorgestern Nachricht von meinem Mann«, erklärte sie leise. »Er schrieb mir, daß er sich in den vergangenen drei Jahren ganz gut durchgeschlagen hätte. Aber dann wurde er schwer krank. Und als er nach einem Vierteljahr das Spital verließ, das seine ganzen Ersparnisse verschlungen hatte, war er viel zu schwach, um wieder arbeiten zu können. Dadurch ist er in bittere Not geraten und bat mich um Hilfe.«

Die letzten Worte wehten nur wie ein Hauch zu den beiden Mädchen hin, die diese Nachricht erschreckte. Hatte man doch allgemein angenommen, daß dieser Leichtfuß irgendwo verdorben und gestorben wäre.

»Was wirst du nun tun, Christine?« fragte Karola bang.

»Ihm Hilfe zukommen lassen, soweit es mir möglich ist. Ich habe die Bank beauftragt, ihm von meinem Konto monatlich eine bestimmte Summe zu überweisen. Nicht zuviel natürlich, nur daß er sich gewissermaßen über Wasser halten kann.

Er ist ja schließlich immer noch mein Mann«, setzte sie entschuldigend hinzu. »Da ist es meine Pflicht, ihm zu helfen – ob er diese Hilfe verdient oder nicht. Oder seid ihr anderer Ansicht.«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Karola vorsichtig, und Gudrun nickte bekräftigend dazu. »Darüber kann man wohl erst urteilen, wenn man selbst Ehefrau ist. Anders hieße es, wie ein Blinder von der Farbe sprechen.«

Mehr zu sagen, wagte sie nicht, nämlich: Daß der Mann vielleicht gar nicht krank war, daß er nur versuchte, sich eine sichere Einnahmequelle zu verschaffen. Aber Christine war ja klug genug, um das selbst in Erwägung zu ziehen.

»Was ich nun befürchte, ist, daß Felix eines Tages hier erscheint«, sprach die Frau erbittert weiter. »Und daß er sich nicht in bester Verfassung befindet, dürfte wohl anzunehmen sein. Also muß ich verhüten, daß er Egon in den Weg läuft, und kann mich daher um den Ersten herum nicht aus dem Hause wagen. Die weiteren Tage im Monat besteht diese Gefahr wohl nicht, da der leichtsinnige Mensch dann kein Geld mehr zu der Reise hierher hat.«

»Wo befindet sich Onkel Felix?« fragte Gudrun beklommen, die tiefes Mitleid mit ihrem Tinchen hatte, das so richtig vergrämt aussah.

»Der Brief ist in Chile abgestempelt.«

»Nun, von dort bis zu uns ist das eine ganz nette Ecke«, meinte Karola tröstend. »So viel Geld wirst du deinem Mann sicherlich nicht zukommen lassen, daß er die weite Reise damit finanzieren kann.«

»Da hast du recht. Aber – na, warten wir ab. Wenn Felix hier auftauchen sollte, muß ich eine Lösung finden. Vor allen Dingen muß ich vermeiden, daß die Brüder zusammentreffen. Denn soweit ich Egon kenne, wirft er das schwarze Schaf der Familie zum Hause hinaus, was man ihm nun wirklich nicht ver­argen könnte. Jedenfalls muß ich hier auf Posten sein, um Ärger zu verhüten.«

»Du Arme«, sagte Karola mitleidig, die blasse Wange Christines streichelnd, während Gudrun deren Schultern umfaßte.

»Sorge dich nicht zu sehr, Tinchen«, sagte sie herzlich. »Irgendwie wird es schon werden. Wir sind ja auch noch da, um dir zu helfen. Wenn dein Geld knapp werden sollte, legen wir von unserem zu, nicht wahr, Karlchen?«

»Das ist doch selbstverständlich. Wir werden auch fortan zu Hause bleiben.«

»Kommt gar nicht in Frage«, unterbrach sie Christine, die ihre Energie langsam wiederfand. »Ihr werdet euer gewohntes Leben weiterführen, sonst müßte ich bedauern, mit euch darüber gesprochen zu haben, was vielleicht nur ein Hirngespinst von mir ist. Ich bitte euch inständig, Egon nichts davon zu verraten. Versprecht ihr mir das?«

»Ohne weiteres, Tinchen!« gelobte Karola, und Gudrun nickte bekräftigend dazu.

»Dann bin ich beruhigt. Und nun laßt mich bitte allein. Das Gespräch hat mich mehr mitgenommen, als die ganze Sache wohl wert ist. Habt Dank für euer so liebes Verständnis.«

Nachdem die beiden Mädchen das bedauernswerte Menschenkind herzlich umarmt und geküßt hatten, zogen sie wie die begossenen Pudel ab und suchten Karolas Zimmer auf, wo sie nach einer Beruhigungszigarette griffen. Denn was sie da gehört hatten, war ihnen nicht zu knapp in die Glieder gefahren.

»Das hat unserem Tinchen gerade noch gefehlt«, sprach Gudrun in das bedrückende Schweigen hinein. »Wenn der Bruder Leichtsinn wirklich auftauchen sollte, was fängt sie dann mit ihm an?«

»Das mag der liebe Himmel wissen«, seufzte Karola bekümmert. »Daß der Mensch sich nicht schämt, seine Frau, die er so gewissenlos verließ, um Hilfe anzubetteln. Glaubst du überhaupt an seine Krankheit?«

»Nein. Die gibt er gewiß nur an, um sich eine sichere Geldquelle zu verschaffen.«

»Genau das denke ich auch. Armes Tinchen, mit dem sorglosen Leben, das sie drei Jahre hier führte, dürfte es nun vorbei sein. Hoffentlich läßt sie sich nicht bis zum letzten Pfennig erpressen.«

»Sicher tut sie das, so gutherzig und pflichtbewußt, wie sie ist. Man könnte weinen.«

Dabei liefen ihr bereits die hellen Tränen über die Wangen, und schon weinte Karlchen auch.

»Da sind ja unsere treuen Mitarbeiter wieder«, wurden die beiden Mädchen am nächsten Tag von der Baronin herzlich begrüßt, die mit den Ihren beisammensaß. »Und mit so bedripsten Gesichtern?«

»Ja«, entgegnete Gudrun zuerst einmal kläglich. Doch nachdem sie und Karola alle begrüßt und Platz genommen hatten, sprach sie zögernd weiter:

»Wir sind schon etwas bedripst, aber ich weiß nicht, ob ich hier darüber sprechen soll.«

»Wenn Sie uns des Vertrauens wert halten, dann immerzu«, ermunterte Rupert. »Hat es denn Meinungsverschiedenheiten gegeben mit dem Herrn Papa?«

»Ach, der wollte mich doch bloß verheiraten«, tat sie geringschätzig ab. »Es hat noch nicht einmal Mühe gekostet, ihn von der Idee abzubringen, weil er es selbst tat. Was uns bekümmert, ist unser Tinchen.«

Erst verlegen, dann immer freier erzählte sie von Christines Mißgeschick und führte dann weiter aus:

»Nun wollten wir sie in ihrer mißlichen Lage nicht allein lassen, was sie sich jedoch schon gestern verbat. Als wir heute wieder davon anfingen, warf sie uns förmlich hinaus. Nun wissen wir wirklich nicht, wie wir uns verhalten sollten und erbitten Ihren Rat.«

»Der meine ist, die Dame gewähren zu lassen«, entgegnete Rupert. »Denn wie mir scheint, weiß sie genau, was sie will, und wird sich daher auch ohne Beistand durchsetzen. Sie müssen natürlich täglich nach ihr sehen, aber dann die leidige Angelegenheit gar nicht berühren. Immer abwarten, bis sie selbst davon anfängt. Oder bist du anderer Ansicht, Arvid, weil du eine bedenkliche Miene aufsetzt?«

»Die gilt nicht deiner Ausführung, Onkel Rupert, mit ihr gehe ich durchaus konform. Was mir zu denken gibt, ist, daß Frau Wiederbach dieses ständige Hangen und Bangen nicht durchhalten wird und daß sie sich für einen vielleicht Unwürdigen pekuniär ruiniert.

Sie müßte sich daher an eine Auskunftei wenden und von der auskundschaften lassen, ob ihr Mann überhaupt krank gewesen ist, was er jetzt treibt und so weiter. Aber wenn sie nicht von selbst darauf kommt, für andere ist es schwer, ihr diesen Tip zu geben. Hat sie den Gatten eigentlich aus Liebe geheiratet?«

»Ja«, gab Karola ohne Besinnen Antwort. »Ich habe vor vierzehn Jahren die Hochzeit mitgemacht und muß schon sagen, daß ich selten so ein glückstrahlendes Brautpaar sah. Allerdings war ich damals noch ein Backfisch, aber auch später hatte ich den Eindruck, daß die Ehegatten miteinander gut harmonierten. Der Ansicht waren übrigens auch die anderen, und daher fielen wir sozusagen aus allen Wolken, als der Mann bei Nacht und Nebel verschwand.«

»Hm, und den Grund kennen Sie nicht?« fragte Rupert.

»Er hatte nicht nur sein großes Vermögen, sondern auch das seiner Frau durchgebracht.«

»Mit Frauen?«

»Nein, bei Wetten und Spiel. Zuerst hat Christine unter seinem Verschwinden sehr gelitten. Doch so nach und nach beruhigte sie sich, war zuletzt mit ihrem Leben ganz zufrieden. Ob sie an ihren Mann noch dachte, weiß man nicht, da sie ihn nie erwähnte. Wahrscheinlich hielt sie ihn für verdorben und gestorben, wie wir anderen auch. Jedenfalls sieht man in ihrem Zimmer kein Bild von ihm, nur die Bilder von Ihrem Töchterchen.«

»So, hat die Dame auch ein Kind?« fragte die Baronin überrascht. »Hält sich das auch in Ihrem Haus auf?«

»Es ist mit sieben Jahren gestorben.«

»Die arme Frau«, sagte Ermenia mitfühlend. »Die hat in ihrem Leben schon Schweres genug mitgemacht. Darf man wissen, wie alt sie ist?«

»Fünfunddreißig.«

»Und der Gatte?«

»Moment mal, da muß ich mich erst besinnen. Er ist acht Jahre jünger als sein Bruder, also vierzig.«

»Ich wünschte, er wäre fünfzig Jahre älter«, brummte Gudrun. »Dann könnte er wenigstens mit Anstand sterben, und unser Tinchen hätte Ruhe vor ihm.«

Obwohl es erbost klang, mußten die andern dennoch darüber lachen, und Arvid sagte:

»Dann haben Sie ihm immerhin ein nettes Alter zugebilligt, mein rabiates Fräulein.«

Da der Gong zum Mittagessen rief, mußte man das Gespräch abbrechen. Nach dem Mahl kam das geruhsame halbe Stündchen, dann rief die Hofglocke zur Arbeit.

»Wie ich hörte, willst du zur Försterei fahren, Arvid?«

»Allerdings, Muttchen. Hast du einen Auftrag für deinen Sohn?«

»Hab’ ich. Fahr doch bitte an dem Waldhüterhaus vorbei, wo kürzlich das dreizehnte Kind eingetroffen ist. Bring der Frau Stärkungsmittel und dem Kleinen Windelzeug!«

»Was soll ich?« fragte er so verdutzt dazwischen, daß die andern hell herauslachten. »Na, Muttichen, das ist aber mal ein Verlangen.«

»Die Sachen sind doch verpackt, du dummer Junge. Brauchst das Paket nur abzugeben. Es sind auch noch Sachen für die älteren Kinder darin, die Menia und ich aus alten Stücken zusammenstichelten. Man muß da schon so ein bißchen nachhelfen.«

»Dreizehn Kinder«, sagte Gudrun fast andächtig. »Du meine Güte, in dem Haus muß es ja so kribbeln und krabbeln wie in dem Korb die Küken, die wir gestern zu Frau Diersk trugen. Das möchte ich mir mal gern ansehen.«

»Dann fahren Sie doch mit meinem Sohn«, schlug die Baronin vor, »es ist ganz gut, wenn Sie in Ihrem verwöhnten Leben auch mal ein armseliges kennenlernen. Wollen Sie das?«

»O ja, wenn der Herr Baron mich mitnimmt?«

»Nanu, seit wann so ängstlich?«

»Spotten Sie nicht immer«, blitzte sie ihn an. »Jetzt komm’ ich gerade mit. Karlchen, wieviel Geld hast du in deinem Portemonnaie?«

»Nicht besonders viel. Warum fragst du?«

»Wir beide müssen den Inhalt unserer Börsen zusammenschütten und das Geld den armen Leuten geben.«

»Halt, halt!« sagte Rupert pomadig. »So viel blinder Eifer schadet nur. Wer viel hat, gibt viel aus. Drücken Sie der Frau zehn Mark in die Hand, das ist für Nebensächlichkeiten Geld genug. Denn die Leute brauchen ja nicht zu hungern, weil sie ausreichendes Deputat haben.«

»Deputat – was ist denn das?«

»Das erklärt Ihnen Arvid während der Fahrt.«

»Nun gut, ich mach’ rasch meinen Wagen flott.«

»Lassen Sie ihn stehen«, hielt der junge Mann sie am Ärmel zurück. »Mit Ihrer Prachtkutsche blieben wir auf den Wegen, die wir fahren müssen, doch nur stecken. Es geht nämlich sozusagen über Stock und Stein.«

»Jetzt sag’ ich überhaupt nichts mehr«, erklärte das Mädchen gottergeben. »Jetzt will ich nur noch sehen und staunen.«

Nein, mit dem breiten, schweren Wagen der Gudrun Wiederbach wäre man auf den Wegen bestimmt nicht vorwärtsgekommen, die das leichte zweirädrige Gig mühelos nahm. Nachdem der große Gutshof überquert war, ging es zu einem Seitentor hinaus und den Feldrain entlang, wo der Wagen nur gerade so Platz hatte. Rechts und links stand das Getreide dicht wie eine grüne Bürste. Saftig war das Gras der Wiesen, auf dem das Vieh friedlich graste. Es ließ sich dabei auch nicht stören, als der Wagen am Stacheldrahtzaun entlangfuhr.

Anders reagierten die Pferde auf der Weide, zumal das Pferd, das zwischen den Deichseln steckte, seinen Artgenossen einen fröhlichen Gruß zuwieherte. Da ging es wie die wilde Jagd durch die Koppel zu dem Zaun, wo die edlen Zuchtstuten die nickenden Köpfe darübersteckten. Viel waren es nicht, vier an der Zahl, aber alle tragend und den Stamm einer edlen Zucht bildend, die auf dem Hörgishof erstehen sollte.

»Das sind ja prächtige Tiere«, sagte Gudrun entzückt. »Halten Sie doch bitte, Herr Baron.«

Als er ihrem Wunsch nachkam, war sie mit einem Satz vom Wagen und eilte zu den Tieren hin, die sie erwartungsvoll ansahen. Und tatsächlich fand sie gerade noch vier Stückchen Zucker in den Taschen ihres leichten Seidenmantels, den sie zu tragen pflegte, wenn sie zum Tattersall ging.

»Diese Stute mit dem weißen sternförmigen Zeichen ist einzig schön«, sagte sie begeistert zu dem Mann, der soeben neben sie trat. »Die als Reitpferd! Aber leider kann ich kein eigenes halten, weil der Stall dafür fehlt. Und dann ist dieses Tier wohl auch unverkäuflich?«

»Es ist meine wertvollste Zuchtstute und außerdem noch tragend.«

»Oh! Na ja, der Mensch kann ja auch nicht alles haben, was er begehrenswert findet.«

»Ein Glück«, bemerkte er trocken. »Wohin sollte das wohl führen. Übrigens beleuchtet das Heinrich Zschokke treffend:

Jeder wünscht sich langes Leben,

seine Kisten voller Geld.

Wiesen, Wälder, Äcker, Reben,

Klugheit, Schönheit, Ruhm der Welt.

Doch wenn alles würde wahr,

was man wünscht im neuen Jahr,

dann erst wär’s um diese Welt,

glaubt mir – jämmerlich bestellt.«

»Ich weiß auch, wie’s weitergeht«, lachte sie ihn spitzbübisch an, während sie an seiner Seite zum Wagen schritt.

»Lebten alle tausend Jahr,

was gewönnen sie dabei?

Kahle Köpfe, graue Haare

und das ew’ge Einerlei.

Im erschrecklichen Gedränge

würden Stadt und Dorf zu enge

und die ganze Welt zu klein.

Niemand könnte etwas erben,

denn es würde keiner sterben –

und wer wollte Doktor sein?«

»Na, da verstehen wir uns ja ausgezeichnet«, lachte der Mann amüsiert. »Übrigens hätte ich es diesem gleißenden Köpfchen gar nicht zugetraut, daß sich darin dichterische Weisheiten festsetzen könnten.«

»Ich weiß, ich weiß«, nickte sie gottergeben. »Sie trauen mir überhaupt nichts zu als Oberflächlichkeit. Und nur weil mein Vater Geld hat und mir damit ein Leben bietet, wie es das Gros junger Mädchen nicht führen kann.

Es ist auch nur eine Marotte, daß ich an dem Hörgishof hänge, ein Spleen, daß ich mich darauf betätige, während zu Hause mich sogar eine Zofe bedient. Extravagant bin ich auch noch und werde später zu den unverstandenen Frauen gehören – jawohl!«

»Gun, ich bin zerknirscht.«

»Dafür sind Sie ja viel zu selbstherrlich. Aber macht nichts, ich finde Sie trotzdem nett.«

Diese Offenheit verblüffte ihn denn doch. Doch bevor er etwas erwidern konnte, war sie in den Wagen geklettert und erklärte großartig:

»Ergreifen Sie die Zügel und kutschieren Sie mich durch Feld und Flur, durch Busch und Au. Wissen Sie auch, daß dieses meine erste Fahrt im Fuhrwerk ist? Und daß ich sie herrlicher finde als im Auto? Aber das ist natürlich nur der Reiz der Neuheit.«

Verlegen brummte er vor sich hin, indem er an ihrer Seite Platz nahm und das Pferd zum Trab ermunterte.

Ein weiter Wiesengrund tat sich auf, durchschnitten von einem Flüßchen, das Erlen umsäumten. Und von Erlen umstanden war auch das kleine Haus, dessen Dach rot und einladend leuchtete. Einige Meter weiter begann der Wald, der sich hinzog, so weit das Auge reichte.

»Ist das etwa derselbe Wald, an dem der Hörgishofer See grenzt?« fragte das Mädchen interessiert, und der Mann nickte.

»Ganz recht.«

»Aber der ist dann ja riesengroß.«

»Nun ja, ein schönes Stück ist es schon. Leider hat man ihn verwildern lassen, und bis er wieder in Ordnung kommt, vergehen Jahre. Seid ihr Burschen denn ganz von Gott verlassen?«

Das galt den beiden Hunden, die heranpreschten, mit keuchendem Atem und hängender Zunge. Der Spaniel, der ja längere Beine hatte, war dem Dackel ein Stück voraus. Doch der kleine Kerl ließ nicht nach, raste dahin, daß der gelockte Behang nur so flog.

»Bitte, halten Sie doch«, bettelte Gudrun. »Die armen Tiere laufen sich ja die Zunge aus dem Hals.«

»Die armen Tiere sind ganz ungehorsame Gesellen. Sie wissen ganz genau, daß sie keinem Wagen nachlaufen sollen. Aber weil Sie so schön bitten können …«

Der Wagen stand. Schon eine Minute später war der Spaniel heran, kroch auf dem Bauch zum Gig hin, dabei winselnd zu Herrchen aufsehend. Doch dessen Miene schien nichts Drohendes zu haben. Denn der prächtige Kerl richtete sich hoch und blaffte freudig auf, unterstützt von dem Dackel, der noch kürzeren Prozeß machte. Mit der Unverfrorenheit seiner Rasse kletterte er in den Wagen, ein Satz – dann machte er es sich auf Gudruns Schoß bequem. Allerdings schielte er dabei zu Herrchen hin. Als dieser jedoch in das mitreißende Lachen des Mädchens einfiel, hatte Frech gewonnenes Spiel und wieder einmal seinem Namen Ehre gemacht.

»Was dem einen recht ist, ist dem andern billig«, legte das liebe Frauchen für den unten stehenden Harras ein gutes Wort ein. »Er darf doch in den Wagen?«

»Ausnahmsweise. Komm her, du Strolch!«

Das ließ der Hund sich natürlich nicht zweimal sagen. Ein Sprung, und er streckte sich im Wagen neben das Paket, das so nützliche Sachen für die Kinder des Waldhüters trug.

»Nun kann das Rößlein wieder traben«, sagte Gudrun fröhlich. Ihre Augen strahlten aus dem leichtgebräunten Gesicht, der Mund lachte. Sonnenschein flirrte über das unbedeckte Gelock, ließ es aufsprühen in metallischem Glanz. Schön war dieses Mädchen, gefährlich schön.

»Jetzt kann ich erst die Menschen verstehen, die von der Natur schwärmen«, sagte sie versonnen, den weichen Behang des Dackels durch die Finger ziehend, was dieser sich nur zu gern gefallen ließ. »Aber so unberührte Natur habe ich bisher auch nicht kennengelernt. In den mondänen Orten, wohin ich kam, war alles kulissenartig zurechtgestutzt, was ich damals allerdings nicht empfand. Aber jetzt – ja, jetzt ist eben alles anders geworden.

Das Häuschen dort am Waldesrand mutet direkt heimelig an«, schwärmte sie weiter, ohne den forschenden Blick des Mannes zu bemerken. »So eins muß den Dichter zu dem Lied angeregt haben: Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus. Ob das den Menschen, die dort wohnen, bewußt ist?«

»Wahrscheinlich nicht«, riß Arvid sie trockenen Tones aus ihrer Träumerei. »Dort wohnt nämlich der Waldhüter mit Frau und dreizehn Kindern. Die dürften wohl eine warme Stube und ein Schinkenbrot der Poesie vorziehen.«

»Pfui, Herr Baron, das war häßlich«, sah sie ihn vorwurfsvoll an, der vergnügt in sich hinein schmunzelte. »Gerade Sie müßten als Landwirt mit der Natur so verwachsen sein, daß Sie zum Dichter werden könnten.«

»Gott soll mich bewahren!« wehrte er ab. »Zwar soll der Sänger mit dem König gehen, wie Schiller es in der ›Jungfrau von Orleans‹ verlangt, aber nicht mit einem gewöhnlichen Stoppelhopser, falls Sie als Städterin wissen sollten, was das ist.«

»Doch, ich weiß es. Und zu denen rechnen Sie sich? Sie hopsen doch nicht über die Stoppeln, Sie reiten darüber mit Ihrem edlen Trakehner«, schloß sie lachend, und amüsiert stimmte er ein.

»Das ist Wortklauberei, meine Gnädigste. Aber schauen Sie mal, was dort aus der Tür des von Ihnen so angeschwärmten Häuschens purzelt, wie Schneewittchens Zwerge. Wetten, daß sie nicht melodisch singen vom schönsten Wiesengrunde, sondern sich ganz unmelodisch auf das Paket stürzen, das zu Ihren Füßen liegt?«

»Sie sind doch manchmal direkt unleidlich!« blitzte sie ihn empört an. Wurde dann jedoch kleinlaut, als der Wagen vor dem Haus hielt und die Kinder lauthals schrien:

»Herr Baron, hast du uns was mitgebracht –?«

»Wollt ihr wohl!« scheuchte er diejenigen weg, die sich auf das Trittbrett des Wagens drängten. »Wenn ihr so aufdringlich seid, bekommt ihr gar nichts.«

Diese Drohung half. Wie Orgelpfeifen aufgereiht, standen sie da, die blanken Augen begehrlich auf das Paket gerichtet. Acht an der Zahl, stellte Gudrun fest, von denen das älteste Kind vielleicht dreizehn Jahre zählte. Sie waren wohl ärmlich gekleidet, hatten jedoch durchweg pralle rote Backen und gerundete Glieder. Ein Zeichen, daß sie nicht zu hungern brauchten.

Nun wurde in der Tür ein Mann sichtbar, groß, kräftig gebaut, mit einem sonnenbraunen Gesicht und pfiffigen Augen. Die Frau dagegen, die neben ihm auftauchte, sah so richtig verarbeitet aus. Der Rücken der bestimmt noch nicht Vierzigjährigen war bereits leicht gebeugt. Auf dem Arm trug sie ein kaum dem Säuglingsalter entwachsenes Kind, ein etwas größeres klammerte sich ängstlich an ihren Rock.

»Nanu, Frau Walkereit, schon wieder auf den Beinen?« fragte der Gutsherr, und resigniert kam es zurück:

»Was soll man tun, Herr Baron. Man muß aus dem Bett, ob man es verträgt oder nicht. Man kann doch nicht Mann und Kinder verkommen lassen.«

»Sie müssen an Ihren ältesten Kindern doch schon ganz nette Hilfe haben. Wo sind übrigens die Zwillinge?«

»Aus der Schule raus und rein in den Dienst, Herr Baron. Jetzt sind wir bloß noch elf.«

»Das klingt ja fast bedauernd. Seien Sie doch froh, daß Sie zwei Esser los sind. Was macht das Kleine?«

»Ist ein strammer Bursch«, blähte der Vater sich förmlich auf vor Stolz. »Trinkt wie ein Alter.«

»Dann ähnelt er seinem Vater«, tat Arvid lachend ab, während er eine Tüte aus der Rocktasche zog. »Nehmen Sie das Paket vom Wagen, Walkereit. Da ist so allerlei drin, was die Kinder gebrauchen können. Und, ihr Strolche, kommt mal her, streckt die Hände aus.

Na hört mal, sauberer könnten die auch sein«, verteilte er gerecht die Bonbons, ließ jedoch einige in der Tüte für die Kinder, die bei der Mutter waren. »Wie oft wascht ihr euch eigentlich, jede Woche einmal?«

»Aber nein doch, Onkel Baron«, protestierte es von allen Seiten. »Wir schrubben uns schon gerade genug.«

»Na, wenn man«, reichte er der Frau die Tüte hin. »Die stecken Sie den Kleinen da ins Mäulchen.«

Gudrun folgte dem allen mit großen Augen. War es doch eine neue Welt, die sich vor ihr auftat.

Zögernd trat sie auf die Frau zu und gab ihr den Schein, den diese mit Blitzesschnelle in der Schürzentasche verschwinden ließ.

»Vergelt’s Gott, gnädiges Fräulein.«

»O bitte, keine Ursache.«

Erschrocken hielt sie inne, als einer der kleineren Jungen in ein so mörderisches Gebrüll ausbrach, als wollte man ihn massakrieren. Und dabei hatte der Dackel Frech, der im Gig saß, doch nur nach der Hand geschnappt, die gewiß nicht behutsam mit ihm umgegangen war. Mißtrauisch sah der Vater seinen Sprößling an.

»Warum brüllst du denn so, he?«

»Der Hund hat mich gebissen.«

»Und was hast du ihm getan?«

»Nuscht, Vaterchen.«

»Was hast du ihm getan?« klang es nun schon drohender.

»Väterchen, so gut wie nuscht.«

»Was hast du ihm getan?« schwoll nun die Stimme an, was für die Kinder höchster Alarm bedeutete.

»Ich hab’ ihn doch man so ein bißchen bloß – auf die Schnauze – gehauen.«

»Aha! Damit du weißt, wie weh das tut …«, saß ihm die gewiß nicht kleine Hand im Gesicht. »Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz. Ich bin Tierheger, verstanden? Ehe ich zulasse, daß so eine arme Kreatur von euch gequält wird, zieh’ ich euch das Fell über die Ohren!«

Als wäre das seine wirklich in Gefahr, so rasch gab der Junge Fersengeld, und sein Vater fragte:

»Hab’ ich da nicht recht, Herr Baron? Würde der Herr Baron es mit seinem Sohn, wenn er einen hätte, nicht genauso machen?«

»Und wie ich das täte! Denn wie sagt ein menschenkundiger Weiser: Der kleine Tierquäler erwächst zu einem harten, grausamen Mann.«

*

»Sie sind ja so still«, sagte Arvid, als man wieder auf dem Wagen saß. »Hat Ihnen die muntere Familie etwa die Sprache verschlagen?«

»Ein Wunder wär’s aber nicht. Das geht da vielleicht turbulent zu! Wie die Frau das aushält, ist mir einfach unbegreiflich.«

»Sie ist ja nichts anderes gewohnt«, entgegnete er achselzuckend.

»Fühlt sich auf ihre Art sogar noch glücklich dabei. Zumal sie von dem Mann gut behandelt wird, keine Prügel von ihm kriegt.«

»Na, wo gibt’s denn so was!« entrüstete Gudrun sich, und er lachte.

»Das kommt in den besten Familien vor. Haben Sie in Ihren Kreisen noch nichts davon gehört?«

»Daß sich die Gatten streiten, ist wohl in den meisten Ehen üblich, aber prügeln? Würden Sie das etwa bei Ihrer Frau …?«

»Wenn sie es verdient, ohne weiteres. Dann hätte sie wenigstens Grund, sich scheiden zu lassen. Und nicht wegen seelischer Grausamkeit, wie es heute ja zum guten Ton gehört, sondern wegen körperlicher.«

»Na, Sie Barbar!«

»Ja, sagen Sie mal, warum empören Sie sich eigentlich?« fragte er schmunzelnd, und sie sah ihn verdutzt an, mußte dann aber über sein verschmitztes Gesicht lachen, und der Friede war hergestellt.

Sie fuhren nun eine kurze Strecke am Waldrand entlang, dann bogen sie ein in den grünen Dom. Herrlich prangten die jungen Blätter der Laubbäume, der Boden war von Frühlingsblumen überwuchert.

Plötzlich hielt der Wagen mit einem Ruck, so daß Gudrun erschrocken zusammenfuhr. Doch dann wurden ihre Augen ganz groß und weit. Denn keine zehn Meter vom Wagen entfernt, bemerkte sie einen Hirsch, der über die Straße wechselte, ein Rudel Hindinnen hinter sich. Kein bißchen ängstlich war der König des Waldes. Stolz trug er den Kopf mit dem herrlichen Geweih, verschwand dann langsam im Gehölz, und das Pferd durfte weitertraben, das bisher so ruhig verharrt hatte, als wüßte es, daß man kein Wild vergrämen durfte. Auch die Hunde hatten nicht Laut gegeben, obwohl sie vor Aufregung an allen Gliedern zitterten.

»War das schön«, sagte Gudrun so recht aus Herzensgrund. »Und so gar keine Angst hatten die Tiere.«

»Vorläufig haben sie auch keinen Grund dazu«, erklärte Arvid. »Denn der schlaue Bursche hat gewissermaßen den Kalender im Kopf. Weiß daher, daß es noch Schonzeit ist, und die Hindinnen vertrauen ihm blindlings.«

»Und wann dürfen die Tiere … Wie nennt man ihre Art überhaupt?«

»Rotwild.«

»Wann darf es geschossen werden?«

»Von Ende Mai bis Oktober.«

»Darf der Jäger dann alles abschießen, was ihm vor die Flinte kommt?« fragte sie naiv.

»Nein, mein Fräulein, solche Amokläufer sind wir Jäger nun wirklich nicht.«

Weiter konnte er nichts erklären, da das Forsthaus erreicht war und der Oberförster in der Tür sichtbar wurde.

»Weidmannsheil!« grüßte er aufgeräumt. »Warum lacht der Herr Baron denn so herzlich?«

»Über meine dumme Frage«, gab Gudrun Antwort. Mit einem Satz war sie vom Wagen und begrüßte den Forstmann, der ihr von Hörgishof her bekannt war, wo es öfter dienstlich für ihn zu tun gab.

»Potzkeilerzahn, wir werden ja immerzu hübscher, meine kleine Gnädige«, strich er sich schmunzelnd den angegrauten Jägerbart. »Wie hält man das bloß aus.«

»Wer, ich?«

»Nein, die Mannsleut.«

»Die laufen vor mir davon«, legte sie den Kopf schief und blinzelte den Grünrock an. »Keiner begehrt mich zum Weib.«

»Na, das wäre! Sind die denn alle blind?«

»Eben nicht. Sie beherzigen den weisen Spruch:

Begehre nie ein Glück zu groß

und nie ein Weib zu schön,

sonst könnte dir’s in seinem Zorn

der Himmel zugestehn.«

»Potz Schwarzkittel und Hasenscharte!« lachte der Mann schallend auf. »So ein verflixtes Schmaltierchen!«

»Aber, Mann, wo ist denn eins?« eilte die Jägerin, angelockt durch das Gelächter, herbei, stutzte beim Anblick des Mädchens und streckte ihm zur Begrüßung beide Hände entgegen.

»Fräulein Wiederbach, nicht wahr? Wie freue ich mich, Sie persönlich kennenzulernen; denn gehört habe ich von Ihnen schon viel.«

»Hoffentlich etwas Gutes?«

»Na und ob! Mein Alter ist ja geradezu verliebt in Sie.«

»Jetzt nicht mehr«, erklärte er kläglich. »Das Rehlein hat mir zuviel Haare auf den Beißerchen.«

»Bei den Mannsleut nur angebracht«, blieb die rundliche Ehehälfte ungerührt. »Gott zum Gruß, Herr Baron. Die Waffeln sind gerade fertig.«

»Dann steht uns ja ein herrlicher Genuß bevor, gnädige Frau.«

Das stimmte; denn die Waffeln gaben an Güte den Sephchens nichts nach. Man aß sie auf der Veranda, die von der Sonne eingewärmt war, trank den guten Kaffee dazu und unterhielt sich in dem Ton, den gegenseitige Sympathie aufklingen läßt.

Gudrun amüsierte sich köstlich über den Nimrod, der sich in der Jägersprache ausdrückte. Seine Frau nannte er Häschen, seine wie des Herrn Hunde, die sich im Garten vergnügt balgten, Meute, er aß nicht, sondern äste, keiner hatte Ohren, sondern Lauscher und so fort.

Als er jedoch, nachdem er erfuhr, daß sein Herr bei dem Waldhüter eingekehrt war, ganz sachlich fragte: »Wie geht’s denn der Geiß mit ihren Geißlein?« Da lachte das Mädchen so fröhlich, daß es die anderen mit diesem hellklingenden Lachen mitriß.

Nachdem man gesättigt war, zogen sich die beiden Herren zur dienstlichen Besprechung ins Amtszimmer zurück, und die beiden Damen setzten sich auf die grüne Bank, die neben der Haustür stand.

»Hier sitze ich am liebsten«, erklärte die Herrin des Hauses, die etwas Liebes, Mütterliches an sich hatte. »Da hat man so einen herrlichen Blick in den Wald, dem nun mal meine große Liebe gehört. Kein Wunder, da ich als Försterkind sozusagen in den Wald hineingeboren bin. Mit der Stadt habe ich nicht viel im Sinn, ich würde eingehen, sollte ich da wohnen. Aber das können Sie als Städterin wahrscheinlich nicht verstehen, nicht wahr?«

»Wenn Sie mich das ein halbes Jahr früher gefragt, hätte ich mit einem glatten Nein geantwortet, gnädige Frau«, gab Gudrun offen zu. »Doch seitdem ich den Hörgishof kenne, zieht es mich zu ihm hin wie mit tausend Banden.«

Forschend sah die Frau in das Mädchengesicht, dessen Reinheit sie entzückte. Wie zwei leuchtende blaue Flammen muteten die Augen an, das Lachen wie hellklingender Glockenton. Als sie später, nachdem die Gäste abgefahren waren, von dem schönen Mädchen direkt schwärmte, kraulte der Gatte nachdenklich seinen Bart.

»Häschen, was du denkst, das weiß ich. Unbestritten ist das Schmaltierchen …«

»Nun laß mal deine Jägersprache und drücke dich gefälligst menschlich aus!«

»Na schön. Unbestritten ist das Marjellchen etwas ganz Exquisites und würde zu unserem Herrn passen wie keine andere. Aber sie ist eine Städterin und hat zuviel Geld.«

»Das ist es doch gerade, was unser Herr braucht. Damit könnte er den Hörgishof …«

»Könnte wohl, aber er wird es nicht tun. Der will mit seinem Geld wirtschaften, nicht mit dem seiner Frau. Außerdem wird er das Mädchen heiraten, das er liebt.«

»Na hör mal, wenn er sich nicht in das wunderschöne Menschenkind verlieben sollte, dann hat er keine Augen im Kopf und kein Herz im Leibe.«

»Hm, aber Verstand hat er, und der wird ihm sagen, daß ein Paradiesvogel nicht in seine Gefilde paßt. Daß er …«

»Alter, jetzt hör aber auf! Deine Vergleiche sind ja fürchterlich! Was soll er denn heiraten, eine – eine …«

»Gans«, half er schmunzelnd aus, in dem er sein »Häschen« bei den »Löffeln« bekam und es herzlich küßte. »Die paßt bestimmt nicht zu ihm. Im übrigen ist unser Herr ja kein Dummer, der weiß schon, was er tut.«

Es war einige Tage später. Vor sich hin summend, sprang Gudrun die Treppe hinauf und wäre oben fast mit Ermenia zusammengeprallt.

»Hoppla, das war gerade man knapp! Woher des Wegs, viel­edle Dame?«

»Die Bezeichnung paßt sogar in die Altertümer hinein, in denen ich oben kramte«, lachte Ermelchen vergnügt.

»Warum sehen Sie mich so verdutzt an? »

»Na, soll ich das vielleicht nicht sein, wenn Sie von Altertümern sprechen. Gibt’s denn hier welche?«

»O ja, zum Beispiel mich.«

»Daß ich nicht lache! Keine zehn Mark ist Ihre Altertümlichkeit wert. Wenn Sie nicht mit anderen aufwarten können.«

»Kann ich, weiß nur nicht … Ach was, kommen Sie doch mit!«

Sprach’s, drehte sich auf dem Absatz herum und wieselte dem erstaunten Mädchen voran. Schloß an einer Tür, sperrte sie auf und sagte trocken:

»Sind das nun Altertümer oder nicht?«

»Kann man wohl sagen«, dehnte Gudrun überrascht. Dann jedoch trat sie rasch ein und vertiefte sich in den Anblick der Sachen, die in dem großen Raum aufgestapelt waren. Dann wandte sie sich langsam Ermenia zu, die abwartend an der geschlossenen Tür verharrte.

»Warum hält man die Sachen hier so versteckt?«

»Weil sie in eine Rumpelkammer gehören.«

»Na, erlauben Sie mal, Baronesse, das ist ja direkt eine Beleidigung für all die wertvollen Stücke. Zufällig verstehe ich was davon, weil meine Mutter aus einer Antiquitätenhandlung stammt, die jetzt ihr Bruder besitzt. Da meine Mama diesen Bruder fast täglich besuchte und mich jedesmal mitnahm, bin ich in dem Laden sozusagen groß geworden. Es gab nichts Schöneres für mich, als in den Altertümern zu kramen, mir Art und Wert vom Onkel erklären zu lassen. So habe ich mir ein ganz nettes Wissen angeeignet und kann daher beurteilen, ob hier Werte brachliegen oder nicht.

Da ist so ziemlich alles vertreten, was ein Sammlerherz in Wonne versetzen würde. Barock, Rokoko, Biedermeier – und alles so in köstlich reiner Form. Du meine Güte, das müßte Onkel Theo sehen! Sein »altertümliches« Herz würde vor Freude hüpfen.

Und was ist denn das da?« Sie trat interessiert näher und beäugte aufmerksam eine Truhe, im Ausmaß einer hohen Zigarrenkiste. Sie stand auf geschweiften Füßen, der Deckel war gewölbt, die Farbe fast schwarz.

»Himmel, ist das Ding schwer! Soll das etwa Gold sein?« sah sie sich nach Ermenia um, die langsam näher trat und trocken bemerkte:

»Mein liebes Kind, dann stände sie nicht hier. Dann hätte sie der gute Jasper längst zu Geld gemacht. Außerdem ist Gold gelb und nicht schwarz.«

Darauf erwiderte Gudrun nichts. Sah immer nur wie fasziniert auf die Truhe. Hob sie hoch, schüttelte sie, stellte sie wieder weg und sagte:

»Vertrauen Sie mir die Truhe an, Baronesse. Ich bringe sie zu meinem Onkel, und der wird schon wissen, ob sie wertvoll ist oder nicht. Oder mißtrauen Sie mir?«

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn, Gun. Wenn es meine Truhe wäre, würde ich keinen Augenblick zögern, sie Ihnen zu übergeben. Aber sie gehört Arvid.«

»Dann sprechen Sie doch mit ihm.«

»Das wage ich nicht. Es darf überhaupt niemand wissen, daß ich Ihnen das hier zeigte, weil Sie doch reich sind und wir arm. Muß ich noch weitersprechen?«

»Nein, Baronesse, ich habe Sie verstanden. Aber gerade weil es … Na ja, darf das Wertvolle hier nicht so brachliegen.«

»Wird es auch nur bis zum Herbst, wenn die Arbeit draußen nicht mehr so drängt. Dann hat mein Neffe Zeit, sich mit dem allen hier intensiv zu beschäftigen – auch mit den alten Schriften in der Bibliothek, für die Jasper als fanatischer Sammler den Hörgishof ruinierte. Dann ist vielleicht auch das Geld da, um den Experten zu bezahlen, den Arvid unbedingt als Sachverständigen hinzuziehen will.

Übrigens wurden schon vor einigen Wochen Sachen aus diesem Raum an den Antiquitätenhändler Alkwin verkauft, die ein nettes Sümmchen einbrachten …«

Sie wurde nun ausführlicher, und Gudrun hörte aufmerksam zu. Als der Bericht zu Ende war, sagte sie mit spitzbübischem Lächeln:

»Also ist der Anfang bereits gemacht. Und daß es eine Fortsetzung gibt, dafür werde ich sorgen. Alkwin ist nämlich mein Onkel. Was sagen Sie nun?«

»Ach du lieber Gott! Gibt es denn überhaupt solche Zufälle, oder ist es mehr?«

»Nehmen wir letzteres an, Baronesse. Daher lassen Sie alle Wenn und Aber, geben Sie mir die Truhe mit. Ich schwöre Ihnen, mit niemand darüber zu sprechen, selbst mit Karola nicht, einverstanden?«

»Ja, aber – wie wollen Sie das Ding denn transportieren?«

»Ich packe es in mein Köfferchen, worin niemand ein Geheimnis vermuten wird. Bringe es zur Begutachtung meinem Onkel, der übrigens auch ein anerkannter Experte alter Schriften ist.«

»Jetzt sage ich überhaupt nichts mehr«, gab Ermenia sich geschlagen. »So nimm denn liebes Schicksal deinen Lauf.«

*

Eine Viertelstunde später betrat Gudrun die Küche, wo die Hausherrin damit beschäftigt war, gebündelte Blumen in den dafür bestimmten Korb zu packen.

Es war gewiß nicht das erste Mal, daß Gudrun sich in Sephchens Bereich blicken ließ und noch nicht einmal von ihr verscheucht wurde. Denn das alte Mädchen hatte das junge schon längst in ihr Herz geschlossen und betrachtete es als vollwertiges Mitglied der so sehr geliebten Herrschaft.

»Kochtopfsheil!« grüßte der Schelm und stand dann vor der Dame des Hauses stramm.

»Frau Baronin, ich melde mich ab. Habe eine dringende Angelegenheit in der Stadt zu erledigen. Die Blumen nehme ich mit und liefere sie in der Gärtnerei ab.«

»Wollen Sie nicht warten, bis Karola zurück ist?«

»Das dauert mir zu lange. Wer weiß, wohin Frau Diersk sie diesmal entführt hat.«

»Nach Zuckerchen natürlich, wo man einen Tennisplatz im Park anzulegen gedenkt. Da soll Karlchen raten, wo es am günstigsten geschieht, weil sie doch in so was kompetent ist.«

»Na tru de Düwel dem Ap’theker!«

Sprach’s, ergriff den Blumenkorb, drückte einen Kuß auf die Wange Erdmuthes, streichelte die Sephchens und war wie ein Wirbelwind hinaus.

Als sie gerade die Garage betreten wollte, kam der Baron hinzu, lachend auf Korb und Köfferchen zeigend.

»Nanu, Fräulein Gun, wollen Sie etwa ausziehen wegen schlechter Behandlung?«

»Jawohl, da ich die Ihre nicht mehr länger ertrage«, kam es schlagfertig zurück. »Und da Sie mir nie Blumen schenken, mußte ich mir welche stibitzen.«

Schon saß sie im Auto, sauste an dem Mann vorbei, der ihr stirnrunzelnd nachsah.

Daß die Menschen doch die Autoraserei nicht lassen konnten. Passierte etwas dabei, waren sie noch großartig erstaunt. Das heißt, wenn sie überhaupt dazu kamen und sich nicht gleich den Hals brachen.

Nun, sein Hals war’s ja nicht.

Und Gudruns wahrscheinlich auch nicht. Sie war nämlich gar nicht eine so wilde Fahrerin, wie Arvid Hörgisholm annahm. Jetzt fuhr sie sogar ein sehr gemäßigtes Tempo, weil allerlei Gedanken in ihrem Hirn kreisten und sie sich somit nicht richtig konzentrieren konnte.

Da war erst einmal die Truhe im Koffer, die auf alle Fälle Geld einbringen mußte, ob sie etwas wert war oder nicht. Wie versorgt hatte Ermelchen ausgesehen, als sie von den lastenden Hypotheken sprach und von den Zinsen, die jeden Verdienst wegfraßen wie ein gieriger Moloch.

Das mußte anders werden und wenn sie, Gudrun, da gleich einen Betrug auf sich nahm. Aber den Menschen, an denen sie mit ganzer Seele hing, mußte geholfen werden, und dazu mußte ihr wiederum Onkel Theobald verhelfen.

Nachdem sie diesen Schlußstrich gezogen hatte, wanderten ihre Gedanken zu Karola hin. Ihr Karlchen! Nun hatte das spröde Herz doch kapitulieren müssen. Und wenn es Gudrun auch noch so weh tat, ihren guten Geist hergeben zu müssen, so war sie dennoch nicht egoistisch genug, Karola ihr Glück zu mißgönnen, das sie an der Seite des prachtvollen Mannes bestimmt finden würde. Zumal seine Schwester, an der er sehr hing, mit seiner Wahl nicht nur einverstanden war, sondern diese auch noch nach Kräften unterstützte. Mit welchen Schlichen und Listen hatte sie Karola ins Haus gelockt, immer wieder einen Anlaß dazu ausdenkend.

Heute war es der Tennisplatz gewesen. Als ob diese kluge, im praktischen Leben feststehende Frau nicht selbst wüßte, wo man den Platz am besten anlegte.

Aber Karlchen war wieder lieb und brav mitgegangen und würde es immer weiter tun, bis – ja, bis …

Bis Karlchen heute dem losen Detlef, der ja wachsam auf der Lauer lag, wenn sie im Hause war, einfach in die Arme lief. Nicht absichtlich, bewahre, das konnte man von der spröden Karola nicht verlangen.

Sie prallte mit ihm an der Haustür zusammen, und nun er sie so nahe hatte, ließ er sie auch nicht mehr los. Legte fest den Arm um die zierliche Gestalt und fragte bittend:

»Nicht wahr, Karlchen, das darf ich doch?«

»Ja«, sagte sie einfach.

Und Hansinchen? Das lugte verstohlen um die Ecke und eilte dann davon, um ein Festmahl zu richten.

Bei dem Gudrun natürlich nicht fehlen durfte. Doch als Karola anrief, erklärte ihr Ermenia, daß Gun zur Stadt gefahren wäre und heute wahrscheinlich nicht mehr zum Hörgishof zurückkehren würde.

»Kommt sie etwa nicht?« fragte Detlef, als die Braut enttäuscht den Hörer auflegte.

»Nein. Sie ist gar nicht auf dem Hörgishof, sie ist zur Stadt gefahren. Und ich habe mich doch schon so auf ihr überraschtes Gesichtchen gefreut.«

»Na du, so groß wäre die Überraschung bestimmt nicht gewesen«, lachte Hanna. »Sie ist ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Ruf doch zu Hause an und lade gleich Frau Wiederbach und den kleinen Enno ein. Bei Familie Hörgisholm werde ich nachholen, was du in deinem Glücksdusel versäumt hast.«

Allein, auch zu Hause war Gudrun nicht, wie Christine erklärte.

»Ja, wo steckt das schreckliche Mäd­chen eigentlich!« sprach Karola aufgeregt in die Muschel. »Kaum, daß ich es einmal allein lasse, macht es sich selbständig und heckt bestimmt eine Dummheit aus. Sag Gun, wenn du ihrer ansichtig wirst, sie soll sofort kommen, ich habe mich verlobt.«

»Daher bist du so konfus, mein Herzchen«, lachte Christine am anderen Ende so hell heraus, daß es sogar außerhalb des Hörers vernehmbar ward. »Wohin soll Gun kommen, mit wem hast du dich verlobt?«

»Mit Detlef natürlich, mit wem sonst? Komm auch du her und bring Enno mit. Ende.«

»Das nennt man kurz angebunden«, lachte Detlef herzlich. »Nun komm her und laß dich küssen!«

Womit denn das Brautpaar gut untergebracht war.

Es nahm sich genauso wichtig wie die anderen Brautpaare auch und kehrte erst wieder aus dem siebenten Himmel auf die Erde zurück, als Hanna zur Mittagstafel bat.

»Karola hat eingewilligt, in drei Wochen meine Frau zu werden«, berichtete der Bräutigam strahlend, was die Schwester gar nicht erstaunte.

»Warum auch nicht«, meinte sie pomadig. »Bei euch stimmt alles so glänzend, daß ihr keine Veranlassung zum längeren Warten habt. Die Aussteuerbesorgungen fallen fort, weil Karola hier alles im reichen Maße vorfindet, und ihre persönlichen Sachen kann sie in drei Wochen bequem erledigen. Wie steht es nun mit dem Hochzeitsfest? Gebt mir bitte eure Wünsche bekannt, damit ich mich darauf einrichten kann.«

»Dazu wirst du keine Gelegenheit haben, Hansinchen, weil die Feier in Villa Wiederbach stattfinden wird. Denn die läßt Stella sich bestimmt nicht entgehen, um in der Gesellschaft mit dem Prunk ihres Hauses zu glänzen.«

»Ach du lieber Gott«, seufzte Hanna. »Na, meinetwegen.«

Um die Kaffeezeit trafen dann die Gäste ein, bis auf Gudrun.

»Sie hat sich zu Hause noch gar nicht sehen lassen«, berichtete Christine. »Weiß der Himmel, wo sie herumschwirrt.«

»Das kannst du so ruhig sagen?«

»Ja, warum denn nicht?« war die erstaunte Gegenfrage. »Die Gun ist doch nun wirklich alt genug, um ohne Kindermädchen auszukommen.«

»Ich mache mir Vorwürfe, sie allein gelassen zu haben.«

»Na und?« blieb Christine ungerührt. »Das wird ja fortan sowieso der Fall sein. Oder gedenkst du sie auch jetzt noch auf Schritt und Tritt mit dir herumzuschleppen?«

»Das würde ich mir wohl ernstlich verbitten«, protestierte der Bräutigam, und die anderen stimmten ihm zu. Es gelang ihnen auch, Karola so abzulenken, daß sie Gudrun vergaß.

Allein Ermenia gelang es nicht. Denn sie wußte ja, wo die Gun steckte, hütete sich jedoch, es laut werden zu lassen. Denn sie hatte keine Ahnung, welche Ausrede Gudrun erfinden würde.

Und dann stand sie endlich da – lachend, strahlend. Ebenso fiel auch der Glückwunsch aus, den sie für die Braut hatte.

»Karlchen, daß ich dir alles Glück der Erde wünsche, brauche ich wohl nicht extra zu betonen. Und Ihnen, Herr Doktor, wünsche ich überhaupt kein Glück, da sie es mit Karola bereits beim Schopf gefaßt haben.«

»Daß dieser Strolch doch immer etwas Besonderes haben muß«, lachte Christine gleich den anderen herzlich. »Wo hast du überhaupt so lange gesteckt?«

»Eine Besorgung gemacht, da diese Verlobung bereits fällig war. Hätte ich allerdings gewußt, daß sie heute schon stattfinden würde, wäre ich selbstverständlich als erster Gratulant erschienen. So jedoch kramte ich ahnungslos in Onkel Theos Schatzkästlein so lange herum, bis ich fand, was ich suchte.«

Ehe Karola es sich recht versah, hing ihr eine Goldkette am Hals, an der ein altertümlicher Anhänger glänzte. Ein Smaragd von köstlicher Schönheit.

»Mein Gott, Gun, das hier ist ja ein Vermögen.«

»Gar nicht so schlimm«, ließ der Schelm sie nicht ausreden. »Den Anhänger erstand ich ja bei Onkelchen, und der überläßt mir alles zum Einkaufspreis.«

So hatte sie denn die Lacher auf ihrer Seite und tat vergnügt mit.

Ist das ein kleiner Schlauberger, dachte Ermenia amüsiert. Sie hat noch nicht einmal gelogen. Sie war ja tatsächlich im Antiquariat, wo sie nebenbei den Anhänger erstand.

Kurz vor dem Abendessen traf noch ein Gast ein, Egon Wiederbach. Von seiner Reise zurückgekehrt, erfuhr er durch den Diener von Karolas Verlobung, zog sich rasch um und war nun da, herzlich von den Gastgebern begrüßt. Es wurden gemütliche Stunden, die man miteinander verlebte.

Enno war glücklich, als Hanna ihm anbot, fortan das Wochenende hier zu verleben. Als man sich am späten Abend trennte, stand man in Bausch und Bogen auf du und du – und eine Freundschaft fürs Leben war geschlossen.

»Nur immer hereinspaziert!« rief Ermenia munter, als es klopfte, weil sie genau wußte, wer da noch so zwischen Mitternacht und Morgengrauen Eintritt begehrte. Gun erschien, setzte sich auf den Bettrand und begann ohne Umschweife:

»Ganz aus Gold ist die Truhe gerade nicht, aber die reichen Ornamente sind es ohne Zweifel. Onkelchen war ganz begeistert, machte sich sofort an die Säuberung, und nun erstrahlte die Truhe im herrlichen Glanz. Er hat sie auch geöffnet, was ungeheuer schwierig war. Aber da er ja allerlei Spezialwerkzeuge besitzt, klappte es endlich doch. Und was meinst du wohl, was darin steckt? Schmuck, Ermelchen.«

»Ach du lieber Gott!« schnellte diese wie ein Gummiball im Bett hoch. »Womöglich der berühmte Schatz wie im Märchen!«

»So gerade nicht«, lachte Gudrun amüsiert. »Aber immerhin sind die Ketten, Spangen, Broschen und so weiter sehr wertvoll, da sie außer dem edlen Metall und herrlichen Steinen auch noch Altertumswert besitzen. Und was sagst du nun?«

»Was soll ich da schon sagen«, ließ Ermenia sich wie erschöpft in die Kissen zurücksinken. »So einem Schreck zur nächtlichen Stunde bin ich nicht gewachsen.«

»Wird sich sofort legen, da es ja ein freudiger Schreck ist«, blieb das Mädchen ungerührt. »Ich habe mit meinem Onkel auch über die alten Schriften gesprochen. Hättest mal sehen sollen, wie seine Augen hinter den dicken Brillengläsern begehrlich funkelten. Ein Wort von Arvid, und er hat den Experten in der Bibliothek, auch ohne Bezahlung.«

»Kind, Kind«, murmelte die Baronesse. »Würde dein Onkel das ankaufen, was er für wertvoll hält?«

»Sofort, Ermenia. Erstens gehört es zu seinem Geschäft, und dann hat er so viel Geld, um auch Stücke anzukaufen, die er nicht gleich reißend los wird.«

»Und wir können Geld doch so nötig brauchen«, sagte Ermenia leise. »Ich spreche, sofern ich sie allein erwischen kann, mit Erdmuthe und Rupert. Dann wollen wir beraten, was geschehen soll. Vorerst hab recht herzlichen Dank, du gutes Kind.«

»Wofür denn, Tante Ermenia. Ich tue mir gewiß den größten Gefallen, wenn ich euch helfen kann. Schlaf gut, Ermelchen, und träume davon, daß ihr bald reiche Leute sein werdet.«

Lachend entschwand sie und schlief den Rest dieser Nacht wie ein Mensch, der eine gute Tat vollbracht hat.

Ermenia hingegen konnte keinen Schlaf finden, dafür war sie zu aufgewühlt. Früher als gewöhnlich stand sie auf, ungeduldig auf den Augenblick wartend, wo sie Erdmuthe und Rupert allein sprechen konnte.

Endlich glückte es nach dem Frühstück, das Gudrun heute verschlief. Arvid, der es sehr eilig hatte, entfernte sich, noch am letzten Bissen kauend, und so hatte denn Ermenia die beiden allein für sich, die bei dem, was sie da zu hören bekamen, kaum zu atmen wagten. Doch bevor sie sich noch dazu äußern konnten, trat Gudrun ein. Prüfend schweiften die Blauaugen von einem zum anderen, dann sagte das Mädchen zögernd:

»Erst mal einen guten Morgen allerseits – und dann: Hat Tante Ermenia gesprochen?«

»Eben jetzt«, gab diese Antwort.

»Na und? Soll ich mit meinem Onkel …«

»Bitte nicht«, wehrte Erdmuthe hastig ab. »Wir müssen erst mit Arvid sprechen, denn er ist ja schließlich der Erbe von Hörgishof und somit von allem, was zu ihm gehört. Hast du Gun erzählt, Menia, wie ungehalten er war, daß wir über seinen Kopf hinweg schon einige Stücke verkauften?«

»Ja. Auch daß er sich verbeten hat, ohne seine Zustimmung noch mehr zu veräußern.«

»Dann weißt du ja Bescheid, mein Kind.«

»Ganz recht, Tante Erdmuthe«, blitzte es in den Mädchenaugen böse auf. »Ich weiß auch noch mehr, nämlich daß Arvid ein großer Egoist ist, der euch lieber Entbehrungen auferlegt, als die wertvollen Sachen, die hier so ›brachliegen‹, zu Geld zu machen.

Warum nur, um alles in der Welt? Etwa aus Hochmut, sich unter die Verkäufer zu mischen? Er verkauft doch auch seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse, wobei ihm bisher noch keine Perle aus seiner siebenzackigen Krone fiel.

Mein Vater hätte ihm so gerne als Dank für Karolas und meine Rettung in der Silvesternacht ein fast zinsloses Darlehen angeboten, als er ihn Anfang Januar zufällig im Ratskeller traf, doch bei so viel eisiger Unnahbarkeit wagte er es einfach nicht.

Und ich«, klangen nun in ihrer Stimme die unterdrückten Tränen mit, »mir hat es immer so bitter weh getan, mit ansehen zu müssen, wie ihr sparen und immer nur sparen müßt. Ich hätte weinen mögen, wenn ich eure versorgten Gesichter sah, denn ich habe euch doch – lieb.«

Erschüttert sahen sie auf das junge Menschenkind, dem jetzt die hellen Tränen übers Gesicht liefen. Und als dann die Baronin sprach, klang ihre Stimme nicht ganz klar:

»Das war ein beglückendes Wort, mein Liebling. Und das andere – damit tust du Arvid unrecht. Es ist ihm schwer genug, daß er uns nicht ein sorgloses Leben bieten kann. Es ist gewiß kein Hochmut, was ihn immer noch zögern ließ, die wertvollen Sachen zu verkaufen, sondern das Mißtrauen, dabei übervorteilt zu werden. Er will sie daher erst von einem Experten abschätzen lassen, doch dazu fehlte immer noch das Geld. Er hofft jedoch, daß nach der Ernte so viel übrigbleibt, um den Mann bezahlen zu können. Daher müssen wir ihn gewähren lassen. Kannst du das verstehen?«

»Nein, aber das ist ja auch unwichtig. Was geschieht nun mit der Truhe?«

»Die bringst du wieder her, überläßt deinem Onkel jedoch das Vorkaufsrecht.«

»Und wenn es Arvid auffällt, daß sie jetzt ein ganz anderes Aussehen hat, nachdem mein Onkel sie mit vieler Mühe reinigte?«

»Ich glaube kaum, daß er während der dringenden Arbeit draußen so viel Zeit haben wird, um sich um das Zimmer zu kümmern. Sie könnte ja bei deinem Onkel bleiben, aber wir sind neugierig auf den Inhalt.«

»Stimmt, das wäre ich auch. Ich esse nur rasch und hole die Truhe her, muß dann aber wieder nach Hause zurück, damit unser Karlchen nicht barfuß und im Unterrock in die Ehe geht. In ihrer Liebesduselei bekäme sie es glatt fertig.«

Jetzt lachte Gun schon wieder. Daß jedoch hinter diesem unbekümmerten Lachen auch ein schwerer Ernst steckte, hatte sie eben den drei andern bewiesen.

Als Stella Wiederbach durch einen Brief des Gatten von der Verlobung Karolas und von der bald darauf folgenden Hochzeit hörte, gab sie da unten im Süden sogar den Kreis gleichgestimmter Seelen auf, der sie so lange festgehalten hatte. Also erschien sie zu Hause und brachte dort alles durcheinander.

Nichtsdestotrotz fand Mitte Mai sich in dem Hause des Industriellen Wiederbach alles ein, das in der Stadt einen Namen hatte, und so kamen denn im ganzen vierzig Paare zusammen.

Schöne Menschen sah man nur wenig, häßliche schon mehr, doch am meisten war der Durchschnitt vertreten. Denn Name und Reichtum formt wohl den Menschen, kann ihn jedoch nicht zur Schönheit stempeln. Die muß ihm schon die Natur mitgeben.

Allerdings machen Kleider immer noch Leute, und da jeder größte Sorgfalt darauf verwendet hatte, gewann man den Eindruck, in dem illustren Kreis lauter schönen Menschen zu begegnen.

Die Hauptsache war natürlich das Brautpaar, das sich nun wirklich sehen lassen konnte. Mit so einem durfte Stella schon prahlen, was sie dann auch nicht wenig tat. Ihre Stimmung war glänzend, ihr Gala sehr teuer und hyperelegant.

Jedoch am schönsten unter der Weiblichkeit war die Tochter des Hauses. Die schmückte allein schon ihre taufrische Jugend, und es hätte des »Traums« eines Kleides gar nicht bedurft, um ihre köstliche Schönheit zu untermalen.

Wie ein schillernder Schmetterling mutete sie an, wie glitzernde Tautropfen die Steinchen, von denen das lichtgrüne Gewand übersät war. Bei der Trauung fungierte sie als erste Brautdame, und Baron Hörgisholm tat es als Brautherr. Und wie die Augen der Herren entzückt an dem Mädchen hingen, so hingen die der Damen an dem Mann, der seinen eleganten Frack mit Noblesse trug. All die »Schönen«, die noch zu haben waren, und mit ihnen die »unverstandenen Frauen« beneideten Gudrun Wiederbach glühend um den »Heros«, den sie auch als Tischherrn hatte.

Und wie vertraut sie mit ihm tat, wie sie ihn anlachte. Aber er schien gar nicht so besonders darauf zu reagieren. Vielleicht stimmte es doch nicht, daß er sich von dieser Circe hatte einfangen lassen.

Dann gab es noch einen, der den Damen außerordentlich gut gefiel: Rupert von Bärlitz. Das war so richtig der Feudalherr der alten Schule, zu dem das Monokel direkt gehörte.

Ferner die Baronin und die Baronesse. Für sie fand man nur die eine Bezeichnung: Vornehm. Diese Familie war nun wirklich eine Zierde der Gesellschaft. Schade, daß man selbst es nicht war, diese einführen zu können. Aber die Wiederbachs mußten ja immer etwas Besonderes haben.

Wie Stella sich tat, die natürlich den Feudalherrn als Tischherrn hatte und sich als »Brautmutter« mächtig vorkam. Der Hausherr führte die Baronin, die Baronesse ein Großkaufmann, Christine der steinreiche Antiquitätenhändler Alkwin und die Schwester des Bräutigams hatte den Oberbürgermeister der Stadt an ihrer Seite, der »um sieben Ecken« mit den Wiederbachs verwandt war, und so hatte man denn die Sippe gut untergebracht.

Der Bräutigam wurde in der Gesellschaft für vollwertig anerkannt. Denn er nannte ein stattliches Unternehmen sein eigen, hatte Geld, stammte aus bester Familie, sah außerdem auch noch schneidig aus, also konnte man ihn, gleichfalls seine Schwester, in Gnaden aufnehmen und ihnen ihre Gunst erweisen.

Obwohl Stella sich alle Mühe gegeben hatte, das Fest pompös aufzuziehen, wich es von den anderen Festen, die man sich in der Gesellschaft leisten konnte, nicht ab, es war immer und überall dasselbe. Gutangezogene Menschen, exquisites Festmahl, galonierte Diener, Künstlerkapelle und so weiter. Allerdings gab es nicht auf jedem Fest eine Hochzeit und nicht ein so glückstrahlendes Brautpaar.

Und nicht ein Mädchen, das so bitterlich weinte, als das junge Paar sich auf die Hochzeitsreise begeben hatte. Ganz versunken war Gudrun in dem Schmerz, war es doch die erste Trennung von ihrem Karlchen.

»Ja, Mädchen, warum verkriechst du dich denn in diesem Winkel?« riß eine sonore Stimme sie aus ihrem Jammer. »Ich suchte dich wie eine Stecknadel, denn der Tischwalzer hat bereits begonnen. Nun sitzt du hier und weinst – wie töricht, Gun.«

»Sei doch still!« blitzte sie ihn an. »Was weißt du, wie es ist, wenn man den Menschen an einen andern hergeben muß, den man bisher als sein Eigentum betrachtete, aber du hast ja anstatt eines Herzens einen Eisklumpen in der Brust. Laß mich in Ruhe!«

»Nach dem Walzer.«

»Ich habe keine Lust zu tanzen.«

»Schön. Dann setz’ ich mich zu dir und weine mit.«

»Arvid, du bist doch ein ganz gräßlicher Mensch!« mußte sie nun doch lachen, während ihre Augen noch in Tränen schwammen. Sie stand auf, legte ihre Fingerspitzen auf seinen Frackärmel und folgte ihm in den Saal, wo sich die Paare nach den Klängen des Walzers »Gold und Silber« munter drehten.

Es war ein prächtiges Bild. Hell erstrahlten die Lüster, spiegelblank glänzte das Parkett. Blütenweiß schimmerte die Hemdbrust der Herren, tiefschwarz das Tuch des Fracks. In allen Farben leuchteten die Festgewänder der Damen, der Schmuck gleißte – ein Bild der Kultur und des Reichtums.

Die schmeichelnde Weise des Walzers vor sich hin summend, zog Baron Hörgisholm die bezaubernde Tochter des Hauses in den Kreis der Tanzenden, legte seine Hand zart um die grazile Mitte. Sie boten unbestritten das schönste Paar im Saal und tanzten beide vorzüglich. Zuerst sah das Mädchen noch unbekümmert zu dem Mann auf, doch dann – ja, dann ging das plötzlich nicht mehr.

Mein Gott, ich liebe ihn ja – dachte sie mehr entsetzt als beglückt. Das darf doch aber nicht sein. Wohin soll das wohl führen? Zum Glück doch bestimmt nicht. Sei also hübsch vernünftig, du törichtes Herz.

Ein gar unbilliges Verlangen. Seit wann ist ein Herz denn vernünftig. So was gab’s noch nie und wird es wahrscheinlich auch nie geben.

»Ja, sag mal, warum trittst du mir plötzlich so hartnäckig auf die Füße?« fragte Arvid lachend, und das gab ihr das Gleichgewicht zurück, das wohl eine Minute lang in Verwirrung geraten war. »Geschieht es aus konstanter Bosheit?«

»Nur«, konnte sie ihn nun schon wieder freien Blickes anlachen. »Ich möchte, daß du den Tanz beendest.«

»Nanu, tanz’ ich denn so schlecht?«

»Ja.«

Jetzt lachte sie über sein verdutztes Gesicht so frischfröhlich heraus, daß es wie ein lustiger Kobold über die steife Gesellschaft hüpfte. Und dieses Lachen verscheuchte auch den letzten Rest von Gefühlsduselei, wie Gudrun ihre vorherige Verwirrung bezeichnete.

Und doch war sie froh, daß die zärtliche Weise verklang. Als die Baronin am Arm des Hausherrn vorüberging, hakte Gudrun sich in ihren Arm, als müßte sie bei ihr Schutz suchen.

»Na, du Irrwisch«, strich die Dame eine fürwitzige Locke aus dem heißen Gesichtchen. »Du glühst ja wie ein Röschen. War der Tanz mit meinem langen Schlingel denn so anstrengend?«

»Ja. Deshalb mußte ich ihm andauernd auf die Füße treten.«

»Geschieht ihm recht, wenn er nicht besser führen kann. Und nun bringt ihr beide, die ihr hier zu Hause seid, mich an ein Plätzchen, wo ich nicht wie auf dem Präsentierteller sitze. Denn deine Gäste in Ehren, mein lieber Egon, aber sie sind mir zu neugierig.«

»Für das Plätzchen habe ich bereits gesorgt, Tante Erdmu­the«, gestand Gudrun eifrig. »Verborgen hinter Blatt­pflanzen kann man von ihm aus alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.«

»Also eine Lästerecke«, warf Arvid neckend ein, worauf ihm nur ein verächtliches Achselzucken zuteil wurde. Gleich darauf stand man an einem sehr netten Plätzehen, und Gudrun fragte stolz:

»Hab’ ich das gut gemacht?«

»Sehr gut«, nickte die Baronin.

»Da stehen sogar Sessel, in denen man sitzen kann, was in diesem Hause direkt wie ein Wunder anmutet.«

»Es war auch nicht ganz einfach, sie aufzutreiben«, gab die Tochter dieses hypermodernen Hauses zu. »Hoffentlich reichen sie für unsere Sippe aus. Laßt uns mal zählen: Wir sind vier, dazu kommen Ermelchen, Hanna, Tinchen, Onkel Rupert und Onkel Theo – macht zusammen neun.«

»Und Stella?«

»Die legt bestimmt keinen Wert darauf, sich hier zu verstecken. Die muß doch …«

»Gudrun!«

»Na ja, Paps, ich bin schon still. Außerdem hört sie’s ja nicht.«

»Auch ein Standpunkt«, lachte Erdmuthe. »Nun zieh aus, du Nichtsnutz, und gib denen einen Wink, die hier hingehören.«

So kam denn eine gemütliche Runde zusammen, die der Hausherr nur ungern verließ, um sich auch um die andern Gäste zu kümmern.

Die andern Herren hatten ihre Pflichttänze zu erledigen, wobei der Antiquar streikte.

»Ich habe Hühneraugen«, erklärte der kleine Mann mit den dicken Brillengläsern vor den kurzsichtigen Augen kategorisch. »Außerdem werde ich hier noch so schändlich zurückgesetzt.«

»Warum denn, Onkelchen?« fragte Gudrun verwundert.

»Wo alles duzt, kann ich allein nicht siezen.«

Lachend wurde davon Kenntnis genommen und rasch das Versäumte nachgeholt. Stillvergnügt saß der alte Herr mit dem klugen, durchgeistigten Gesicht da, den guten Tropfen so recht genießend. Und wenn er mal was sagte, kam das so trocken heraus, daß es Heiterkeit erregte.

Da es zwanzig Damen zu »betanzen« gab, dauerte es immerhin eine ganze Weile, bis die Herren dieses immer nicht leichte Amt hinter sich hatten. Man atmete auf, als die große Pause eingelegt wurde, in der sich die fleißigen Musiker sowie die Gäste laben konnten. Man bekam an den Tischen serviert, was das Herz begehrte.

An dem Tisch der »Sippe« fiel es zuerst gar nicht auf, daß Rupert fehlte. Man wurde erst auf ihn aufmerksam, als er aus dem Saal herbeieilte, sich scheu nach allen Seiten umsah und sich dann echauffiert in seinen Sessel sinken ließ.

»Was ist denn mit dir los?« fragte seine Schwester verwundert. »Du tust ja so, als ob du verfolgt wirst.«

»Wurde ich auch«, griff er nach dem nächsten Glas, es in einem Zuge leerend. Danach wurde ihm sichtlich wohler, und das vertraute Schmunzeln umzuckte seinen schmalen Mund.

»Sagt mal, sehe ich wirklich wie Prinz Eugen, der edle Ritter, aus?«

Zuerst verdutztes Schweigen, dann die konsternierte Frage Erdmuthes:

»Rupert, bist du etwa – betrunken?«

»Keine Spur«, vertiefte sich sein Schmunzeln, »das hat mir die junge Dame gesagt, mit der ich zuletzt tanzte.«

»Aber der Prinz, den man allerdings nur von den Bildern kennt, hatte doch nicht so ein hageres Gesicht, auch kein Mono­kel, trug außerdem eine üppige Lockenperücke.«

»Eben die will sie mir verschaffen und mich dann malen«, bekannte er kläglich, während sein Einglas nur so blitzte. »Da bekam ich Angst und rückte aus.«

»Du auch?« fragte Arvid lachend. »Ich sollte auf die Leinwand als Siegfried, der Drachentöter.«

Stürmische Heiterkeit unterbrach ihn, hauptsächlich Gudrun wollte sich halbtot lachen.

»Das kann nur die überkandiedelte Adline gewesen sein! Wie sieht sie denn aus?«

»Wie ein Schellfisch«, gab Rupert Antwort. »Und ein Mundwerk hat sie – Gott in deine Hände!«

»Dann ist sie es«, bekräftigte Christine. »Na, Rupert, da nimm dich ja in acht. Die läßt sich nicht so leicht abschütteln, die heftet sich an deine Fersen wie Pech. Am besten ist es, du bleibst hier unter unserm Schutz.«

»O ja, habt Erbarmen und beschützt mich. Sollte sie dennoch zu mir vordringen, dann tötest du nicht den Drachen, sondern den Schellfisch, Jung-Siegfried.«

Er war so komisch in seiner verstellten Angst, daß die andern Tränen lachten. Selbst Onkel Theo mußte die Brille abnehmen und sie trockenwischen.

»Kinder, was seid ihr doch bloß für ein lustiges Völkchen. Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch einmal so von Herzen lachen könnte.«

»Kein Wunder, wenn du immer unter deinem alten Kram sitzt wie ein Uhu im morschen Gebälk«, brummte sein Schwager Egon. »Geh mehr unter Menschen, dann wirst du auch nicht so verknöchert sein.«

»Pfui, Paps, wie kannst du nur!« legte Gudrun ihren Arm um die Schultern des Gelehrten. »Onkel Theo ist gar nicht verknöchert, er ist weise.«

»Ich höre immer weise«, trat Stella unverhofft hinzu. »Aber sagt mal, warum verkriecht ihr euch eigentlich so. Das ist doch ungezogen gegen die andern Gäste. Du unterstützt mich bei der Repräsentation so gut wie gar nicht, Christine, und du, Gudrun, überhaupt nicht, wie sich das für die Tochter des Hauses gehört. Nein, danke, Baron, bleiben Sie sitzen. Ich kann hier ja gar nicht verweilen, obwohl ich Ruhe so dringend nötig hätte. Wie findet ihr übrigens mein Kleid? Ist es nicht einzigartig?«

Das konnte man mit gutem Gewissen behaupten, denn einzigartig war die opalschimmernde »Schlangenhaut« auf alle Fälle. Aber schön – nein, und vornehm schon gar nicht. Es stach von der wirklichen Eleganz der andern Damen am Tisch direkt unangenehm ab. Doch die Hypermoderne fand so was nicht elegant, sondern simpel.

Mit ihrem Erscheinen schwand die Gemütlichkeit, weil sie zu den Menschen gehörte, die Ungemütlichkeit ausströmen. Man atmete heimlich auf, als sie endlich »entschwebte«.

Indes war die Pause beendet, und die Musiker kündeten Damenwahl an, was den langen Rupert entsetzte.

»Kinder, macht Platz, ich kriech’ untern Tisch«, sank er vor seinem Sessel in die Knie. »Denn die Adelaide wird mich bestimmt aufstöbern und mir die Lockenperücke des edlen Ritters aufstülpen.«

Kaum war es gesagt, erschien Adline auch schon.

Doch da sie den Drachentöter noch dem edlen Ritter vorzog, mußte ersterer dran glauben. Und: Halb zog sie ihn, halb sank er hin.

»Na, Gott sei Dank«, sagte Rupert so ganz aus Herzensgrund. »Die Gefahr ist vorüber.«

»Oder auch nicht«, blinzelte Gudrun ihm zu, dabei im tiefen Knicks versinkend. »Darf ich bitten, vieledler Ritter Rupertus?«

»Es sei«, ergab er sich seinem Geschick, und vergnügt zogen beide ab.

Mit der Damenwahl hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht, und die bisher so steife Gesellschaft wurde leichtbeschwingt, ohne jedoch aus der Rolle zu fallen, da bildete Adline die einzige Ausnahme in dem exklusiven Kreis. Und nur, weil sie doch so gern heiraten wollte – und so zum Schreckgespenst der Herren wurde.

»Nun, wie war’s?« fragte die Baronin lachend, als ihr Sohn an den Tisch zurückkehrte. »Bist du der Fessel ohne Anstrengung entschlüpft?«

»Das nur vorübergehend«, entgegnete er schmunzelnd. »Denn sie hat ihren Besuch auf dem Hörgishof mit größter Begeisterung angekündigt.«

»Und sie kommt«, kassandrate Gudrun, die am Arm Ru­perts erschien und die letzten Worte gehört hatte. »Und legt dich in Ehefessel, eh du’s gedacht.«

*

Christine, die sich recht abgespannt fühlte, paßte einen Augenblick ab, wo sie sich unauffällig zurückziehen konnte. Müde stieg sie die Treppe hinauf und ließ sich in ihrem Zimmer aufatmend in den Sessel sinken.

O ja, so war es schön. Endlich konnte sie sich von der Hetze der vergangenen Woche entspannen. Denn eine Hetze waren die Vorbereitungen zum Hochzeitsfest für sie gewesen, weil ja alles auf ihren Schultern geruht; denn Stella hatte dabei mehr gehemmt als genützt. Hatte herumkommandiert, die Dienerschaft durcheinandergejagt; bis diese konfus wurde, alles verkehrt machte, was Christine dann wieder in Ordnung bringen mußte. Doch das war nun vorüber, und man konnte zur Tagesordnung übergehen – Gott sei Dank!

Sie griff nach einer Zigarette, lehnte sich im Sessel zurück, schloß die Augen und duselte vor sich hin. Von unten klang gedämpfte Musik in das stille Gemach, kühl wehte die Nachtluft durch die geöffnete Balkontür. Die Uhr unter dem Glassturz tickte klingend, in der Nachbarschaft bellte ein Hund.

Regungslos verharrte Christine in dieser wohltuenden Abgeschiedenheit, bis ein Geräusch ganz in ihrer Nähe sie aufschrecken ließ. Sie öffnete die Augen, und ihr Herz wollte schier aussetzen vor Schreck.

Denn vor ihr stand ein großer, schlanker Mann, der trotz der schäbigen Kleidung einen vertrauenerweckenden Eindruck machte.

»Na, Christinchen, was ist denn los?« fragte er lachend. »Erkennst du mich etwa nicht?«

»Felix!« stammelte sie mit versagender Stimme, indem sie aufsprang und entsetzt vor ihm zurückwich. »Wo kommst – du denn – so plötzlich – her?«

»Über den Balkon durch die Tür«, erklärte er in aller Seelenruhe.

»Schämst du dich denn gar nicht!« fand sie langsam ihre Fassung wieder. »Das ist ein Überfall! Mach bloß, daß du weggehst.«

»Wo soll ich denn hin?« fragte er kläglich. »Ich habe doch keine andere Bleibe. Dazu bin ich hungrig und so entsetzlich müde. Hab’ doch Erbarmen mit mir, Christine.«

»Hast du es damals mit mir gehabt, als du mich ohne Geld so skrupellos sitzenließt? Hätte sich Egon nicht meiner angenommen, wäre ich elendiglich zugrundegegangen.«

»Christine, du hast ja so recht, aber laß das jetzt, bitte. Ich bin so erschöpft, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann. Habe ja auch allerlei Strapazen hinter mir.«

»Setz dich hin«, entgegnete sie unfreundlich. »Und rühre dich nicht von der Stelle, bis ich wiederkomme. Wir feiern nämlich unten ein Fest.«

Weg war sie, und als sie wiederkam, schob sie einen Servierwagen vor sich her, auf dem ein lukullisches Mahl mit einer Flasche Wein stand, die bereits entkorkt war. Sie goß das Glas voll, schob den Wagen nahe zu dem Mann heran und sagte kurz:

»Iß dich satt, doch dann mußt du fort. Ich werde dir Geld geben, damit du nicht auf einer Bank im Park übernachten mußt, was allerdings gut zu dir passen würde. Laß mir morgen Bescheid zukommen, wo ich dich sprechen kann, dann werden wir sehen, was mit dir geschieht. Laß dich ja hier nicht wieder blicken, dann läufst du Gefahr, von Egon hinausgeworfen zu werden.«

Nach diesen Worten herrschte so lange Schweigen, bis der Mann alles gegessen – oder vielmehr verschlungen hatte, was auf den Platten lag. Auch die Flasche Wein wurde bis zum letzten Tropfen geleert.

»Bist du endlich satt?«

»Danke, das langt fürs erste. Nur eine Zigarette hätte ich gern.«

Als die brannte, legte er sich im Sessel zurück, und Christine begann mit dem Verhör:

»Wie bist du überhaupt hergekommen?«

»Och, so auf allerlei Umwegen«, wich er geschickt aus, doch sie ließ nicht locker.

»Hast du das Geld bekommen?«

»Ja. Hab herzlichen Dank, Christinchen!«

»Schon gut. Weißt du auch, daß du mich mit deiner Rückkehr in eine ganz verzwickte Lage gebracht hast?« fragte sie streng. »Und daß du mich zu Lügen zwingst, die mir ein Greuel sind? Denn lügen werde ich fortan um deinetwillen müssen.«

Sie hielt inne, denn der Mann schnarchte so recht zufrieden vor sich hin. Schlief wie ein Kind, das die Mutter liebevoll zu Bett brachte. Am liebsten hätte sie ihn empört aus diesem friedlichen Schlaf gerissen, aber sie bekam es einfach nicht fertig. Wegschicken konnte sie ihn auch nicht, dafür war er zu erschöpft. Vielleicht würde er gar in ein Auto hineintaumeln, dann müßte sie sich ihr Leben lang Vorwürfe machen. Seufzend erhob sie sich und schüttelte ihn unsanft.

»Felix, wach auf! Du kannst dich in mein Bett legen.«

»Bett – ach ja – Bett«, murmelte er sehnsüchtig und schnarchte weiter.

Mein Himmel, dieses entsetzliche Schnarchen! Das hatte er doch früher nicht getan. Was machte sie bloß mit dem gräßlichen Menschen!

»Felix, wach auf!« schüttelte sie ihn derb. »Hörst du, Felix, wach auf!«

»Laßt schlafen nur den Alten«, murmelte er verträumt. »Er hat genug gewacht.«

Da mußte sie denn doch lachen. Kurz entschlossen streifte sie ihm die Schuhe von den Füßen, die sie kopfschüttelnd betrachtete.

Abgewetzt, die Sohlen durch, und draußen regnete es. Natürlich waren die Strümpfe naß, ebenso wie die schäbige Jacke. Das Oberhemd, das darunter zum Vorschein kam, war mehr als dürftig, eine Krawatte fehlte ganz.

Und was nun weiter? Weiter konnte sie beim besten Willen nichts tun. Also bemühte sie sich, ihn an beiden Händen aus dem Sessel hochzuziehen, was ihr auch nach großer Anstrengung gelang, dann umfaßte sie die Schulter des Schlaftrunkenen, führte ihn zu ihrem zarten Spitzenbett und legte ihn hinein.

Nachdem sie sich die Schweißtropfen von der Stirn gewischt hatte, suchte sie mit flatternden Händen ihr Nachtzeug zusammen, nahm fürsorglich noch die Garderobe für den nächsten Tag mit, verschloß die Balkontür, auch diejenige, die zu dem kleinen Salon führte, zog die Schlüssel ab und floh förmlich aus dem Zimmer, dessen Tür sie auch noch versperrte.

Dann mußte sie sich im Korridor erst einmal gegen die Wand lehnen, weil die Beine ihr vor Aufregung den Dienst versagen wollten. Dabei flatterten ihre Gedanken wie aufgescheuchte Vögel.

So stand sie, bis eine Tür in der Halle zuschlug. Da schrak sie auf und verschwand in Karolas Zimmer, das ja nun frei war. Mit zitternden Händen verschloß sie die Tür, warf sich erledigt auf den Diwan.

Und unten ging das Fest lustig weiter. Eben tanzte Gudrun mit Arvid einen Tango, im Herzen ein bittersüßes Hangen und Bangen. Wohl hatte ihr der Mann mit keinem Blick, geschweige denn mit einem Wort zu verstehen gegeben, daß er ihre Liebe, die sie jetzt nicht mehr ableugnen konnte, erwiderte. Und doch war er heute anders als sonst. Vielleicht – ach, vielleicht.

»Weißt du auch, daß du schön bist, Gun, wunderschön?« raunte ihr die Männerstimme ins Ohr. Und mit unterdrücktem Jubel kam es zurück:

»Ja, das weiß ich. Aber ich möchte noch schöner sein, immerzu schöner. Schön wie Dornröschen, schön wie Schneewittchen – also märchenhaft schön.«

Leider schwieg die Musik und machte mit einem fröhlichen Wechselrheinländer überhaupt Schluß. Denn alles muß ja mal ein Ende haben, es war schließlich drei Uhr früh. Ein allgemeiner Aufbruch, und dann lagen die Festräume dunkel und leer.

*

»Hör mal, Arvid, ich möchte dich unter vier Augen sprechen, und dafür ist jetzt wohl die Gelegenheit«, hielt Theobald Alkwin den Baron, der an ihm vorüber wollte, am Ärmel zurück. »Wann ist dir mein Erscheinen auf dem Hörgishof recht?«

»Zu jeder Zeit natürlich«, kam es voll Herzlichkeit zurück. »Immer wirst du uns willkommen sein und kannst natürlich bleiben, solange du magst.«

»Das wird auch nötig sein«, kam die Antwort pomadig. »Denn bis ich mir aus deinen Altertümern das herausgesucht habe, was mich interessiert, wird wohl eine Weile dauern.

Ich hoffe überhaupt bei dir zu Hause in eine Fundgrube zu geraten«, zog er in seinem Eifer den Mann mit sich, der wie erstarrt stehengeblieben war. »Denn die Truhe, welche Gun mir brachte – ein ganz herrliches Stück! Alte gediegene Goldschmiedekunst von hoher Kultur. Und der Schmuck, der darin liegt – oh, lá, lá! Der ist einen guten Batzen wert. Nun bin ich so neugierig auf alles andere, was sich in deinem Schloß so schamhaft verbirgt, wie mir Gun erzählte, daß ich kaum die Stunde erwarten kann, es in Augenschein zu nehmen.

Und dann kommen wir ins Geschäft, mein Junge, nicht wahr?« fragte er herzlich. »Geld kann nie schaden, obwohl du durch Gun zum reichen Mann wirst. Denn sie hat nicht nur selbst Gold an den Patschen, unsere süße Kleine, sie wird mich später auch beerben und dann … ja nun, ich will nicht zu viel versprechen. Ich will dir nur noch sagen, wie froh ich bin, daß ihre Wahl auf dich gefallen ist. Einen besseren Mann könnte sie ja nie kriegen. Und nun geh, man winkt dir schon ungeduldig. Auf Wiedersehen morgen bei dir auf dem Hörgishof.«

Dann sah er schmunzelnd dem Davoneilenden nach, ahnungslos, welch ein Geheimnis er da ausgeplaudert hatte.

Ebenso ahnungslos war auch Gudrun, die eben die Treppe hochsprang und in ihrem Zimmer verschwand.

Tausend rote Rosen blühn in dem Land der Liebe, sang und klang es in ihrem Herzen. Die darf man einer schönen Frau wohl schenken, und er sagte mir, daß ich schön wäre.

Bin ich es wirklich? Sie trat vor den großen Spiegel, sich so aufmerksam beäugend, als sähe sie sich zum ersten Mal. Und was das Glas widerspiegelte, war von zauberhafter Schönheit.

Doch da horchte Gudrun auf. Weinte da nicht jemand? Tatsächlich! Und dieses wehe Schluchzen kam von nebenan, aus Karolas Zimmer. Sollte sie etwa …? Es wäre ja nicht das erste Mal, daß eine Hochzeitsreise ein jähes Ende fand.

Kalt überrieselte es Gudrun, die beide Hände auf das bangklopfende Herz preßte. Die Beine wollten ihr kaum gehorchen, als sie zu der Verbindungstür ging, die Christine in ihrer Aufregung abzuschließen vergaß. Und was Gudrun da erblickte, ließ sie erst einmal aufatmen.

Gottlob, Karola war die Weinende nicht. Aber es war Christine, und die weinte nicht sobald, schon gar nicht so herzzerbrechend.

»Tinchen, was ist dir geschehen?« kniete das Mädchen vor der Schluchzenden nieder, sie mit beiden Armen umfassend. »Das kann ich ja gar nicht mit anhören, Tinchen, liebes, bitte!«

Da hob sich das tränenüberströmte Gesicht, und die zuckenden Lippen sprachen:

»Felix ist plötzlich aufgetaucht. Großer Gott, was fang’ ich bloß an? Wohin soll das wohl führen?«

»Felix?« dehnte Gudrun. »Unser Onkel Felix? Tinchen, den hast du doch schon längst erwartet.«

»Aber doch nicht so«, kam es von den bebenden Lippen in fliegender Hast. »Einfach den Balkon ist er emporgeklettert und durch die geöffnete Tür in mein Zimmer gedrungen. Hungrig, erschöpft, im schäbigen Anzug, zerrissenen Schuhen und nassen Strümpfen, wie ein Vagabund.«

»Aber, Tinchen, das läßt sich doch alles ändern«, tröstete das Mädchen die an allen Gliedern flatternde Frau, die ihr von Herzen leid tat. »Wir kleiden ihn einfach ein.«

»Glaubst du, daß damit alles getan ist?« kam es erbittert zurück. »Er muß doch eine Existenz haben.«

»Die mein Vater ihm schon verschaffen wird.«

»Glaube ich nicht. Denn Felix ist als Taugenichts verschwunden und als Taugenichts wiedergekommen. Und dafür hat ein so korrekter Mann wie dein Vater gewiß kein Verständnis.«

»Wo ist er jetzt?« fragte Gudrun leise.

»Er liegt in meinem Bett. Es war mir einfach nicht möglich, ihn wieder in den Regen hinauszujagen, zumal er mir, nachdem er satt war, unter den Händen einschlief. Hab’ ich da recht gehandelt, Gun?«

»Natürlich, Tinchen. Ich würde an deiner Stelle genauso gehandelt haben. Nun weine nicht mehr, irgendwie wird’s schon werden.«

»Du bist ein gutes Kind«, streichelte Christine zärtlich über das goldhaarige Köpfchen. »Du hast mir mit deinen lieben Worten wieder Mut gegeben.«

»Das freut mich, Tinchen. Komm, lege dich in Karlchens Bett, du bist ja zum Umfallen müde. Ich helfe dir zuerst beim Auskleiden und mische dir dann einen Beruhigungstrank, dessen Rezept ich Sephchen abgebettelt habe. Dann schläfst du erst mal, mein Tinchen, alles weitere wird sich finden. Du bist ja nicht allein, du hast ja Menschen, die dich liebhaben.«

Gudrun wartete noch, bis Christine fest eingeschlafen war, dann ging auch sie zu Bett, ahnungslos, daß indes die Nornen an ihrem Schicksal spannen. Und daß eine böse darunter war, die mit grausamem Lächeln Reif fallen ließ auf eine eben erwachte, glückselige Liebe.

Das sollte Gudrun jedoch erst erfahren, als sie am Morgen auf Hörgishof anlangte, das Herz voller Erwartung und Freude. Sie brachte den Wagen in der Garage unter und schlich heimlich ins Haus, wo sie alle, die ihr Herz so zärtlich umschloß, überraschen wollte. Ob sie noch beim Frühstück saßen, oder ob sie schon …?

Auf diese Frage gab ihr die Stimme Antwort, die sie durch die angelehnte Wohnzimmertür deutlich vernahm. Es war Ruperts Stimme, zorngeschwellt:

»Du Narr, was bildest du dir eigentlich ein! Dieses reiche, schöne und warmherzige Menschenkind hat es wahrlich nicht nötig, dich einzufangen, wie du dich so empörend ausdrückst. Das kann ganz andere Männer haben als einen verschuldeten Gutsbesitzer. Aber leider hat sie ihr Herzchen an dich gehängt, obwohl sie deine arrogante Art eher abstoßen als anziehen müßte.

Das ist nun der Dank dafür, daß sie in so feiner Art dir verhelfen wollte, aus deinen Schulden herauszukommen. Daß sie sich für dich einsetzte in ihrer ganzen Warmherzigkeit. Wenn Theo nur eine Ahnung gehabt, daß Gudrun ihm ohne deine Zustimmung die Truhe zur Abschätzung brachte, er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als mit dir darüber zu sprechen.«

Jetzt hatte Gun genug gehört. Todblaß mit erloschenen Augen löste sie die Hände von dem Türpfosten, den sie haltsuchend umklammert hielt. Taumelte davon, ohne die entsetzte Josepha zu bemerken, die ihr in den Weg trat. Doch ehe diese noch zupacken konnte, lief Gudrun schon der Garage zu.

»Gnädiges Fräulein – liebe Gun, um aller Barmherzigkeit willen! Sie können sich doch so nicht ans Steuer setzen, so doch nicht!« schrie Josepha angstgefoltert der Davonstürmenden nach, was die im Zimmer Weilenden erschrocken auffahren ließ. Doch bevor sie noch die Portaltür erreicht hatten, sauste das Auto bereits ab.

»Großer Gott, jetzt hilf du«, weinte Josepha laut auf. »Laß sie nicht verunglücken, die Gun, unsere Gun, die doch so lieb ist – so gut.«

Die Schürze gegen die Augen pressend, wollte sie davonwanken, doch die Baronin hielt sie zurück, blaß bis in die Lippen. Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie fragte:

»Sephchen, wie konnte das geschehen? Sephchen, so sprich doch!«

»Viel kann ich auch nicht sagen, Frau Baronin«, kam es unter Schluchzen hervor. »Ich ging durch die Halle, und da stand das gnädige Fräulein an der Wohnzimmertür, blaß wie eine Tote. Hielt die Hände im Holz verkrampft und sah so aus, als müßte sie jeden Augenblick umkippen. Und dann lief sie plötzlich davon, bevor ich sie noch aufhalten konnte. Da hab’ ich laut geschrien in meiner Not, doch sie hörte es nicht, war wie taub und blind. Es muß sie etwas bis ins tiefste Herz getroffen haben.«

»Dann hat sie bestimmt unser Gespräch mit angehört«, würgte Rupert hervor, nachdem Josepha gegangen war. »Und das hat sie bestimmt bis ins tiefste Herz getroffen.

»Wo ist denn Arvid geblieben?« sah er sich suchend nach allen Seiten um, doch der Neffe war nicht zu sehen. Der saß in seinem Arbeitszimmer und stöhnte wie ein Mensch, dem tiefste Reue am Herzen frißt.

Was den Menschen im Herrenhaus von Hörgisholm das Herz vor Angst und Not erzittern ließ, traf gottlob nicht ein. Denn der Höchste hielt seine Hand über das zauberhafte Menschenkind, das er sich selbst zur Freude erschuf. Am Körper heil, doch mit gebrochenem Herzen langte Gudrun zu Hause an, wo sie sich in ihrem Zimmer verkroch wie ein todwundes Tier.

Es war ja auch niemand da, dem sie hätte ihren Jammer kundtun können. Karola befand sich auf der Hochzeitsreise, Christine hatte selbst genug Kummer mit ihrem Mann, der Vater war geschäftlich zu sehr in Anspruch genommen. Und Stella? Die würde jammern, daß man sie in ihrem »Schönheitsschlaf« so rücksichtslos störte.

Blieb noch Hanna, die gewiß ein mitfühlendes Herz besaß, aber die war Gudrun noch zu fremd, als daß sie ihr so ganz das Herz erschließen könnte.

Und dann Onkel Theo. Aber gerade der durfte nie erfahren, was er so ahnungslos ausgeplaudert hatte, er würde sich bitter grämen.

Und die von Hörgishof? Die durften für sie nicht mehr existieren.

Gudrun schrak aus ihren trostlosen Gedanken auf, als der Diener mit der Meldung erschien:

»Gnädiges Fräulein, eben rief Herr von Bärlitz an und erkundigte sich, ob gnädiges Fräulein gut nach Hause gekommen wäre, was ich bestätigte.«

»Danke, Jan, geht in Ordnung.«

Kaum daß dieser sich zurückgezogen hatte, klopfte es schon wieder, und der Mann, der nun eintreten wollte, wurde vorerst von Christine zurückgehalten.

»Du bist der frechste Mensch, der mir jemals vorgekommen ist!« sagte sie aufgebracht. »Gun, laß ihn nicht ein!«

»Ja, warum denn nicht«, trat diese auf den Mann zu, ihn aufmerksam betrachtend. Doch nichts war an ihm, was sie abstieß, im Gegenteil.

»Man immer hereinspaziert, Onkel Felix«, sagte sie so munter, wie es ihr in der jetzigen Verfassung möglich war. Da ließ Christine ihn endlich los, schob ihn über die Schwelle und schloß rasch hinter sich die Tür.

»Potztausend, Mädchen, was bist du bloß hübsch geworden«, besah sich der Onkel ungeniert seine Nichte. »Und du wirfst mich nicht hinaus?«

»Erst dann, wenn du mir Veranlassung dazu gibst.«

»Tu’ ich nicht, mein Herzchen, tu’ ich nicht. Aber meine Frau will mir nicht glauben, daß ich geläutert zurückgekehrt bin, sie stört meine schäbige Eleganz …«

»Das ist nicht wahr!« unterbrach sie ihn heftig. »Was mich stört, ist deine unglaubliche Frechheit.«

»Aber Frechheit soll doch siegen«, entgegnete er so harmlos, daß Gudrun hell herauslachte.

»Laß ihn doch, Tinchen, es bleibt ja in der Familie.«

»Ich glaube nicht, daß dein Vater derselben Meinung ist«, seufzte die geplagte Frau. »Ich habe eine bebende Angst vor dem Zusammenstoß der beiden Brüder. Daher geh, Felix, ich bitte dich darum. Ich will alles für dich tun, aber geh, bevor Egon dich hier erwischt.«

»Soll ich denn wirklich gehen, kleine süße Gun?«

»Nein, Onkel Felix, bleib hier. Ich werde für dich ein gutes Wort bei Papa einlegen, und ich glaube schon, daß du es verdienst. Wenn du auch nicht gerade einen eleganten Eindruck machst, aber einen verkommenen bestimmt nicht.«

»Was bist du doch nur für ein prachtvolles Menschenkind«, sagte er entzückt, doch verlegen wehrte sie ab.

»Das kommt dir nur so vor, Onkel Felix. Ich geh’ jetzt zu Papa, haltet mir den Daumen.«

Wenig später betrat sie das Arbeitszimmer ihres Vaters, der gerade telefonierte. Still setzte sie sich und wartete, bis er Zeit für sie haben würde, was nach zehn Minuten der Fall war.

»Na, Töchterlein, was hast du denn auf deinem Herzchen?« fragte er gutgelaunt, und ohne Umschweife sprach sie über die Rückkehr seines Bruders.

Als er aufbrausen wollte, hielt sie ihm den Mund zu.

»Bitte, lieber Papa, sprich jetzt nicht. Sieh dir den Onkel Felix erst einmal an. Und wenn du meinst, daß er deiner Hilfe nicht wert ist, kannst du ihm immer noch dein Haus verbieten.«

»Na schön, hol ihn her.«

»Paps, du guter!«

Ein stürmischer Kuß, der seine Nase traf, dann wirbelte sie davon, um sehr bald wieder in Begleitung des Ehepaares zu erscheinen.

Stumm standen sich die Brüder gegenüber, die sich ähnlich sahen. Nur war Felix größer und breiter, aber das Gesicht zeigte die gleichen Merkmale.

Forschend sah der ältere den jüngeren an, der diesem inquisitorischen Blick offen standhielt und herzgewinnend dabei lächelte. Man mußte schon sagen, daß Felix Wiederbach zu den Menschen gehörte, denen man einfach nicht böse sein kann.

»Nun, große Schätze scheinst du in den drei Jahren gerade nicht gesammelt zu haben«, meinte Egon mit einem bezeichnenden Blick auf die »schäbige Eleganz« des Heimgekehrten. »Aber das ist ja nicht so wichtig. Wichtiger ist, wie du in den drei Jahren gelebt hast. Leichtfertigkeit würde ich zur Not entschuldigen, die liegt wohl in deiner Natur, aber keine Ehrlosigkeit. Wie steht es damit?«

»Ich habe nichts Ehrloses begangen.«

»Gibst du mir darauf dein Wort?«

»Ehrenwort.«

»Nun gut. Weiter will ich nicht fragen, will nicht forschen, sondern dir helfen. Kannst hier bleiben und in meinem Betrieb arbeiten. Enttäuschst du mich, trennen sich unsere Wege endgültig.«

Er zog seine Brieftasche, entnahm ihr einige Scheine und reichte sie dem Bruder.

»Dieses fürs erste, kleide dich damit anständig ein. Und nun laßt mich allein, ich habe noch viel zu erledigen. An der Mittagstafel sehen wir uns wieder – oder besser noch eine halbe Stunde vorher. Du kannst dich hier melden. Also bis dann.«

Damit griff er nach dem Telefonhörer, und schweigend entfernten sich die andern.

»Na, siehst du, Onkel Felix, es war doch gar nicht so schlimm«, hing Gudrun sich draußen zutraulich in seinen Arm. »Jetzt geh und mach dich schick, Onkelchen, damit ich mit dir prahlen kann.«

»Wird gemacht, bezauberndste aller Nichten«, zwinkerte er ihr verschmitzt zu, was seinem Gesicht etwas Unwiderstehliches gab. »Gehabt euch wohl, ich kehre wieder, neu erstanden wie Phönix aus der Asche.«

Blitzschnell den beiden einen Kuß auf die Wange drückend, zog er vergnügt ab, und Gudrun legte den Arm um Christines Schultern.

»Tinchen, nun mach nicht so ein bekümmertes Gesicht, dazu hast du jetzt gar keine Veranlassung mehr. Komm, wir setzen uns in dein Zimmer und warten, bis ›Phönix‹ erscheint.«

»Ach, Gun, mir ist wahrlich nicht zum Scherzen zumute«, klagte sie. »Wohin soll das wohl führen?«

»Zum guten Ende, Tinchen, ich habe das so im Gefühl.«

So mußte sie denn die niedergeschlagene Frau trösten, bis Felix erschien. Und nun hatte man wieder einmal den Beweis, daß Kleider Leute machen. Denn der da mitten im Zimmer stand, war von distinguierter Erscheinung mit dem Fluidum des Mannes von Welt.

»Gefalle ich euch jetzt besser?« fragte er schmunzelnd.

»Und wie!« jubelte Gudrun. »Jetzt kann ich mit Recht stolz auf dich sein. Komm rasch zu meinem Paps, der wird nicht wenig staunen.«

Der staunte nicht, der lachte, als er es in den Augen des Bruders humorvoll aufblitzen sah. Dann nahm er ihn beim Schlips und zog ihn zu sich heran.

»Nun mal gebeichtet, du Spitzbube! Was ist eigentlich mit dir los. Denn diese Aufmachung konntest du unmöglich von den fünf Hundertern bezahlen, die ich dir gab, und pumpen tut dir niemand etwas in der Stadt, wo du fremd bist. Schon der Siegelring, den du trägst, ist gut und gern einen Tausender wert. Jetzt mal ehrlich: was stellst du vor?«

»Och, vielleicht einen Millionär. Wer kann das alles so genau wissen.«

»Na, du Halunke!« versetzte der Bruder ihm einen Nackenstreich. »Warum vorher das Theater?«

»Weil ich euch auf die Probe stellen wollte«, kam es tiefernst zurück. »Die habt ihr glänzend bestanden, ich danke euch.

Und ganz besonders meinem Christinchen«, wandte er sich der Gattin zu, die wie erstarrt verharrte. »Wenn du mich nämlich abgewiesen, als ich dich brieflich um Hilfe anflehte, hätte ich dir nahegelegt, dich von mir scheiden zu lassen, hätte glänzend für deinen Unterhalt gesorgt, aber genähert hätte ich mich dir nicht mehr. So jedoch …«

Er erzählte nun dem aufhorchenden Bruder, was der ja noch nicht wußte. Sprach von dem Brief, der Bitte um Geld, von der Überweisung, die Christine ihm zukommen ließ, von seinem plötzlichen Auftauchen und so weiter.

»Es ist mir gewiß nicht leichtgefallen, meine Rolle durchzuhalten«, fuhr er in seiner Erzählung fort. »Denn es war einfach rührend, wie mein Christinchen sich um den Vagabunden bemühte.

Und dann heute Gun, die sich ohne jeden Vorbehalt zum Onkel bekannte. Auf die Tochter kannst du doch stolz sein, Egon.

Sie ist nicht nur wunderschön, sie hat auch ein warmes, mitfühlendes Herz, was bei so reichen, verwöhnten Mädchen schon etwas bedeutet.

Tja, und nun wollt ihr sicher wissen, wie ich zu meinem Geld gekommen bin. Dazu verhalf mir weniger mein Verdienst, sondern mein Dusel. Ich heiße ja nicht umsonst Felix, was der Glückliche bedeutet.

Wenn ich daran denke, was für ein Windhund ich war, schlägt mir jedesmal die Schamröte ins Gesicht. Und ich habe meinen Leichtsinn noch nicht einmal durch Fronarbeit abbüßen müssen, wenngleich ich auch nicht gerade gefaulenzt habe. Nur die Sehnsucht nach meiner Frau, nach dir und nach Gun hat mir arg zugesetzt. Wie gern hätte ich an euch geschrieben, doch mein Wohltäter war dagegen. Ich sollte erst wieder mit euch in Verbindung treten, wenn etwas Ordentliches aus mir geworden war, darauf mußte ich ihm mein Ehrenwort geben.

Und nun zu meinem Wohltäter. Es war ein Deutschamerikaner, an den ich an einem Abend ein Vermögen verspielte, das ich nicht besaß. Und der fackelte auch nicht lange, was sowieso nicht seine Art war, sondern schleppte mich nach Amerika und steckte mich in seinen Betrieb, wo ich meine Schuld abarbeiten sollte. Als Strafe diktierte er mir zu, nicht von Frau, Bruder und Nichte Abschied zu nehmen, sondern sang- und klanglos zu verschwinden, bis aus mir ›leichtsinnigem Hund‹ ein brauchbarer Kerl geworden wäre. Und diese Strafe war bitter hart, aber heilsam.

Nun ist er tot, der prachtvolle Mensch, der tatsächlich aus mir leichtsinnigem Hund einen brauchbaren Kerl machte. Und da er weder Frau, Kind noch sonstige Verwandte besaß, setzte er mich zu seinem Erben ein. Das ist alles, was ich zu beichten hatte. Zufrieden, Christine?«

»Noch mehr, glücklich«, gestand sie unter Lachen und Weinen. Da nahm er sie in die Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit. Doch dann wurde er gleich wieder sachlich.

»Ich besitze nun in Chile ein großes Versandhaus, das meine Anwesenheit dank meiner tüchtigen Mitarbeiter nicht ständig erfordert. So habe ich mich entschlossen, eine Hälfte des Monats dort zu sein, die andere hier, wo ich natürlich auch nicht müßig sein werde, was ich übrigens gar nicht mehr kann. Also, wenn du für mich Verwendung haben solltest, Bruderherz, so verfüge über mich.«

»Und wie ich die habe! Felix, Menschenskind, ich kann das alles noch gar nicht fassen. Wohnen kannst du natürlich bei uns, der Kasten ist ja groß genug, und dann brauchen wir wenigstens unser Tinchen nicht ganz herzugeben, das hier die Seele des Hauses ist.«

»Na schön, soll es so sein. Aber wenn ich nach drüben fliege, nehm’ ich sie mit. Ich habe sie drei Jahre lang so schmerzlich entbehren müssen, jetzt will ich mich keinen Tag mehr von ihr trennen.

Hab übrigens herzlichen Dank, Egon, daß du dich meiner Frau so lieb annahmst. Erst als ich mir mit Erlaubnis meines Wohltäters die Gewißheit verschafft hatte, wurde ich ruhiger.«

»Aha, daher kanntest du auch meine Adresse«, lachte Christine. »Schäm dich, du Gauner, mich auf so eine raffinierte Art angepumpt zu haben, von wegen langer Krankheit.«

»Und wie lieb du darauf reingefallen bist, mein Tinchen«, schmunzelte er. »Na, laß nur, wir werden uns das Leben schon schön einrichten. Alles sollst du haben, was dein Herz begehrt.«

Gudrun, die dem allen mit brennendem Interesse gefolgt war, hatte darüber ganz ihren Kummer vergessen.

Doch, nun sie die beiden glücklichen Menschen sah, tat ihr das Herz wieder bitter weh. Dabei fiel ihr blitzartig ein, wie sie sich Abwechslung verschaffen konnte, die sie kaum zur Besinnung kommen ließ.

»Onkel Felix, nimmst du mich auch manchmal mit?« fragte sie zögernd.

»Natürlich, du Süße, das bedarf doch keiner Frage. Sollst mal sehen, wie ich überall mit meiner Tochter prahlen werde.«

»Die glaubt dir doch kein Mensch«, lachte sie ihn aus. »Nicht einmal den Onkel.«

»Sondern?«

»Darauf muß ich dir die Antwort schuldig bleiben, weil ich es mit Tinchen nicht verderben möchte.«

*

So begann denn für Gudrun Wiederbach ein Leben, das sie wirklich kaum zur Besinnung kommen ließ. Abends sank sie todmüde ins Bett, schlief so fest, daß Christine sie am Morgen wachrütteln mußte, und dann ging es wieder in einen neuen Wirbel hinein.

Es war ein sehr großes Unternehmen, das Felix Wiederbach sein eigen nannte und das er vorzüglich leitete. Sein Haus konnte man mit Palast bezeichnen, wo alles unter der Regie eines erstklassigen Butlers wie auf gutgeölten Rädern lief.

Nachdem zwei Wochen vergangen waren, erklärte Felix am Frühstückstisch vergnügt:

»Meine lieben Weibsen, da ich meinen geschäftlichen Kram prächtig in Ordnung habe, können wir mal für ein Weilchen in die Ferne schweifen. Äußert also eure Wünsche, die mir Befehl sein werden. Wie wär’s mal so’n bißchen mit dem afrikanischen Busch?«

»Das kriegst du fertig«, lachte Christine, die ihr Glück so verjüngt hatte, daß man ihr nicht mehr als Ende Zwanzig gab. Felix wurde um seine charmante Frau beneidet – und die bezaubernde Gun? Nun, die hatte bereits zwei Heiratsanträge abgelehnt.

»Weißt du, Felix«, den Onkel ließ sie einfach weg, weil das zu dem jugendlichen Vierziger so gar nicht paßte, »ich möchte Wunder sehen.«

»Sollst du, mein Kind, sollst du – dein blaues Wunder sogar. Allerdings müßt ihr mir dann die Führung überlassen.«

Damit war man einverstanden, und hinaus ging’s in eine neue bunte Welt.

Und die andern, die Gudrun in der Heimat zurückließ? Für die war sie wie vom Erdboden verschwunden.

So lagen die Dinge, als Karola mit dem Gatten nach vierwöchiger Hochzeitsreise zu Hause eintraf. Und was sie da von Hanna erfuhr, überraschte sie natürlich sehr.

»Und gemeldet hat Gun sich überhaupt nicht?« fragte sie nach dem ausführlichen Bericht der Schwägerin betroffen.

»Bei mir jedenfalls nicht.«

»Und bei Hörgisholms?«

»Weiß ich nicht, da ich sie immer nur kurz sprechen konnte. Sie haben so viel zu tun, daß sie kaum wissen, wo ihnen der Kopf steht. Der Hörgishof wird nämlich renoviert, es wimmelt dort nur so von Handwerkern.«

»Und wo haben sie plötzlich das Geld dazu her?«

»Keine Ahnung.«

»Hat Gun sich auch bei ihrem Vater nicht gemeldet?«

»Auch da bin ich überfragt. Habe Egon nach deiner Hochzeit überhaupt noch nicht gesprochen, da er ständig auf Reisen ist.«

»Und Stella?«

»Die hätschelt irgendwo ihre armen Nerven, die ja soooo überanstrengt sind.«

»Seit wann strengt Stella sich denn an?«

»Bei den Vorbereitungen zu deiner Hochzeit.«

»Na, dazu hat sie weiß Gott nichts getan, das lastete doch alles auf Christines Schultern. Wer steht jetzt dem Hause vor?«

»Eine seriöse Dame.«

»Und Enno?«

»Den verlassenen kleinen Kerl habe ich mir ins Haus geholt. Er wird zur Schule gefahren, wieder abgeholt und freut sich im übrigen seines Lebens.«

»Das war lieb von dir, Hansinchen«, streichelte Karola die Wange der Schwägerin. »Das andere, nein, das will mir aber auch gar nicht gefallen. Hauptsächlich nicht, daß Gun wie vom Erdboden verschwunden ist. Da stimmt etwas nicht – und das muß ich herauskriegen, auf jeden Fall.«

Also erschien sie am nächsten Tag, der zufällig ein Sonntag war, auf dem Hörgishof, wo es zwar keine Handwerker zu sehen gab, aber Gerüste um Stallungen und Herrenhaus. In der Halle sah es alles andere als einladend aus, doch das Wohngemach war vom ganzen Chaos verschont geblieben. Wie eine Insel des Friedens kam der schöne Raum Karola vor, als sie ihn soeben betrat.

»Karlchen!« riefen ihr die beiden Damen nebst Rupert freudig entgegen. Man stellte fest, daß sie blendend aussah. Kunststück, nach der Hochzeitsreise.

Dann mußte Karola erzählen, was sie recht anschaulich tat. Doch hinterher ging sie unvermittelt auf ihr Ziel los, fragte kurz und bündig:

»Was ist hier inzwischen geschehen? Warum ist Gun auf und davon?«

Zuerst betretenes Schweigen, dann sagte die Baronin leise und gepreßt:

»Arvid hat ihr sehr weh getan.«

»So ungefähr habe ich mir das gedacht. Wie sollte es anders auch möglich sein, daß Gudrun, die von Natur treu und anhänglich ist, ihren geliebten Hörgishof aufgeben konnte. Erzählt bitte ganz ausführlich, was sich zugetragen hat.«

Als sie es wußte, sagte sie entrüstet:

»Da hat sich Arvid aber mal was Unerhörtes erlaubt. Ist der Mann denn so vernagelt und verbohrt, daß er nicht Gold von Talmi unterscheiden kann. Die Gun ihn mit raffinierten Mitteln einfangen! Man könnte lauthals lachen, wenn es nicht so unsagbar traurig wäre. Und was nun, wohin soll das wohl führen?«

»Ja, das wissen wir auch nicht«, entgegnete Rupert niedergeschlagen. »Wir haben zermürbende Wochen hinter uns, Karola, das kannst du uns schon glauben. Sieh dir doch an, wie hier alles drunter und drüber geht. Und nur, weil Arvid nicht genug Arbeit kriegen kann. Erbärmlich sieht er aus. Ißt kaum, schläft kaum, ist unzugänglich bis zur Schroffheit. Ganz entsetzlich muß er darunter leiden, daß er sich mit eigner Hand die Tür zu seinem Paradies zuschlug. Denn daß er Gun liebt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Wenn ich doch nur helfen könnte«, sagte Karola erschüttert. »Aber dazu muß ich mal erst Gun haben. Doch wo ist sie, was treibt sie? Sie wäre das erste Mädchen nicht, das aus Herzensnot einen andern freite.«

»Das befürchten wir auch«, bemerkte Erdmuthe tränenerstickt. »Und Arvid wohl am meisten. Mein Gott, der Junge geht uns kaputt, wenn er immer weiter Raubbau mit seinen Kräften treibt. Denn wie er sich abschuftet, das hält selbst der stärkste Mann nicht auf die Dauer aus.«

»Habt ihr ihm denn nicht ausreden können, die Renovierungen bis zum Herbst zu verschieben, wo es ruhigere Zeiten für den Landwirt gibt?«

»Dem und was ausreden«, lachte Rupert kurz auf. »Er ist ja wie versessen, den Hörgishof möglichst schnell im neuen Glanz erstrahlen zu lassen.«

»Wenn das Geld zu Ende ist, wird er schon damit aufhören«, tröstete Karola, doch Erdmuthe winkte müde ab.

»Das hört so bald nicht auf, Theo bringt immer neues hinzu. Man reißt ihm die Sachen ja direkt aus den Händen, hauptsächlich die alten Schriften. Wie haben wir das Geld herbeigesehnt, und nun es da ist … Ach, Karola, wohin soll das wohl führen?«

»Zum guten Ende«, meinte die junge Frau zuversichtlich. »Wenn doch Gun hier wäre und den Jammer mit ansehen könnte, ihr würde sich das Herz umdrehen bei eurer Not.«

»Und wenn sie Arvid die Kränkung nicht verzeiht?« fragte Ermenia bang.

»Das täte sie schon um euretwillen, die sie von ganzem Herzen liebt.«

Weiter konnte sie nicht sprechen, da Arvid eintrat, dessen Anblick die junge Frau überraschte. Sie hatte nämlich einen abgehetzten, vergrämten Mann zu sehen erwartet, doch an dem da war alles hart, straff, wie energiegeladen. Nur in den Augen lag etwas, das Karola erschütterte, das sich auch durch seine eiserne Beherrschung nicht verbergen ließ. Der Mann litt, das war unverkennbar.

»Oha, das Karlchen!« begrüßte er sie mit leichtem Spott. »Ausgeflittert?«

»Ist doch nur gut, daß du spotten kannst«, schlug sie absichtlich einen munteren Ton an. »Ich war nicht wenig erstaunt, hier alles so aufgewühlt zu finden. Mußte das ausgerechnet jetzt sein, wo in der Landwirtschaft die Arbeit drängt?«

»Ach, sieh mal an, schon so ganz zünftig, die Landfrau«, musterte er sie lächelnd, während er die Pfeife stopfte. Die Hand zitterte dabei, und die Zähne bissen sich augenblicklang zusammen wie in tiefstem Schmerz. Dann war er wieder ganz gelassen, doch Karola ließ sich nicht mehr täuschen.

»Jawohl, Landfrau«, betonte sie. »Das kann nämlich auch eine Städterin werden, mein skeptischer Herr Baron. Nun erzähl mal, was du noch so alles auf den Kopf zu stellen gedenkst.«

»Bis alles so ist, wie es sich gehört.«

»Und du dich dabei überarbeitest.«

»Ich – warum? Ich habe mit der Renovierung kaum etwas zu tun, dafür ist der Baumeister da.«

»Na schön, ich will es dir glauben. Jetzt muß ich aber gehen, damit mein Herr Gemahl nicht ungeduldig wird. Wenn es euch hier zu ungemütlich ist, flüchtet in unser trautes Heim, wo man nicht über Zementkübel, Bausteine, Leitern, Tapetenrollen, Farbe und so weiter stolpert«, nahm sie lachend Abschied. »Und wenn hier alles im neuen Glanz erstrahlt, dann feiern wir fröhlichen Einstand.«

*

Allein bis es soweit war, sollten noch Wochen vergehen, in denen auf dem Hörgishof noch viel geschafft werden mußte, doch dann war alles blitzblank. Stallungen und Wirtschaftsgebäude glänzten im neuen Anstrich, der Hof war aufgeräumt wie eine Putzstube. Das Herrenhaus strahlte in schneeiger Weiße und grünem Lack, der neue Kupferbelag auf dem runden Turm blitzte.

Ebenso blitzte auch im Innern des Hauses alles, die Räume, die noch zum Teil leer gestanden hatten, waren sehr geschmackvoll möbliert. Die »Rumpelkammer« gab es nicht mehr, daraus war ein entzückender Rokokosalon erstanden – elegant, kapriziös, verspielt. Und was da auf der reizenden Kommode stand, war die Truhe, die so böse Schicksal gespielt hatte.

Den schäbigen Treppenläufer gab’s nicht mehr, man hatte ihn durch einen dicken, flauschigen ersetzt. Ein Stubenmädchen war eingestellt, das mit dem Diener Franz die Räume in Ordnung hielt, Grete stand nur noch allein Sephchen zur Verfügung.

Den Park hatte man nur soweit zurechtgestutzt, daß seine Eigenart nicht verschandelt war. Der Springbrunnen auf dem Rasen sprühte wieder, ebenso ein anderer, den man vor dem Portal des Herrenhauses auf einem weiten Rasenrund angelegt hatte. Der Hörgishof war neu erstanden, dafür gähnte in der Bibliothek, wo die alten, sehr wertvollen Schriften in Stapeln gelegen hatten, eine Leere.

Und wo war Gun, für die der verschlossene, wortkarge Mann das alles geschaffen, sich nicht Rast noch Ruhe gegönnt hatte, bis alles so war, wie er es für die junge Herrin wünschte? Die schwirrte noch immer in der Weltgeschichte herum, bis …

Ja, bis das Schicksal dann endlich Einhalt gebot. Christine, die zuerst alles begeistert mitgemacht hatte, wurde müde und unlustig, so daß der besorgte Gatte einen Arzt konsultierte. Und was der ihm schmunzelnd verriet, ließ ihn vor Freude fast aus dem Häuschen geraten. So fand denn die Herumtreiberei ein jähes Ende. Man kehrte in die Heimat zurück, wo Christine ihr Kindchen in aller Ruhe erwarten sollte.

Diese frohe Botschaft brachte Egon, der auf seinen Reisen einige Male in Chile gewesen war, in das »zuckrige Haus«, wie er es zu nennen pflegte. Das gab ein freudiges Hallo, zumal sich auch da der Storch bereits angemeldet hatte.

Und am nächsten Tag stand Karola Gun gegenüber, die sie jubelnd empfing.

»Karlchen, endlich sehe ich dich wieder.«

»Deshalb brauchst du mir nicht gleich den Hals abzureißen«, machte die junge Frau sich lachend aus der würgenden Umschlingung frei. »Erzähl mal, du Irrwisch, wo du überall herumgegeistert bist.«

Und Gudrun erzählte, erzählte. Wie wunderbar es gewesen wäre, wie fabelhaft, wie einzigartig, wie amüsant. Und Karola ließ sie reden, sie dabei forschend betrachtend. Dabei entging ihr das Fahrige nicht, das nervöse Zucken um Augen und Mund. Auch nicht das Überschwängliche, das dem Mädchen sonst so gar nicht lag.

»Kind, du redest mir zuviel«, unterbrach sie endlich den Wortschwall. »Meines Erachtens war das, was du so wortreich schildertest, nichts weiter als ein Herumgehetze. Glücklich kannst du dich doch unmöglich dabei gefühlt haben.«

»Gewiß war ich glücklich. Wie kommst du überhaupt darauf, daß ich nicht glücklich war. Bei so einem Leben muß man doch glücklich sein. Ich habe – ich bin …«

»Ein dummes Ding, das sich selbst blauen Dunst vormacht. Aber bei mir gelingt dir das nicht, dafür kenne ich dich zu gut.

Gun, hör mich an, ein Mann leidet wahnsinnig unter der Kränkung, die er dir mit in Erregung hervorgestoßenen Worten antat. Wenn du ihm nicht verzeihst, geht er daran kaputt.«

»Meinen Segen hat er.«

»Gudrun, schäm dich mal! Es ist doch nur der Trotz, der aus dir spricht.«

»Trotz – meinst du? Ich würde es eher verletzten Stolz nennen.«

»Na ja, gewiß. Aber schau mal, Gun, der Mann leidet ja nicht allein, sondern seine Lieben mit ihm. Es gibt jetzt keine traute Harmonie mehr auf dem Hörgishof, trotzdem …«

Sie erzählte nun dem aufhorchenden Mädchen alles bis ins kleinste und je länger sie sprach, um so größere Bestürzung malte sich auf dem Mädchengesicht wider. Und als gar noch die Augen in Tränen schwammen, da wußte Karola, daß ihre Worte in ein mitfühlendes Herz gefallen waren.

»So haben die Menschen nun alles, was sie ersehnten«, führte die junge Frau weiter aus. »Der Hörgishof ist ein Mustergut, das Herrenhaus das vornehmste, was man sich denken kann. Und doch kann man nicht glücklich sein, solange du fehlst, Gun. Also laß alle kleinlichen Bedenken und gib dem Mann Gelegenheit, dich um Verzeihung zu bitten.«

»Nein, Karola, das kann ich nicht, ich kann es wirklich nicht.«

»Doch, Gudrun, du kannst es, wenn du nur einige Herzschläge lang deinen Stolz zurückstellst. Um so größer wird dann die Belohnung für deine Überwindung sein.«

»Aber ich kann doch nicht – es geht doch nicht. Wohin soll das wohl führen?«

»Zu deinem Glück, Gun. Denn du kannst ja nur mit dem Mann glücklich sein, den du mit jeder Faser deines Herzens liebst. Soweit kenne ich dich doch. Und er? Wenn ein Mann seiner Art liebt, da vergibt er sich ganz. Er wird dich in seine Liebe einhüllen wie in einen weichen Mantel, und die Seinen werden mit ihm glücklich sein.«

»Ja, aber ich kann doch nicht zu ihm gehen.«

»Sollst du auch nicht«, unterbrach Karola sie rasch. »Du hast weiter nichts zu tun, als mit nach ›Zuckerchen‹ zu kommen, alles andere überlaß mir. Gilt’s?«

»Ja«, senkte sich das gleißende Köpfchen. »Anders gäbe mein Gewissen ja doch keine Ruhe.«

»Na, also!« lachte Karola fröhlich. »Anders wärst du auch nicht unsere warmherzige Gun. Was man tun will, soll man gleich tun. Daher komm gleich mit mir. Umzuziehen brauchst du dich erst nicht, siehst sowieso aus wie ein bezauberndes Bild.«

So kam es denn, daß eine sehr zufriedene Karola mit einer hangenden und bangenden Gudrun zu Hause anlangte, diese sozusagen in ein Zimmer sperrte und dann telefonisch den Baron von Hörgisholm zu sich rief. Schon zehn Minuten später war er da.

»Ich bin zur Stelle, Karlchen. Was soll ich denn, etwa euern ersten Ehestreit schlichten?«

»Dafür suche ich mir auch gerade dich aus, du Spötter. Es ist ganz etwas anderes, was du in Ordnung bringen sollst. Geh mal da schon rein, ich komme nach.«

Kurzerhand schob sie ihn über die Schwelle, schloß mit spitzbübischem Lächeln hinter sich die Tür, und der Mann stand da wie erstarrt. Denn was ihm aus bangen Augen entgegensah …

»Gun«, stammelte der Mann überwältigt. »Gun …«

In seinem Gesicht zuckte es, die Augen wurden naß. Und das war der weichherzigen Gun denn doch zuviel. Alles war vergessen, nur die Liebe war da. Und als Arvid wie unter einem Zwang ganz langsam die Arme hob, da schmiegte sie sich besiegt hinein. Vier Lippen fanden sich immer wieder, zwei strahlende Augenpaare tauchten ineinander.

Was sollten da noch Worte? Die gab’s ja doch nicht, um beschreiben zu können, wie heiß die Herzen füreinander schlugen.

»Schönstes du«, murmelte der Mann, sein Gesicht in die gleißende Lockenpracht drückend. »Endlich habe ich dich. Wie habe ich auf dich gewartet – gewartet. Hast du denn mein heißes Sehnen gar nicht gespürt?«

»Ja, Arvid«, bekannte sie leise. »Aber du hast mir doch so weh getan.«

»Und mir wohl am meisten«, würgte er hervor. »Kannst du mir überhaupt meine Eselei verzeihen?«

»Wäre ich sonst hier?«

»Nein, du nicht, mein stolzes Mädchen. Ich verdiene es ja gar nicht, was ich hier halte. All die Schönheit, das goldige Lachen und das weiche Herzchen. Ach, Gun, wie liebe ich dich doch so sehr!«

Er preßte die Augen auf ihre Hand, die von Tränen naß wurde. Dann richtete er sich auf und lachte verlegen.

»Verzeih, aber das kann auch den stärksten Mann umschmeißen. Vor einer Stunde noch das Herz voll Sehnsucht gefüllt bis zum Rande – und nun diese Glückseligkeit. Es ist fast zuviel des Glücks.«

»Nun fang hier bitte nicht an zu unken«, schlug sie absichtlich einen burschikosen Ton an. »Wir werden das Glück schon halten, nun wir es so fest beim Schopf gepackt haben.«

Es gab nun noch manches zu sagen, manches zu erklären, darüber vergaßen sie Zeit und Stunde. Bis eine Stimme sie darauf aufmerksam machte, daß es auch noch andere Menschen auf der Welt gab. Zum Beispiel Karola, die ihr lachendes Gesicht durch den Türspalt steckte.

»Nun kehrt mal gefälligst aus eurem siebenten Himmel auf die Erde zurück. Hurtig, wir werden auf dem Hörgishof erwartet, wo mein Telefonanruf alle in helle Aufregung versetzte.«

»Karlchen, wie soll ich dir danken«, streckte der Mann ihr beide Hände entgegen. »Denn daß Gun es mir so einfach machte, ist doch wahrscheinlich dein Werk.«

»Na, so ein bißchen schon«, gab sie zu. »Aber wenn sie dich nicht so lieb hätte, würde all mein Reden nichts genützt haben. Nun laßt euch von Herzen alles Glück der Erde wünschen.«

Dergleichen taten auch Hanna, Detlef und Enno, der vor Aufregung zappelte. Wenig später langte man auf dem Hörgishof an, wo dem Brautpaar bald die Rippen schmerzten von all den Umarmungen, die in der freudigen Erregung nicht gerade sanft ausfielen.

Denn sie waren alle da, selbst Stella, die sich zu Hause eingefunden hatte, weil die Sehnsucht sie trieb, wie sie pathetisch erklärte. Zwar glaubte man ihr das nicht, aber es war ja auch nicht so wichtig.

Wichtig war das Brautpaar, dem das Glück nur so aus den Augen strahlte. Erdmuthe konnte sich kaum sattsehen an ihrem holden Schwiegertöchterlein, dem das traute Mutti so selbstverständlich von den Lippen kam. Ermenia weinte ein bißchen, und Rupert ließ sein Monokel nur so blitzen.

Onkel Theodor, der nach wie vor ahnungslos war, was er mit seinen Worten damals angerichtet hatte, meinte schmunzelnd:

»Viel früher hättest du auch nicht zu erscheinen brauchen, Prinzeßchen. Dann wäre deine Residenz noch nicht ganz so gewesen, wie dein Prinz sie für dich wünschte. Doch jetzt ist es geschafft, sieh dich in deinem Reich um.«

Die nächste Stunde sollte Gudrun aus dem Staunen nicht herauskommen. Was gab es aber auch alles zu bewundern.

Als sie das Rokokozimmer betrat, war sie zuerst einmal sprachlos vor Entzücken. Unsicher sah sie zu dem Mann auf, der ihr ins Ohr raunte:

»Für meine Schäferin, eigens von ihrem Schäfer für ein Schäferstündchen geschaffen. Auch der Kasten da ist Eigentum der jüngsten und schönsten Herrin derer von Hörgisholm.«

»Ach, Arvid, wie soll ich dir für die Freude nur danken!«

»Kannst du«, zeigte er auf seinen Mund. »Ein Küßchen, süße Schäferin, ist tausendfacher Dank.«

»Komm bloß hier raus«, lachte sie hellauf. »Sonst wirst du noch zum girrenden Seladon. Und soviel ich weiß, stammst du doch von den Raubrittern ab.«

Dieses goldige Lachen hörte man im Wohngemach, und die darin zu Hause waren, hatten denselben Gedanken: Sie hat uns wieder die Sonne ins Haus gebracht.

Als man dann später bei einem Glase Wein gemütlich beisammensaß, begann Stella sogleich von dem Hochzeitsfest zu sprechen, das ganz etwas Besonderes sein müßte. Schnitt jedoch ein saures Gesicht, als Arvid sagte:

»Leider kann daraus nichts werden, verehrte Schwiegermama.«

»Mein Gott, lassen Sie doch diese fürchterliche Anrede«, preßte sie die Fingerspitzen nervös gegen die Schläfen. »Ich bin ja kaum älter als Sie.«

Dieses »kaum« waren immerhin zehn Jahre; denn der Mann zählte knapp dreißig. So hatte man denn alle Mühe, das amüsierte Lachen zu verbeißen. Hauptsächlich Arvid, der ja weitersprechen mußte.

»Verzeihung, das habe ich nicht bedacht. Also die Tradition verlangt es, daß einem Hörgisholm die Frau in der Schloßkapelle angetraut wird.«

»Aber das geht doch nicht. Zwei so schöne Menschen wie ihr beid …«

»Brauchen sich noch lange nicht zur Schau zu stellen«, warf Felix pomadig ein, der diese Schwägerin bis in den Tod nicht leiden konnte. Sie sah ihn böse an, hielt es jedoch für ratsam, nichts zu erwidern, weil sie genau wußte, daß sie ihm nicht gewachsen war. Also setzte sie ein Gesicht auf wie eine gekränkte Königin, was die andern jedoch nicht weiter störte. Man mußte diese Frau eben so nehmen, wie sie war, dann kam man mit ihr am besten aus.

Zu ihrer eigenen Überraschung gefiel ihr die Hochzeit, die vier Wochen später stattfand, sogar, die vornehm gehalten war. Es lag darüber ein besonderer Hauch, der die hypermoderne Stella sehr beeindruckte. Und langsam fing sie an zu begreifen, daß man es gar nicht nötig hatte, vornehm zu tun, wenn man es von Natur aus war.

Die Tafel war wunderbar geschmückt, ein Werk von Franz, der mit dem Diener der Honnecks servierte. Die Bedienung reichte vollkommen aus, da ja nur die Sippe zugegen war, also mit dem kleinen Enno vierzehn Personen. Zuerst ging es noch ein wenig feierlich zu, doch als Rupert die Hochzeitszeitung vorlas, die er selber verbrochen hatte, da lachte man Tränen. Sie waren aber auch zu köstlich, die Knüppelreime.

Sie begannen mit der Silvesternacht, als der Baron sich diesen nichtsnutzigen Flirt ins Haus holte und damit sein Schicksal besiegelt war. Brachten allerlei drollige Dinge, die Gudrun sich geleistet hatte, und schlossen mit den Worten:

Nun hat er seinen Finderlohn

sich endlich einkassiert

und muß nun auf der Hut stets sein,

nicht werden drangsaliert.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die stürmische Heiterkeit gelegt hatte und man dem »Dichter« die Ovation bringen konnte, die er würdig entgegennahm.

So vergnügt wie dieses junge Paar war wohl selten eins auf die Hochzeitsreise gegangen – und genauso zurückgekehrt in den Schoß der Familie, wo man manchmal die bange Frage stellte: Wohin soll das wohl führen?

»Ins Glück«, gab das Schicksal zuletzt die Antwort darauf. »Ich stelle euch da hinein, nun seht zu, daß ihr es euch erhaltet. Tragt gegenseitig zu eurem Glück bei, dann wird es bei euch bleiben.«

Und es blieb, da jeder nun wirklich dazu beitrug, es nicht zu vertreiben. Denn glücklich werden ist noch nicht einmal so schwer, aber glücklich bleiben ist ein Meisterstück.

Leni Behrendt Staffel 3 – Liebesroman

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