Читать книгу Leni Behrendt Staffel 3 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 7

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Es war, als wolle der Sommer sich noch schier verschwenden, bevor er sein Regiment an den Herbst abgab, der kalendermäßig nach einer Woche seinen Einzug halten sollte. Im Park blühte es üppig auf Beeten und Sträuchern, und die Bäume zeigten noch kein buntes Blatt. Knistertrocken und ährenschwer hatten die Landwirte das Korn bergen können, und auch die Heuernte war so gut gewesen wie schon seit Jahren nicht mehr.

Jetzt konnte man an die Hackfrüchte herangehen, die gleichfalls prächtig gediehen waren. Das Obst, in der Sonne gar herrlich gereift, wartete nur darauf, von emsigen Händen gepflückt zu werden – also gab es in der Landwirtschaft immer noch alle Hände voll zu tun, aber man war auch mit Lust und Liebe dabei, zumal keine längere Regenperiode die mühsame Erntearbeit erschwerte. Es hatte immer gerade nur so viel geregnet, um die lechzende Natur mit köstlichem Naß zu erquicken.

Daher konnte man mit Fug und Recht von einem gottgesegneten Jahr sprechen, wie es soeben die Dame tat, die einer anderen am Doppelschreibtisch gegenübersaß.

Man sah es dem Möbel an, daß ernstlich an ihm gearbeitet wurde, denn es häuften sich auf ihm Kontobücher, Akten, Listen und allerlei lose Papiere.

Es war gar nicht so einfach, sich da zurechtzufinden, doch die Dame, die das alles zu bewältigen hatte, konnte es mit sicherem Griff.

Jetzt hob sie den Kopf von einem mächtigen Journal und sah ihr Gegenüber mit frohen Augen an.

»Tante Hermine, ich kann dir die freudige Mitteilung machen, daß ich bereits ein ganz nettes Haben verbuchen durfte. Noch einige so gottgesegnete Jahre – und wir können Geld scheffeln.«

»Von wegen scheffeln«, lachte die andere bitter auf. »Daß es nicht dazu kommt, dafür wird schon der da sorgen…«

Damit reichte sie ein Schreiben hinüber, das Brunhild von Reichwart betroffen las. Das Gesicht mit den blühenden Farben erblaßte.

»Dann allerdings! Ist der Junge denn ganz von Gott verlassen?«

»Nein, aber von der Leidenschaft besessen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, ihn diesen gierigen Klauen zu entreißen.«

»Was gedenkst du zu tun?«

»Mit einem Donnerwetter dazwischenzufahren.«

»Tante Hermine, man darf Trutz nicht zu hart anpacken – muß ihn mehr als Kranken behandeln.«

»Na, das fehlte gerade noch!« brauste die alte Dame auf, die mit ihren siebzig Jahren noch so manchen Jungen in die Tasche steckte. Und dabei hatte sie ein sehr schweres Leben hinter sich, die Baronin Swindbrecht auf Adl. Brechten. Mit achtzehn Jahren war sie dahin verheiratet worden, sozusagen frisch aus dem Pensionat importiert – verwöhnt, unselbständig und voll schwärmerischer Jungmädchenideale, die der junge Gatte dann aber bald zerbrach. Da er über eine blendende Erscheinung verfügte, hatte er besonders viel Chancen bei den Frauen und war daher immer in irgendeine Amour verstrickt. Und da so was ja recht kostspielig ist, fiel es dem Schwerenöter gar nicht schwer, so peu á peu die reiche Mitgift der ihm aufgedrängten Frau zu vergeuden.

Er blieb denn auch im Duell und ließ eine fünfundzwanzigjährige Witwe, ein sechsjähriges Söhnchen und ein arg verschuldetes Rittergut zurück.

Nun stand die junge Hermine da – weltfremd, hilflos, am Leben verzweifelnd. Und wer weiß, ob sie mit ihrem Jungen nicht Ruhe in dem tiefen Parkweiher gesucht, wenn sich nicht ein Großonkel erbarmend ihrer angenommen hätte. Er war zwar ein Rauhbein, aber ein vorzüglicher Landwirt und hatte außerdem noch Geld, womit er das verlotterte Brechten zu sanieren begann. Zwar schien das zuerst ein aussichtsloses Beginnen, aber mit Energie und eisernem Fleiß ging es denn doch allmählich bergan. Allerdings mußte die junge Herrin auch ihr Teil dazu beitragen, wurde von dem Onkel in eine harte Schule genommen. Als sie protestieren wollte, schnauzte er sie an:

»Du dummes Ding, glaubst du etwa, es macht mir Spaß, hier meine Kräfte und mein Geld zu vergeuden, damit du, wenn ich die Augen schließe, dir doch wieder nicht zu helfen weißt? Ich bin nämlich jetzt über Siebzig und will, wenn ich nächstens abgerufen werde, dich als tüchtige Landwirtin zurücklassen. Reichtümer wirst du hier zwar nicht erwerben, aber du kannst dir und deinem Sohn durch Umsicht und zähen Fleiß die Heimat erhalten!«

Zuerst hatte Hermine bei einer solchen Strafpredigt vor Angst gezittert. Doch als sie den Onkel erst näher kennenlernte und somit das goldtreue Herz des Rauhbeins erkannte, da tat sie alles, was von ihr verlangt wurde. Und als dieser Großonkel nach zehn Jahren starb, hatte er aus der einst so hilflosen jungen Baronin eine tüchtige Landwirtin gemacht, die einen Besitz ihr eigen nannte, auf dem zu wirtschaften es sich lohnte.

Ihre Hoffnung, daß sie an dem Sohn einmal eine Hilfe haben würde, erfüllte sich leider nicht, er war und blieb ein Denker und Träumer. Dazu heiratete er mit zweiundzwanzig Jahren ein achtzehnjähriges überzartes Geschöpfchen, das nach der schweren Geburt eines Knaben die träumerischen Augen für immer schloß.

Darüber kam der Gatte nicht hinweg. Er verfiel der Schwermut, und da er ohnehin von schwächlicher Konstitution war, überstand er eine heftige Lungenentzündung nicht und folgte somit nach zwei Jahren der geliebten Frau.

Das war für Hermine der herbste Schlag, den ihr das ohnehin schon rauhe Leben brachte, doch sie gab sich dem heißen Schmerz nicht hin, sondern biß die Zähne zusammen und schuftete weiter wie besessen – und zwar für den kleinen Enkel, der so ganz und gar seinem Großvater nachschlug, äußerlich jedenfalls, ob auch charakterlich, das mußte sich erst im Laufe der Jahre herausstellen.

Hermine segnete immer noch den Tag, an dem sie eine verwaiste Nichte ins Haus nahm, die ihr dann auch bald eine tüchtige, unentbehrliche Helferin wurde – in jeder Beziehung. Und diese Nichte, mittlerweile zur stattlichen Vierzigerin herangereift, betrachtete die verehrte Tante jetzt angsterfüllt – und schon kam es, was erstere befürchtete.

»Geh, mein Kind, und schick mir den Bengel her«, sprach der schmale Altfrauenmund verbissen – und da wußte Brunhild, daß es in dieser Stunde hart auf hart gehen würde.

Fünf Minuten später stand dann der junge Mann vor der alten Dame, deren hageres Antlitz dem eines Falken glich, zumal dann, wenn die Augen so scharf und hart blickten – genauso wie jetzt.

Er war eine blendende Erscheinung, der junge Baron von Swindbrecht – nur war das Gesicht zu weich für einen Mann. Daher kam es wohl, daß er mit seinen siebenundzwanzig Jahren immer noch wie ein Jüngling wirkte. Wie das sprühende Leben stand er da, die blitzblauen Augen auf die Großmutter geheftet, die ihm jetzt das Briefblatt reichte.

»Da, lies – und dann laß uns ergründen, ob du überhaupt noch deiner Sinne Meister bist.«

Die nervige Hand zitterte, die das gelesene Blatt Sekunden später auf den Tisch legte, das Gesicht war tief erblaßt. Doch furchtlos hielten die blauen Augen dem falkenscharfen Blick stand. Trotz schwang in der Stimme mit, die nun sprach:

»Großmama, willst du das nicht meine eigene Angelegenheit sein lassen? Der Juwelier braucht keine Angst zu haben. Ich werde ihm den Schmuck nicht schuldig bleiben.«

»Und wovon willst du den bezahlen? Etwa in Raten von deinem Taschengeld? Dann wirst du wahrscheinlich die letzte Rate als Opa entrichten, denn wie der Juwelier schreibt, handelt es sich um zehntausend Mark. Wahrscheinlich eine Lappalie für dich – aber viel Geld für mich.«

»Eine unerhörte Indiskretion von dem Mann, wegen der Bestellung des Schmucks an dich zu schreiben!« brauste der Enkel auf. »Ich werde…«

»Du wirst gar nichts!« unterbrach ihn die Großmutter kalt. »Der Mann tat gut, sich an mich zu wenden, weil er unsere Verhältnisse kennt und daher weiß, daß du von mir abhängig bist. Wem ist der Schmuck überhaupt zugedacht?«

»Meiner Braut als Verlobungsgeschenk.«

»Aha – also sind dir doch die Sinne verwirrt.«

»Großmama, ich verbitte mir das!«

»Und ich verbitte mir noch viel mehr!« wurde ihre Stimme jetzt scharf und schneidend. »Solltest du nämlich wagen, mir dieses Frauenzimmer…«

»Großmama, mäßige dich!«

»… ins Haus zu bringen«, sprach die glasharte Stimme unbeirrt weiter, »so laß ich es hinauspeitschen – so wahr ich Hermine Swindbrecht heiße. Und nun werde ich dir mal etwas sagen, mein lieber Trutz, aber achte gut auf meine Worte, sie sind mir bitter ernst. Also: Du kennst die Geschichte unseres Hauses und weißt daher, daß ich mit fünfundzwanzig Jahren einen Besitz übernahm, der kaum noch einen Heller wert war. Wenn Großonkel Otto sich da nicht meiner erbarmt und mir mit Geld und energischen Vorhaltungen das Rückgrat gestärkt hätte, wärest du überhaupt gar nicht geboren, weil dein Vater mit mir zusammen im tiefen, verschwiegenen Parkweiher versunken wäre – wovor uns jedoch eine feste und gütige Hand noch im letzten Augenblick bewahrte, aber das alles ist dir ja aus Erzählungen bekannt, auch daß ich tagaus, tagein wie ein Kuli geschuftet habe – ganze fünfundvierzig Jahre. Und es hat sich gelohnt – denn Brechten steht heute, wenn auch nicht direkt glänzend, so doch immerhin ganz gut da.

Und daher werde ich mich mit jedem Blutstropfen dagegen wehren, daß du in deiner sinnlosen Leidenschaft mit einem minderwertigen Weib das vergeudest, was ich so mühsam aufbaute.

Du kannst mir wahrlich nicht den Vorwurf machen, daß ich hart mit dir verfahren bin. Du hast eine frohe, sorglose Kindheit gehabt. Hast dann studiert, hinterher Reisen gemacht und dein Leben genossen, ohne dabei mit der Mark rechnen zu müssen. Ich habe auch beide Augen zugedrückt bei deinen jeweiligen Amouren – aber wenn du dich mit so einem Techtelmechtel verlobst, dann ist es Zeit, einen Riegel vorzuschieben, oder besser gesagt: Dein vergiftetes Herz zu entgiften – und das kannst du in einer Ehe mit Ragnilt Leinsen – diesem unberührten, taufrischen Geschöpf. Sie als Herrin von Brechten zu wissen, ist schon lange mein Wunsch.«

»Aber nicht der meine!« brauste der junge Mann auf. »Ich will eine Frau haben – aber kein sentimentales Gänschen!«

»Daher ist dir eine Frau lieber, die zehn Jahre älter ist als du.«

»Großmama, wollen wir nicht das heikle Thema lassen?« fragte Trutz nun wieder beherrscht. »Spare deine Worte, sie sind nur vergeudet. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich das gewissenlos verschleudern werde, was du hier mühsam aufbautest. Du weißt ja, daß es schon lange mein Wunsch ist, zu Onkel Arnold nach Kanada zu gehen und ich deswegen mit ihm jahrelang in regem Briefwechsel stehe. Vor einigen Tagen erreichte mich die Nachricht, daß dieser prächtige Onkel mir eine größere Summe überweisen wird, wovon ich gewiß auch das Verlobungsgeschenk meiner geliebten Braut bezahlen kann.«

»Wie schön, wenn es einen Onkel gibt, den man anbetteln kann«, meinte die alte Dame sehr ruhig, sehr eisig. »Man hat es natürlich satt, mit siebenundzwanzig Jahren immer noch von einer verschrobenen, verkalkten, siebzigjährigen Großmutter abzuhängen. Selbst ist der Mann – oha –!«

»Großmama, deine Ironie ist fürchterlich!« brauste der Enkel erneut auf. »Du siehst mich wahrscheinlich immer noch als Hosenmatz und vergißt darüber, daß ich siebenundzwanzig Jahre zähle und daher das Recht beanspruche, endlich selb­ständig zu werden. Und zu dieser Selbständigkeit wird mir Onkel Arnold verhelfen.«

»Das wird er wahrscheinlich tun«, kam die Antwort trocken. »Aber mit dem Leben, das du bisher als verwöhntes Herrensöhnchen führtest, dürfte es wohl zu Ende sein. Denn ein Mensch, der sich in so harter Fron eine Existenz aufbauen mußte, wie es bei Arnold der Fall ist, der hat bestimmt kein Verständnis für ein Salonbürschchen – schon gar nicht, wenn es mit einer abgetakelten Halbweltdame als Eheweib anrückt.«

»Halt ein!« unterbrach der Enkel sie flammenden Blickes. »Wie kann man mit siebzig Jahren nur noch so boshaft sein. Trotzdem sage ich dir Dank für alles.«

»Bitte sehr«, tat Hermine nonchalant ab. »Aber sei dem, wie es wolle, auf den Zehntausendmarkschmuck wird deine Holde dennoch verzichten müssen.«

Da knallte die Tür hinter dem jungen Mann zu, und die vom Leben enttäuschte Hermine lachte bitter auf. Das waren die Früchte, die sie nach so mühsamer Saat ernten durfte!

*

Zehn Minuten später trat Brunhild ein, mit bangem Blick die alte Dame musternd, die so aufrecht wie eh und je in dem hochlehnigen Polsterstuhl saß. Zwar war das hagere Antlitz blasser als sonst, der schmale Mund zeigte einen verbissenen Zug, doch die falkenscharfen Augen waren klar und ungetrübt.

Und wieder einmal bewunderte Brunhild von Reichwart diese Frau, die alle Schicksalsschläge so selbstverständlich hinnahm, sich unter ihnen noch nicht einmal duckte. Die unbeirrt weiter schuftete, obwohl sie sich selbst sagen mußte, daß sie dabei nur Wasser mit Sieben schöpfte, denn der Enkel, für den das alles geschah, schien nicht nur äußerlich seinem Großvater nachzuschlagen, sondern auch, Gott sei’s geklagt, charakterlich. Sonst hätte er sich in einer Amour bestimmt nicht so rettungslos verlieren können.

»Nun, Tantchen, wie war’s?« forschte Brunhild bang, und das Herz tat ihr weh bei dem verbitterten Auflachen der alten Dame.

»Es war noch ärger, als ich erwartete, denn der blindverliebte Narr hat sich mit der Kokotte bereits verlobt, will sie natürlich zu seiner Frau machen und dann mit ihr zu Onkel Arnold nach Kanada auswandern.«

»Um Gottes willen, Tante Hermine, das darfst du doch unmöglich dulden!«

»Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, da mein lieber Enkel sich heute hochtrabend von mir lossagte, indem er mir alles hohnlachend vor die Füße warf, was ich ihm bisher bot. Er erwartet nämlich Geld von Arnold, von dem er auch das Verlobungsgeschenk für seine Braut bezahlen will. Ein Trugschluß, der sich ihm bald offenbaren wird, denn soweit ich Arnold kenne, drückt er den Daumen aufs Portemonnaie und wird daher dem ihm noch unbekannten Neffen erst einmal die Flugkarte und ein Taschengeld schicken, wogegen ich gewiß nichts einzuwenden habe. Es kann diesem Porzellanjüngling bestimmt nur guttun, wenn er in eine feste, rauhe Männerhand kommt, denn die meine war zu weich und zart, wie ich jetzt leider erkennen muß. Also mag der aufsässige Bengel nur auswandern – und zwar ohne diese obskure Leila, die dem blindverliebten Narren heute wahrscheinlich die Augen öffnen wird mit grausamer Deutlichkeit. Es wird zum Bruch kommen, weil dieser Vamp den Schmuck nicht bekommen kann, nach dem er seine gierigen Krallen ausstreckt, und weil Trutz nach der heutigen Unterredung mit mir nolens volens dazu gezwungen ist, seine Verhältnisse klarzulegen. Dann kriegt er hohnlachend den Abschied und wird hier brav zu Kreuze kriechen.«

Was denn auch tatsächlich geschah. Das heißt, zu Kreuze kroch der junge Mann gerade nicht, sondern erklärte schroff und verbissen, daß er bereit wäre, Ragnilt Leinsen zu heiraten. Nun, ob so oder so – die Großmutter hatte erreicht, was sie wollte.

Am liebsten hätte sie ja ihrem einzigen Enkel, an dem ihr ganzes Herz hing, tröstend über das zerwühlte Gesicht gestreichelt, hütete sich jedoch davor, ihre Weichheit zu zeigen. Sie wußte auch, daß sie jetzt erst jedes Wort auf die Waage legen mußte, bevor sie es aussprach. Daher sagte sie behutsam:

»Es freut mich, Trutz, daß du dich zu der Hochzeit entschlossen hast. Doch bis es soweit ist, vergehen immerhin Wochen, und ich mache dir den Vorschlag, solange auf Reisen zu gehen. Alles andere leite ich hier in die Wege, es genügt, wenn du einen Tag vor der Hochzeit zurückkehrst. Aber daß es geschieht, darauf mußt du mir schon dein Wort geben.«

»Das hast du, Großmama. Darf ich nun gehen?«

»Ja. Pack deine Koffer, das nötige Geld laß ich dir durch Kilian zugehen – es wird bestimmt nicht knapp bemessen sein. Über deine jeweilige Anschrift halte mich bitte auf dem laufenden, damit ich dich jederzeit erreichen kann.

Und nun geh mit Gott, mein Junge. Glaube mir, was geschieht, ist nur zu deinem Besten, wenn du das jetzt auch noch nicht einsehen kannst und willst.«

Nun streichelte sie doch zärtlich über das Gesicht, das sich zum Abschied über ihre Hand neigte. Dann ging der junge Baron schweigend davon und fuhr eine Stunde später in seinem Wagen ab, um bei anderen Frauen die eine zu vergessen, die ihm heute hohnlachend den Abschied gab.

*

Schon Anfang Oktober fand in Brechten eine Hochzeit statt, die man glänzend bezeichnen kann. So sparsam die Baronin Swindbrecht sonst auch war, heute jedoch ließ sie die Mark rollen, wie man so sagt.

Und warum auch nicht? Die Mitgift war hoch, welche die Tochter des reichen Kaufherrn Leinsen mit in die Ehe brachte – und somit allen pekuniären Schwierigkeiten auf Brechten ein Ende setzte.

Ein zauberhaft süßes Geschöpfchen – urteilte man, als die Braut so selig lächelnd zum Altar schritt. Noch so rührend jung, noch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Die träumerischen Augen blickten so schwärmerisch zu dem Liebsten empor, als stamme das Mägdlein noch aus der Zeit von Chamissos »Frauenliebe – und Leben«. Ungefähr so: Seit ich ihn gesehen, glaub’ ich blind zu sein.

Die weltfremde, wohlbehütete Ragnilt Leinsen las tatsächlich noch derartige Gedichte, und der Held ihrer Träume war Trutz Swindbrecht. Daher hatte sie auch jubelnd zugesagt, als der Vater sie fragte, ob sie des Barons Frau werden wolle.

»Aber, Papa, wie kannst du da noch fragen! Mit tausend Freuden will ich das. Ich liebe Trutz und komme durch eine Heirat mit ihm außerdem noch nach Brechten, wo ich in den Ferien so gern weilte und jedesmal bittere Tränen vergoß, wenn ich von ihm scheiden und ins Pensionat zurück mußte. Brechten als Heimat zu haben und Trutz als Gatten dazu, das wäre beinahe zuviel des Glücks.«

»Na schön«, räusperte sich der Mann, der nie so recht gewußt hatte, was er mit der Tochter beginnen sollte. Und als sie gar noch mit zehn Jahren die Mutter verlor, gab er die Kleine in ein Pensionat und war der Baronin Hermine dankbar, daß sie ihr Patenkind während der Ferien in Brechten stets um sich haben wollte.

Und nun sollte Ragnilt dort sogar eine Heimat finden, eine Lösung, mit der Alfred Leinsen sehr zufrieden war. Da wußte er sein Kind gut aufgehoben und konnte sich sein eigenes Glück suchen, das er in der Ehe mit der Frau zu finden hoffte, der seit einigen Wochen sein Sinnen und Trachten galt.

Jetzt saß der elegante Endvierziger an der prunkenden Hochzeitstafel und dachte daran, daß er in wenigen Wochen hoffentlich an der eigenen sitzen würde. Aber an einer im trauten Separee mit der geliebten Frau ganz allein. Jung fühlte der Mann sich, so jung, als ob er zwanzig wäre. Und in diesem jugendlichen Überschwang drückte er dem Töchterchen, bevor es sich auf die Hochzeitsreise begab, ein so gutgefülltes Portemonnaie in die Hand, dessen Inhalt für zwei Hochzeitsreisen gereicht hätte – und freute sich über die strahlenden Augen seines Kindes, das sein Glück gefunden hatte, wie er auch das seine finden würde.

Und das geschah dann auch nach einem Monat, gerade an dem Tag, als die Tochter von ihrer Hochzeitsreise zurückkehrte, trat der Vater die seine an – und mit wem? Mit Leila!

Zuerst starrte Hermine die Vermählungsanzeige an, als wäre sie des Lesens unkundig. Dann schob sie diese Ungeheuerlichkeit Brunhild zu, die bis in die Lippen erblaßte.

»Großer Gott«, sagte sie verstört, »und das gerade an dem Tag, an dem Trutz mit seiner Frau von der Hochzeitsreise zurückkehrt. Wie wird er das bloß aufnehmen?«

»Sicherlich weiß er es schon«, murmelte Hermine, die plötzlich müde und alt aussah, »denn Leinsen wird es wohl nicht versäumt haben, auch seiner Tochter eine Vermählungsanzeige zu schicken. Doch da höre ich bereits den Wagen vorfahren. Reiß dich zusammen, Brunhild, laß dir ja nichts anmerken.«

Fünf Minuten später begrüßten sie die Heimgekehrten – und das Herz zog sich ihnen schmerzhaft zusammen, hauptsächlich beim Anblick der blutjungen Frau. Wie strahlend glücklich war sie auf die Hochzeitsreise gegangen, und wie kehrte sie zurück? Blaß, müde und vergrämt.

Und der junge Ehemann? Der machte den Eindruck eines Menschen, der mit Gott und sich zerfallen ist.

»Da seid ihr ja«, tat Hermine erfreut, als wäre alles in schönster Ordnung. »Siehst blaß und müde aus, mein Schiepchen, wahrscheinlich hat die lange Fahrt dich angestrengt.«

»Ja, Großmama. Ich möchte am liebsten zu Bett gehen und schlafen.«

»So komm«, sagte Brundhild gütig, dabei die Schultern des erschöpften Menschenkindes umfassend, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Langsam gingen sie davon, und Trutz sagte hastig:

»Großmama, ich möchte dich sprechen.«

»Bitte.« Sie zeigte nach ihrem Arbeitszimmer, wo sie sich gleich darauf niederließen. Trutz in der Sesselgruppe, wo auf dem niedrigen Tisch gerade eine Flasche Kognak stand. Ehe Hermine ihn daran hindern konnte, hatte er die Flasche entkorkt, setzte sie an die Lippen und trank in vollen Zügen, bis es der entsetzten Großmutter endlich gelang, ihm die Flasche zu entwinden.

»Ja, sag mal, bist du denn ganz von Gott verlassen?« fuhr sie ihn empört an. »Benimmst dich hier wie ein Quartalssäufer!«

»Großmama, laß mich jetzt um Himmels willen in Ruhe«, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. »Sonst werde ich einfach verrückt!«

»Na, halb scheinst du es bereits zu sein«, versetzte sie trocken. »Die Vermählungsanzeige deines Herrn Schwiegervaters hat dich wahrscheinlich in diesen Zustand versetzt.«

»Ach, das ist doch schon längst vorbei«, winkte er müde ab, dabei mit einer Gebärde, die etwas Verzweifeltes hatte, die Hand im Haar vergrabend. »Das war schon vorbei, als Leila mir nach Eröffnung meiner Verhältnisse hohnlachend den Laufpaß gab.«

»Und warum bist du so durcheinander, du dummer Junge?«

»Weil ich diese Ehe nicht ertrage!« Er sprang brüsk auf, im Zimmer umherlaufend wie ein gefangenes Tier. Er stieß dabei die Hände so heftig in die Hosentaschen, daß die in allen Fugen krachten.

»Und weshalb erträgst du sie nicht?« Der Großmutter gelang es, ruhig zu bleiben, obwohl sie das Gefühl hatte, als müsse ihr der Herzschlag aussetzen vor Schreck. »Ragnilt ist doch wahrlich ein liebenswertes, sanftmütiges Menschenkind.«

»Eben«, lachte er hart auf. »Gerade diese Sanftmut ist es ja, die mich langsam kaputt macht. Dieses Sanftsäuselnde, dieses Sentimentale, diese demütige Ergebenheit, diese zuckersüße Anhimmelei – das gerade ist es, was ich an den Frauen hasse. Warum hast du mich bloß zu dieser unerträglichen Ehe gezwungen!«

»Weil mir eine kleine Bestie mit Paprika im Blut leider nicht zur Verfügung stand«, kam die Antwort ironisch.

»Ich gedenke ihr auszuweichen, indem ich heute noch meine Reise nach Kanada antrete. Das Geld dazu hat mir Onkel Arnold als Hochzeitsgabe zukommen lassen. Wenn ich mich beeile, erreiche ich das Flugzeug noch. Meine Sachen sind ja noch gepackt, und zum Flugplatz fährt mich der Chauffeur.«

»Also ein fix und fertiger Plan«, meinte die alte Dame, dabei jedoch nicht merken lassend, wie hart sie diese Eröffnung traf. Das hagere Antlitz war wie aus Stein gemeißelt, in den falkenscharfen Augen glitzerte erbarmungslose Härte. Langsam hob sich die Hand und zeigte zur Tür.

»So geh!« klang ihre Stimme auf, hart und spröde wie Glas. »Geh – und tritt mir erst wieder unter die Augen, wenn du ein Mann geworden bist. Solltest du jedoch das Zeug dazu nicht in dir tragen, so bleib weg. Denn lieber keinen Enkel als einen mißratenen, der seinem Namen und Wappenschild direkt Hohn spricht. Denn swind heißt stark, kühn, Brecht heißt edel, erlaucht, dazu trägst du auch noch den Vornamen Trutz, du erbärmlicher Schwächling!«

Da ruckte der junge Mann herum, stürmte davon – und mit dumpfem Stöhnen brach die Großmutter im Lehnstuhl zusammen. Drückte das Gesicht in die Hände und weinte, wie diese vom Leben verhärtete Frau noch nicht einmal am Grabe ihres einzigen Kindes geweint.

*

Und somit begann für die beiden Damen eine Zeit, die von ihnen das Äußerste an Herz- und Nervenkraft forderte. Denn als Ragnilt alles erfuhr, flatterte der zarte Körper und flog unter einem barbarischen Nervenfieber, und das nicht nur allein – die Kranke war auch noch guter Hoffnung, wie die beiden vorzüglichen Ärzte, die man rief, einmütig feststellten.

Aber sie wußten auch, daß gerade in einem so zarten Körper oft zähe Kraftreserven steckten. Sie gaben daher die Hoffnung nicht auf, die sich dann auch erfüllte. Mit unendlicher Mühe gelang es ihnen nicht nur die gefährliche Krankheit zu bannen, sondern sogar noch das keimende Leben zu erhalten.

Von alledem ahnte der junge Gatte nichts, weil man ja nicht wußte, wie man ihn benachrichtigen sollte. Und als nach fünf Wochen die erste Mitteilung aus Kanada eintraf, war Ragnilt schon Rekonvaleszentin.

Auch der Vater hatte keine Ahnung davon, daß sein Kind nur mit knapper Not dem Tode entrann. Er schwelgte auf der Hochzeitsreise im Glück. Wohl flatterten Kartengrüße an die Tochter ins Haus, aber mal von hier, mal von dort und stets ohne Angabe der Adresse, so daß man den Globetrotter nirgends erreichen konnte.

Nach acht Wochen rief er dann von zu Hause an und sparte mit Vorwürfen nicht, die er Hermine machte.

Hermine ließ ihn reden. Erst als er eine Pause machte, sprach sie: »Mein lieber Fred, ich habe keine Lust, mir am Fernsprecher von dir Unannehmlichkeiten immer weiter anzuhören oder mich gar noch mit dir zu streiten. Aber eines mußt du mir noch verraten: Wie sollte ich dich wohl erreichen, da du nie eine Adresse angabst? Aha, nun entschuldigst du dich. Natürlich darfst du deine Tochter besuchen, aber ohne deine Frau, hörst du: ohne deine Frau! Abgehängt«, sagte sie jetzt zu Brunhild, die dem Gespräch mit Spannung gefolgt war. »Jedenfalls habe ich erreicht, was ich wollte. Er läßt sich vorläufig hier nicht blicken, dafür wird schon seine Sirene sorgen.«

»Das glaube ich auch«, lachte Brunhild. »Schade, daß wir nicht das Lügenmärchen mit anhören können, welches sie ihrem verliebten Gockel auftischen wird.«

Und dieses Märchen mußte wohl faustdick aufgetragen worden sein, denn Leinsen erschien nicht, ganze zehn Tage nicht. Dann jedoch tauchte er auf, blaß und vergrämt. Vielsagend sahen sich die beiden Damen an, warteten jedoch ab, bis er selbst sprach – und zwar mit bewundernswerter Sachlichkeit:

»Sie ist auf und davon, weil ihr wahrscheinlich der Boden zu heiß unter den Füßen wurde. Einige Tage gelang es ihr wohl noch, mich mit allerlei lügnerischen Ausreden hinzuhalten, doch deine Bemerkung am Fernsprecher, Hermine, hatte mein Mißtrauen wachgerufen. Denn ich kenne dich und weiß daher, daß du nicht ohne Grund einem Menschen dein Haus verbieten wirst. Also zog ich Erkundigungen ein, die niederschmetternd genug waren. Ich hätte diese üble Person kurzerhand hinausgeworfen, wenn sie nicht heimlich verschwunden wäre. Danach reichte ich sofort die Scheidung ein – und so endet nun die Ehe, von der ich mir ein trautes Glück versprach, aber das geschieht mir Narren recht, der ich mit meinen bald fünfzig Jahren noch so blind verliebt sein konnte – das muß ich jetzt eben büßen. Doch nun zu Ragnilt. Was hat das arme Kind nur alles durchmachen müssen. Wenn ich das geahnt, hätte ich sie Trutz nicht gegeben.«

»Und ich schon gar nicht«, bekräftigte Hermine. »Bist du übrigens genau im Bilde?«

»Ja. Ich traf zufällig mit dem Arzt zusammen, der Ragnilt behandelte, und war zuerst ganz baff, als er mir zur Genesung meiner Tochter gratulierte. Dann fragte ich ihn natürlich aus und erfuhr so alles, was mich zutiefst erschütterte. Ganz besonders das, was die Kranke im Fieber verriet. Hat Trutz sich überhaupt schon gemeldet?«

»Vor fünf Wochen kam die erste Nachricht, daß er bei Onkel Arnold angelangt wäre. Es gefiele ihm gut dort und er wüßte nicht, ob und wann er zurückkehren würde.«

»Was hast du ihm darauf geantwortet?«

»Nichts.«

»Bist du nicht sehr hart, Hermine?«

»Nicht härter, als er zu seiner Frau war. Nämlich so hart, daß er sie nach einigen Ehewochen kaltlächelnd verlassen konnte.«

»Somit weiß er nicht, daß Ragnilt sehr krank war und daß sie außerdem noch – ein Kind erwartet?«

»Nein. Und ob er es jemals erfahren wird, darüber soll Rag­nilt entscheiden.«

*

Zweieinhalb Jahre mußten vergehen, bevor der junge Baron von Swindbrecht wieder nach Hause zurück fand. Er hatte seine Ankunft absichtlich nicht gemeldet, um durch sein plötzliches Erscheinen die Großmutter vor die vollendete Tatsache zu stellen. Wie sie ihn empfangen würde, das wußte er zwar nicht, aber daß sie ihn nicht hinauswerfen würde, dessen war er gewiß. Denn er kannte wohl ihre Härte, aber auch ihr warmes Herz und ihren Gerechtigkeitssinn.

Wie hatte sie damals gesagt, als sie ihm die Tür wies: Tritt mir nicht früher unter die Augen, bis du ein Mann geworden bist – und so wollte er denn jetzt das Experiment wagen.

Allerdings hatte Trutz keine Ahnung, daß sein Onkel an Baronin Hermine geschrieben und die Ankunft ihres Enkels avisiert hatte. In dem Schreiben hieß es:

Ich schicke Dir den Jungen, obwohl mir das bitter ankommt, denn ich hätte ihn liebend gern hierbehalten. Aber immerhin hast Du ja ein größeres Recht an ihn als ich.

Du wirst Dein Salonbürschchen kaum wiedererkennen. Aus ihm ist nämlich das geworden, was man einen echten Kerl nennt. Allerdings trug er das Zeug dazu in sich, mir lag nur die Aufgabe ob, es zu heben und zu fördern, wobei ich gewiß nicht zart mit ihm verfahren bin. Ich hab’ ihm wahrlich nichts geschenkt, er hat heran müssen wie Blücher. Aber es hat sich gelohnt, und ich bin stolz darauf, Dir einen echten Swindbrecht schicken zu können – stolz, unbestechlich, pflichtbewußt und von hohen Ehrbegriffen,. Also wirst Du fortan an ihm nur Freude haben.

Am liebsten möchte ich den Bengel ja am Rockschoß fassen und mit ihm ziehen; denn je älter man wird, um so unerträglicher zwickt das Heimweh. Aber jetzt kann ich hier noch nicht fort. Habe noch Verschiedenes zu regeln, um die beiden Jungens getrost sich selbst überlassen zu können. Aber im nächsten Jahr – oder gar noch in diesem, dann komme ich nach Brechten, meine liebe Hermine. Und ich glaube nicht, daß Du mich dann so leicht wieder los wirst!

Wie gesagt, von dem Brief hatte Trutz keine Ahnung, als er jetzt so langsam durch die erwachende Natur schritt. Denn der Frühling nahte, man spürte ihn in Wald, Feld und Flur. Rechts und links des schmalen Pfades, den der Wanderer dahinging, stand das Wintergetreide herrlich und frisch und dicht wie eine Bürste. Die Birken am Bach, der in kühnen Kurven die Landschaft durchschnitt, waren überhaucht von einem zartgrünen Schleier. Schneeglöckchen, Buschwindröschen und Butterblumen blühten treulich vereint an den Ufern des geschwätzigen Bächleins, das so munter und unermüdlich über die blankgewaschenen Steine hüpfte.

Eine Lerche stieg trillernd zum azurblauen Himmel empor. Und da stand auch stolz ein Storchenpaar, das wohl noch nicht lange aus dem Süden zurückgekehrt war, klapperte jenseits des Baches, als wolle es dem Wanderer einen fröhlichen Willkomm bieten, denn auch er kehrte ja zurück aus der Fremde. Strebte seinem alten Nest zu, wie es auch das lustige Paar da drüben getan hatte.

Ein Lächeln umspielte den Mund, der hart geworden war, ebenso wie das rassige Antlitz. Die Augen hatten den weichlichen Ausdruck verloren, blitzendblau lagen sie unter den dichten Brauen. Die Gestalt, schon immer hochgewachsen, schien sich noch gestreckt zu haben, war sehnig, sportgestählt und prachtvoll im Wuchs.

Stetig schritten die Füße weiter, nahmen mühelos die kleine Steigung und blieben dann wie angewurzelt stehen. Dem Mann wurden die Augen feucht bei dem Anblick, der sich ihm nun frei bot. Denn das war Brechten, was sich da so stattlich ausbreitete, an drei Seiten von herrlichem Mischwald wie schützend umschlossen. Weiß schimmerte das Schloß durch die Bäume des Parkes, der sich hinunterzog bis zum See. Den riesigen Hof umstanden die Wirtschaftsgebäude, breit, behaglich, langgestreckt.

Etwas abseits befanden sich die Insthäuser, sauber und gepflegt. Aus Schornsteinen stieg heller Rauch steil zum Himmel empor. Alles atmete Frieden und Geborgenheit auf diesem gottgesegneten Fleckchen Erde.

Ein Atemzug hob des Mannes Brust, ganz lang, ganz tief, seine Augen tranken das traute Bild förmlich in sich hinein. Heimat – ja, das war die Heimat! Die alles das umschloß, was seinem Herzen teuer war – auch seine Frau.

Wie ein Dieb schlich der Heimkehrer durch einen Nebeneingang hinein in einen Flur, nahm mit Elan die Stufen und öffnete leise die breite Glastür, ging dann weiter einen Gang entlang, dessen dicker Läufer die Schritte verschlang, bog rechts ab und stand dann in der großen Halle, deren Höhe durch die Stockwerke ging und oben in einem spitzen Glasdach endete.

Weiteres Licht spendeten dem riesigen Raum hohe, schmale Buntglasfenster, durch die jetzt die Sonne funkelte und die Farben des Glases wie Diamanten sprühen ließ.

Es gab viele Türen in dem Gelaß, breit, hoch und reich geschnitzt. Auf eine ging der Mann zu, öffnete sie behutsam und lugte durch den Spalt in das weite Gemach, in dem alles noch so unverändert war, wie er es damals verließ. Selbst an den beiden Weiblichkeiten, die sich nach wie vor an dem mächtigen Doppelschreibtisch gegenübersaßen, schien die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein.

Hauptsächlich Baronin Hermine spottete ihrer jetzt fast dreiundsiebzig Jahre. Die hohe schmale Gestalt noch kerzengerade, das hagere Antlitz von gesunder Farbe, die blauen Augen klar und ungetrübt wie eh und je, und Brunhildchen war noch genauso üppig und rosig, das naturgewellte Blondhaar voll und duftig, die blauen Augen hatten immer noch den lachenden Blick.

Die Blicke der beiden Damen hoben sich nun von der Schreibarbeit, blieben an der Tür haften – ein Stutzen, ein Erkennen und dann der freudige Ruf:

»Da bist du ja, du verlorener Sohn! Tritt näher. Das Kalb ist zum Empfang geschlachtet.«

Jetzt hob auch Hermine den Kopf, und die falkenscharfen Augen sahen abwägend dem langsam Näherkommenden entgegen. Ein tiefer Atemzug hob die Brust beim Anblick der rassigen Männererscheinung.

Nein, was da stand, war das weichliche Salonbürschchen nicht mehr – das war ein Mann.

»Grüß Gott, mein Sohn, bring Glück herein«, lachte sie ihn gemütlich an. »Ist doch bloß gut, daß du da bist.«

»Großmama, wundert es dich gar nicht, mich so unerwartet vor dir zu sehen?« fragte er überrascht.

»Wieso – du erscheinst hier ja gar nicht unerwartet.«

»Ja – bist du denn inzwischen unter die Hellseher gegangen?«

»Gottlob nicht, da würde ich wohl vor mir selbst das Gruseln kriegen. Aber ein Brief hat deine Rückkehr angezeigt.«

»Mein Brief? Meines Wissens war darin von meiner Heimkehr nicht die Rede.«

»Ich sagte ja nicht dein Brief, sondern – ein Brief. Und diesen hat Arnold mir geschrieben.«

»Onkel Arnold?« lachte Trutz jetzt sein dunkles, warmes Lachen.

»Der Brief ist dann direkt eine Rarität, die du dir einrahmen mußt. Was schreibt er denn?«

»Sei nicht so neugierig, mein Jungchen, du erfährst es ja doch nicht. Wie bist du übrigens von der Bahn hierhergekommen, etwa zu Fuß?«

»Ja. Es war mir direkt ein Bedürfnis, durch die sprießende Natur zu wandern und meine Lungen so richtig vollzupumpen mit Heimatluft, die ich so lange entbehren mußte. Und nun, Großmama, möchte ich dich zuerst um Verzeihung bitten.«

»Laß nur«, winkte sie ab. »Daß du so vor mir stehst, du prachtvoller Kerl, dadurch hast du schon meine Verzeihung vorweg. Aha, da nahen sie bereits«, unterbrach sie sich, stand auf und trat durch die geöffnete Glastür auf den Altan, den Enkel zu sich winkend.

»Sieh dir das da mal an, mein Sohn«, sagte sie froh. »Ist das nicht ein Bild, um das die Götter dich beneiden müßten?«

O ja, so war das Bild, das sich nun frei seinen Augen bot. Ein entzückendes Ponygespann rollte über den Kiesweg, und in ihm saß ein bezauberndes großes Menschenkind und ein bezauberndes kleines, das jetzt gerade vor überschäumender Lebensfreude die molligen Patschen zusammenschlug und dabei lachte, daß die Perlzähnchen nur so blitzten. Blaue Augen leuchteten aus dem weichen Gesichtchen, der Kopf war von strahlendblonden Löcklein überringelt.

»Dein Sohn«, erklärte Hermine dem Mann, der wie erstarrt dastand und fassungslos nach unten schaute.

Dunkle Röte stieg ihm ins Gesicht, ganz langsam, bis zu dem blonden, leichtgewellten Haar hinauf. Rauh klang die Stimme, die nun langsam sprach: »Und warum hat man mir die Existenz meines Sohnes verschwiegen, Großmama?«

»Weil Ragnilt es so wünschte. Ja, mein Junge, es tut mir leid, aber was ich dir sagen werde, darf unmöglich verschwiegen werden, damit du dich keinen falschen Erwartungen hingibst.

Kurz und gut: Du hast deiner sensiblen Frau das Herz gebrochen, als du sie nach fünfwöchiger Ehe so erbarmungslos verließest. Sie bekam ein böses Nervenfieber, das sie dicht an den Rand des Grabes brachte – um so mehr, da das blutjunge, zarte Geschöpf noch keimendes Leben in sich trug. Uns allen hat hier das Herz gezittert vor Angst und Not, bis es den beiden Kapazitäten nach unendlicher Mühe gelang, die Patientin nicht nur allein dem Tod abzuringen, sondern auch darüber hinaus noch das werdende Kind zu erhalten. Die Freude auf das Kind war es auch, die Ragnilt am Leben nicht verzweifeln ließ. Und als sie es erst im Arm hielt, nach Stunden qualvoller Pein, da lachte sie so frei und froh, als wäre ihr nie ein Leid geschehen. Aber dich, ja – dich hat sie einfach aus ihrem Leben ausgeschaltet – das alles ist es, was ich dir unmöglich verschweigen konnte – und durfte.«

Mitleidig sah sie in das Männerantlitz, aus dem die dunkle Röte gewichen war, es war jetzt blaß bis in die Lippen. Die Hand zitterte, die ruckartig über Stirn und Augen fuhr.

*

Zehn Minuten später erschien Ragnilt, den kleinen Knaben an der Hand, der den fremden Mann aus den wunderschönen Blauaugen neugierig musterte.

»Ist das Papa?« fragte er dann die Mama, die ihm ermunternd zunickte.

»Ja, Trutzi. Geh schön zu deinem Papi und sag ihm, was du sollst.«

»Hab’ vergessen.«

»Wenn du es vergessen hast, dann bist du dumm.«

»Sßa, ist er«, war das goldige Kerlchen einverstanden, trippelte jedoch auf den Vater zu, legte das Köpfchen schief und sagte ernsthaft:

»Tutzi ist er – Papi bist du – … nu sei alles dut.«

Da hob der Mann das Kind auf den Arm und drückte das Gesicht gegen die kleine Brust, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die sich ihm in die Augen drängten. Die kleine Mama jedoch lachte hellauf. »Wenn es auch anders ausfiel, was du sagen solltest, du Schelm, so war es immerhin eine Leistung für deine noch nicht zwei Jahre. Und nun mal erst: Guten Tag, Trutz, willkommen zu Hause.«

Da ließ der Mann das Kind behutsam zur Erde gleiten und ergriff die zarte Hand, die sich ihm freimütig entgegenstreckte, führte sie an die Lippen und sagte mit nicht ganz klarer Stimme:

»Ich danke dir, Ragnilt, vor allen Dingen für den Jungen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie glücklich ich über das unerwartete Geschenk von dir bin?«

»Doch, die habe ich«, gab sie unbefangen zu. »Über einen Sohn freut sich wohl jeder Vater und ist stolz auf ihn. Doch nun komm, Trutzi, du mußt ins Bettchen, sonst wirst du vor Übermüdung unleidlich. Wir sehen uns ja dann beim Abendessen.«

Dann hob sie das Kind auf den Arm, nickte den anderen freundlich zu und schritt leichtfüßig davon. Und kaum, daß sich die Tür hinter ihr schloß, fragte Hermine schmunzelnd: »Hm, was sagst du nun zu deiner Frau?«

»Großmama, ich bin einfach überwältigt. Was ist nur aus dem sanftsäuselnden Tränensuslein geworden? Diese Verwandlung mutet direkt wie ein Wunder an.«

»Genauso wie bei dir«, kam es trocken zurück. »Na, na, zieh nicht die Stirn kraus, ich bin ja schon still. Sei froh, daß der Empfang so freundlich ausfiel. Brunhild und ich hatten ihn uns gewiß anders vorgestellt – nun aber ab mit dir in dein Reich, wo du alles unverändert vorfindest! Mach dich frisch und erscheine pünktlich zum Abendessen, das wie stets um sieben Uhr eingenommen wird. Also bleibt dir fast noch eine Stunde Zeit, um dich zurechtzufinden – was hier übrigens gar nicht schwierig ist, weil alles beim alten geblieben ist. Wir sind nämlich sehr konservativ, mein Sohn – in jeder Beziehung.«

Schweigend verließ er das Zimmer, und die alte Dame atmete erleichtert auf.

Trutz suchte sein Schlafzimmer auf, in dem er tatsächlich alles unverändert vorfand. Hinter der breiten Glastür, deren geschliffene Scheiben wie von Eisblumen bedeckt anmuteten, lag wohl das Reich seiner Frau, das ihm noch unbekannt war. Denn als er damals von der Hochzeitsreise sozusagen auf einen Sprung nach Hause zurückkehrte, hatten ihn die Zimmer nebenan absolut nicht interessiert, aber heute – ja. Also wollte er sie in Augenschein nehmen, allein die Tür war verschlossen.

Wieder einmal stieg ihm die Röte der Beschämung ins Gesicht. Die Zähne bissen sich so fest zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten. Und wenn er trotz des unpersönlichen Empfangs dennoch eine kleine Hoffnung gehabt, so erlosch jetzt auch dieses kleine Fünkchen.

Hastig wandte er sich ab und betrat das Ankleidezimmer, wo er bereits alles zum Umkleiden bereit fand. Denn völlig wurden Schrank und Schübe nicht entleert, als er die Koffer packte, die jetzt noch auf der Bahn lagen. Der Diener Kilian hatte sogar noch Auswahl gehabt, als er die Sachen zurechtlegte.

Wie auf ein Stichwort trat der Mann ein, der seiner Herrschaft schon durch drei Jahrzehnte treu diente. Über das glatte, sonst so undurchdringliche Dienergesicht liefen die hellen Tränen. »Gott zum Gruß, Herr Baron«, flüsterte er. »Endlich ist der Tag, den wir alle hier so inbrünstig ersehnten.«

»Dank dir, Kilian«, sagte Trutz lächelnd und strich die Wange des Getreuen. »Du weißt doch für alles ein Sprüchlein, welches hast du mir nun zugedacht?«

Da zog ein Schmunzeln über das Gesicht des alternden Mannes. »Bis hierher und nicht weiter sollst du kommen, denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.«

»Ist doch nur gut, daß es weise Männer gab, die ihre Aussprüche prägten. Ob sie jedoch immer recht damit hatten, kann nur die Erfahrung lehren. Und nun werde ich erst einmal meinen äußeren Menschen auffrischen.«

Damit war er gerade fertig, als der Gong zum Abendessen rief. Tadellos gekleidet, betrat Trutz das Speisezimmer, wo über dem runden Tisch, der im Erker stand, eine Hängelampe brannte. Tausendfach brach sich ihr Licht in dem darunterstehenden Silber und Kristall.

Alles noch so wie früher, dachte Trutz beglückt. Tief sog er den Duft ein, der das ganze Haus durchwehte, ein Gemisch von Rosen und Lavendel, der Herz und Hirn umschmeichelt – und nach dem man sich krank sehnt in der Fremde.

»Da bist du ja«, sagte die Großmutter, mit heimlichem Stolz die rassige Männergestalt musternd. Und den gleichen Blick hatte sie für das junge Menschenkind, das gleich danach sichtbar wurde.

Nun, von dem sentimentalen Gänschen, wie Trutz es damals so spöttisch nannte, konnte hier gewiß nicht die Rede sein. Zwar war das Gesichtchen auch jetzt noch von einer sinnverwirrenden Süße, aber die Augen blickten nicht mehr so schwärmerisch, sondern leuchteten in so intensiver Bläue wie der Himmel an einem lachenden Maientag. Die mittelgroße Gestalt war nicht mehr so gebrechlich zart, sondern von graziler Schlankheit, und die Stimme, die früher immer einen wehleidigen Ton hatte, klang frisch und fröhlich. »Melde mich zu Stelle. Hoffentlich gibt es etwas Gutes zu essen. Ich habe mir nämlich vor lauter Hunger schon etwas von der Abendmahlzeit Trutzis stiebitzt.«

Dabei lachte sie den Gatten so lieblich an, daß ihm das Blut heiß in die Schläfen stieg. Am liebsten hätte er ja dieses bezaubernde Geschöpf an das hartschlagende Herz gedrückt und den blühenden Mund geküßt, wie er es sich in letzter Zeit so oft ausgemalt – aber ach, dieser heißen Sehnsucht würde er sicherlich fürs erste nicht nachgeben dürfen – vielleicht überhaupt nicht mehr.

Mit einem Seufzer nahm er seinen Stammplatz an der Tafel ein und blieb wortkarg, während die anderen sich angeregt unterhielten. Und wie sie es taten, daran konnte er erkennen, daß sie sozusagen ein Herz und eine Seele waren. Daß eine innige Gemeinschaft sie umschloß, zu der man ihn wohl längst nicht mehr rechnete.

*

Es gab in diesem Jahr frühe Ostern. Doch da der Frühling warme Sonnentage gebracht, hatte der Winter spurlos verschwinden müssen. Im Park waren die Rasenflächen von lustigbunten Krokussen übersät, einige Sträucher blühten bereits, und die Bäume zeigten hie und da schon frisches Grün.

Der goldigrote Sonnenball war erst eine knappe Stunde hinter dem Horizont emporgetaucht, als der junge Baron Swind­brecht sein Ankleidezimmer verließ, um einen geruhsamen Spaziergang durch den Park zu machen, da er seine Lieben noch schlafend glaubte.

Als Trutz dann später am Frühstückstisch erschien, fand er seinen Schwiegervater mit drei ihm noch fremden Menschen vor. Alfred Leinsen hatte nämlich vier Monate nach der Scheidung von Leila wieder geheiratet – und diesmal war seine Wahl auf die Witwe eines Geschäftsfreundes gefallen, die nach dem Tode des Gatten Aktionärin des großen Unternehmens geworden, in dem Leinsen führend war. Frau Ilka, die er seit Jahren kannte, hatte ihm schon immer gut gefallen, und nun sie Witwe war, durfte er frei um sie werben. Mit Freuden ging sie darauf ein und fand in Alfred einen besseren und lieberen Gatten, als der erheblich ältere ihr jemals hatte sein können. Sie legte vertrauensvoll ihr und ihrer Kinder Wohl in die Hände des Mannes und hatte das in der nunmehr zweijährigen Ehe noch nicht eine Stunde bereut; denn Alfred wurde ihr ein guter Gatte und Sohn und Tochter ein guter Stiefvater, den er jedoch nie herauskehrte, wofür man ihm dankbar war.

Von dieser neuen Verwandtschaft erfuhr Trutz erst, als er nach Hause zurückkehrte, und zwar von der Großmutter, die unter vier Augen mit ihm darüber sprach. Sie sagte ihm auch offen, daß der damals neunzehnjährige Gisbert sich gleich über Kopf und Kragen in die gleichaltrige Stiefschwester verliebt hätte, und als Trutz fragte, wie Ragnilt zu dem jungen Mann stehe, entgegnete Hermine achselzuckend:

»Mit einer Unbekümmertheit, die schon fast an Einfalt grenzt. Sie betrachtet wahrscheinlich die Männer als Wesen, denen zum Unterschied von der Weiblichkeit der Schnurrbart wächst. Nun, du wirst ja sehen und dir dann selbst dein Urteil bilden können.«

Wozu sich dann heute Gelegenheit bot, als Familie Leinsen erschien, um den Heimgekehrten zu begrüßen. Herzlich streckte der Schwiegervater ihm beide Hände entgegen und betrachtete ihn schmunzelnd.

»Potztausend, Junge, was bist du doch bloß für ein schneidiger, kräftiger Kerl geworden. Findest du das nicht auch, Frauchen?«

»O ja«, lächelte sie den Mann an, der sich artig über ihre Hand neigte. »Trutzi ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Finde ich auch«, bestätigte die siebzehnjährige Maren, Trutz mit einem schwärmerischen Blick die Hand reichend, und auch ihr Bruder war ihm sehr sympathisch. Von dem drohte Trutz keine Gefahr, das sagte ihm sein Gefühl. Was Gisbert für Ragnilt empfand, war die Schwärmerei eines Jünglings.

Und Ragnilt? Die sah in ihm gewiß nichts anderes als einen lieben Kameraden, sonst wäre sie ihm nicht so harmlos begegnet.

Aber wenn nun ein anderer Mann auftauchte, dem es gelang, das spröde Frauenherz für sich zu gewinnen? Nun, dann hieß es für den Gatten wachsam sein.

*

Genauso wachsam wie in dem Betrieb, in den Trutz sich erst einarbeiten mußte, weil die Wirtschaft bei Onkel Arnold ja eine ganz andere gewesen war. Trotzdem merkte man sofort, daß man dem jungen Gebieter kein X für ein U vormachen konnte.

Er sah, hörte und merkte alles, was manchen verdroß, aber manchen auch freute. Und zu denen gehörten die alte Baronin und der Verwalter, der bereits zweieinhalb Jahrzehnte auf Brechten segensreich wirkte. Zwar fand er in seiner Herrin eine tatkräftige Hilfe, doch ruhte noch genug auf seinen Schultern, da es ja nicht nur das Hauptgut zu verwalten gab, sondern noch zwei Nebengüter und drei Vorwerke.

Um eines der Güter brauchte man sich allerdings nicht viel zu kümmern, da man es bei dem Sohn Ackermanns in besten Händen wußte, aber um so mehr um das andere, dessen Verwalter viel zu wünschen übrigließ. Ackermann hegte sogar den Verdacht, daß der Mann in seine Tasche wirtschaftete. Leider hatte er ihm das noch nicht beweisen können, weil ihm die Zeit dazu fehlte, um dem schleimigen Kerl, wie er ihn nannte, genügend nachzuspüren.

Aber jetzt gab es zwei Augen mehr, sogar zwei sehr scharfe – und so konnte es kommen, daß schon kurze Zeit nach der Rückkehr des Barons der aalglatte, gerissene Verwalter auf der Stelle sein Bündel schnüren mußte. Dabei durfte er noch froh sein, daß man ihn nicht wegen Betrugs der Polizei übergab.

»Laß ihn laufen«, sagte die Baronin, als der Enkel sie um Rat fragte. »Besudeln wir uns nicht weiter, das gibt nur Ärger, und den Verlust bringen wir doch nicht ein, der übrigens nicht so groß ist, daß er uns schädigen könnte. Sehen wir lieber zu, daß wir einen anständigen Kerl auf das Gut kriegen. Und das ist meines Erachtens der Verlobte von Traute Ackermann. Die beiden konnten bisher noch nicht heiraten, weil der junge Mann einen Posten innehat, der nur ledigen Inspektoren zukommt. Aber nun mußt du nicht womöglich denken, daß ich meine Weisheit von unserem braven Ackermann habe. Der würde sich wohl eher die Zunge abbeißen, als seinen Schwiegersohn zu protegieren.«

»Und wie bist du denn dahintergekommen?«

»Ich habe gelauscht, mein Sohn.«

»Du, Großmama?« lachte Trutz.

»Ist auch sonst nicht meine Art«, kam es schmunzelnd zurück. »Aber weißt du, wenn man an einem Haus vorübergeht, wo hinter sperrangelweit geöffneten Fenstern so lebhaft diskutiert wird, da stockt der Fuß von selbst, und die Ohren spitzen sich. Was sie dann zuerst vernahmen, war der Baß Ackermanns, der ärgerlich brummte, daß dem unwürdigen Zustand endlich ein Ende gesetzt werden müßte. Der Mann, den er Egbert nannte, hätte es ja schließlich nicht nötig, für miserablen Lohn und hochfahrende Behandlung noch zu schuften wie ein Kuli. Da morgen der erste April wäre, sollte er kündigen und sich einen solchen Posten besorgen, der eines so anständigen und tüchtigen Kerls wie er würdig wäre. Daß er nicht anderswo unterkäme, deshalb brauche ihm nicht bange zu sein. Ein Inserat in dem Landwirtschaftlichen Anzeiger genüge vollkommen. Das ist es, was ich erlauschte«, führte die alte Dame weiter aus. »Alles andere zu erfahren war nicht schwer. Der junge Mann befindet sich augenblicklich noch als Inspektor auf Ernsdorf, und nun müssen wir uns beeilen, daß wir ihn uns sichern, bevor ihn uns ein anderer wegschnappt; denn sein Stellungsgesuch steht bereits in der Zeitung. Erkundigungen brauchen wir über ihn nicht einzuziehen. Es genügt, wenn Ackermann ihn als willkommenen Schwiegersohn anerkennt. Oder bist du anderer Ansicht?«

»Nein, Großmama. Ich weiß nur, daß ich noch viel von dir lernen muß.«

*

In dem schmucken Verwalterhaus von Brechten saß man geruhsam beim Sonntagnachmittagskaffee. Es war so ein richtiger Apriltag – grauer Himmel, nieselnder Regen, windig und kalt. Also ein Wetter, bei dem sich jeder beeilte, aus der Unwirtlichkeit draußen ins Zimmer zu kommen, hauptsächlich dann, wenn es in dem noch so gemütlich warm war wie in diesem. Der behäbige Kachelofen, der während der warmen Tage, welche der junge Frühling bereits gebracht, außer Betrieb gesetzt wurde, kam heute wieder zu Ehren und verbreitete mollige Wärme. Auf dem ovalen Tisch vor dem Sofa, das vier Menschen bequem Platz bot, stand ein Napfkuchen, den Muttchen Ackermann besonders gut zu backen verstand, so richtig mit Rosinen und Mandeln gespickt. Die Tassen waren ein Aussteuerstück Frau Lottchens und daher mehr als ein Vierteljahrhundert alt, wie ja überhaupt die ganze Einrichtung des Raumes dieses Alter aufweisen konnte. Denn Lottchen war konservativ und hielt nicht viel von dem »neumodischen Kram«. Was durchaus sein mußte, wie zum Beispiel das Radio, na schön, aber sonst war das Alte immer gut zu behalten. Ganz besonders dann, wenn es so gut geschont und gepflegt war.

So richtig mit Gott und der Welt zufrieden saß das rundliche Lottchen da, dem die Gemütlichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. Ihr liebes Gesicht war frisch und rosig. Unter dem wie blankgewichsten Scheitel schauten die Äuglein vergnügt auf diejenigen, die ihr gutes Herz umschloß.

Und dazu gehörte erst einmal ihr braver Alter, der es sich heute bequem gemacht hatte in Hausschuhen – und Joppe, wie es sich der geplagte Mann ja nur in den Ruhestunden leisten konnte. Und derer gab es gewiß nicht viele in dem großen Betrieb, wo er als erster Gutsbeamter immer auf Posten sein mußte – und es auch war. Und zwar nicht gezwungenermaßen, sondern aus Liebe zu dem Beruf, zu dem der Name Ackermann ja direkt verpflichtete, wie er schmunzelnd behauptete.

Derselben Ansicht war auch der Sohn, der dem Vater nachschlug. Also war auch er Landwirt geworden, obwohl er wußte, daß er es nicht zu einem eigenen Besitz bringen konnte, es sei denn durch Einheirat. Aber so viel Berechnung lag dem blonden Hünen mit den lachenden Blauaugen nicht. Da er sein Herz sprechen ließ bei der Wahl der Eheliebsten, hatte er die liebreizende Kindergärtnerin heimgeführt, die auf Brechten den Kinderhort leitete. Und der blonde Siegfried konnte seiner brünetten Gerda ein behagliches Leben bieten, da er als Verwalter des Nebengutes Barden gleich einer Made im Speck saß, wie er es selbst bezeichnete.

Daß dem tüchtigen Landwirt bei der Wahl der Gattin das Glück hold gewesen war, hatte sich schon längst unter Beweis gestellt, denn sein Hausstand befand sich in den besten Händen.

Die hübsche Frau mit Augen wie Goldtopas war eine liebevolle Schwiegertochter und stand mit ihrer Schwägerin Edeltraut in einem gut schwesterlichen Verhältnis. Daher wünschte sie dieser auch dasselbe Eheglück, wie es ihr selbst zuteil geworden war.

Doch dies konnte noch keine Erfüllung finden, weil der Verlobte der schmucken Verwalterstochter Inspektor auf einem Gut war, auf dem nur unverheiratete Beamte eingestellt wurden. Und die Güter, die sich Verheiratete leisten konnten, waren äußerst knapp. Also hieß es für die Verlobten noch so lange warten, bis sich so ein rarer Posten finden würde.

Nur, daß sein Schwiegersohn auf seinem Posten wie ein Kuli schuften mußte, das gefiel Franz Ackermann nicht. Daher hatte er ihm auch geraten, sich eine Stelle zu suchen, wo man seine Tüchtigkeit und Intelligenz genügend würdigte, wo er Mensch sein durfte und nicht eine Kreatur, wie sein jetziger Gebieter alle die bezeichnete, die unter seinem Befehl standen.

Um durch Protektion den jungen Mann vorwärtszubringen, dazu reichte Franz Ackermann seine Hand jedoch nicht. Mochte er sich nur ohne jede Hilfe durchbeißen, er hatte es ja auch tun müssen. Das steifte das Rückgrat und den Nacken, machte den Menschen frei von jeder Dankesschuld.

Daran dachte er jetzt, als er so geruhsam dasaß und genüßlich die Havanna rauchte, die er sich in Ruhestunden leistete. Sonst mußte die Pfeife herhalten, die ja auch nicht zu verachten war. Zwar nannte die brave Lotte dieses Utensil Stinkadores, ließ es jedoch ohne weiteres gelten. Schließlich war der Mann ja der Brotgeber – und in diesem Fall ein guter sogar, ergo stand es dem Eheweib nicht zu, ihm Vorschriften zu machen.

Wohl ihr, daß sie so vernünftig dachte, wie es leider nicht alle Frauen tun, sonst würde es nicht soviel unglückliche Ehen geben. Der Mann das Haupt, die Frau die Krone, so war es wohl von Urzeit an und wird es im Prinzip auch bleiben, trotz aller Emanzipation und wohl der Krone, deren Haupt, auf dem sie sitzt, nicht wackelt.

Nun, das taten die Häupter der beiden Ackermanns nicht. Die saßen fest auf dem geraden Nacken und gaben so mit ihrem Krönlein zuverlässigen Halt.

Und was sich das Krönlein Traute erkor, wurde soeben sichtbar, glattgescheitelt und gepflegt. Die dunklen Augen strahlten in dem braungebrannten Gesicht, die geteilten Lippen gaben kräftige, gesunde Zähne frei.

»Endlich bist du da«, begrüßte Traute Ackermann ihres Herzens Schwarm. »Warum kommst du so spät? Mußtest du womöglich auch noch am Sonntag schuften? Es würde dem Menschenschinder ähnlich sehen, dich während der Kündigungsfrist noch ganz besonders zu schikanieren.«

»Stopp ab!« unterbrach er sie lachend. »Du ereiferst dich nämlich umsonst. Sieh mich mal genau an, fällt dir nichts an mir auf?«

»Nein«, lachte sie, »aber warte, doch, du strahlst ja förmlich. Hast du etwa das große Los gewonnen?«

»Kann man auch so sagen.« Er weidete sich an den gespannten Mienen der anderen. »Zwar habe ich kein Geld gewonnen, aber eine prima Stellung.«

»Also, Egbert, wenn du jetzt nicht endlich mit der Sprache herausrückst…«

»… dann platze ich vor Neugier«, vollendete er vergnügt den stockenden Satz, »aber das wäre jammerschade, da wir doch so kurz vor der Hochzeit stehen – und ich eben erst wohlbestallter Verwalter von Traken geworden bin.«

Diese Nachricht schlug sozusagen wie eine Bombe ein. Man fragte aufgeregt durcheinander, und erst als sich der Sturm gelegt hatte, konnte Egbert Renken zu Wort kommen.

»Manchem gibt’s der Herr im Schlaf«, begann er schmunzelnd, »denn als ich mich nach dem Mittagsmahl aufs Ohr gelegt hatte, um etwas von dem Schlaf nachzuholen, den ich heute nacht bei einer schwerkalbenden Kuh opfern mußte, schrillte die Glocke des Fernsprechers mich aus tiefem Traum. Verschlafen fragte ich, was jetzt schon wieder wäre, wurde jedoch fuchsmunter, als am anderen Ende Baron Swindbrecht sprach. Und zwar fragte er mich, ob ich Lust hätte, den Verwalterposten auf Traken zu übernehmen. Wenn ja, möchte ich mich zur näheren Besprechung möglichst schnell bei ihm im Schloß einfinden. Ich muß da ja wohl mordsmäßig gebrüllt haben; denn er meinte lachend, daß sein Trommelfell nicht aus Stahl wäre. Na, ihr könnt euch ja vorstellen, wie ungeduldig ich Brechten zustrebte. Ich wurde im Schloß auch sofort vorgelassen, und mein Herz klopfte nicht wenig, als ich der alten Baronin, die ich ja nur vom Sehen kenne, so Auge in Auge gegenüberstand. Und wie sie mich ansah, so, als müßte sie mir die Gedanken aus dem Hirn ziehen.

Und dann ging die Fragerei los, hin und her, kreuz und quer, die reinsten Examensnöte waren das für mich. Anschließend wurden meine Papiere genauestens geprüft – und die Anstellung erfolgte, was mein Herz vor Freude hüpfen ließ, auch deinetwegen, Trautchen, denn ich werde mich vom fünfzehnten April ab so gut stehen, daß ich ohne Bedenken eine Familie gründen kann.«

So kam es denn, daß schon drei Wochen später im Verwalterhaus von Brechten eine fröhliche Hochzeit gefeiert wurde. Es ging dabei hoch her, denn Muttchen Ackermann wollte sich ja schließlich nicht »bereden« lassen, schon gar nicht von der Verwandtschaft, die vollzählig erschien, sofern sie in der Umgebung ansässig war und hauptsächlich aus Bauern bestand. Denen wollte sie schon zeigen, daß man ganz nett in der Wolle sitzen konnte, auch wenn man keinen eigenen Besitz hatte.

Dem schlichten Lottchen lag Prahlerei sonst so gar nicht, aber hier, bei dieser »aufgeblasenen Sippschaft«, prahlte sie mächtig. Und nicht nur mit dem, was Küche und Keller bargen, sondern auch mit der ganzen Aufmachung und vor allen Dingen mit der Aussteuer der Tochter, die da auf langen Tischen den staunenden Augen preisgegeben ward.

Darunter prunkten auch der Silberkasten und das Tafelservice, das »Barons« gestiftet hatten. Und daß die nichts Minderwertiges schenkten, war ja wohl Ehrensache, wie Lottchen jedem extra zu verstehen gab.

Diese menschliche Schwäche wurde durchaus verständlich, wenn man um die Vergangenheit des armen Waisenmädchens wußte, das von der wohlhabenden Verwandtschaft weidlich ausgenutzt worden war. Als es dann später den jungen Inspektor heiratete, rümpfte man wohl die Nase, aber hielt es dennoch für eine Partie des armseligen Aschenputtels.

Daher war es Lottchen nun ein Hochgenuß, vor dem »schof­len Pack« zu glänzen. Und als gar noch »Barons« auf einige Stunden erschienen, hob sie ihre Nase so hoch, daß sie Löcher in die Luft spickte, wie der Gatte schmunzelnd bei sich feststellte.

Ihn freute der Besuch natürlich auch. War es doch ein Zeichen, daß man viel von ihm und seiner Familie hielt. Ganz verliebt betrachtete er die junge Baronin, die wie ein bezauberndes Bild anmutete. Wenn man daran dachte, welch ein armseliges Menschenbündel sie noch vor zwei Jahren gewesen war, dann mußte man tatsächlich an Wunder glauben.

Und der Trutz? Na ja, der hatte wohl schon immer gut ausgesehen, aber jetzt war er einfach ein Bild von einem Kerl. Und wenn man noch seine Tüchtigkeit hinzunahm, dann durfte die Großmutter mit Recht stolz auf den Enkel sein, den sie wahrscheinlich schon abgeschrieben hatte, als er sie und den Besitz damals so rücksichtslos im Stich ließ. Trotzdem war sie nicht zusammengebrochen, wie es gewiß weit jüngeren Frauen passiert wäre, sondern hatte weiter geschuftet.

»Nanu, Ackermann, träumen Sie?« riß ihn eine lachende Stimme aus seinen Grübeleien. »Recht so, daß Sie sich aus dem Trubel in den Schmollwinkel zurückgezogen haben. Rücken Sie zur Seite, damit ich mich neben Sie placieren kann.«

Und so saßen sie dann einträchtig auf der Polsterbank, die alte Baronin und der Verwalter. Dieses kleine Zimmer war nämlich das einzige, das von dem Trubel verschont wurde, und zwar deshalb, weil man das alles darin untergestellt hatte, was unnütz im Wege stand und nun so ein lustiges Kuddelmuddel bildete.

»Na, hier bin ich wenigstens sicher, von dem fidelen Völk­chen nicht über den Haufen gerannt zu werden«, sagte die alte Dame zufrieden. »Ich bin eben schon zu alt für so einen Schrumm.«

»Frau Baronin gestatten wohl, daß ich lache. Wer noch so fuchsmunter ist, dürfte das Wort alt auf sich bestimmt nicht anwenden.«

»Na, hören Sie mal, mein Lieber, Sie meinen wohl, wenn Sie den Bratenrock anhaben, dann müßten Sie auch Komplimente machen«, besah sie sich schmunzelnd ihren stattlichen Nachbarn, der genüßlich eine Importe rauchte, wie es sich ja zur Feier des Tages gehörte. »Bedenken Sie, daß ich Urgroßmutter bin.«

»Das sagt noch gar nichts«, behauptete er pomadig. »So was kann eine Frau schon vor Fünfzig werden, wenn die weibliche Folge sich rasch fortpflanzt. Mit sechzehn Jahren Mutter, mit zweiunddreißig Großmutter, mit achtundvierzig Urgroßmutter – also!«

»Gott in deine Hände, hat der Mann eine Phantasie!« sagte die alte Dame so entsetzt, daß sie laut herauslachte. Folge davon war, daß der Baron sie in ihrem Versteck aufspürte und sich zu ihnen gesellte. Auch er lachte, als er erfuhr, was seine Großmutter so entsetzte.

»Bißchen rasch, die Fortpflanzung, aber sicherlich schon dagewesen.«

»Nun sag mal, mein Sohn, was willst du eigentlich hier?« fragte Hermine, als der Enkel sich auf einen Hocker niederließ. »Schwing lieber das Tanzbein, du Faulpelz, sonst sind die niedlichen Marjellchen dir böse. Oder sind sie etwa nicht niedlich?«

»Sehr niedlich, Umi«, gebrauchte er die Bezeichnung, die Trutzi für die Urgroßmutter prägte und die von den anderen zärtlich angewendet wurde. »Und gerade deshalb mag ich mich nicht in Gefahr begeben.«

»Du hast’s nötig«, versetzte die alte Dame trocken und zeigte dann auf die Nichte, die vergnügt näher trat. »Aha, da ist ja auch unser liebes Brunchen. Will mich nicht wundern, wenn sich auch noch Ragnilt einfindet, auf daß die Familie komplett werde. Wo steckt der Irrwisch überhaupt?«

»Der sitzt in der Klemme im wahrsten Sinne des Wortes«, gab Brunhild lachend Auskunft. »Und zwar hat sie eine Dame, die gut und gern zweieinhalb Zentner wiegt, in die Ecke gedrängt.«

»Ah, die Tante Auguste«, schmunzelte Ackermann dazwischen. »Also aus der Klemme geht die Frau Baronin nur als perfekte Strickerin hervor, denn bevor sie dem strickwütigen Gustchen nicht ein Examen abgelegt hat, kommt sie nicht aus der Ecke – es sei denn, ich befreie sie und bringe sie hierher.«

Damit erhob er sich und ging davon, um einige Minuten später wieder zu erscheinen, in jeder Hand eine entkorkte Sektflasche, während Ragnilt die Gläser trug. Rasch wurden diese gefüllt, dann ließ die junge Baronin sich auf einem Fußstühlchen nieder und leerte ihr Glas bis zum letzten Tropfen.

»Na, du hast vielleicht einen Zug«, meinte die Großmutter anerkennend. »Was wolltest du denn ersäufen, wie?«

»Maschen, Umi, Maschen«, kam es so komisch verzweifelt von den jungroten Lippen, daß es eine Lachsalve auslöste. »Hin und her, kreuz und quer, rechtsherum, linksherum, von oben gestrickt, von unten gestrickt. Du lieber Himmel, ich habe bisher gar nicht gewußt, daß das, was unsere Piedestale umschließt, in seiner Herstellung so kompliziert sein kann. Hat diese – gewichtige Dame etwa eine Strumpffabrik, für die sie Reklame machen muß, Herr Ackermann?«

»Eine Fabrik wäre in den Augen der braven Auguste ein Nuschtwerk«, kam es schmunzelnd zurück. »Selbst ist der Mann – in diesem Fall sind es ihre Grübchenhände. Was die am laufenden Band herstellen, besteht nur aus guter, reiner Schafwolle. Diese soliden Gebilde werden unter der Verwandtschaft verteilt, und ich nehme an, daß die Socken, die heute auf dem Gabentisch liegen, fürs ganze Leben des Ehepaares ausreichen.«

»Und mir ist das nächste Paar zugedacht, welches das spaßige Gustchen gleich morgen in Angriff nehmen wird«, erklärte Ragnilt lachend.

*

»Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus«, sang die Reiterin, die mit verhängten Zügeln ihr Rößlein traben ließ. Sie waren beide so versunken, daß sie hinter sich nicht das Auto bemerkten, horchten erst auf, als der Mann am Steuer die Weise mitpfiff.

»Ja, Gisbert, wo kommst du denn so plötzlich her?« rief Rag­nilt ihm verwundert entgegen, und singend kam es zurück, während der Wagen neben dem Pferd abstoppte:

»Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus…«

Verdutzt brach er ab und horchte gleich der Reiterin auf die Fortsetzung des Liedes, das von irgendwo herüberwehte.

»Wie die Wolken dort wandern, am himmlischen Zelt, so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt.«

»Das ist Trutz«, lachte Ragnilt. »Denn so ergreifend falsch singen kann nur er.«

Und tatsächlich tauchte er in einer Schneise auf, hoch zu Roß. Und als dieses sich zu seinem Artgenossen gesellte, sang Gisbert begeistert:

»Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun, drum Brüderchen: Ergo bibamus.«

»Das Studentenlied beweist, daß du von einer Maifeierkneipentour kommst«, unterbrach Trutz ihn schmunzelnd. »Und nun fährst du einen Kater spazieren, um ihn in Brechten zur Ruhe zu legen, stimmt’s?«

»Beinahe, Schwagerherz«, kam es vergnügt zurück. »Nur, daß mein Kater nicht der Ruhe bedarf, sondern nach einem sauren Hering und einem Glas schäumenden Bieres verlangt.«

»Beides sei dir gastlich gewährt«, tat Ragnilt großartig. »Nun laß deinen PSchen freien Lauf, weil sie ja schneller sind als die unseren.«

Da flitzte der Wagen ab, und langsam folgten die Reiter, die zwei prächtige Trakehner ritten – sie einen Schimmel, er einen Rappen. Beide Tiere stammten aus Brechtener Zucht, bei der man dort schon längst eine glückliche Hand bewies.

»Wie lange bist du eigentlich schon unterwegs?« fragte der Mann seine Begleiterin.

»Seit einer guten Stunde. Es hielt mich einfach nicht länger im Bett beim Einzug des Götterknaben Mai, der so prächtig erschien, wie ihn die Dichter gern besingen. Und den Einzug mußte ich unbedingt mitmachen.«

»Nanu, das hört sich ja beinahe so an, als hättest du dir dazu die Nacht um die Ohren geschlagen.«

»Nicht ganz«, lachte sie. »Denn bis kurz vor Sonnenaufgang schlief ich fest. Was mich dann weckte und aus dem Bett trieb, war Harmonikamusik und Gesang.

Und gerade als ich den Altan betrat, stieg die Sonne am Horizont empor, strahlend schön, alles ringsumher mit goldrotem Schein überflutet, so daß der Park wie ein Märchenland anmutete, zumal noch die Tautropfen auf Blumen und Blättern wie Millionen Diamanten glänzten und gleißten. Die Blumen dufteten so süß, dazu Musik und Gesang, der wie ein Hauch zu mir hinüberwehte – ach, Trutz, es war so wonnig schön, daß ich es gar nicht in Worte fassen kann.«

Jäh brach sie ab und senkte beschämt das heißerglühte Gesicht.

»Verzeih, Trutz, daß ich mich vergaß und dich mit meiner Faselei belästigte. Es soll bestimmt nicht wieder vorkommen.«

Damit ließ sie ihrem Pferd freien Lauf, während der Mann das seine absichtlich zurückhielt. Denn was sie ihm gesagt, war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, hatte ihn in peinlichste Verlegenheit gebracht, über die er erst hinwegkommen mußte, bevor er der Gattin wieder begegnete. Also waren in ihrem Hirn die ersten fünf Ehewochen doch nicht so ganz ausgelöscht, in denen sie oft von ihm hatte hören müssen, daß sie ihn mit ihren süßen Sentiments um Himmels willen verschonen möge, so ein sanftsäuselndes Gefasel sei ihm nun mal ein Greuel.

Wie immer, wenn er daran dachte, stieg ihm auch jetzt wieder die Röte der Beschämung ins Gesicht. Einfach scheußlich hatte er sich diesem weltfremden, sensiblen Geschöpf gegen­über benommen.

Als Trutz später am Frühstückstisch mit Ragnilt zusammentraf, war sie harmlos wie eh und je. Sie strahlte förmlich vor Fröhlichkeit und neckte sich mit Gisbert, was den anderen großen Spaß machte. Sie mochten ihn alle gern, den frischen jungen Mann, dem so jede Blasiertheit fernlag. Und auch er hing an den Swindbrechts und suchte sie auf, sofern es nur seine Zeit erlaubte, denn er studierte Volkswirtschaft und mußte gehörig büffeln, wie er es selbst bezeichnete.

Da seine Mutter ihm einen noblen Monatswechsel zukommen ließ, konnte er sich unbeschwert dem Studium hingeben. Und es sprach für seine Gutherzigkeit, daß er minderbemittelten Studenten stets von seinem Geld abgab. Er schränkte sich ihnen zuliebe sogar manchmal ein, was wirklich anerkennend war.

Was die hübschen Mädchen betraf, war der schneidige Gisbert Hedding gewiß kein Freund von Traurigkeit. Er trieb es jedoch nie so weit, Herzeleid heraufzubeschwören.

Ragnilt liebte er, war aber vernünftig genug, um sich zu sagen, daß diese Liebe nie Erfüllung finden konnte. Denn erstens sah die junge Baronin in ihm nichts weiter als einen Bruder, und dann war er ein viel zu anständiger Mensch, um sich an eine Frau heranzuwagen, die den Ehering trug – und das tat Rag­nilt unentwegt. Sie hatte ihn nicht erbittert abgestreift, als der Gatte sie herzlos verließ und es ungewiß war, ob er jemals zu ihr zurückkehren würde.

Ob sie den Ring nun aus Treue am Finger ließ oder aus Gewohnheit, das konnte man nicht ergründen. Aber man hütete sich wohl, die junge Frau danach zu fragen, weil man fürchtete, damit eine Wunde aufzureißen, die sich nach der schweren Krankheit langsam zu schließen begann und nach der Geburt des Kindes vernarbte.

»Meine liebe Frau Baronin, wie wäre es jetzt mit einem netten Tennisstreit?« fragte Gisbert nach dem Frühstück. Wohl hatte dieses nicht aus Hering und Bier bestanden, aber dennoch den Kater aufgescheucht. »Ich habe nämlich Lust, mir den Wind um meinen noch brummenden Schädel wehen zu lassen.«

»Dann hopse nur allein, ich bin dafür zu satt«, kam es pomadig zurück. »Eine Stunde vor dem Mittagessen darfst du wieder höflich anfragen.«

»Das werde ich mir noch sehr überlegen«, tat Gisbert großartig. »Einmal abgeblitzt geht aufs Gemüt. Ich bin nämlich ein sensibler Mann.«

»Grausig«, lachte Brunhild. »Sensible Frauen laß ich noch gelten, aber sensible Männer betrachte ich als Abart der Männlichkeit.«

»Dann bin ich eine«, seufzte er elegisch. »Aber was tut’s, wenn meine Mutter…«

Wie auf ein Stichwort trat diese ein, zur Überraschung aller, gefolgt von der Tochter und dem Gatten. Es gab ein frohes Begrüßen, und unaufgefordert gesellte man sich am Frühstücks­tisch zu den anderen. Man war ja hier wie zu Hause.

»Tante Hermine, laß auffahren, was die Küche birgt«, verlangte Maren. »Ich hab’ nämlich einen Mordshunger. Kein Wunder, da wir schon um fünf Uhr aufbrachen, ohne vorher gefrühstückt zu haben, weil wir des einfältigen Glaubens waren, es unterwegs einnehmen zu können. Doch wo wir auch einkehren mochten, überall waren die Gasthäuser zu proppevoll, daß eine Bestellung wie ein Witz erschien. So suchten wir denn hier unsere Zuflucht mit vor Hunger schiefhängendem Magen. Habt daher Erbarmen und stopft ihn wieder gerade.«

So kam denn Nachschub heran, über den die Ausflügler wie hungrige Wölfe herfielen. Erst als sie gesättigt zur Zigarette griffen, waren sie zu einem Plausch bereit.

»Mein Sohn, ich bin erstaunt, dich hier zu sehen«, nahm Leinsen das Wort. »Nach Hause fandest du wohl nicht, wie?«

»Keine Zeit, Papa. Du weißt ja, wie ich büffeln muß. Hierher machte ich nur einen kleinen Abstecher nach der unumgänglichen Maifeier, mit der wir den Götterknaben so zwischen Mitternacht und Morgengrauen begrüßten.«

»Aha! Und gleich hinterher setztest du dich, wahrscheinlich blau wie ein Veilchen, ans Steuer«, fiel die Mutter ein. »Der Leichtsinn sieht dir ähnlich.«

»Aber, Muttchen, wie kannst du deinen Sohn so verkennen«, tat er beleidigt. »Erstens war ich nicht blau, sondern nur bläulich angehaucht, und dann habe ich einige Stunden geschlafen. Und zwar in der Laube von Jasmin, der um diese Jahreszeit leider noch nicht blühte. Als ich bei strahlendem Sonnenschein erwachte, erging es mir genauso wie euch. Frühstück ex, weil das Gasthaus von Maiausflüglern überfüllt war. Ergo suchte ich diese gastliche Stätte auf, mit einem niedlichen Kater als Begleitung. Bin ich nun rehabilitiert oder nicht?«

»Kann man wohl sagen«, schmunzelte Leinsen. »Aber daß in einer Laube von Jasmin auch Betten stehen, habe ich bisher noch nicht gewußt.«

»Aber, Papa, braucht man denn zu einem Nickerchen immer gleich ein Bett?« fragte Gisbert harmlos, während seine Augen lachten. »Eine Bank tut es doch auch.«

»Und da will er uns einreden, daß er nur bläulich angehaucht war«, meinte Maren trocken. »Mein liebes Brüderchen, du lügst heute, daß sich die Balken biegen.«

»Nicht richtig bezeichnet«, behauptete Ragnilt mit Recht, weil man auf der Terrasse saß. »Da paßt schon eher für die Schwindelei: daß es zum Himmel schreit.«

»Und ich werde schreien, wenn ihr den Jungen nicht endlich in Ruhe laßt«, nahm sich Brunhild des Bedrängten an. »Ich geh’ jetzt baden, wer hält mit?«

Alle sagten sie begeistert zu. Selbst Hermine, die immer noch ihr Bad in dem See nahm, wie sie es von Kindheit an gewohnt war. Da man über genügend Badezeug verfügte, konnten auch die Gäste damit versorgt werden. Vergnügt zog man hinunter zum See, und als Trutzi mit seiner Pflegerin ihnen im Park begegnete, wurden sie kurzentschlossen mitgenommen.

In dem schmucken Badehaus legte man die Mäntel ab, und dann ging es mit Hallo ins Wasser, das noch ziemlich kühl war. Doch das machte den abgehärteten Menschen nichts aus.

Allein Trutzi, den die Pflegerin bis auf das Höschen ausgezogen hatte, durfte nur bis zu den Knien hinein, weil es in diesem Jahr sein erstes Bad war. Und damit er Karla, die ihm ja in den Kleidern nicht folgen konnte, nicht womöglich erwischte, zog Ragnilt kurzerhand die Kordel aus ihrem Bademantel, knotete das eine Ende um das mollige Ärmchen, machte an dem anderen eine Schlaufe und gab diese Karla in die Hand.

»So, mein Sohn, Vorsorge verhütet Nachsorge«, erklärte die kleine Mama unter Zustimmung der anderen. »Denn deine draufgängerische Art ist mir ja schon lange nicht unbekannt.«

Diese Fessel gefiel dem Bürschchen aber auch gar nicht. Es zerrte daran und strebte weinend den Schwimmern nach. Mußte sich jedoch nolens volens der »rohen Gewalt« beugen und planschte dann auch ganz friedlich herum. Dabei Steinchen suchend und in die kleine Kuhle werfend, die Karla mit der Hand ausschaufelte.

Dieses nette Spiel wurde erst unterbrochen, als Ragnilt auftauchte, sich am Strand niederließ und den rechten Fuß betrachtete, der in der Höhlung eine klaffende Wunde aufwies, die stark blutete.

»O Gott, Frau Baronin, wie konnte das geschehen?« fragte Karla erschrocken. Achselzuckend antwortete Ragnilt: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich trat ich auf eine Scherbe oder auf einen spitzen Stein. Ich spürte plötzlich einen schneidenden Schmerz – und schon war’s passiert.«

»Halten Sie bitte Trutzi, Frau Baronin, ich hole rasch den Verbandskasten.«

Eilends verschwand das Mädchen im Badehaus, und als es wieder sichtbar wurde, trug es einen Kasten, auf dessen blendender Weiße sich ein rotes Kreuz leuchtend abhob. Er stand im Badehaus für alle Fälle immer griffbereit.

Karlas Fernbleiben hatte kaum länger als eine Minute gedauert, die sich Trutzi jedoch zunutze machte, um dem Papi entgegenzulaufen, der eben heranschwamm. Ganz leicht war es gegangen, sich von der Fessel zu befreien, da die Mami die Schlaufe nur locker hielt und gar nicht merkte, als sie ihrer Hand entglitt. Kein Wunder, da ihre Aufmerksamkeit dem Fuß galt, der immer noch arg blutete.

Kurz und gut: Als Karla ins Freie trat, merkte sie gerade noch, wie die Wellen über einem hellblonden Lockenköpfchen zusammenschlugen. Mit einem Schrei ließ sie den Kasten fallen, lief dem Wasser zu, warf sich hinein und tauchte.

Doch einer war noch schneller als sie – Trutz. Er hatte nämlich bemerkt, wie ihm sein Sohn entgegenlief, war aber zu entfernt gewesen, um das Malheur verhüten zu können, das sich nun vor seinen Augen abspielte.

Blitzschnell tauchte er und konnte gar bald den kleinen Körper erhaschen, der wie ein Fröschlein unter Wasser paddelte. Ein Griff in den molligen Nacken, das Köpfchen wurde frei, die Lungen pumpten sich voll Luft – und dann setzte das Gebrüll ein, das nicht nur die Schwimmer hörten, sondern auch die immer noch tauchende Karla. Hinter dem Baron schwamm sie dem Ufer zu, wobei sie nicht nur durch die Kleider behindert wurde, sondern auch durch die vor Schreck zitternden Glieder, die ihr kaum gehorchen wollten.

Schachmatt ließ sie sich in den weißen Sand fallen – und dann waren auch schon die anderen da, erregt und schreckensbleich. Man rief und fragte durcheinander, war dann sehr betreten, als Trutz das Geschehnis knapp erklärte.

»Eigentlich fehlt dem kleinen Nichtsnutz das rosige Fellchen voll«, setzte er ungehalten hinzu, unterbrach dann jedoch seine Strafrede, als sein Blick auf Ragnilts Fuß fiel, unter dem sich der Sand rot färbte.

»Um Gottes willen, Kind, was hast du denn da?« fragte er erschrocken, doch kurz winkte sie ab.

»Ach, das ist doch so unwichtig. Wichtig allein ist, daß Trutzi lebt. Wenn es anders gekommen wäre, trüge ich die Schuld daran.«

Heiß weinte sie auf, dabei den kleinen Körper an sich pressend, als solle er ihr entrissen werden.

»Na, na, na – wer wird denn so die Nerven verlieren«, beschwichtigte Trutz, sich neben der Gattin niederlassend und ihre Schulter umfassend. »Warum sprichst du überhaupt von Schuld? Der Junge war doch der Obhut Schwester Karlas anvertraut.«

»Aber sie war nicht da, als es geschah«, gab Ragnilt der Wahrheit die Ehre. Schuldbewußt erklärte sie den Vorfall – und da suchten aller Augen die Kinderschwester, die wie ein Häuflein Unglück dasaß. Leise weinte sie vor sich hin.

Und hier war es die Seniorin, die sich zu dem Mädchen niederließ und dessen Schulter umfaßte.

»Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte sie gütig. »Sie trifft bestimmt keine Schuld – wenn man überhaupt von Schuld sprechen darf.«

»Ganz meine Ansicht«, bekräftigte Trutz, der soeben den weißen Kasten aufhob und ihm das entnahm, was zur Desinfizierung der Wunde erforderlich war. Dann legte er geschickt den Verband an und meinte in seiner gelassenen Art:

»Das war ein sogenannter Schreck in der Morgenstunde. Seien wir froh, daß es beim Schreck blieb. Denn Ragnilts Fuß wird heilen – und Trutzi lebt. Damit er sein kleines Leben nicht mehr im Wasser gefährden kann, werde ich ihn an die Angel nehmen. Zwar ist er dafür noch ein bißchen klein, aber zu frühe Vorsicht ist besser als zu späte Nachsicht.

Und nun komm, mein ehelich Weib, damit ich dich auf Händen trage. Denn mit dem maladen Hinterpfötchen wirst du kaum gehen können. Aber dein molliges Anhängsel wirst du von dir lassen müssen. Schau nur, wie viele Hände sich danach ausstrecken.«

Tatsächlich hoben sich die Hände wie auf Kommando. Dabei lachte man und war dem Geschick dankbar, daß man es unbeschwert tun durfte.

Nur Trutzi lachte nicht, der weinte. Und zwar, als Onkel Gisbert ihn von dem warmen Plätzchen heben wollte, auf dem er sich sicher fühlte vor allen Fährnissen der Welt. Dieses jähe Absacken und hinterher die Atemnot waren dem kleinen Draufgänger nicht zu knapp in die Gliederchen gefahren.

Zum erstenmal tagte es in seinem kleinen Hirn, daß Wasser keine Balken hat. Da war ihm der feste Erdboden denn doch lieber und am liebsten das weiche Plätzchen auf Mamis Schoß.

*

Der Mai wollte sich schier verschwenden in Sonnenschein und Blütenpracht. Überall, wohin das Auge schaute, gab es ein prangendes Blühen, das direkt paradiesisch anmutete.

Rhododendron, Flieder und Frühlingsrosen prunkten in allen Farben, smaragdgrün leuchteten die weiten Rasenflächen, und die Kastanien steckten ihre Lichtlein auf.

Die Tage waren von Sonne durchflutet, die Nächte von Düften schwer. Da konnte man wirklich mit dem Trompeter von Säckingen singen: Lind duftig hält die Maiennacht jetzt Berg und Tal umfangen – oder auch mit ihm seufzen: O Lieb’, wie bist du bitter, o Lieb’, wie bist du süß.

Zu diesen Seufzenden gehörte auch die junge Maren. Denn als Ragnilt an einem dieser wonnigen Maitage in die Villa Leinsen kam, um sich endlich wieder einmal sehen zu lassen, wie der Vater ihre seltenen Besuche zu bezeichnen pflegte, traf sie nur die Stiefschwester an, die ihr aus dickverweinten Augen schmerzerfüllt entgegensah.

»Ja, was hast du denn, Maren?« fragte der Gast erschrocken. »Ist etwas mit deinen Lieben?«

»Nein, nur mit mir. Ach, Ragi, ich möchte sterben.«

»Also Liebeskummer«, stellte diese prophetisch fest, während sie sich auf dem Diwan niederließ, auf dem Maren lag. Das Gesicht in die Kissen gedrückt, weinte sie so jammervoll, als müßte sie sich das Herz aus der Brust schluchzen.

»Er hat mich verlassen – oh, er hat mich verlassen!« kam es zwischendurch dumpf aus dem Kissen. »Nun sitz’ ich da in Jammer und Not.«

Jetzt aber horchte Ragnilt denn doch betroffen auf. Sollte etwa…? Aber nein, sich einfach wegzuwerfen, das traute sie diesem blutjungen und harmlosen Menschenkind denn doch nicht zu.

»Nun komm mal her, mein Schwesterlein«, sagte sie behutsam, dabei den von Herzstößen zuckenden Körper hochhebend. »Warum sitzt du da in Jammer und Not?«

»Weil…, weil er eine… andere… lieber hat… als mich.«

»Hat er dir das gesagt?«

»Nein – dazu ist er viel zu feige!« ging die Verzweiflung jetzt in Entrüstung über. »Er hat mir ganz einfach seine Verlobungsanzeige geschickt. Und dabei ist die andere längst nicht so ­hübsch wie ich und hat auch längst nicht so viel Geld.«

Über dieses naive Argument mußte Ragnilt dann doch lachen.

»Ja, mein Herzchen, danach fragt doch die Liebe nicht«, meinte die um vier Jahre Ältere belehrend. »Doch nun mal eine Frage: Wie stehst du zu deines Herzens Schwarm. Hast du an ihn – Ansprüche?«

»Natürlich«, behauptete die Siebzehnjährige kampfbereit. »Er hat mich doch einmal geküßt und hat gesagt…«

Verlegen stockte sie, und Ragnilt drängte: »Was hat er gesagt, Maren? Du brauchst mir gegenüber keine Hemmungen zu haben. Sprich dich nur aus.«

»Och…« Die Kleine drehte mit puterrotem Köpfchen an einem Knopf ihres Kleides, bis dieser absprang. »Als er mich küßte…, hat er gesagt…, ich wäre das… süßeste Mädel der Welt. Ja… und dann nahm er die… andere…, die lang nicht so… süß… ist wie ich…«

Unter bitterlichem Schluchzen kam es hervor, was Ragnilt durchaus nicht erschütterte. Weil sie nämlich wußte, daß dieser Schmerz nicht lange anhalten würde, daß er nicht ins Mark schnitt. Er war wie ein Frühlingsbrausen, heftig, aber kurz.

Geduldig wartete sie, bis die Tränen abebbten und dann versiegten. Dann mußte sie wieder lachen, als es schmollend über die vorgeschobenen Lippen kam:

»Nur ein einziger Kuß – wenn es wenigstens mehrere gewesen wären! Und nun lachst du mich noch aus. Na ja, du hast ja auch gut lachen, bei deinem Trutz. Er ist einfach das Ideal von einem Mann. Sieht nicht nur fabelhaft aus, sondern ist in seiner ganzen Art einfach einmalig.«

Eigentlich hätte Ragnilt zu diesem betrübten jungen Menschenkind über ihre bittere Erfahrung sprechen müssen, vielleicht hätte das den Schmerz gemildert. Aber erstens konnte sie das alles nicht über die Lippen bringen, und dann wollte sie den Gatten in den Augen anderer nicht herabsetzen. Daher tat sie die Schwärmerei der Siebzehnjährigen für ihr Ideal lachend ab – nur daß in diesem Lachen ein Ton von Ironie mitklang.

»Du schätzt Trutz ganz richtig ein. Aber wieviel Idole hast du eigentlich? Für eines schwärmst du, um das andere weinst du, obwohl dieser Herr Larens…«

»Sprich den Namen nicht aus!« unterbrach die Kleine sie heftig. »Ich kann ihn nicht mehr hören.«

»Ach, du Kindskopf!« lachte Ragnilt hellauf, was ihr den Vorwurf einbrachte, herzlos zu sein und den Schmerz anderer für nichts zu achten. Aber wenn sie schon kein Herz hätte, so doch hoffentlich so viel Anständigkeit, um nicht mit dem herumzuhausieren, was man ihr so arglos anvertraute.

Das zu beteuern, blieb Ragnilt erspart, weil Trutz eintrat, der indes Besorgungen gemacht hatte und sich nun verabredungsgemäß einfand, um die Gattin abzuholen. Ihm fiel das verweinte Gesicht Marens natürlich auf, doch bevor er noch eine diesbezügliche Frage stellen konnte, winkte Ragnilt ihm mit den Augen verstohlen zu und sagte nach einem Blick auf die Uhr:

»Höchste Zeit, daß du kommst, Trutz. Wir müssen sofort gehen, wenn es für meine Einkäufe nicht zu spät werden soll.«

Also kam es zu einem raschen Abschied, und erst als man unten im Auto saß, da fragte der Mann, warum denn der Aufbruch so überstürzt erfolgt wäre.

»Das erkläre ich dir später«, gab sie zurück. »Zuerst habe ich Verlangen nach einer Tasse Kaffee. Halte bitte am Café.«

Wie immer um diese Zeit war die Konditorei besetzt, so daß es den Hinzukommenden gerade noch gelang, einen freien Tisch zu erwischen. Als dann der Ober Kaffee nebst Kuchen gebracht hatte, fragte Trutz geradeheraus:

»Warum hatte Maren so verweinte Augen?«

»Liebeskummer«, kam es lakonisch zurück.

»Ist das nicht reichlich früh für eine Siebzehnjährige?«

»Einen trifft’s früher, den anderen später. Der Kleinen wird das Herz darüber nicht brechen – Gott sei Dank.«

»Wie willst du das so genau wissen?«

»Aus ihrem ganzen Verhalten.«

Kurz gab sie es wieder, und da umzuckte ein Schmunzeln den Männermund.

»Schau mal an, der eine Kuß war ihr zu wenig. Nun, wenn sie das so offen zugibt, dann hat’s mit ihr noch wirklich keine Not, da hast du recht. Dann wird sie noch so manches ›Idol‹ in ihrem Herzen hegen.«

»Das habe ich ihr auch gesagt«, lachte Ragnilt. »Doch da kam sie mir elegisch mit Schiller: Die Ideale sind zerronnen, die einst das trunkene Herz geschwellt. Dort sitzt übrigens das ›zerronnene Ideal‹«, zeigte sie mit den Augen zu einem Tisch hin, an dem ein junges Paar saß. »Maren hat recht, die Bevorzugte ist tatsächlich nicht so hübsch wie unsere Kleine.«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte Trutz nach einem diskreten Blick zu den Verlobten hin. »Zu lackiert für meinen Geschmack. Der Mann ist bestimmt zu schade für sie, der in seiner frischen Art an Gisbert erinnert. Woher weißt du übrigens, daß er der Bewußte ist?«

»Von einem Gruppenbild, das Maren mir einmal zeigte – allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«

»So kleben wir es rasch wieder drauf«, half er freundlich aus, als sie verlegen stockte. »Es wird notwendig sein, da die Eltern von der ersten Liebe ihrer jungen Tochter wahrscheinlich nichts wissen – wenn man den Schwarm des Backfischchens überhaupt mit Liebe bezeichnen kann.«

*

Es war an einem der betörenden Maiabende, als Trutz langsam durch den Park schritt, um die Herrlichkeit ringsum so recht beschaulich genießen zu können. Die beiden Damen hatten es vorgezogen, auf der Terrasse im Liegestuhl zu ruhen und sich so noch beschaulicher von dem Zauber des Maiabends entspinnen zu lassen. Ragnilt nebst Gisbert waren nicht dabei, sie trieben sich wie gewöhnlich irgendwo herum.

Jetzt kam ihr Lachen vom Tennisplatz her, wohin Trutz nun auch seine Schritte lenkte. Hinter einem blühenden Strauch verborgen, beobachtete er belustigt das flotte Spiel, bei dem Ragnilt bereits einen Punkt mehr zu verzeichnen hatte. Das wollte der ehrgeizige Partner sich natürlich nicht bieten lassen, wurde übereifrig und machte dabei so grobe Fehler, was die schadenfrohe Ragnilt jedesmal hellauf lachen ließ.

Entzückend war sie mit dem lachenden Gesicht und den blitzenden Augen. An ihren Gesten war nichts Gemachtes und schon gar nichts Kokettes. Alles, was sie sagte und tat, wirkte stets so natürlich, so frei und unbekümmert – und gerade das war es wohl, was ein so anziehendes Fluidum von ihr ausströmen ließ – besonders noch auf einen Mann, der bis über beide Ohren in sie verliebt war.

Weit ausholend stürmte er heran und umfaßte die bezaubernde Gestalt mit einem so heißen Blick, daß sie betroffen einen Schritt zurückwich. Doch gleich hatte der junge Mann sich wieder gefangen und brummte:

»Wie soll man sich da konzentrieren, wenn man so was Zaubersüßes vor sich hat.«

»Stopp ab«, unterbrach Ragnilt ihn lachend. »Du willst mir doch nicht etwa Komplimente machen?«

»Nun – und wenn?«

»Das wäre banal, mein Lieber. Ja, bist du plötzlich närrisch geworden?« wich sie entsetzt von ihm zurück, der ganz dicht an sie herantrat und sie umfassen wollte.

»Ja – närrisch nach dir!« stieß er verbissen zwischen den Zähnen hervor – und das riß sie denn doch aus ihrer Harmlosigkeit, zumal in seinen Augen ein heißes Licht flackerte. Sie hatte das Gefühl, als hätte eine rauhe Hand ihr die Binde von den Augen gerissen, die, nun sehend geworden, alles das wahrnahmen, was ihnen bisher verborgen geblieben war.

Augenblickslang verharrte sie noch wie erstarrt – doch dann suchte sie ihr Heil in der Flucht. Wie eine Gazelle lief sie, aber nicht dem Schloß zu, sondern dem See, der in entgegengesetzter Richtung lag – und zwar geschah es in kopfloser Angst, in die der so plötzlich veränderte junge Mann sie versetzt hatte.

Ich lauf’ in das Badehaus und schließ’ mich ein, durchzuckte sie ein rettender Gedanke. Doch sollte sie bis dahin nicht gelangen. In ihrer Hast übersah sie einen mit Moos bewachsenen Stein, stolperte darüber – und schon fanden sich zwei Arme, die sie vor dem Sturz bewahrten.

Herzensgebot – o süße Not!

Nichts anderes war es, dem der junge Mann nachgab – oder nachgeben wollte, als er den warmen, weichen Körper umschloß. Denn bevor sich sein bebender Mund zu einem andern neigen konnte, stand wie aus der Erde gewachsen, ein Mann da, der ruhig sagte:

»Jetzt komm endlich zur Besinnung, Gisbert.«

Wie von einem Peitschenhieb getroffen, ruckte dieser herum, die Arme sanken – und schon wollte die also Befreite Schutz bei dem Gatten suchen, doch nachdrücklich schob er sie zurück. Sein mitleidiger Blick hing an dem jungen Mann, der mit hängendem Kopf und hängenden Armen vor ihm stand – ein Bild des Jammers. Beruhigend legte sich eine nervige Männerhand auf die Schulter des Zerknirschten, und eine sonore Stimme sprach zuredend:

»Nun mal Kopf hoch, Gisbert. Sei froh, daß ich noch zur Zeit kam, um dich vor einer Dummheit zu bewahren, die dir anständigem Kerl gewiß nachgegangen wäre.«

Da hob der Kopf sich zaghaft, und zwei Augen starrten fassungslos auf den Mann, der ihm ermunternd zunickte.

»Trutz…, du…, du… nimmst das so… ruhig auf?« rang es sich dann stammelnd über die zuckenden Lippen. »Du… verlangst keine… Rechenschaft… von mir?«

»Das sollte mir einfallen, du dummer Junge! Wozu du dich da hast hinreißen lassen, das hätte vor zehn Jahren auch mir passieren können – denn damals war ich genauso alt und genauso ein Heißsporn wie du. So was kann einen schon wie eine Kinderkrankheit befallen, aber auch so schnell abklingen. Es ist hier ein zu heißes Pflaster für dich, meine Junge, darum entfliehe hinaus in die Welt. Da wirst du schon bald merken, wie viele schöne Frauen es darin gibt – die noch frei sind. Denn: Ist ja nicht ’ne Handvoll, ist ja ein ganzes Land voll!

Und nun ab mit dir! Grüß mir all die schönen Frauen da unten im Süden. Vielleicht finde ich mich auch bald ein, um mich wieder einmal an ihrem Anblick zu berauschen.«

»Trutz, was bist du doch für ein prachtvoller Kerl«, sagte Gisbert leise. »Denn so viel Verständnis bringt wohl kaum ein anderer Mann auf. Hauptsächlich dann nicht, wenn es um die – eigene Frau geht.«

»Mein lieber Gisbert, es kommt immer ganz darauf an, wie der Fall liegt. Einem Schurken würde ich gewiß kein Verständnis entgegenbringen, aber bei einem anständigen Menschen, der sich spontan zu einer unüberlegten Handlung hinreißen ließ, da ist es einfache Menschenpflicht, ihm helfend die Hand entgegenzustrecken. Hier hast du sie – dann geh mit Gott und kehre uns als das ›kreuzfidele Haus‹ wieder, als das wir dich bis dahin in Erinnerung behalten werden.«

Seine Hand wurde mit festem Druck umspannt, noch ein langer, schmerzvoller Blick auf Ragnilt – und dann stürmte der junge Mann in langen Sätzen dem Schloß zu.

»Armer Kerl«, sprach Trutz ihm mitleidig nach. »In seiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken. Ich kann mir denken, wie ihm zumute ist.

Ja, ja, meine liebe Ragnilt, das da ist dein Werk«, wandte er sich der Gattin zu, dabei auf den Enteilenden zeigend. »Nun weide dich daran.«

»Trutz – aber, Trutz!« fuhr sie aus der Erstarrung auf, in der sie bisher verharrte. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich schuld an dem allen bin?«

»Wenn auch nicht direkt, so doch indirekt«, kam es hart zurück. »Du bist von einer entwaffnenden Unbekümmertheit, das will ich ohne weiteres zugeben – und auch naiv. Aber so naiv kann kaum das jüngste Mädchen sein, um nichts von der Verliebtheit eines Mannes zu spüren. Und du zählst einundzwanzig Jahre, hast sogar schon ein Kind, das ja nicht vom Himmel gefallen ist«, setzte er sarkastisch hinzu. »Also müßtest du immerhin mehr Erfahrung haben als ein ganz unberührtes Mädchen.«

»Schweig – um Himmels willen, schweig!« Ragnilt hielt sich verzweifelt die Ohren zu. Wie in Purpur getaucht erschien ihr Gesicht, der Blick flirrte an dem Mann vorbei. »Ob du es glaubst oder nicht, ich hab’ von Gisberts Verliebtheit nichts gemerkt. Er ist mir ja auch noch nie so unbeherrscht begegnet wie heute, noch nicht einmal plump vertraulich, immer nur als fairer Kamerad. Ach, was soll ich da noch länger reden«, sprach sie mutlos weiter. »Du glaubst mir ja doch nicht. Das sehe ich deinen Augen an, in denen die verflixte Ironie glitzert. Denk von mir, was du willst – Hauptsache, daß ich mich vor mir selbst nicht zu schämen brauche.«

Die Stimme brach ihr vor Erregung. Brüsk wandte sie sich ab und lief davon, durch den weiten Park, über die Terrasse und dann immer weiter, rannte so gehetzt wie um ihr Leben. In ihrem Schlafzimmer warf sie sich auf den Diwan und ließ den Tränen freien Lauf. Weinte wie ein Mensch, der Weg und Steg verlor, der sich in der Verirrung nicht mehr zu helfen weiß.

Was ist denn nur mit den Männern los? dachte sie verzweifelt. Der eine schüttelt mich ab wie ein lästiges Insekt, der andere wiederum verliebt sich in mich. Und ich will doch weder von dem einen noch von dem anderen was wissen – schon gar nichts von der vielgepriesenen Liebe. Lieber Gott, sei barmherzig und beschütze mich vor allen Männern der Welt.

*

Als Trutz auf der Terrasse anlangte, und zwar gemächlichen Schrittes, schaute er in zwei verstörte Gesichter.

»Trutz, was um alles in der Welt, ist denn geschehen?« fragte die Großmutter erregt. »Zuerst lief Gisbert an uns vorüber, als ob er gejagt würde, bald darauf tat es Ragnilt. Sind die beiden etwa…?«

»Ja, sie sind«, kam die Antwort gelassen. Mit einer Ruhe, die andere rasend machen konnte, ließ Trutz sich in einem Korbsessel nieder, entnahm dem Etui eine Zigarette, steckte sie in Brand, lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere.

»Junge, so sprich doch endlich!« herrschte die alte Dame ihn an. »Du hast manchmal eine ganz verflixte Art, erregte Menschen mit deiner philosophischen Gelassenheit auf die Folter zu spannen!«

Da ließ er sich endlich herab, Bericht zu erstatten. Als er beendet war, sagte Hermine betroffen:

»So war das also. Nun, da sind auch wir nicht schuldlos, weil wir wußten, daß Gisbert für Ragnilt mehr empfindet als seiner Herzensruhe dienlich ist. Ergo hätten wir nicht so vertrauensselig sein dürfen, sondern mehr auf die beiden achten müssen.«

»Was ich ja tat«, warf Trutz gelassen ein. »Sonst wäre ich wohl kaum zur Stelle gewesen, als das Herz mit dem Verliebten durchging. Der Junge ist weiß Gott ein anständiger Mensch, der bestimmt nicht skrupellos in eine Ehe einbrechen wird – aber er ist ein einundzwanzigjähriger Heißsporn – und Ragnilt eine Mensch gewordene Lorelei.«

»Welch ein abscheulicher Vergleich!« entrüstete Brunhild sich. »Von der männermordenden Sirene hat unsere Kleine doch wahrhaftig nichts an sich. Da sag schon lieber Circe.«

»Als ob das nicht dasselbe wäre«, lachte Trutz amüsiert. »Ob sie da so heißen oder so, gefährlich sind sie alle.«

»Du scheinst da so allerlei Erfahrungen gesammelt zu haben«, bemerkte die Großmutter trocken, und er schmunzelte.

»Kannst du mir das verdenken? Aber beruhige dich, ich habe mich stets aalglatt aus jeder Affäre gezogen.«

»Und dein Herz?«

»Das blieb von allen Scharmützeln unberührt.«

»Na, wenigstens ein Trost. Aber schweifen wir nicht von dem Nächstliegenden ab. Beraten wir lieber, was nun werden soll. Denn so kann deine Ehe doch unmöglich weitergehen.«

»Und warum nicht?«

»Weil sie ein Unding ist.«

»Liebe Großmama«, entgegnete er gelassen, dabei den Zigarettenrest in die Aschenschale drückend. »So manche Ehe ist ein Unding – und besteht doch. Wahrscheinlich darum, weil die Ehepartner zu gewissenhaft oder auch zu bequem sind, um ein Verhältnis, an das sie sich gewöhnt haben, zu lösen.«

»Na, wenn du kein Egoist bist, dann gibt es so was überhaupt nicht!« war Brunhild empört. »Du magst ja so bequem sein – aber deine Frau? Ich zittere direkt vor dem Augenblick, da ein Mann in ihr Leben tritt, der ihre Schönheit, ihren bezaubernden Charme genügend zu würdigen weiß… und…, und…«

»Ist doch bloß gut, daß du stotterst, Brunchen«, lachte er sie einfach aus, sich dabei eine Pfeife stopfend. »So bleibt das wenigstens unausgesprochen, was man beinahe befürchten könnte. Aber auch nur beinahe. Denn Ragnilt ist eine so gute Mutter, daß sie lieber auf persönliches Glück verzichten würde, als ihr Kind aufzugeben, das bei einer Scheidung mir zugesprochen würde – weil sie dann eben der schuldige Teil wäre. Denn was ich vor ungefähr drei Jahren tat, ist nicht mehr gültig, weil ich ja zu meiner Frau zurückkehrte und so eine Fortsetzung der Ehe wünschte. Aber falls sie sich einen Liebhaber anschafft…«

»Pfui, Trutz!«

»Aber was denn, Brunchen, ich sagte doch: falls. Im übrigen wollen wir uns über ungelegte Eier nicht den Kopf zerbrechen, wie es bei uns in der Landwirtschaft so treffend heißt – oder wenn dir das besser eingeht: Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Deine Gelassenheit möchte ich haben«, seufzte die Großmutter. »Aber wie dem auch sei, meine Sorge gilt jetzt erst mal Gisbert. Wie mag dem armen Jungen zumute sein, der sich wie ein losgelöstes Blatt vom Baum vorkommen muß. Wenn wenigstens seine Mutter zu Hause wäre.«

»Dann würde er mit seinem augenblicklichen Jammer bestimmt nicht zu ihr gehen«, spann Trutz den gerissenen Gesprächsfaden weiter. »Vielleicht wird er ihr mal von seiner Herzensverirrung erzählen, wenn diese längst entwirrt ist, vielleicht auch nicht – wir jedenfalls wollen den Mund halten.«

»Das wollen wir«, bekräftigte Brunhild. »Und soweit ich Rag­nilt kenne, würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als über Gisberts Entgleisung zu sprechen. Denn erstens mag sie ihn viel zu gern, um ihn in den Augen anderer herabzusetzen – und dann ist ihr das alles bestimmt zu peinlich, um es überhaupt in Worte zu fassen. Hab’ ich recht?«

»Wie immer, Brunchen.«

»Spottest du etwa?« sah sie ihn mißtrauisch an. »Bei dir kann man nämlich nie wissen, was Spott oder Ernst ist.

Laßt mich einer bloß mit den Mannsleut’ zufrieden! Ich bin froh, mit einer so schwierigen Angelegenheit nicht belastet zu sein. Vor einem Vierteljahrhundert, ja, da hätte ich es mit Freuden getan. Aber was hätte mir in der Ehe geblüht? Gram um den Heideldeidel von Mann, Sorge um das tägliche Brot und gar noch eine Stube voller Kinder.

Sieh mich nur nicht so mitleidig an, Herminchen. Das alles ist ja längst vorbei – so vorbei, daß ich über das, was mir damals herzblutenden Jammer bereitete, mit der Abgeklärtheit eines Philosophen sprechen kann. Ich weiß nur nicht, was geworden wäre, hättest du dich nicht meiner erbarmt und mich bei dir aufgenommen, liebe Tante Hermine.«

»Na, na«, wehrte diese verlegen ab. »Bei der Aufnahme war ein guter Teil Egoismus dabei. Gerade da hatte ich meinen Jungen an den erbarmungslosen Tod hergeben müssen und war so bitter einsam. Denn der Enkel war ja viel zu klein, um mir Halt und Stütze zu bieten. Das jedoch hast du getan, mein Brunchen, deshalb hab’ ich dir mehr zu danken als du mir. Und nun wollen wir das traurige Einst lassen und uns mit dem Jetzt befassen, das gewiß auch nicht rosig ist. Denn einen Menschen, den man gern hat, im Herzenskonflikt zu wissen, geht einem schon nahe. Und ich weiß nicht, ob er überhaupt damit fertig werden wird, der arme Kerl.«

»Das glaube ich doch, Großmama. Er ist ja kein Schwächling, sondern eine gesunde, kernige Natur.«

»Hm, und wie ist es mit Ragnilt? Sie schien mir recht verstört und wird Zuspruch brauchen. Ob ich mal nach ihr sehe?«

»Nein, Umi. Wir wollen sie in dem Glauben lassen, daß du und Tante Brunhild von der heutigen Episode nichts wißt. Mag sie ruhig bangen und barmen, das kann ihr gar nichts schaden. Dann wird sie vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, daß sie die Männer nicht mit der Unbekümmertheit betrachten darf wie ein Kind einen guten Onkel.«

»Weil sie ja doch alle mehr oder minder Wölfe im Schafspelz sind«, fügte Brunhild lachend hinzu. »Warum schaust du denn so angestrengt auf deine Uhr? Du hast doch nicht etwa ein Rendezvous?«

»Ja, im Verwalterhaus«, kam es gleichfalls lachend zurück. »Ackermann hat nämlich Geburtstag, und ich hab’ ihn tagsüber nicht erwischen können, um ihm meinen Glückwunsch auszusprechen. Doch jetzt werde ich wohl seiner habhaft werden, weil man drüben feiert. Also ist mein Besuch trotz dieser vorgerückten Stunde immer noch angebracht. Oder bist du anderer Ansicht, Großmama?«

»Nein, mein Junge, geh nur, du wirst bestimmt freudig empfangen. Sag dem Geburtstagskind auch unseren Glückwunsch und nimm ihm einige Flaschen von dem besten Wein und eine Kiste Zigarren mit als Gabe von uns. Und wenn du in die Nähe Gustchens kommen solltest, die sicherlich zugegen sein wird, dann laß dich von ihr um Himmels willen nicht ›umstricken‹. Denn die Socken, die sie uns schickte, reichen unter Garantie unser Leben lang – zumal sie nicht getragen werden.«

»Nun, für weitere Versorgung unserer Piedestale hat Gustchen jetzt keine Zeit«, bemerkte Trutz schmunzelnd. »Wie Ackermann mir neulich erzählte, strickt sie für seine Enkelkinder, die mal eintrudeln werden – bei Sohn und Schwiegertochter sogar noch in diesem Jahr. Bei dem anderen jungen Paar wird es wohl noch ein Weilchen dauern, da ja noch nicht lange Hochzeit gefeiert wurde.«

»Ob Gustchen auch gute, feste Schafwolle für die Babysöckchen nimmt?« fragte Brunhild lachend.

»Sicher, jedenfalls ist sie mir von der Verwandtschaft Ackermanns am sympathischsten.«

»Die anderen passen in den gemütlichen Klub auch bestimmt nicht hinein«, meinte Hermine. »Sie sind zu beschränkt und aufgeblasen. Aber der Renken, der paßt wie nach Maß zu den Ackermanns. Ein tüchtiger Junge! Wir können froh sein, ihn uns für Traken gesichert zu haben, bevor ihn uns ein anderer wegschnappte.«

»Als ob das bei deiner Wachsamkeit wohl möglich sein könnte, Umi. Du bist wie ein guter Spürhund. Verzeih bitte den Vergleich, aber er ist nun einmal treffend.

Und nun gehabt euch wohl. Wann ich wiederkomme, hängt von Ackermanns Getränken und von den Socken Gustchens ab. Sollte ich etwa nicht das Schlüsselloch finden, wird Brunchen mir sicherlich dabei helfen.«

»Jetzt mach bloß, daß du Land gewinnst!« wehrte sie lachend ab. »Aber ich will schon nicht so sein. Bring mir ein Ständchen, dann laß ich dich ein.«

»Was soll ich denn singen? Etwa: Feinstliebchen mein unter dem Rebendach?«

»Nein, da hättest du dich im Fenster geirrt«, kam es schlagfertig zurück. »Da pirsche dich nur zu der Liebsten Altan, dann erwischst du die Richtige.

Denn durch des Altanes Tür

schwebte sachte sie herfür.

Ließ die Leiter und so weiter

zu dem Singenden herab,

hielt sich fest an seinem Barte –

und der Bart war ab.«

»Mir zu gefährlich!« Er entschwand schmunzelnd, und Hermine sagte so recht zufrieden:

»Kaum zu glauben, was aus dem einstigen Salonbürschchen geworden ist. Ich bin jetzt so richtig stolz auf den Jungen.«

»Das kannst du auch mit Recht, Tante Hermine«, entgegnete Brundhild warm. »Er ist so ein prachtvoller Kerl, wie der Herrgott solche nicht alleweil schafft. Wenn nur seine Ehe so ganz in Ordnung kommen würde. Gewiß, er hat sich zuerst an ihr versündigt, aber es auch gebüßt. Daher dürfte es endlich genug sein des grausamen Spiels.«

»Ja, das ist der bittere Tropfen in meinem Freudenkelch«, gestand die alte Dame wehmütig. »Aber da wir schon beim Zitieren sind, will ich mit Rückerts Worten sprechen:

Schlägt dir die Hoffnung fehl,

nie fehle dir da Hoffen.

Ein Tor ist zugetan –

doch tausend stehn dir offen.«

*

Als Ragnilt am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, das wie gewöhnlich an Sonnentagen auf der Terrasse eingenommen wurde, war sie zuerst befangen, weil sie ja nicht wußte, ob die beiden Damen von der gestrigen Begebenheit unterrichtet waren oder ob Trutz sie ihnen verschwiegen hatte. Doch als die Großmutter ganz harmlos von Gisbert sprach und es bedauerte, daß er diesmal das Wochenende abkürzen mußte, da fand Ragnilt ihre gewohnte Sicherheit wieder.

Also hatte Trutz geschwiegen, wofür sie ihm direkt dankbar war.

»Nun erzähle von der gestrigen Feier«, wandte die Großmutter sich jetzt an den Enkel. »Wie lange hat denn die ›Sitzung‹ gedauert?«

»Bis zum Morgengrauen«, kam die Antwort schmunzelnd. »Es ging nämlich so fidel zu, daß die Stunden im Nu verflogen.«

»Ja, wo warst du denn überhaupt?« fragte Ragnilt erstaunt.

»Im Verwalterhaus, wo man Ackermanns Geburtstag feierte.«

»War da etwa wieder die ganze Sippe zugegen?«

»Nein, nur Gustchen.«

»O weh!« lachte Ragnilt hellauf. »Da hat sie in den Stunden bestimmt eine perfekte Strickerin aus dir gemacht.«

»Mitnichten, mein Kind«, kam es schmunzelnd zurück. »Um Unterricht zu erteilen, dafür war sie zu süß bedudelt. Unser schlauer Ackermann hatte ihr nämlich von den Getränken so reichlich eingeflößt, daß ihre Zunge auf Schlorren ging, wie es bei uns so schön heißt. Doch die Beine, die waren bestens in Form. Die flitzten man so bei dem Tanz ihrer Jugend, den sie solo zum besten gab. Hei, wie da die Röcke flogen, dabei die herrlichen Socken eigenen Fabrikats freigebend. Dazu die Schuhgröße von mindestens dreiundvierzig – daß wir Zuschauer Tränen lachten, brauche ich wohl nicht extra zu betonen.«

Er horchte gleich den anderen auf, als Trutzis Weinen hörbar wurde. Gleich darauf stolperte das Bürschlein heran, wehleidig das mollige Patschchen vor sich haltend, das ganz danach aussah, als hätte es einen gehörigen Klaps gekriegt.

»Da – da«, zeigte der kleine Mann schluchzend auf das rote Händchen. »Sie hat ihn dehaut, die Böse!«

»Und was hast du getan?« fragte die kleine Mama inquisitorisch, worauf sich das Lockenköpfchen senkte und sich das Mäulchen enttäuscht vorschob, denn daß die Mami so fragen würde, das war in der Rechnung des kleinen Schlaubergers nicht mit einbegriffen, aber schwindeln durfte man bei der Mami nicht, das wußte man aus Erfahrung. Dann gab es womöglich mit der Rute, und das tat doch zu weh.

»Er hat nis danz unatig detan«, begann das aufgeweckte Kerlchen diplomatisch. »Aber Sßester Tala hat ihn soooo deärgert.«

»Nun, wenn… er… man nicht Schwester Karla geärgert hat«, stellte Ragnilt richtig, dabei wie die anderen ein Lachen unterdrückend. »Und da hat es dann einen Klaps gegeben, stimmt’s?«

»Sßa – aber doll!«

»Je doller, um so besser.« Die kleine Mama blieb ungerührt. »Was willst du überhaupt hier? Dich etwa über den Klaps beklagen?«

»Sßa!«

»Da kommst du bei mir aber bestimmt an die falsche Adresse, mein Sohn. Ich werde dir gleich einen Klaps geben – und zwar fürs Petzen. Weißt du, was das ist?«

»Sßa – aber er petzt nis, er sagt bloß«, versuchte er sich aus der Klemme zu ziehen. Trat dabei jedoch einen Schritt zurück und brachte die gefährdeten Händchen in Sicherheit, indem er sie auf den Rücken legte. Dann lief er auf Karla zu, nahm ihre Hand und zog sie schleunigst mit sich fort. »Tomm, sßnell, Sßester – is alles wieder dut.«

Und kaum, daß sie verschwunden waren, brachen die Zurückbleibenden in das amüsierte Lachen aus, das sie bisher aus Erziehungsgründen zurückhalten mußten. Denn reichte man dem intelligenten Burschen erst den kleinen Finger, griff er gleich kühn nach der ganzen Hand.

»Na, so ein gerissener Bengel«, sagte die Umi so richtig stolz. »Der wird sich die Butter vom Brot nicht nehmen lassen. Aber erzogen muß er natürlich werden, also tust du mit deiner Strenge schon recht, Ragnilt.«

»Wenn ihr mich dabei nur unterstützen würdet«, seufzte sie. »Aber in den kleinen Händen seid ihr weich wie Wachs, auch Trutz.«

»Weil ich mit so kleinen Schelmen nichts anzufangen weiß«, entschuldigte er sich unbehaglich. »Wenn der Junge älter ist, dann setze ich mich für seine Erziehung ein. Wie sagte Hippel: Frauen sind die ersten Erzieherinnen des menschlichen Geschlechts.«

»Nun, der gehörte eben auch zu den Herren der Schöpfung, die für alles, was ihnen unbequem ist, eine Ausrede finden«, entgegnete Ragnilt achselzuckend, das Frühstück fortsetzend, das sie durch das Dazwischenkommen des Söhnchens unterbrechen mußte.

Es ganz zu beenden, sollte ihr gleich den anderen nicht vergönnt sein. Und diesmal trug die Schuld daran ein Mann, der plötzlich wie aus der Erde gewachsen auf der Terrasse stand – groß, breit, mit einem frischen gutmütigen Gesicht und lustigen Augen, wie man es bei solchen Hünen öfter findet.

Und was da hinter dem breiten Rücken vorsichtig hervorlugte, war ein allerliebstes Gesichtchen mit großen Augen, die man mit nachtblau bezeichnen konnte. Helles Gelock ringelte sich bis auf die Schulter des zierlichen Persönchens, das sich jetzt langsam aus dem sicheren Gewahrsam löste und mit hellklingendem Lachen auf den Hausherrn zuflog, der genauso wie die anderen erstarrt am Tisch verharrte. Erst als ihn zwei Arme stürmisch umhalsten, kam er zu sich, sprang auf und drückte das holde Anhängsel an sich.

»Ja, Elvi, wenn das keine Überraschung ist!« sagte er lachend. »Sei mir tausendmal herzlich willkommen, geliebter Irrwirsch – und auch du!«

Freudig erregt trat er, das reizende Mädchen nicht von sich lassend, auf den Hünen zu, ihm voll Herzlichkeit die freie Rechte entgegenstreckend.

»Hast du eine Ahnung, Onkel Arnold, wie sehr ich mich über euren überraschenden Besuch freue?«

»Natürlich«, brummte der Baß gemütlich. »Das seh’ ich dir doch an, mein Junge. Aber ob die anderen von der Invasion so entzückt sind wie du?«

»Das wollen wir mal gleich beweisen.« Hermine hatte sich jetzt gefaßt und streckte dem Besucher beide Hände hin. »Euer plötzliches Erscheinen hier ist so etwas wie ein Schreck in der Morgenstunde – aber ein freudiger.«

»Diese Bemerkung geht mir ein wie Öl, Herminchen.« Der Mann besah sich schmunzelnd die alte Dame, die er eigentlich hätte mit Tante betiteln müssen, weil sie es dem Verwandtschaftsgrad nach war. Aber immerhin eine »junge Tante«; denn er zählte genau sechzig Jahre.

»Hast dich doch gut gehalten«, meinte er mit entwaffnender Offenheit. »Müßtest in deinen Jahren eigentlich aussehen wie ein verschrumpelter Bratapfel, hast aber statt dessen glatte rote Bäckchen wie ein Bornsdorfer Äpfelchen. Doch wer ist denn das?« zeigte er auf Brunhild, die das alles vergnügt in sich aufnahm. »Das Gesicht kommt mir doch irgendwie bekannt vor.«

»Gehört ja auch zur Sippe«, warf Hermine belustigt ein. »Sie ist nämlich Edwins Tochter.«

»Was, die Brunhild soll das sein?« Der Mann riß jetzt die Augen auf. »Die war doch noch ein Kind, als ich sie zuletzt sah.«

»Vergiß bitte nicht, mein Lieber, daß indes fast vier Jahrzehnte vergingen«, versetzte Hermine trocken. »Und aus Kindern werden bekanntlich Leute.«

»Allerdings«, räumte er ein. »Man vergißt nur zu leicht, das Rad der Zeit zu drehen. Wundert sich, wenn man nach Jahrzehnten wieder die Stätte der Jugend betritt, kein bekanntes Gesicht zu sehen, weil man von dem Wahn besessen ist, daß man da alles unverändert vorfinden muß – auch die Menschen.

Das ist also die Brunhild, die ich immer als reizendes Mägdlein mit langen blonden Hängezöpfen in Erinnerung hatte – und was da mit Augen so blau wie ein Frühlingshimmel zu mir herüberstrahlt – ist sie das?«

»Jawohl, sie ist’s«, fiel Trutz hastig ein. »Nämlich Ragnilt, die du ja bereits vom Hörensagen kennst.«

Aber nicht so, wäre es dem Onkel beinahe entschlüpft. Denn nach den Erzählungen des Neffen hatte er sich dessen Frau ganz anders vorgestellt – etwa wie ein sanftgurrendes Täubchen – aber keineswegs wie einen prächtigen Goldfasan.

Nun, er hütete sich, seine Überraschung laut werden zu lassen. Wollte es erst dann tun, wenn er sich mit Trutz unter vier Augen befand.

Die fünfzehnjährige Elvira hingegen, die als verzogenes Nesthäkchen nicht daran gewöhnt war, mit ihrer Meinung zurückzuhalten, platzte auch jetzt damit heraus, nachdem sie Ragnilt ungeniert gemustert hatte.

»Du, Trutz, deine Frau hab’ ich mir aber ganz anders vorgestellt – die ist ja direkt schön.«

Fast mißbilligend klang es und löste bei den anderen amüsiertes Lachen aus.

»So – nun mal Ruhe nach dem Sturm!« gebot Hermine ­energisch. »Nehmen wir Platz und beenden wir endlich unser Frühstück, bei dem ihr beiden Nachzügler hoffentlich mithalten werdet.«

Das taten sie denn auch mit Vergnügen, nachdem der Diener noch zwei Gedecke aufgelegt und für Nachschub gesorgt hatte. Hauptsächlich Arnold ließ es sich gut schmecken.

»Wundert euch nicht über meinen Appetit«, sagte er ver­gnügt. »Ich habe nämlich einen Mordshunger, weil das vor Aufregung zappelnde Gör mir zum ausgiebigen Frühstück keine Zeit ließ.«

»Als ob du weniger aufgeregt warst als ich«, schnitt Elvira eine niedliche Grimasse. »In der Beziehung haben wir uns wohl nichts vorzuwerfen, geliebter Paps.«

»So – und wer wollte noch gestern spät am Abend hier einbrechen?« zwinkerte der Vater dem Töchterlein zu. »Nur mit Mühe konnte ich dich von dem Überfall zurückhalten.

Wir haben nämlich in der naheliegenden Stadt übernachtet«, erklärte er den anderen. »Aber von schlafen kann kaum die Rede sein, weil die kleine Plaudertasche mir dazu keine Ruhe ließ. Wie ein aufgeregtes Äffchen hockte sie auf meinem Bett und fragte mir die Seele aus dem Leib. Mit Gewalt mußte ich sie in ihr Zimmer zerren, und kaum, daß ich eingeschlafen war, stand sie schon wieder vor mir und hetzte zum Aufbruch. Am liebsten hätte ich dem niedlichen Störenfried das rosige Fellchen versohlt.«

»Na, Paps, du übertreibst aber!« bemerkte die allerliebste Kleine in einem tadellosen Deutsch, das jedoch die Ausländerin nicht ganz verleugnen konnte. Es verlieh dem Persönchen noch einen ganz besonderen Reiz, das ohnehin schon apart wirkte.

»Warum soll ich da wohl übertrieben haben, du Fratz«, verwahrte sich der Vater gegen die Beschuldigung. »Hab’ ich nun in der Nacht kaum geschlafen oder nicht?«

»Das ›kaum‹ waren immerhin gute acht Stunden, geliebtes Papsileinchen.«

»Mußt du aber eine komische Uhr haben. Na, kurz die Rede, lang der Sinn, ich freue mich doch mächtig, hier zu sein, was eigentlich erst im Herbst geschehen sollte. Aber das kleine Balg da hat mich so getriezt, daß ich es über bekam und mich mittriezen ließ.«

»Das Vernünftigste, was du tun konntest«, bemerkte Trutz, dem man es direkt ansah, wie sehr ihn der Besuch freute. »Wie geht’s zu Hause, wann heiratet Richard?«

»Ist bereits geschehen, mein Sohn«, kam die Antwort schmunzelnd. »Sonst hätte ich mich trotz Elvis Triezo dennoch nicht entschlossen, die lange Reise anzutreten, ohne vorher mein Haus bestellt zu haben. Nun, das ist jetzt geschehen. Die Jungen sind in ihren Ehen und auf ihrem Besitz gut untergebracht, und die Kleine, für die ich ja noch geradestehen muß, hab’ ich bei mir. Hoffentlich wird sie euch nicht auf die Nerven fallen.«

»Wieso das?« fragte Hermine verständnislos.

»Weil sie sich nicht zu benehmen versteht. Wenigstens nicht so, wie es in euerm wohlgesitteten Kreis üblich ist.«

»Na hör mal, Onkel Arnold, jetzt übertreibst du aber wirklich«, nahm Trutz die kleine Base in Schutz. »Du tust ja so, als ob Elvi sich wie eine Wilde gebärdet.«

»Ist aber auch wirklich wahr«, schmollte die Kleine. »Wenn dir mein Benehmen auf die Nerven fällt, Paps, nun, es war ja in deine Hand gegeben, mich besser zu erziehen.«

»Siehst du, da hast’s«, lachte Hermine gleich den anderen. »Ja, ja, mein lieber Arnold, es wird einem oft ein Spiegel vorgehalten, in den man verblüfft schaut – wie es augenblicklich bei dir der Fall ist.«

»Na, so ein patziges Gör!« brummte er halb lachend, halb ärgerlich. »Das ist nun der Dank für all die Liebe, in die man es förmlich einhüllte.«

Weiter kam er nicht, weil eine kleine Hand nach der seinen griff und die weiche Wange daran schmiegte. Daran schon allein konnte man ersehen, daß Elvira zwar ein verzogenes, aber liebenswertes Menschenkind war, das ihnen gewiß nicht auf die Nerven fallen würde.

*

Arnold von Reichwart hatte es in seinem Leben zu etwas gebracht, wie man so sagt. Denn er besaß riesige Ländereien in Kanada, wohin er in jungen Jahren auswanderte. Aber nicht etwa, weil er etwas auf dem Kerbholz hatte und von der Sippe abgeschoben wurde, wie es in damaliger Zeit nicht selten geschah, sondern weil ein Onkel ihn zu seinem Universalerben eingesetzt hatte.

Diese Erbschaft konnte Arnold nun mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Einem lachenden, weil sie dem nicht sehr bemittelten Offizier zu eigenem Besitz verhalf, einem weinenden, weil er nicht nur den geliebten bunten Rock ausziehen, sondern sogar noch außer Landes gehen sollte. Als die Braut sich jedoch sofort dazu bereit erklärte, mit ihm zu gehen, da fiel der Entschluß schon bedeutend leichter, den er dann aber bereute, als er sein Besitztum in Augenschein nahm, das für die dortigen Verhältnisse nur klein und außerdem verwahrlost war. Er würde Jahrzehnte nötig haben, um alles in Schwung zu bringen. Und zwar mit beschränkten Mitteln; denn Geld hatte der Onkel nur wenig hinterlassen.

Wenn es nach Arnold gegangen, hätte er alles in Bausch und Bogen verkauft, das Geld dafür eingesteckt und wäre in die Heimat zurückgekehrt. Aber da hatte der Erblasser, der das wohl geahnt, einen festen Riegel vorgeschoben, nämlich: Entweder bewirtschaftete der Erbe den Besitz wenigstens zehn Jahre lang, oder er ging des Erbes verlustig, und das wollte Arnold wiederum auch nicht. Also hieß es für ihn: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

Außer diesem gab es auch einen Menschen, der dem Neuling mit Rat und Tat zur Seite stand. Und zwar sein Nachbar, sofern man in dem weiten Land überhaupt von Nachbarschaft sprechen konnte. Doch seitdem es Kraftfahrzeuge gibt, ist die Entfernung ja kein Problem mehr.

Arnold lernte diesen Nachbarn im Klub kennen, wohin er sich wandte, um Fühlung zu gewinnen – und die gewann er mit Scharflehner sofort. Er war als junger Bursche ausgewandert und hatte sich im Laufe der Jahrzehnte durch eisernen Fleiß so emporgearbeitet, daß er zu einer der reichsten und angesehensten Persönlichkeiten weit und breit gehörte.

»Sehen Sie, mein junger Freund, man kann hier schon einen Blumentopf gewinnen, wie es so schön heißt«, sprach er dem um zwanzig Jahre jüngeren Mut zu. »Natürlich darf man sich da nicht auf die faule Haut legen, sondern muß arbeiten. Sie finden hier wenigstens etwas vor, aber ich mußte mir selbst das Etwas erst schaffen. Also müßte es mit dem Deubel zugehen, wenn Sie sich nicht früher hochrappeln sollten, als es bei mir der Fall war. Was an mir liegt, Ihnen da beizustehen, das soll geschehen.«

Daß es keine bloße Phrase war, sollte die Erfahrung lehren; denn der erfahrene Scharflehner wurde dem Neuling Reichwart so etwas wie ein Fels in der Brandung. Zuerst bekam er durch ihn einen Verwalter, einen Mischling, äußerst tüchtig und anhänglich wie ein treuer Hund.

Mit dem zusammen schuftete Arnold gewissermaßen Tag und Nacht, bis ein sicheres Fundament geschaffen war. Jahr um Jahr ging das so – und heute, nach Jahrzehnten, gehört Arnold von Reichwalt nebst Scharflehner zu den mächtigsten Großgrundbesitzern weit umher.

Und daß alles hübsch zusammenblieb, dafür hatten die beiderseitigen Kinder gesorgt. Das heißt, bei Scharflehner waren es die Töchter des Sohnes, die die Söhne Reichwarts heirateten. Der ältere übernahm den väterlichen Besitz, der jüngere heiratete ein, weil es auf dem Besitz keinen männlichen Nachfolger gab.

Somit wußte Arnold seine beiden Jungen bestens untergebracht und konnte sich ruhigen Herzens den sehnlichen Wunsch erfüllen, in die alte Heimat zu reisen.

Ein Jammer, daß seine Frau diese Reise, die so oft geplant war und immer wieder zurückgestellt werden mußte, nicht mehr mitmachen konnte – aber diesen prächtigen Ehekameraden deckte schon vier Jahre der Rasen.

Viel zu früh für den ehrlich trauernden Gatten und für die drei Kinder. Hauptsächlich für das elfjährige Nesthäkchen, das damals noch eintrudelte, als man gar nicht mehr mit Zuwachs rechnete, denn die Jungen zählten immerhin vierzehn und dreizehn Jahre.

Was Wunder, wenn dieser reizende Nachkömmling von Eltern und Brüdern förmlich vergöttert wurde. Und man konnte von Glück sagen, daß es ein gutgeartetes Kind war, sonst hätte man sich wohl eine wahre Plage heranziehen können. Und das war die entzückende Elvira gewiß nicht – wohl aber daran gewöhnt, daß sich alles um ihre kleine Person drehte wie Trabanten um einen gewichtigen Planeten.

Und zu so einem Trabanten rechnete die kleine Majestät auch Trutz mit Selbstverständlichkeit. Belegte ihn hier genauso mit Beschlag, wie sie es zu Hause, in ihrem unumschränkten Königreich, getan hatte. Eröffnete ihm kategorisch ihre Wünsche, ihre Pläne, bis der Vater sie unterbrach.

»Nun stopp mal ab, du anspruchsvolles Persönchen. Trutz hat ja schließlich noch eine andere Beschäftigung, als deine Maitre de plaisir zu spielen. Er muß nämlich arbeiten, meine liebe Elvira.«

»Das mußte er bei uns doch auch«, beharrte die Kleine mit dem Eigensinn des verwöhnten Kindes. »Trotzdem hat er immer Zeit für mich gehabt.«

»Vergiß bitte nicht, daß er hier eine Frau und einen Sohn hat, denen er seine knappe Freizeit in erster Linie widmen muß«, wurde der Mann nun verlegen, und da griff Trutz beruhigend ein.

»Onkel Arnold, laß die Kleine nur gewähren, bis der Reiz der Neuheit vorüber ist, und soweit ich sie kenne, wird das nicht lange dauern«, setzte er lachend hinzu, worauf eine kleine Faust nach ihm zielte, die er jedoch unterwegs abfing und einen Kuß darauf drückte.

»So macht er es nach jeder Frechheit«, schmollte das reizende Backfischchen, umhalste jedoch gleich hinterher den großen Vetter und bettelte:

»Nicht wahr, Trutz, du zeigst mir gleich die Pferde – bitte!«

»Na, wenn du so ein scharfes Geschütz auffährst, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu kapitulieren«, erhob er sich und schaute lächelnd auf das quicklebendige Persönchen nieder, das sich in seinen Arm hängte, eifrig dabei auf ihn einschwatzend. Und kaum, daß sie außer Hörweite waren, brummte Arnold verlegen:

»Ich hätte den Firlefanz doch nicht mitbringen sollen, der nun das ganze Haus auf den Kopf stellen wird. Sei ihr bitte nicht böse, Ragnilt.«

»Warum sollte ich das wohl sein?« fragte diese erstaunt dazwischen.

»Weil sie deinen Mann so mir nichts, dir nichts mit Beschlag belegt. Wenn du nun eifersüchtig wirst …«

»Sollte mich plagen«, tat sie trocken ab. »Erstens liegt mir so was nicht, und dann ist Elvira noch ein Kind.«

»Außerdem gibt es noch mehr solch Grünzeug, das sich mit Vorliebe an Trutz hängt«, prahlte Brunhild. »Er ist eben ein schöner, verführerischer Mann, unser Mann. Hab’ ich recht?«

»Und ich«, schmunzelte Arnold. »Die ganze Weiblichkeit hat er in unserer Ecke rebellisch gemacht. Aber nichts da: Ich will von Frauen nichts mehr wissen, von ihren lockend süßen Küssen, ich bleibe einer einz’gen treu…«, sang er theatralisch mit seinem Brummbaß, was so komisch wirkte, daß die anderen hellauf lachten.

Der Mann hatte überhaupt so etwas Stillvergnügtes, Urgemütliches in seiner Art, daß man ihm sofort gut sein mußte. Man konnte gewiß prächtig mit ihm auskommen, und bei dem kleinen Firlefänzchen drückte man eben mal ein Auge zu.

*

Elvira benahm sich jedoch recht manierlich und war außerdem immer so stark beschäftigt, daß man sie im Schloß nicht viel zu sehen bekam. Wenn sie sich nicht gerade Trutz an die Fersen heftete, dann tat sie es bei Ackermann, mit dem sie dicke Freundschaft geschlossen hatte, ebenso wie mit Lottchen und dem alten Pferdepfleger, der das »trautste Marjellchen mit dem Pferdeverstand« schmunzelnd in sein treues Herz schloß.

Außerdem war da noch Trutzi, mit dem sie herumtollte, also war der Tag so ausgefüllt, daß ihr gar keine Zeit dazu blieb, ihren Gastgebern auf die Nerven zu fallen, wie der Vater es befürchtet hatte.

Und dann tauchte noch jemand auf, an den Elvira sich spontan anschloß, und zwar Maren, deren Weg nach Brechten führte, gleich nachdem sie mit den Eltern von der Auslandsreise zurückgekehrt war.

»Guten Abend, da bin ich«, platzte sie frisch, frei und froh in den Kreis der ihr so lieben Menschen hinein, die nach dem Abendessen geruhsam auf der Terrasse saßen. »Ich bitte um ein bescheidenes Nachtquartier – aber ihr habt ja Besuch.«

»Und sehr lieben sogar«, erläuterte Trutz, der auch die Vorstellung übernahm. Die beiden Backfischchen musterten sich so eindringlich, als müßte eines des anderen Seele ergründen, bis Elvira ungeniert herausplatzte:

»Du gefällst mir gut, Maren – sehr gut sogar. Wollen wir Freundinnen sein?«

»Nun mal hoppla!« war die Überrumpelte verblüfft. »Das ist ja ein Tempo wie in Wildwest. Wie alt bist du eigentlich?«

»Fünfzehn«, kam es fast schuldbewußt zurück – und dann der trotzige Zusatz: »Aber viel älter bist du ja auch nicht.«

»Immerhin zwei Jahre«, reckte sich das Persönchen, dabei jedoch gönnerhaft tröstend: »Wirst ja mit jedem Tag älter.«

»Na eben«, lachte Hermine gleich den anderen herzlich. »Aber so ist’s nun mal bei den Backfischchen, die nicht rasch genug älter werden können. Sind sie jedoch aus dem Maueralter heraus und haben gar noch zwei Jahrzehnte mehr auf dem Rücken, dann geizen sie mit jedem Jahr.

Doch nun erzähle uns mal, mein Mädchen, wie es kommt, daß du schon hier sein kannst. So wie ich aus der letzten Karte deines Papas entziffern konnte, wolltet ihr doch erst in ungefähr zwei Wochen nach Hause zurückkehren.«

»Wollten wir auch«, bestätigte Maren, sich in der Runde niederlassend und in die Zigarettendose greifend, die offen auf dem Tisch stand. Doch schon hielt Hermine die Hand fest, was ihr wohl einen empörten Blick eintrug, aber die sonst so zungenfertige Kleine hielt diese Empörung zurück, weil sie nämlich ganz genau wußte, daß man in diesem exklusiven Kreis eine Keckheit zu beschmunzeln pflegte, sofern sie Keckheit blieb und nicht in Frechheit ausartete. Und frech hätte sie werden müssen, wenn sie sich gegen das stumme Verbot der alten Dame aufgelehnt hätte. Also ließ sie davon ab und sagte gottergeben: »Na ja – bescheide ich mich eben.«

»Das beste, was du tun kannst«, versetzte Hermine trocken. »Und nun erzähle endlich, warum deine Eltern die Reise abkürzten.«

»Auf ein dringendes Telegramm hin«, gab das Mädchen Auskunft. »Was es enthielt, das weiß ich nicht, weil ich mich für die geschäftlichen Angelegenheiten der Eltern nicht interessiere. Ich weiß nur, daß mir dieser rasche Abbruch der Reise aber auch gar nicht gefiel. Papa tröstete mich wenigstens, aber Mama verbat sich den Flunsch, wie sie meine trauernde Miene bezeichnete. Jedenfalls benutzten wir das nächste Flugzeug und langten so rasch zu Hause an.«

Man erfuhr anschließend, warum Maren sich hierher flüchtete, nämlich: Weil die Eltern sich nach ihrer Ankunft sofort in die Arbeit stürzten und somit keine Zeit für die traurige, sich einsam fühlende Tochter hatten.

»Überhaupt diese gräßliche Arbeit, ich lerne sie langsam hassen«, schmollte Maren, worauf Elvira, die bis dahin ihr Plappermäulchen tapfer bezwungen hatte, belehrend meinte:

»Wenn unsere Eltern nicht arbeiten würden, hätten wir Töchter nichts zu essen.«

»Bist du aber ein kluges Kind«, spottete Maren, was Elvi ins falsche Kehlchen rutschte. Sie setzte sich in Positur, öffnete den Mund, doch bevor sich das Zünglein regen konnte, griff Trutz lachend ein:

»Erbarmt euch, und fangt euch bloß nicht schon in der ersten Viertelstunde eurer so spontan geschlossenen Freundschaft an zu zanken. Wissen deine Eltern übrigens, daß du hier bist, Maren? Wie kamst du überhaupt her? Etwa mit dem Wagen, wie du es schon einmal versuchtest?«

»Ach, woher denn«, winkte sie hastig ab, wobei das Gesichtchen blutrot anlief. »An die Mordsohrfeige, die Mama mir damals verpaßte, denk’ ich noch. Und dabei fahre ich sicherer als manch ein anderer, den man des Führerscheins für würdig erachtet.«

»Schweife nicht ab, sondern erkläre, wie du herkamst.«

»Himmel, Trutz, wie kann man gleich so eklig sein«, schob sich die Unterlippe vor. »Der Chauffeur fuhr mich her.«

»Ohne Wissen der Eltern?«

»Allerdings. Aber sie werden durch den Mann schon erfahren, wo ich bin. Wenn nicht, können sie es sich wohl denken.

Wohin flüchte ich schon, wenn ich zu Hause mir so allein überlassen bin. Früher war ja noch Gisbert da, aber seitdem er studiert… Übrigens befindet er sich jetzt auf Reisen«, setzte sie lebhaft hinzu. »Kurz und bündig wurde Mama auf einer Postkarte davon in Kenntnis gesetzt. Wohl ärgerte sie sich darüber, daß er sein Studium so einfach unterbricht, was sie jedoch nicht davon abhielt, Sohnemannchens Monatsscheck zu erhöhen, mit der Begründung, daß Reisen eben Geld kostet. Und so bummelt er denn quietschvergnügt in der Weltgeschichte umher.«

Daß es nicht quietschvergnügt geschah, wenigstens in der ersten Reisezeit noch nicht, wußten vier Menschen in diesem Kreis sehr wohl, hüteten sich jedoch, darüber zu sprechen.

Schon gar nicht Ragnilt, die still und in sich gekehrt dasaß, was sonst gar nicht ihre Art war. Aber das fiel nicht weiter auf, da die beiden Backfischchen munter drauflos schwatzten und somit die ganze Gesellschaft unterhielten. Ein Herz und eine Seele, zogen sie später ab und quartierten sich sogar in einem Zimmer ein, weil es sich abends im Bett doch so herrlich schwatzen ließ.

Am nächsten Tag erschien denn auch das Ehepaar Leinsen – und da wurde es Maren doch schwül. Allein, die Standpauke, mit der sie rechnete, lief glimpflich ab. Kopfschüttelnd besah sich die Frau Mama ihr Töchterlein mit der trotzigen Haltung und seufzte:

»Du bist ein ganz schreckliches Kind. Nicht allein, daß du ohne meine Erlaubnis einfach lösfährst, so hinterläßt du nicht mal eine Nachricht.«

»Aber, Mama, hat der Chauffeur dir denn nicht gesagt, daß er mich hierherfuhr?« unterbrach die Kleine sie so unschuldig, daß die anderen nur mit Mühe ein amüsiertes Lachen unterdrücken konnten.

»Nein, das hat er nicht«, fuhr die Mutter in ihrer Strafrede fort. »Weil er natürlich der Meinung war, daß ich um die Fahrt wüßte. Und hätte Trutz mich nicht fernmündlich von deinem Hiersein verständigt, so hätten wir uns um dich ängstigen müssen, du böses Kind.«

»Nun laß es endlich genug sein, Frauchen«, setzte der Papa sich für die kleine Sünderin ein. »Sie wird uns versprechen, fortan nichts mehr ohne unsere Erlaubnis zu unternehmen, nicht wahr, mein Kleines?«

»Natürlich, nimm sie nur noch in Schutz«, versetzte die Mutter halb lächelnd, halb ärgerlich. »Du bist viel zu schwach, wenn es um die Kinder geht. Wie auch gegen Gisbert wieder. Anstatt den Jungen von der Reise zurückzurufen und ihm für seine Eigenmächtigkeit gehörig den Kopf zu waschen…«

»Sehe ich gemütsruhig zu, wie Mamachen dem Sohnemann den Monatsscheck erhöht und somit die Reise finanziert«, warf er mit verschmitztem Lächeln ein, worauf sie ihn zuerst verblüfft ansah und dann verlegen meinte:

»Na ja, was sollte ich wohl anderes machen, da er sich bereits auf Reisen befand. Du wußtest doch sicherlich von dem Vorhaben des Jungen, Trutz. Konntest du ihn davon nicht zurückhalten?«

»Aha, jetzt bin ich der Sündenbock«, versetzte er trocken. »Soweit müßtet ihr euren Sohn doch schon kennen, daß er seinen Kopf für sich hat. Und dann – und überhaupt – mag er sich nur ruhig fremden Wind um die Ohren blasen lassen, das kann ihm nur guttun. Ob er da sein Studium ein Jahr früher oder später abschließt, wird euerm Portemonnaie wohl kaum etwas anhaben.«

Während er sprach, hatte er Ragnilt verstohlen beobachtet und atmete nun ebenso verstohlen auf. Zwar errötete und erblaßte sie in jähem Wechsel, ließ sich jedoch nicht anmerken, wie peinlich ihr das Gespräch war – zumal der Gatte noch um ihretwillen lügen mußte. Denn er war es ja gewesen, der den jungen Mann sozusagen Hals über Kopf auf Reisen schickte.

»Na ja«, resignierte Ilka seufzend. »An der Kateridee des Jungen ist nun nichts mehr zu ändern. Lassen wir ihn also gewähren, wer weiß, wozu das gut ist.«

»Recht so, Mama«, bekräftigte das Töchterlein, das sich wie schutzsuchend auf die Seitenlehne des Sessels placiert hatte, in dem der Stiefvater saß. »Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.«

»Du hast den Sinn erfaßt«, strich Leinsen schmunzelnd über das Köpfchen, das sich an seinen Kopf geschmiegt hatte. Es war eine gar zärtliche Geste, der man entnehmen konnte, wie sehr dem Mann dieses Stiefkind ans Herz gewachsen war, während das eigene…

Darüber machte der scharfe Beobachter Arnold von Reichwart sich seine Gedanken, die er jedoch erst laut werden ließ, nachdem das Ehepaar Leinsen abgefahren war und Ragnilt sich nebst den beiden jungen Mädchen zur Ruhe begeben hatte, wozu die beiden älteren Damen und die beiden Herren noch keine Lust verspürten. Es erschien ihnen zu schade, diesen wundervollen Lenzabend zu verschlafen.

Geruhsam saßen sie da, vor sich die Gläser, in denen ein alter Wein funkelte, über sich den Himmel, der von den Millionen von Sternen wie bestickt wirkte, gleich einem dunklen Samtkissen, auf das man glitzernde Steinchen nähte. Geheimnisvoll dunkelte der Park, aus dessen Tiefe das schluchzende Lied der Nachtigall klang. Im Schilf des Weihers quakten die Frösche, im nahen Wald klagten die Käutzchen, und von den Insthäusern her flatterten Harmonikamusik und Gesang.

»Heimat…«, sagte Arnold leise. »Heimat, das bist du. Nach dir hab’ ich mich gesehnt, im Wachen wie im Traum – und ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbringen werde, noch einmal von dir zu gehen.«

Ganz einfach war das gesagt, so ganz jeder Sentimentalität bar – und wirkte wohl gerade deshalb so stark auf die anderen. Warm legte sich eine schlanke Männerhand auf die riesige des Hünen, und eine sonore Stimme sprach herzlich:

»So bleibe doch in der Heimat, Onkel Arnold. Zuerst einmal bei uns, wo dir Haus und Herz offenstehen.«

»Werde ich auch«, kam es brummend zurück. »Und zwar ruhigen Gewissens; denn ich habe mein Haus bestellt. Meine Jungen sind in ihren Ehen gut untergebracht, und das Nesthäkchen kann mir hier genauso am Rockzipfel hängen wie dort. Ergo folge ich dem lockenden Angebot und bleibe erst mal hier – selbst auf die Gefahr hin, daß wir beiden ›Ausländer‹ euch so peu á peu auf die Nerven fallen werden.«

»Hast du Sorgen«, meinte Hermine trocken. »Aber da du nach Komplimenten zu angeln scheinst, soll dir dieses werden: Ihr beiden ›Ausländer‹ gefallt uns gerade so, wie ihr seid.«

»Hmmm…«, kam es jetzt wie ein zufriedenes Grunzen. »Das ist natürlich Musik für meine Ohren.«

»Hoffentlich nicht so wie diese, die da so wehmütig zu uns herüberklingt«, sagte Brunhild lachend. »Denn da singen sie: Wer das Scheiden hat erfunden, hat an Liebe nicht gedacht. Übrigens scheint Maren mit der ihren rasch fertig geworden zu sein, sonst wäre sie bestimmt nicht so quietschvergnügt.«

»Was, der Fratz weiß auch schon was von Liebe?« fragte Arnold verdutzt. »Der ist ja man knapp aus den Windeln raus.«

»Arnoldchen, früh übt sich, was ein Meister werden will«, neckte Brunhild. »Aber Maren ist bei dieser Übung über den Lehrling nicht hinausgekommen, Gott sei Dank.«

»Niedliches Marjellchen«, meinte Reichwart. »Da kann man schon verstehen, daß der Stiefvater es wie eine Tochter liebt – selbst auf Kosten seines eigenen Fleisches und Blutes. Denn soweit ich beobachten konnte, scheinen da die Vatergefühle zu versagen. Ich muß schon zugeben, daß ich da einfach nicht mitkomme.«

»Das ist für Uneingeweihte auch nicht so einfach«, räumte Hermine ein. »Aber wir Eingeweihten können es verstehen – allerdings mit Vorbehalt. Denn Leinsen hatte nie viel von seinem Kind, da er viel unterwegs war und eigentlich nur als Gast zu Hause weilte. Und als er die Zehnjährige gar in ein Pensionat geben mußte, weil sie da die Mutter verlor, sah er sie im Jahr überhaupt nur einige Male immer nur auf Stunden, während er seine Stieftochter täglich um sich hat, sie sogar auf Reisen mitnimmt. Da kann man schon ganz gut verstehen.«

»Nein, das kann man eben nicht«, unterbrach Arnold sie entschieden. »Was wäre wohl aus Ragnilt geworden, wenn sie euch nicht hätte? Dann wäre sie wohl jetzt im Hause des Vaters das berühmte fünfte Rad am Wagen.«

Ja, darauf wußten die anderen keine Antwort. Einige Herzschläge lang war es still. Dann sprach Arnold erneut:

»Kombiniere ich richtig, wenn ich annehme, daß dieser Gisbert vor seiner Liebe zu Ragnilt floh?«

»Ja, woher weißt du das denn?« fragte Brunhild erschrocken, und er lachte.

»Kindchen, ich hab’ doch zwei Augen im Kopf und ein bißchen Grips noch dazu. Und diese Unbestechlichkeiten verraten mir auch noch mehr. Na, Schwamm drüber, machen wir uns das Herz nicht schwer. Genießen wir lieber froh diesen einzig schönen Abend und überlassen wir alles andere unserem Herrgott, der jedem Menschen sein Schicksal vorschreibt – und sie schuldig werden läßt, ohne vermittelnd einzugreifen. Damit du mich auch recht verstehst, mein Junge, will ich mit Schillers Worten erklären: ›Dem Glück bezahlt ich meine Schuld.‹ Also sieh zu, daß es bald geschieht – und nimm dabei dein Herz als Wegweiser, dann wirst du gewiß dein Ziel erreichen.«

Zwei Männerhände fanden sich mit festem Druck – und am Himmel leuchteten verheißungsvoll die Sterne.

*

»Nun seht euch das da bloß an«, zeigte Arnold schmunzelnd den Parkweg entlang, wo Trutz sichtbar wurde. An jedem Arm ein reizendes Backfischchen, kam er, sich im Walzertakt wiegend, auf die vier Menschen zu, die unter einem blühenden Kastanienbaum saßen. Vergnügt pfiff er die Melodie mit, welche die beiden Mädchen begeistert aus dem »lieben Augustin« sangen:

»Wo steht denn das geschrieben,

du darfst nur eine lieben.«

Und dann sang gar noch der Baß den Schluß mit:

»Wohl zweie leicht man liebgewinnt,

wenn sie so reizend sind.«

Schon standen sie lachend da, so recht ein Bild sprühender Lebensbejahung.

»Potztausend, Bengel, du wirst uns noch nächstens über die Stränge schlagen.« Arnold besah sich eingehend den Schwerenöter, und Hermine sagte betroffen:

»Junge, wie du jetzt deinem Großvater gleichst, das ist direkt unheimlich. Wenn du noch einen Bart hättest…«

»Huuuch, wie grausig!« quiekte Maren dazwischen. »Etwa so einen bis zum Westenknopf – o schöne Zeit, o selige Zeit! Aber die meine ist mir bedeutend lieber.«

»Das werden deine späteren Enkel genauso von der ihren sagen«, gab Hermine trocken zurück. »Alles zu seiner Zeit.«

»Na ja, das ist nun einmal der Lauf der Welt«, meinte die fünfzehnjährige Elvira energisch und mußte sich dafür auslachen lassen, was sie jedoch nicht übel vermerkte, sondern lustig mittat. Sie setzte sich dem Vater auf das Knie, drückte einen Kuß auf seine Nase und erklärte kurz und bündig:

»Paps, kauf mir ein Gewehr.«

»Was soll ich?« fragte er so verdutzt, daß die anderen ein Lachen kaum zurückhalten konnten. »Sag mal, Marjellchen, in deinem kleinen Deetz ist doch nicht etwa eine Schraube los?«

»Woher denn, mein Kopf ist ganz in Ordnung. Ich möchte mit Trutz auf die Pirsch gehen.«

»Aha, da willst du ihn wohl höchstpersönlich anschießen, wie?«

»Nein, ich will einen Bock schießen.«

»Das hast du ja bereits, wenn auch in einem anderen Sinn.«

»Ach, Paps, mit dir ist doch manchmal wirklich nicht zu reden«, schob sich schmollend das Mäulchen vor. »Bei uns ist es doch wirklich keine Seltenheit, daß Mädchen schießen. Nur vor mir wurde jede Schußwaffe ängstlich gehütet wie ein Messer vor einem Baby. Und dabei werde ich in elf Monaten sechzehn Jahre.«

»Respektables Alter«, gab der Vater zu, während es ihm verdächtig um Augen und Mund zuckte. Und dann sang er mit seinem brummenden Baß: »Kein Ort, der Schutz gewähren kann, wo meine Büchse zielt.«

Jetzt konnten die anderen denn doch nicht mehr das unterdrückte Lachen zurückhalten. Gleich einer fröhlichen Welle brach es los.

»Das glaube ich auch«, bestätigte Trutz. »Denn vor der Büchse dieser schneidigen Jagdelevin gäbe es bestimmt keinen sicheren Schutz – schon gar nicht für den Jagdmeister. Und ich möchte so gern noch leben, hab’ ich doch Weib und Kind.«

»Wie elegisch«, spottete Ragnilt. »Was schiert mich Weib, was schiert mich Kind, laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind.«

Wie sie das eigentlich meinte, konnte niemand ergründen. In den Augen blitzte der Schalk, doch um den Mund zuckte ein eigenartiges Lächeln.

Die kleine Frau hat’s tatsächlich in sich, dachte Arnold betroffen. Möchte gern wissen, was hinter dieser glatten Stirn für Gedanken spielen. Ich jedenfalls werde nicht klug daraus.

Liebt sie ihren Mann, liebt sie ihn nicht? Man müßte letzteres annehmen, sonst ginge doch einmal das Gefühl mit ihr durch. Aber nichts da! Wenn man ihr einmal auf das Beißerchen fühlen will, macht sie den süßen Schnabel fest zu und lacht einen lieblich an.

»Hol’s der Kuckuck!« dachte er jetzt laut, was eigentlich so gar keinen Zusammenhang hatte, nur Trutz schien es zu verstehen. Es klang unendlich bitter, als er jetzt – auch so ganz zusammenhanglos – sagte: »Dem Glück bezahlt ich meine Schuld – leicht gesagt, mein lieber Schiller.«

»Nanu, was ist denn plötzlich mit dir los?« fragte Maren perplex. »Warum führst du denn aus dem Stegreif den Schiller an? Laß ihn bloß selig ruhen und mit ihm seine ganze Literatur. Sie hat mir im Zeugnis manche Fünf eingebracht – und eine Ohrfeige von der Mama.«

So komisch verzweifelt klang es, daß selbst ein Griesgram nicht hätte ernst bleiben können, geschweige denn diese Menschen, die allesamt Humor besaßen. Also lachte man, fröhlich tat Maren mit – und ein verfängliches Thema war abgebogen.

Außerdem tauchte Trutzi auf, der eine Karre vor sich her schob, in der Holzpferdchen lagen. In allen Farben schillerten sie, angefangen vom schneeigen Weiß bis zum düsteren Schwarz.

»Tun nis ßlafen, müssen an Luft«, erklärte das Bürschchen ernsthaft. »Sagt Sßester Tala.«

»Na, wenn das kein Gestüter wird, dann will ich Hiob heißen«, besah sich Onkel Arnold schmunzelnd den kleinen Wicht. »Schenkst du eines deiner Pferdchen mir, Bengelchen?«

»Nei – ßenk du ihm eins.«

»Trutzi, du bettelst ja«, verwies die kleine Mama, was das Söhnchen absolut nicht berührte. Sie mit den leuchtenden Blauaugen frei ansehend, erklärte es einfach:

»Is dut, denn tiegt er was.«

»Hast recht, Trutzi, dann kriegt man wenigstens was!« jubelte Elvira, sich das reizende Kerlchen langend und es herzhaft abküssend. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr – und dann ging’s davon, was die kleinen Beinchen nur hergeben wollten. Hinterher eilte Karla, die doppelt auf ihren Pflegling achtgeben mußte, wenn er mit dem Irrwisch zusammen war.

»Evi ist doch noch ein rechter Kindskopf«, meinte Maren mit dem nachsichtigen Lächeln einer alten Tante. »Ich muß doch mal nachgehen, damit sie nicht zuviel Unsinn verzapft.«

»Und machst damit den Bock zum Gärtner!« rief Trutz der Davoneilenden lachend nach. »Denn ich weiß ja nicht, wer der größere Kindskopf ist.«

»Seien wir zufrieden, daß dem so ist«, meinte Hermine. »Daß es so frische, natürliche Mädchen sind, mit dem Übermut und den harmlosen Torheiten einer unverdorbenen Jugend. Wünschen wir, daß sie diese Jugend noch einige Jahre in unbekümmerter Ungebundenheit genießen können.«

»Aber darüber nicht eine alte Schachtel werden wie ich«, warf Brunhild lachend ein. »Obwohl auch das seine Vorzüge hat.«

»Und ich!« bekräftigte Ragnilt. »Ich wünschte…«

Was, das blieb unausgesprochen, weil sie jäh abbrach. Trotzdem wußten die anderen, was sie wünschte.

»Bist ja noch jung genug, um selbst törichte Wünsche zu haben«, tat Arnold harmlos. »Nur daß man, wenn sich ein Wunsch erfüllt, gleich mit dem nächsten liebäugelt. Das kennzeichnet Wilhelm Busch damit treffend: Ein jeder Wunsch, der sich erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.«

Damit hatte der kluge Mann ein Gespräch abgebogen, das hauptsächlich für Trutz hätte peinlich werden können.

*

Baron von Swindbrecht ging rasch die Hauptstraße der Kreisstadt entlang, schwenkte dann jedoch in eine Nebenstraße ein und stieß dabei mit einem Herrn zusammen, ihn herzhaft auf den Fuß tretend. Darob wollte der also Getretene unwirsch werden, ließ jedoch davon ab, als er den »Treter« erkannte.

»Oh, lá, lá, das war aber forsch!« sagte er lachend. »Warum denn so stürmisch, mein lieber Trutz, daß Sie meine gut zwei Zentner Lebendgewicht übersehen und meine Hühneraugen für Straßenpflaster halten?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Landschaftsrat.«

»Ich entschuldige nur, wenn Sie sich dazu bereit erklären, eine Flasche Wein mit mir zu trinken.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Also! Gehen wir denn zur Weinstube Lettich, da bekommt man wenigstens das, was man Wein nennt.«

Allerdings, das stimmte. Der Wein war sündhaft gut und sündhaft teuer, wie die beiden Herren nach dem ersten Schluck feststellen konnten.

»Das ist wahrlich eine Gottesgabe«, brummte der Genießer Elzerau, seines Zeichens Landschaftsrat. »Lieber ein Glas davon als einen Eimer voll Schemper. Hab’ ich recht?«

»Wie immer«, betrachtete Trutz schmunzelnd sein Gegen­über, das stillvergnügt den guten Tropfen über die Zunge rollen ließ. Wie die personifizierte Gemütlichkeit saß der Mann da, mittelgroß, rund, mit rosigem Gesicht, vergnügten Äuglein und spiegelblanker Glatze.

»Nun erzählen Sie mal, mein lieber Trutz, wie es zu Hause aussieht«, sprach er jetzt zu dem weit Jüngeren, den er bereits als Hosenmatz kannte. »Alles noch frisch, auch die verehrte Frau Großmama?«

»Die ganz besonders«, war die lachende Erwiderung. »Frauen ihrer Art sind einfach nicht kleinzukriegen.«

»Wohl Ihnen und Brechten«, nickte der Dicke. »Denn trotz Ihrer Tüchtigkeit, mein Junge, können Sie von dieser prächtigen Frau immer noch lernen.«

»Unbedingt. Gott erhalte uns unsere Umi noch viele Jahre.«

»Darauf wollen wir anstoßen«, sagte Elzerau warm. »Sie haben überhaupt in den Glückstopf gegriffen, mit so einer Großmutter und so einer Frau. Donner noch eins, das ist schon etwas, das selbst mir altem Knaben das Herz vor Freude hüpfen läßt. Wie geht es dem kleinen Goldfasan?«

»Davon hätten Sie sich schon längst persönlich überzeugen können, Herr Landschaftsrat.«

»Täte ich liebend gern, aber mir fehlt für Besuche einfach die Zeit. Sie wissen ja, was so ein geplagter Mann wie ich an Arbeit zu bewältigen hat. Aber nächstens komme ich – wollte es sogar schon heute. Tja, mein lieber Junge, was ich Ihnen nun sagen werde, wird Ihnen gewiß nicht angenehm sein – aber da Sie es über kurz oder lang doch erfahren hätten, ist es schon am besten, Sie hören es von mir. Hmm – na ja – Sie wissen, daß Holzhusen zum Verkauf steht?«

»Ich hörte davon.«

»Auch wer das Gut kaufen will?«

»Nein.«

»Dacht’ ich mir’s doch. Es ist – und nun bleiben Sie Ihrer Sinne Meister – die geschiedene Frau Ihres – Schwiegervaters.«

Zuerst war Trutz verblüfft, doch dann stieg ihm die Röte der Empörung ins Gesicht.

»Na, so eine Unverschämtheit steht doch wohl einzig da!«

»Hab’ ich auch gesagt. Und weiter sage ich: Es muß verhindert werden, daß wir eine solche Pestbeule in unseren Landkreis kriegen. Aber wie? Wie mir Arninger sagte, hat er nur diesen einen Käufer an der Hand. Und da ihm das Wasser schon bis zur Kehle reicht, muß er rasch verkaufen, bevor der Besitz versteigert wird, wobei er natürlich bedeutend schlechter abschneiden würde.«

»Ich will mit meiner Großmutter sprechen, ob wir so viel Geld zusammenkratzen können, um das Gut zu erwerben«, sagte Trutz langsam, und trocken warf der andere ein: »Geld müssen Sie doch haben wie Heu.«

»Nicht ich besitze das Geld, Herr Landschaftsrat – sondern meine Frau«, stellte er richtig. »Zwar hat sie mir angetragen, stets frei darüber zu verfügen – aber gerade zu dem Kauf möchte ich nichts von ihrem Geld nehmen. Wissen Sie denn übrigens, ob das Gut indes nicht schon verkauft ist?«

»Nein, noch sind die Verhandlungen nicht abgeschlossen. Ich weiß es genau, weil ich vor ungefähr einer Stunde mit Arninger darüber sprach. Leila soll nämlich so widerlich um den Preis gefeilscht haben, daß er sie am liebsten auf die Forke genommen… und sie auf den…, na ja…, geworfen hätte, wo so ein Geschmeiß tatsächlich hingehört. Der Mann ist so fertig mit den Nerven, daß er einfach nicht mehr länger verhandeln konnte und sich drei Tage Bedenkzeit erbat, obwohl der Verkauf drängt. Weinend flehte er mich an, doch das Gut zu kaufen, damit es nicht in so schmutzige Hände käme. Das könnte er einfach nicht ertragen, dann schon lieber Versteigerung, nach der er wahrscheinlich wie ein Bettler von Haus und Hof gehen müßte. Jedenfalls tut der Mann mir bitter leid, aber helfen kann ich ihm leider nicht. Wohl besitze ich ein ganz nettes Kapital, aber zum Kauf eines Gutes reicht es dennoch nicht.

Und nun will ich Ihnen gestehen, Trutz, daß ich Sie heute noch in Brechten aufsuchen wollte, um Sie zu dem Kauf zu überreden. Daher kam es mir sehr gelegen, als Sie mich mit Vehemenz anrannten.«

»Aha, daher auch die Einladung zur Flasche Wein«, schmunzelte er. »Jedenfalls danke ich Ihnen herzlich, Herr Landschaftsrat, daß Sie mich auf das nahende Unheil aufmerksam machten – das unbedingt verscheucht werden muß. Nicht um meinetwillen, der ich diesen Vamp schon verächtlich abgetan hatte, bevor ich nach Kanada ging – und jetzt bin ich wahrlich Manns genug, um mit gleichen Waffen zurückzuschlagen. Aber meine Angehörigen müssen von den Niederträchtigkeiten dieser Person verschont bleiben. Denn um solche auszuhecken, will sie sich doch nur uns sozusagen auf die Nase setzen, da Holzhusen ja an Brechten grenzt. Doch bevor ich das zulasse, belaste ich mich mit einem Gut mehr.«

»Recht so«, bekräftigte der Dicke. »Was ich dazu tun kann, um dieser Kanaille ein Schnippchen zu schlagen, soll geschehen. Ich tu’ mir nämlich den größten Gefallen, wenn ich ein so schmutziges Element erst gar nicht in unseren Landkreis lasse, wo es bisher immer nur ehrenwerte Leute gegeben hat. Und falls Sie das Geld für den Kauf nicht zusammenkriegen sollten, können Sie mit einem guten Zuschuß von mir rechnen, einverstanden, mein lieber Trutz?«

»Herzlichen Dank für Ihr gütiges Entgegenkommen, Herr Landschaftsrat, aber ich hoffe, es wird auch ohne Ihre Hilfe gehen. Würden Sie, wenn es mit dem Geld klappt, bei dem Kauf behilflich sein?«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte, mein Junge. Noch heute fahre ich nach Holzhausen, um mit Arninger zu verhandeln. Aber die Fahrt erübrigt sich wohl nun«, zeigte er schmunzelnd auf den Mann, der wie auf ein Stichwort eintrat. »Habe ich nun Dusel oder nicht? Nehmen wir ihn als gutes Omen.«

Lebhaft winkte er dem Eintretenden zu, der langsam näher kam – alt, müde, gebückt von der schweren Sorgenlast, die das Schicksal ihm aufgebürdet hatte.

»Nimm Platz, Arninger«, sagte der Landschaftsrat herzlich. »Du kommst nämlich wie gerufen. Stärk dich mal erst mit diesem guten Tropfen, und dann möchten wir, der Baron und ich, dir so ein wenig auf den Zahn fühlen.«

»O Gott!« hob der Mann abwehrend die Hände. »Was meinst du wohl, wie schmerzhaft das diese Leila bereits getan hat. Und nicht nur, was den Gutskauf betrifft, sondern auch die Nachbarschaft. Als ob sie ein Detektiv wäre und einen Steckbrief erlassen müßte, so kreuz und quer fragte sie mich aus.«

»Hauptsächlich über die Familien Leinsen und Swind­brecht«, warf Trutz ironisch ein. »Sagen Sie mal, Herr Arninger, haben Sie wirklich nur diese Käuferin Ihres Gutes an der Hand?«

»Leider«, murmelte der Mann, dem die hellen Schweißtropfen auf der Stirn standen. »Aber ich muß doch verkaufen – ich muß doch! Man wird uns, meine Frau und mich, dann wie räudige Hunde vom Hof jagen – es ist einfach zum Verzweifeln! Ich allein würde mich schon irgendwie durchschlagen, aber meine arme Frau, der bricht bestimmt das Herz, wenn sie von Holzhusen muß, an dem sie mit jeder Faser ihres Herzens hängt. Am liebsten jagte ich mir eine Kugel durch den Kopf, um so viel herzblutenden Jammer nicht ansehen zu müssen.«

»Feigling!« fuhr sein guter Freund Elzerau ihn barsch an. »Mute auch das noch deiner armen Frau zu, dann landet sie bestimmt im Irrenhaus. Reiß dich gefälligst zusammen und paß gut auf, was ich dir zu sagen habe.«

Als es geschehen, saß Arninger erst einmal wie betäubt da, doch dann rang es sich mühsam von seinen zuckenden Lippen:

»Sie wollen, Herr Baron…, Sie wollen wirklich… mein… Holzhusen… kaufen…?«

»Ich persönlich will es ganz gewiß«, entgegnete Trutz warm, dem dieser schwergeprüfte Mann aus tiefster Seele leid tat.

»Und soweit ich meine Großmutter kenne, wird sie alle Hebel in Bewegung setzen, um den Kauf zu ermöglichen. Aber ein festes Versprechen kann ich Ihnen jetzt allerdings noch nicht geben.«

»Und doch…, und doch«, murmelte der Mann, dem die hellen Tränen über das sorgendurchfurchte Gesicht liefen. »Und nicht wahr, Herr Baron, Sie jagen meine Frau und mich nicht von Holzhusen?«

»Na, soweit müßtest du diesen Prachtkerl doch wohl kennen«, räusperte sich Elzerau, um den Kloß aus dem Hals zu bekommen, der wie ein Keil darin steckte. »Und nun Kopf hoch, unser alter Herrgott lebt noch. Ab mit Ihnen, Trutz! Fahren Sie nach Hause, sprechen Sie mit Ihrer patenten Großmama, und geben Sie uns recht bald Bescheid.«

Als er sich von Trutz verabschiedete, flüsterte er ihm zu:

»Ich bringe Arninger nach Holzhusen und laß ihn dort nicht mehr aus den Augen – denn in dieser miserablen Verfassung ist er zu allem fähig. Und wenn Sie ein Herz im Leibe haben, mein lieber Junge, dann kaufen Sie Holzhusen – selbst mit dem Geld Ihrer Frau.«

Zwei Männerhände fanden sich mit festem Druck, der einem Gelöbnis gleichkam – und Elzerau wußte, daß der Kauf Holzhusens so gut wie abgeschlossen war.

*

Zu Hause angekommen, suchte Trutz sozusagen stehenden Fußes die Großmutter auf, die er wie gewöhnlich in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch fand – und wo Hermine war, da war auch ihr getreuer Schatten Brunhild.

Man arbeitete jedoch nicht, sondern unterhielt sich lebhaft mit Arnold von Reichwart, der in einem Sessel am Kamin saß.

»Ja, was ist dir denn widerfahren, mein Sohn?« fragte Hermine nach einem prüfenden Blick in das blasse Gesicht des Enkels. »Es ist doch nicht etwa – Ragnilt oder Trutzi –?«

»Gottlob nicht«, winkte er hastig ab, während er sich in einen zweiten Sessel am Kamin sinken ließ. »Aber ein Mensch befindet sich in Not – hörst du, Großmama.«

»Junge, spann mich doch hier nicht auf die Folter«, sprach Hermine beunruhigt dazwischen. »Wenn ein Mensch sich in Not befindet, muß man versuchen, ihm zu helfen, das ist nichts weiter als Menschenpflicht. Wer ist es?«

»Arninger.«

Dann sprach er knapp, kurz, klar – und als der Bericht beendet war, hatte Hermine sich bereits entschieden.

»Wir kaufen das Gut, Trutz, auch ohne die Hilfe des Landschaftsrates. Nicht, daß ich etwas gegen den Mann habe, er ist schon ein anständiger, feiner Kerl, aber es ist auf alle Fälle besser, wenn so ein Besitz in der Familie bleibt. Und falls unser Geld zu dem Kauf nicht ausreichen sollte, wird Leinsen von Herzen gern einen Zuschuß geben, wenn er dadurch verhindern kann, daß seine geschiedene Frau unsere Nachbarin wird.«

»So – und an mich denkt wohl keiner?« warf Arnold ein, bedächtig seine Pfeife säubernd. »Wo ich doch so scharf auf ein Gut in eurer Nähe bin.«

»Seit wann denn?« fragte Trutz überrascht. »Du hast doch nie etwas davon verlauten lassen.«

»Weil ich nicht gern über ungelegte Eier spreche«, kam es pomadig zurück. »Aber da mir dieses nun gewissermaßen vor die Nase gelegt wird, wäre ich ja ein Narr, mir das von einem anderen wegnehmen zu lassen.

Und nun mach den Mund zu, mein Sohn – denn geistreich siehst du momentan wirklich nicht aus.«

»Kann ich mir denken«, gab Trutz lachend zu. »Aber wenn du auch so mit der Tür ins Haus fällst, das muß ja verblüffen. Doch nun mal Scherz beiseite.«

»Na, nun wird’s Tag!« war jetzt Arnold an der Reihe, verblüfft zu sein. »Mir ist wahrlich nicht nach Scherz zumute. Schon gar nicht, wenn es heißt, ein Unheil abzuwenden. Und wie das Unheil heißt, brauch’ ich wohl nicht extra zu betonen. Ergo müssen wir rascher als dieses sein, ist dir das klar, mein Junge?«

»Und wie, Onkel Arnold! Zuvorkommen heißt alles.«

»Dann sind wir uns ja wieder mal einig. Warum muß Arninger übrigens seinen Besitz verkaufen?«

»Weil sein Sohn, ein übler Taugenichts, ihn ruinierte«, gab Hermine Antwort, die da besser im Bilde war als der Enkel. »Nachdem er das glänzend vollbracht, jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Und nun auf Ehre, mein lieber Arnold, würdest du dich zu dem Gutskauf auch entschließen, wenn diese obskure Leila nicht mit im Spiel wäre? Oder willst du uns gar ein Opfer bringen?«

»Ne, Herminchen, so opferbereit und edelmütig bin ich denn doch nicht, um mich da gleich mit einem Gut zu behängen«, wurde er nun sachlich. »Ich kam nämlich schon mit der Absicht her, einen Besitz möglichst in eurer Nähe zu erwerben und darauf zu wirtschaften, denn um mich auf die faule Haut zu legen, dafür bin ich denn doch noch zu mobil.«

»Und warum regst du dort deine Kräfte nicht weiter, wo du alles in harter Arbeit aufbautest?« fragte Trutz befremdet.

»Weil ich jetzt dort übrig bin – oder besser gesagt: Mich übrig fühle, seit mein Ältester laut Überschreibung der rechtmäßige Besitzer ist.«

»Bist du mit der Überschreibung nicht voreilig gewesen?« fragte Hermine langsam, und kurz winkte er ab.

»Es ging nicht anders, da meine Schwiegertochter viel Geld in die Ehe brachte. Und solche Frauen – na, Schwamm drüber. Hauptsache, daß Robert sich gut mit ihr versteht.«

»Wahrscheinlich als Pantoffelheld«, bemerkte Brunhild lachend, und da umzuckte ein Schmunzeln den Männermund.

»I bewahre, für so eine Witzfigur ist mein Junge nicht geschaffen. Der hat genauso einen harten Schädel wie sein Vater, gleichfalls Richard. Sie lieben zwar ihre Frauen herzlich, aber niemals bis zur Schwäche.

Hab’ ich recht, Trutz?«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte er, der ja die Verhältnisse im Verwandtenhaus gut kannte. Doch daß Onkel Arnold seinem Ältesten jetzt schon den Besitz überschreiben ließ, das war ihm allerdings neu. Also war dieser wichtige Schritt nach seinem Fortgang unternommen worden.

Warum, das konnte Trutz sich denken. Denn seitdem Robert von Reichwart eine Frau ins Haus brachte, die auf ihren prallgefüllten Geldbeutel pochte, daß es nur so klirrte, fühlte Arnold sich in seinem eigenen Bereich nicht mehr wohl. Und da die Sehnsucht nach der alten Heimat immer stärker wurde, gab er dieser Sehnsucht endlich nach.

»Na, denn will ich mir mal dieses Holzhusen näher ansehen«, sprach Arnold jetzt in Trutz’ Grübeln hinein. »Die Katz’ im Sack kauf’ ich natürlich nicht, wie es so treffend heißt. Haltet mir den Daumen.«

»Wozu denn?« kam es von der Tür her, durch die Ragnilt soeben schritt.

»Damit es mit dem Gutskauf klappt«, zwinkerte der Onkel ihr vergnügt zu. »Ich möchte nämlich gern euer Nachbar werden.«

»Und Holzhusen kaufen?« fragte sie kurz dazwischen.

»Allerdings.«

»Dann beeil dich nur, damit dir diese obskure Leila nicht zuvorkommt«, meinte sie achselzuckend, während sie Platz nahm und nach einer Zigarette griff, die sie selbst in Brand stecken mußte, da die beiden Herren wie erstarrt verharrten. Und dann war es Trutz, der sich zuerst faßte. Seine Stimme klang rauh, als er fragte:

»Woher weißt du das denn? Und woher kennst du diese Leila überhaupt?«

»Zwei Fragen auf einmal«, entgegnete sie spöttisch. »Und die letzte ziemlich naiv, mein lieber Trutz. Denn schließlich werde ich doch meine – verflossene Stiefmutter kennen.«

»Aber woher denn nur, mein Kind?« fragte jetzt die Großmutter konsterniert. »Du bist doch nie mit ihr zusammen gewesen.«

»Das wohl nicht. Aber Papa hat es nicht versäumt, mir mit der Vermählungsanzeige auch das Bild seiner damals Angebeteten zu schicken«, erklärte sie sarkastisch. »Und so ein Gesicht prägt sich ein. Kurz die Rede, lang der Sinn: Ich sah diese…, na ja…, an der Tankstelle jetzt persönlich, wo sie neben ihrem Auto stand und sich laut und ungeniert mit einem Herrn unterhielt. Soviel ich erlauschen konnte, sprachen sie über den Kauf von Holzhusen, der heute unbedingt noch abgeschlossen werden müßte. Dann fuhren sie beide ab, und wohin, ist wohl nicht schwer zu erraten.«

Weiter kam sie in ihrer Erklärung nicht, weil der Fernsprecher anschlug. Trutz, der das Gespräch entgegennahm, lauschte erst einmal der Stimme am anderen Ende und gab dann Antwort:

»Diese Hiobsbotschaft überrascht mich nicht, Herr Landschaftsrat, da meine Frau bereits damit aufwarten konnte. Sie hörte an der Tankstelle nämlich ein Gespräch mit an, das die bewußte… Dame… ganz ungeniert mit einem Herrn führte und dem zu entnehmen war, daß der Kauf Holzhusen heute unbedingt noch abgeschlossen werden müßte. Jawohl, ich mach’ mich sofort auf den Weg und bringe meinen Onkel mit, der unter Garantie die Luft dort säubern wird, falls es Ihnen und Herrn Arninger inzwischen nicht gelingen sollte. Also bis gleich.«

Damit legte er den Hörer auf und erklärte den anderen, die mit atemloser Spannung dem Gespräch gefolgt waren:

»Die Bewußte ist tatsächlich mit dem Makler in Holzhusen eingetroffen und will den Kauf durchaus abschließen. Los, Onkel Arnold, schlag sie aus dem Feld!«

»Und wie ich das werde!« versprach dieser grimmig. »Ich besitze ja Routine, mit Gelichter umzugehen.«

Von Trutz gefolgt, eilte er davon, die drei Damen in bedrückter Stimmung zurücklassend.

»Wie gut, daß der Landschaftsrat Herrn Arninger nach Holzhusen begleitete«, sagte Hermine leise. »Da hat er wenigstens einen energischen Beistand – und einen weiteren wird Arnold ihm bringen. Denn der fackelt nicht lange. Und du armes Kind bist nun doch in die widerliche Sache einbezogen, die wir dir verschweigen wollten.«

»Warum denn eigentlich?« fragte Ragnilt erstaunt. »Ich meine, die Zeit ist doch um, wo mir elendem Schwächling alle Unannehmlichkeiten des Lebens ferngehalten werden mußten. Ich kann jetzt einen ganz guten Pupp vertragen, ohne dabei in Jammer und Wehleidigkeit plärrend zu versinken.«

»Gewiß – sonst schon«, gab die Großmutter verlegen zu. »Aber da es sich um diese… üble Person handelt, die dir und auch deinem Vater…«

»Aber, Umilein, seit wann stotterst du?« lachte Ragnilt in ihr Gestammel hinein. »Mir persönlich hat die Person nichts getan, und Papa konnte es nur dienlich sein, durch Schaden klug zu werden – wie Trutz ja auch.«

»So – und wenn dieser ›Schaden‹ sich ihm sozusagen auf die Nase setzen wird, was dann?« fragte die Großmutter schärfer, als sie sonst mit Ragnilt zu sprechen pflegte. »Ich glaube nicht, daß auch dir dann wohl zumute sein dürfte.«

»Das allerdings nicht«, gab sie ehrlich zu. »Aber daß es nicht soweit kommt, dafür wird Trutz schon sorgen.«

Damit ging sie, und Hermine sprach ihr seufzend nach:

»Aus der kleinen Sphinx werde ein anderer klug – mir jedenfalls ist so viel Scharfsinn nicht gegeben.«

*

Als Arnold und Trutz das Holzhusener Herrenhaus betraten, kam ihnen Arninger bereits entgegen. Er war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte:

»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Herr Baron – und auch Sie, Herr von Reichwart, der Sie ja wohl sind – das Weib ist ganz einfach vom Teufel besessen!«

»Den wir ihr mal gleich austreiben werden«, entgegnete Arnold gemütlich. »Ihr alle hier seid so einem Gewürm gegen­über viel zu vornehm und könnt daher den groben Keil nicht anwenden, der nun mal auf einen groben Klotz gehört.«

Der Mund Arningers verzog sich zu einem Lächeln, das mehr konventionelle Höflichkeit ausdrückte als überzeugte Zustimmung. Er hastete davon und überließ es den anderen, ob sie folgen wollten oder nicht.

»Am besten ist wohl, mein Junge, wenn du bei der Verhandlung erst gar nicht in Erscheinung trittst«, raunte Reichwart dem Neffen zu, doch der winkte ab.

»Meine Art ist es nicht, feige zu kneifen, Onkel Arnold. Ergo werde ich meiner einstigen ›Eselei‹ mutig ins Auge schauen.«

»Ah, der Herr Baron von Swindbrecht«, kam es hämisch über die getuschten Lippen der raffinierten Frau, als sie des Mannes ansichtig wurde, den sie einige Wochen lang in ihren schreiend rot lackierten Krallen gehalten hatte – und der nun mit unverhohlenem Ekel auf sie schaute. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, tat es der Onkel in einer Art, wie sie verächtlicher nicht sein konnte:

»Ach, Sie sind das – dann allerdings.«

»Herr, was erlauben Sie sich? Ich werde…«

»Sie werden gar nichts«, schnitt Reichwart ihr scharf das Wort ab. »Höchstens hier verschwinden und uns nicht länger die Luft verpesten. Also machen Sie, daß Sie schleunigst Land gewinnen, Sie Blutegel.«

»Nun ist aber Schluß«, setzte sich jetzt der Makler entrüstet für seine »Verbündete« ein.

»Ich werde Sie im Namen der Dame wegen Beleidigung verklagen!«

»Ach ne«, besah der Hüne sich eingehendst das dürre Männchen, dabei die Hände in die Hosentasche schiebend. »Dann müßte die… Dame… ja mit zur Polizei…, und ich glaube nicht, daß sie sich der Gefahr aussetzen würde, da es so manches gibt, was sie zu verbergen hat. Zum Beispiel… Erpressung…, zuletzt im Parkhotel, wo ich so mancherlei erlauschte. Hat es gezahlt, das gepeinigte Opfer?«

Das war nun eine Eröffnung, die sogar der gewiß nicht ängstlichen Leila auf die Nerven gehen mußte. Sie sprang auf, schnappte einige Male nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen – und rauschte dann in einer Art ab, die wohl Verachtung ausdrücken sollte, jedoch kläglich mißlang, weil der Abgang mehr einer feigen Flucht glich.

»Na also«, meinte Arnold gemütlich, nachdem die Tür hinter der Entwichenen zugeknallt war. Augenblickslang saß der Makler da wie einer, dem man unversehens eine Ohrfeige versetzt hatte, doch dann verschwand auch er flink wie ein Wiesel, und der Landschaftsrat lachte schallend auf.

»Donnerwetter, das ging aber forsch.«

»Das geht es bei meinem Onkel immer«, fiel Trutz amüsiert in das Lachen ein. »Doch nun möchte ich die Herren erst einmal bekannt machen.«

Nachdem es geschehen war, setzte man sich zusammen, und der Landschaftsrat wandte sich an Arnold, der so recht mit Behagen sein Pfeifchen stopfte wie einer, der soeben etwas Gutes vollbrachte.

»Jetzt bin ich aber doch begierig zu hören, Herr von Reichwart, wie es Ihnen möglich sein konnte, uns den Blutegel, gegen den mein Freund und ich uns mit Händen und Füßen wehren mußten, so mühelos vom Hals zu schaffen.«

»Glück muß der Mensch haben«, kam die Antwort schmunzelnd. »In dieser Sache das Glück des Zufalls. Es war mir hold, als ich auf meiner Reise nach Brechten in einem Hotel Rast machte und während des Abendessens ein interessantes Gespräch mit anhörte, das in meiner Nähe geführt wurde, und zwar in spanischer Sprache, die mir geläufig ist. Ein exotisch aussehender Herr sollte da für etwas bluten, wogegen er sich ziemlich laut sträubte, während sie wie eine Schlange zischte. Stillvergnügt sah und hörte ich dem allen zu, wogegen man von mir keine Notiz nahm. Erst als der Mann sie eine Erpresserin nannte, da konnte ich es nicht unterlassen, ihm beizupflichten.

Ich riet ihm, natürlich auf spanisch, den Blutegel doch der Polizei zu übergeben, worauf sie mich erst entgeistert anstarrten; denn da ich ja nicht wie ein Spanier aussehe, hatte man wahrscheinlich angenommen, daß ich keinen blassen Schimmer von dieser Sprache hätte. Na, mag dem sein, wie es wollte, jedenfalls verkrümelten sie sich in nervöser Hast, ein Zeichen, daß auch der dunkle Kavalier kein sauberes Chemisettchen gehabt haben kann. Ergo wird er wohl geblutet haben, wie sicherlich manch ein Opfer vor ihm.

Nun können Sie sich wohl denken, meine Herren, wie entzückt ich war, die Erpresserin anzutreffen, die auch hier im trüben fischen wollte. Es war mir eine Wonne, sie in die Flucht zu schlagen. Und daß sie sich in unserer Ecke nicht mehr blicken läßt, darauf geh’ ich jede Wette ein. Und nun Sie diese widerliche Feilscherin losgeworden sind, wollen wir beide mal zum geschäftlichen Teil übergehen, Herr Arninger. Ich habe nämlich die Absicht, Ihr Gut in Augenschein zu nehmen, und falls es mir gefällt, es zu kaufen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ja – nein – aber das geht doch gar nicht«, sah Arninger Trutz hilflos an. »Ich habe doch bereits dem Herrn Baron das Recht eingeräumt…«

»Das er an mich abtritt«, half Arnold freundlich aus. »Was nur recht und billig ist, wenn einer drei Güter besitzt und der andere gar keins.«

»Sehr richtig«, bekräftigte der Landschaftsrat. »So wollen Sie hier seßhaft werden, Herr von Reichwart?«

»Ja, mit der Absicht, mich möglichst in der Nähe meiner Verwandten anzukaufen, kehrte ich in die alte Heimat zurück. Und daß gerade das Nachbargut zum Verkauf steht, ist ein kaum glaublicher Dusel, der sich mir da wieder einmal an die Fersen heftet.«

»Und für mich wäre es einer, wenn der Kauf zustande käme – und wenn meine Frau und ich…«

»Darüber sprechen wir später noch«, warf Arnold hastig ein, um keine falschen Hoffnungen zu erwecken. »Zuerst muß ich mir den Besitz ja einmal ansehen.«

»Mich entschuldigen Sie bitte«, winkte Arninger müde ab. »Ich muß zu meiner Frau gehen, um sie zu beruhigen. Es genügt vollkommen, wenn mein guter Freund Elzerau und der Herr Baron bei der Besichtigung dabei sind.«

Mühsam erhob er sich und ging schleppenden Schrittes davon. Als sich die Tür hinter ihm schloß, brummte Reichwart:

»Das kann man gar nicht mehr mit ansehen. Also gehen wir.«

*

Die Besichtigung dauerte immerhin einige Stunden, währenddessen das Ehepaar Arninger beisammensaß – Hand in Hand wie zwei verwaiste Kinder, die man dem elterlichen Nest entreißen wollte. Wie ein Häuflein Unglück wirkte die Frau mit ihrer gebeugten Gestalt, dem vergrämten Gesicht und den müdegeweinten Augen. Ein Anblick, der jeden Menschen erschüttern mußte, sofern er ein Herz im Leibe hatte.

Und das hatte Arnold von Reichwart wahrlich. Sein Herz zog sich vor Mitleid zusammen, als das vom Schicksal so schwergeprüfte Ehepaar eintrat. Und als die Frau ihn gar noch mit flehenden Augen ansah, da mußte der Hüne sich erst einmal räuspern, um überhaupt sprechen zu können.

»Also, mein lieber Herr Arninger, ich habe mich entschlossen, Ihr Holzhusen zu kaufen«, begann er absichtlich geschäftlich, um nur ja nicht sein Mitleid zu zeigen; denn auch das kann weh tun. »Da der Besitz abgeschätzt ist, werden wir wahrscheinlich bald einig werden – und ich glaube schon, daß Ihnen da ein ganz netter Batzen übrigbleibt.

Hmm…, ja…, und was Sie betrifft, verehrte gnädige Frau, so möchte ich Sie herzlich bitten, mit Ihrem Gatten hierzubleiben. Ich habe nämlich eine Tochter von fünfzehn Jahren, der es nur guttun kann, unter mütterlichen Schutz zu kommen. Und auch ich habe es gern, bemuttert zu werden.Das Haus übernehme ich mit gesamter Einrichtung, die ich ja nach und nach beliebig ergänzen kann. Sie bereiten sich Ihr eigenes trautes Nestchen, und essen tun wir aus einem Topf. Einverstanden? Aber, aber«, unterbrach er sich bestürzt, als Frau Arninger heiß aufweinte. »Liebe gnädige Frau – ich hab’ Ihnen doch nicht etwa weh getan?«

»Nein – o nein – im Gegenteil«, kam es schluchzend hervor. »Das sind Freudentränen – ja, das sind sie – trotz allem. Lieber Gott, ich danke dir, daß du unser Geschick einem so guten Menschen in die Hände legen willst.«

»Metachen, mein liebes, ist ja schon gut«, beschwichtigte der Gatte, dem selbst die hellen Tränen über die Wangen liefen, und auch den anderen drei Herrn wurden die Augen feucht. »Wir sind ja jetzt aus aller Not.«

»Hmmm«, brummte Arnold, der sich kein bißchen wohl in seiner Haut fühlte. »Ich mach’ den Vorschlag, die Verhandlung zu vertagen, damit Sie erst einmal zur Ruhe kommen. Noch heute überweise ich Ihnen eine größere Summe als Anzahlung, Herr Arninger, damit Sie die ärgsten Schreier von der Pelle bekommen. Falls das Geld nicht reichen sollte, lassen Sie es mich sofort wissen, dann sorge ich für Nachschub – einverstanden?«

»Und wie sehr, Herr von Reichwart. Ich danke Ihnen.«

Es kam zum raschen, aber herzlichen Abschied, und als die drei Herren außer Hörweite waren, mußte Arnold sich zuerst einmal ausknurren wie ein gereizter Hund, der langsam zur Ruhe kommt.

»Da muß sich einem doch das Herz im Leibe umdrehen bei so viel Jammer«, knurrte er die beiden anderen an, als wären sie an allem schuld. »Was wäre aus den armen Menschen wohl geworden, wenn die obskure Leila das Gut erworben hätte. Da könnte man doch fast an Vorsehung glauben, die mich dazu bestimmte, hier helfend einzugreifen.«

»Und soweit ich dich kenne, wirst du es mit deiner ganzen Warmherzigkeit tun«, lächelte Trutz.

»Friß mich bloß nicht, ich bin ja schon still.«

»Möchte ich dir auch geraten haben. Und wie ist es mit Ihnen, Herr Landschaftsrat? Kommen Sie mit uns nach Brechten?«

»Werde mich hüten«, kam es schmunzelnd zurück. »Dafür sind Sie mir denn doch zu ungemütlich. Aber danken möchte ich Ihnen.«

»Was, Sie auch? Wofür denn?«

»Weil Sie mit dem Kauf Holzhusens verhindern, daß ich in den von mir betreuten Landkreis einen Schandfleck à la Leila bekomme.«

»Allerdings, dafür bin ich mir selbst dankbar.«

Lachend trennte man sich mit dem befriedigten Gefühl, noch zur rechten Zeit gekommen zu sein, um ein nahendes Unheil zu verhüten.

*

Einige Tage später saß man in Brechten beim Sonntagnachmittagskaffee, und zwar in dem gemütlichen Frühstücksstübchen, da es draußen regnete.

Man hatte das Ehepaar Arninger zu Gast, das sich unter den fröhlichen, warmherzigen Menschen so wohl fühlte wie schon lange nicht mehr. Es war überhaupt eine wunderbare Veränderung mit ihnen vorgegangen, seitdem sie die drückende Sorgenlast loswurden und wieder zuversichtlich in die Zukunft schauen konnten. Frau Arninger bekam sogar rote Bäckchen, nachdem sie einen Kaffeelikör getrunken hatte, und der Gatte führte sich mit Behagen eben den zweiten Kognak zu Gemüte.

»Muttchen, was geht es uns doch wieder gut«, sagte er liebevoll zu seinem Ehegespons, doch bevor dieses antworten konnte, meine Elvira eifrig:

»Und so richtig schön wird es erst werden, wenn wir bei uns zu Haus mit allem fit sind. Dann geben wir einen großartigen Einzugsschmaus.«

»Stopp ab, Marjellchen«, dämpfte der Vater den frohen Eifer. »Zuerst müssen wir doch wohl die Gäste dafür haben.«

»Na was, Paps, die laden wir einfach ein.«

»Ohne mit ihnen vorher bekannt geworden zu sein. Mein liebes Kind, hier herrschen andere Sitten als bei uns.«

»Zu der Bekanntschaft können wir euch verhelfen, indem wir hier ein Fest geben«, schaltete Trutz sich ein. »Dabei lernt ihr dann die Nachbarschaft in Bausch und Bogen kennen und könnt euch diejenigen aussuchen, mit denen ihr in Verkehr treten wollt.«

»Herrlich!« zappelte Elvira vor Aufregung. »Wir geben ein Gartenfest!«

»Das unter Garantie verregnet.«

»Ach, Paps, du bist manchmal abscheulich«, schob das Töchterlein schmollend die Unterlippe vor. »Es wird doch nicht immerzu regnen, wir haben ja schließlich Sommer.«

»Sehr richtig«, bestätigte die Seniorin der Familie. »Verlassen wir uns auf die Gnade des Wettergottes, und geben wir mal einen richtigen Schrumm.«

»Und wir üben einen feinen Tanz dazu ein«, spann Elvira begeistert den Faden weiter. »Das heißt, Maren und ich, die anderen Damen sind ja dafür zu alt.«

»Danke für das Kompliment«, parierte Brunhild unter dem Gelächter der anderen. »Hauptsächlich für Ragnilt ist es eine ganz besondere Schmeichelei.«

»So ist das doch nicht«, versuchte die Kleine den Fauxpas zu bemänteln. »Ich meinte damit uns Mädchen.«

»Na, bin ich etwa keins mehr – wenn auch ein bejahrtes?«

»Nun laß mir mal das Kind in Ruhe«, nahm Hermine sich der Bedrängten an, deren Gesichtchen vor Verlegenheit rot anlief. »Wenn man nämlich fünfzehn junge Lenze zählt, rechnet man die Einundzwanzigjährigen zum Mittelalter – hauptsächlich dann, wenn sie bereits Gattin und Mutter sind.«

»Dem Grünzeug gegenüber komm’ ich mir auch recht würdig vor«, lachte Ragnilt. »Mag es nur herumhopsen, ich sehe mit abgeklärtem Lächeln zu.«

»Jetzt will ich aber nicht mehr!« trotzte Elvira. »Ihr habt mir den Spaß verdorben.«

»Sieht dir Kindskopf ähnlich«, tat Maren großartig. »Wie kann man nur so empfindlich sein.«

»Und du etwa nicht?«

»Erbarmt euch, ihr Mädchen, und fangt euch nicht womöglich an zu zanken«, brummte Arnold. »Wenn es jedoch unbedingt sein muß, tut es wenigstens unter vier Augen.«

»Also, Paps, jetzt sag’ ich überhaupt nichts mehr!«

»Sehr erfreulich zu hören. Dann werden auch wir anderen endlich zu Wort kommen. Hauptsächlich unsere Ragnilt, die von euch Zeisigen sowieso überzwitschert wird. Willst du uns nicht etwas vorsingen, mein Kind?«

»Ach ja, laß deine liebliche Stimme erschallen«, tat Maren pathetisch. »Gib ein Wunschkonzert. Ich wünsche mir ein Lied von Liebe und Entsagung.«

Vorwurfsvoll sah sie auf die anderen, die in amüsiertes Lachen ausbrachen. Die elegischen Worte hatten aber auch zu komisch geklungen aus dem Mund dieses blutjungen Menschenkindes, das wie das sprühende Leben anmutete.

»Na was, es kann ja auch mal umgekehrt gehen«, zwinkerte Arnold vergnügt. »Mit siebzehn die Entsagung, mit siebzig die Liebe. Denn alte Scheunen brennen bekanntlich am hellsten.«

»Na, Muttchen, dann kann ich am Ende auch mit dir noch was erleben«, blinzelte Arninger der getreuen Ehehälfte verschmitzt zu. »Ein Trost, daß ich zwanzig Jahre Zeit habe, um mich auf das Wunder vorzubereiten.«

»Alter, jetzt schlägt’s aber dreizehn!« wollte sie sich zuerst empören, ließ jedoch davon ab und meinte nonchalant:

»Warum auch nicht? Es hat schon ärger in der Welt gebraust. Aber vorläufig brauche ich ja noch nicht zu brausen«, setzte sie hinzu, herzlich mit den anderen lächelnd. »Darum wünsch’ ich mir kein Liebeslied, sondern eins von Anastasius Grün, das so viel Wahrheit in sich birgt. Kennen Sie es vielleicht, Frau Baronin, das von den dunklen Stunden spricht?«

»Ich glaube ja«, meinte Ragnilt. »Aber warum gerade das Lied, gnädige Frau?«

»Weil es mein Herz anspricht.«

»Na, dann muß ich ja wohl«, erhob sie sich mit unterdrücktem Seufzer. Schritt langsam zum Flügel, nahm daran Platz, präludierte erst tastend, dann immer sicherer, bis zuletzt die Stimme einsetzte:

Dunkeln muß der Himmel rings im Runde,

daß sein Sternenglanz zu leuchten wage;

stürmen muß das Meer bis tief zum Grunde.

daß ans Land es seine Perlen trage.

Klaffen muß des Berges off’ne Wunde,

daß sein Goldgehalt ersteh’ zu Tage;

dunkle Stunden müssen offenbaren,

was ein Herz des Großen birgt und Klaren …

Süß und verhalten wehte die junge Stimme durch den Raum, in dem die Menschen wie gebannt lauschten. Selbst die beiden Backfischchen fühlten sich eigen berührt.

Und Trutz? Der trank diese schlichte Weise förmlich in sich hinein. Sein brennender Blick hing an der grazilen Gestalt, die in der Trübe des Regentages licht und hell wirkte. Wie etwas Verheißendes mutete sie an, wie etwas Tröstendes. Wie eine Mahnung, das Hoffnung nie zuschanden werden läßt.

Es schien dem Mann wie ein Symbol, als plötzlich die Sonne durch das düstere Gewölk brach. Wie Goldgeflitter zitterten die Strahlen durch das Fenster und umflirrten das lockige Köpfchen wie ein Gloriole. Und gerade da, als der jungrote Mund die Schlußzeile sang:

Dunkle Stunden müssen offenbaren,

was das Herz des Großen birgt und Klaren.

Nachdem der letzte Ton verklang, war es beklemmend still. Die Hände der beiden jungen Mädchen, die sich schon zum Applaus gehoben hatten, sanken hinab, als ihre Blicke auf Frau Arninger fielen, der die hellen Tränen über die Wangen liefen. Und auch Ragnilt war bestürzt, als sie, näher tretend, diese klaren Tropfen bemerkte.

»Gnädige Frau, habe ich Ihnen weh getan?« fragte sie leise.

»I bewahre, wohl getan haben Sie mir«, wischte die Dame energisch die Tränen fort. »Und wenn mir etwas wohl tut, muß ich weinen.«

»Ja, das tut sie«, bestätigte der Gatte, um der Rührseligkeit Einhalt zu gebieten. »Meine gute Alte vertritt den Standpunkt: Wenn man glücklich ist, dann soll man weinen.«

»Ich auch, Muttchen Arninger, ich auch«, beteuerte Elvira, indem sie sich zu der Dame auf die Sessellehne setzte und spontan einen Kuß auf die noch nasse Wange drückte. »Und singen muß ich dann auch noch.«

»Erbarmen, kleines Fräulein, regen Sie bloß meine Frau dazu nicht an!« hob Arninger in komischem Entsetzen die Hände. »Wenn die nämlich singt, ist das viel zu schön, um wahr zu sein.«

Damit war auch der letzte Rest der bedrückten Stimmung verscheucht, und daß sie an diesem Tag nicht wieder aufkam, dafür sorgten die Backfischchen mit ihrem munteren Geplauder – und zuletzt gar Trutzi, der in seiner Lebendigkeit ins Zimmer stürmte.

»Ausderissen«, erklärte er strahlend. »Er will mitlachen.«

»Da hat er recht!« Arnold hob das reizende Kerlchen aufs Knie. »Wo alles lacht, kann Trutzi allein nicht weinen.«

»Sie tommt«, zeigte das Fingerlein auf Karla, die soeben eintrat. »Sag nei, Ote Nold, sag nei!«

»Und wenn ich ja sage?«

»Dann is er undeßogen.«

»Und wenn er dann von Mami einen Klaps kriegt?«

»Dann ßreit er!«

»Und dann wehe unserm Trommelfell«, schmunzelte der Onkel, das weiche Körperchen liebevoll an sich drückend. »Um uns davor zu verschonen, Schwester Karla, nehmen Sie bitte in unserer Runde Platz.«

Nachdem es geschehen war, konnte man wieder zum gemütlichen Teil übergehen. Und man mußte schon sagen, daß der kleine Wildfang momentan ein Ausbund an Artigkeit war. Ruhig saß er auf dem Knie des Onkels, der einen wichtigen Platz in dem kleinen Herzen einnahm. Bei Ote Nold war man sicher, da lauerte keinerlei Unbill.

»Wer is das?« zeigte das mollige Patschchen ungeniert auf Frau Arninger. »Die tennt er nis – den da auch nis. Bleiben sie hier? Denn sollen sie.«

»Na also! Der Sohn des Hauses läßt Ihre Gegenwart gnädigst gelten, verehrtes Ehepaar Arninger. Und das ist sehr viel, da man mit zwei Jahren noch keine gesellschaftliche Fron kennt. Wie wär’s, Butzilein, wenn du zu der lieben Tante gingest und ihr ein Küßchen gäbest?«

»Nei, tüssen tut er nis«, kam es ernsthaft zurück. »Aber er deht.«

Damit rutschte er von dem Knie des Onkels, trat zögernd auf die ihm noch Unbekannte zu, betrachtete sie so eingehend, als müßte er ihre Seele ergründen, und meinte dann freimütig:

»Er leidet dis, Tant, du bist lieb.«

Da zog die Frau den kleinen Schelm gerührt auf den Schoß – und das war der Auftakt zu einer herzinnigen Freundschaft.

*

Elvira hatte recht, es regnete nicht immerzu, sondern nur einige Tage. Dann setzte wieder eine Schönwetterperiode ein, so daß man unbesorgt die »alljährliche Abfütterung«, wie Trutz das Jahresfest bezeichnete, als Gartenfest gestalten konnte. Dazu waren diejenigen geladen, die in der Umgegend über ein »sauberes Chemisettchen« verfügten.

Darunter natürlich auch der Landschaftsrat nebst Gattin, die genauso rundlich und genauso gemütlich war wie der Ehegemahl. Und da auf diesem zwanglosen Fest jeder nach seiner Fasson selig werden durfte, suchte man sich fürs erste ein verstecktes Plätzchen, von dem man jedoch den Trubel bequem übersehen konnte. Behaglich seine Havanna rauchend, machte Elzerau seine Studien und gab den nötigen Kommentar dazu.

»Jung müßte man noch einmal sein«, meinte er soeben versonnen. »So jung wie das närrische Völkchen, das sich auf der Tanzfläche dreht. Was meinst du, Hildchen, wollen wir es auch einmal versuchen?«

»Nein«, kam es entschieden zurück. »Jedem das Seine. Der Jugend die Narretei, dem Alter die Vernunft.«

»Es ist aber nicht immer leicht, mit Vernunft alt zu werden«, seufzte er. »Zumal dann nicht, wenn man mit ergrautem Kopf immer noch ein junges Herz besitzt.«

»Hauptsächlich mit so einem ergrauten Kopf, wie du ihn hast«, zeigte sie lachend auf seine Glatze. »Aber warum auch nicht? Es hat ja schon manch ein Großvater eine Achtzehnjährige gefreit.«

Wie zwei lustige Verschwörer sahen sie sich in die Augen und waren sich einig wie eh und je. Ein Ehepaar, wie es vorbildlicher kaum sein konnte.

Wohl war ihnen Kindersegen versagt, was sie teils trübte, teils befriedigte. Zumal dann, wenn sie an die Sorgen dachten, die erwachsene Kinder den Eltern bringen können, wie zum Beispiel der junge Arninger den seinen. Was alles hatten sie von ihrem vergötterten Einzigen erwartet, und was hatte er ihnen beschert? Nichts weiter als Kummer, Gram, zuletzt noch den Ruin, nach dem er sich so feige aus dem Leben stahl, wie er feige gelebt. Und wenn sich da nicht ein gütiger Mann der bedauernswerten Eltern angenommen hätte, dann wären sie an dem mißratenen Sohn zugrunde gegangen.

Dieser Mann trat soeben hinzu und fragte, ob er die traute Zweisamkeit stören dürfte, was ihm gern gestattet wurde. Also ließ er sich nieder und stopfte sein geliebtes Pfeifchen, ohne das man sich diesen Hünen kaum vorstellen konnte.

»Ganz raffiniert haben Sie diesen Platz gewählt«, meinte er anerkennend. »Sie können alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Und das möchte ich eine Weile nicht, um Ruhe vor den niedlichen Marjellchen zu haben, die ausgerechnet mit mir altem Knaben tanzen wollen. Hätte nie geglaubt, daß ich noch so viel Chancen haben könnte«, setzte er verschmitzt hinzu, und Frau Elzerau lachte.

»Na, siehst du, Alter, da kannst du dich ganz beruhigt unter die jungen Damen wagen, ohne einen Korb zu kriegen. Aber such dir ja die Schönste aus.«

»Und unser Trutz, der dort so nonchalant mit gekreuzten Armen steht, schaut das alles seelenruhig mit an. Der scheint seiner Frau absolut sicher zu sein.«

»Das kann er mit Recht«, bestätigte Arnold.

Und wiederum auch nicht – setzte er in Gedanken hinzu. Denn bei der kleinen Sphinx kann man nie wissen, was in dem reizenden Köpfchen vorgeht. Und wenn ihr beide da annehmt, daß der Trutz so gelassen ist, wie er tut, dann irrt ihr aber sehr.

Aber gut so, daß er überall als glücklicher Ehemann gilt – und nur wir wenigen Eingeweihten wissen, daß er es nie werden wird, wenn seine Frau immer weiter in so unbegreiflicher Gleichgültigkeit verharrt.

Aha, jetzt holt er sie zum Tanz, und sie lächelte ihn genauso sphinxhaft an wie alle anderen Partner. Armer Kerl, in deiner Haut möchte ich nicht stecken. Wohl hast du dich an deiner Frau versündigt, aber das läßt sie dich auch büßen mit Grausamkeit.

»Sind doch ein schönes Paar, die Swindbrechts«, sprach Frau Elzerau jetzt in Arnolds sorgende Gedanken hinein. »So eins bringt unser Herrgott nicht alleweil zusammen.«

»Na, Hildchen, bei uns tat er es ja auch«, lachte der Gatte verschmitzt. »Und wir sind doch wirklich ein schönes Paar.«

Das fröhliche Lachtrio wurde von der Musik übertönt, sonst würde es wohl um das versteckte Plätzchen geschehen gewesen sein. Ragnilt hatte es ohnehin schon entdeckt und sagte nun zu ihrem Partner:

»Bei der nächsten Damenwahl zerre ich Papa Elzerau unbarmherzig aus seinem Versteck und werde ihm schon die trägen Beine lockern.«

»Zuerst tut es bei mir«, versetzte Trotz trocken. »Denn vorläufig hemmst du sie, indem du andauernd darauf trittst.«

»Das müßte einem liebenden Ehemann eigentlich eine Wonne sein«, blitzte sie ihn an. »Aber da du keiner bist, sondern vielmehr…«

»Was, vielmehr?«

»Ach – nichts.«

»Na eben, immer der Weisheit letzter Schluß. Laß es ja nicht darauf ankommen, daß ich dir den liebenden Ehemann beweise, damit würdest du dich nämlich in eine Gefahr begeben, in der du bestimmt umkämst.«

»Hach, wie schauerlich! Wollen wir mal den Versuch wagen?«

So hätte sie ihn nicht herausfordern dürfen – zumal noch mit dem Blick, der ihn ungemein reizte.

Na warte! dachte er verbissen. Du sollst die längste Zeit mit mir gespielt haben.

Ganz fest zog er sie an sich, und sein Gesicht war ihr so nahe, daß sie das ihre zurückbog. Seine Augen glitzerten wie bläuliches Eis, hinter dem eine helle Flamme zu lodern schien. Ganz langsam neigte sich der harte, stolze Mund vor, auf den sie einst scheue Küsse gedrückt, die nicht erwidert wurden.

Und plötzlich war alles wieder da, das die schwere Nervenkrankheit ausgelöscht zu haben schien. Ihr demütiges Betteln um Liebe, seine verächtliche Gleichgültigkeit, die eine Stunde, in der sie sich ihm förmlich aufgedrängt hatte – und danach das bittere, bittere Ende. Alles stand wieder vor ihr mit grausamer Deutlichkeit. Selbst die Schmerzen glaubte sie zu spüren, die sie um diesen Mann litt – und die glühende Scham. All das hatte die schwere Krankheit barmherzig verschüttet, denn als sie davon genas, erschien ihr die kurze Ehe wie ein herzquälender Traum. Der Gatte war einfach aus ihrem Leben gestrichen, und als er dann wiederkam, galt er ihr als ein Fremder, zumal er sich so sehr verändert hatte. Langsam gewöhnte sie sich an seine Gegenwart, mochte ihn sogar ganz gern – aber weiter auch nichts.

»Trutz, was fällt dir ein«, flüsterte sie entsetzt, als sein Mund dem ihren ganz nahe war. »Was sollen wohl die Menschen denken.«

»Daß ich meine Frau küsse? Dafür werden sie gewiß schmunzelndes Verständnis haben.«

»Trutz, laß mich los!«

»Könnte dir so passen. Mich zuerst in dieser verflixten Art herausfordern und dann feige kneifen.«

In dem Moment schwieg die Musik. Unwillkürlich lockerte der Männerarm den festen Griff, flink wie ein Wiesel schlüpfte Ragnilt darunter hervor und lief in kopfloser Flucht in den Park hinein, allein seine Beine waren länger. Flugs holte er sie ein, umfaßte sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte, verschloß ihr den Mund mit einem langen Kuß und gab sie dann frei.

»Das war gemein«, stieß sie zornbebend hervor, doch er zuckte die Achsel.

»Vielleicht. Aber ich muß dir endlich einmal beweisen, daß ich nicht mehr länger mit mir spielen lasse, du gefährliche Circe. Und solltest du es dennoch wieder wagen, dann werde ich nicht mehr wie ein einfältiger Fant alles über mich ergehen lassen, sondern werde mit gleichen Waffen zurückschlagen.«

Damit ging er, doch Ragnilt schlug die Hände vors Gesicht und weinte wie ein Mensch, dem soeben Böses widerfuhr.

Und diese heißen Tränen fielen auf das Herz, wie warmer Mairegen auf brachliegendes Land. Ganz sacht rieselte er und lind, damit behutsam die harte Kruste durchweichend, die sich in der Zeit der Dürre gebildet hatte, alles damit absperrend, was hochdrängen wollte, um im Sonnenschein grünen und blühen zu können.

Langsam versiegten die Tränen, und Ragnilt schlich auf Umwegen ins Schloß, weil sie sich mit dem verweinten Gesicht unmöglich unter die Menschen wagen konnte. Erschöpft sank sie in ihrem Schlafzimmer auf den Diwan und unterdrückte energisch die Tränen, die wieder aufsteigen wollten. Durch die geöffnete Altantür wehte Tanzmusik, Lachen flatterte auf und frisch-fröhlicher Gesang.

»Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen«, klang es deutlich bis zu dem jungen Menschenkind hin, das heute aus seiner Gleichgültigkeit aufgerüttelt worden war. Denn was da so bang klopfte, war das Herz, das doch so lange gleichmäßig geschlagen hatte – auch in der Nähe des Gatten.

Nur nicht aus Liebe weinen.

Nun, das tat Ragnilt ja auch nicht – heute nicht mehr. Was jetzt ihre Tränen fließen ließ, war ohnmächtiger Zorn, daß sie sich gegen die Überrumpelung nicht hatte wehren können.

War es wirklich nur Zorn allein? Ach, Ragnilt wußte es nicht. Sie wußte nur, daß jetzt ihre Selbstsicherheit dem Gatten gegenüber dahin war – weil der erzwungene Kuß in ihrem Herzen erneut die Saite klingen ließ, die einst so süß und zart geklungen wie eine Äolsharfe – und die eine rücksichtslose Hand so jäh zerriß.

»Nur wer die Liebe kennt, wem sie mit heißer Glut das Herz verbrennt, dem lacht auf Erden schon das Paradies, lockend und süß«, sangen die jungen Stimmen jetzt unten im Park – und süß klang die Geige dazu.

Danke für das Paradies!

Ragnilt sprang erbittert auf. Ich habe darin nur die Schlange kennengelernt, die blutende Wunden in mein Herz biß. Langsam vernarbten sie und sollen nicht wieder aufgerissen werden, dagegen wehre ich mich mit aller Kraft!

Auf dem Wege zum Ankleidezimmer verhielt sie jäh den Schritt; denn nebenan wurde die Tür geöffnet. Ragnilt löschte die kleine Lampe und sah bangklopfenden Herzens auf die breite Glastür, hinter der es jetzt hell wurde. Ob Trutz sie am Ende suchte, um sich zu entschuldigen?

Der doch nicht, verwarf sie jedoch wieder die absurde Idee. Soweit läßt der Mann sich doch nicht herab, zumal er in seinem Recht ist, daran gibt es nun mal nichts zu drehen und zu deuteln. Denn der Ehemann darf seine Frau küssen, so oft und so viel er will – darf sogar die Küsse erzwingen.

»Nur nicht aus Liebe weinen«, hörte sie ihn jetzt pfeifen. O nein, das tat ein Trutz Swindbrecht bestimmt nicht. Warum auch?

»Es gibt auf Erden nicht nur die eine.«

Regungslos verharrte sie, bis die Lampe erlosch und die Tür ging, da erst wagte sie, Licht zu machen. Ihr Herz klopfte immer noch bang und schwer, als sie im Ankleidezimmer die Augen kühlte, bis auch die letzte Tränenspur verwischt war. Dann noch das Haar gebürstet, bis es wie glänzende Seide den Kopf umbauschte – und sie war wieder fit, wie sie mit Selbstironie feststellte. Also auf nach unten, sich unter die fröhlichen Menschen gemischt und bei Spiel und Tanz die für sie so beschämende Episode vergessen.

*

Man schien die junge Hausherrin noch nicht vermißt zu haben, wie diese befriedigt zur Kenntnis nahm. Unauffällig sah sie sich nach Trutz um, den sie dann auf der Tanzfläche entdeckte, die man eigens für dieses Fest errichten ließ. An den Drähten, die von Baum zu Baum gezogen waren, schaukelten Lampions aus feuerfestem Material, Windlichter standen auf den Tischen. Buden waren aufgeschlagen, in denen alles das aufgebaut wurde, was Augen und Magen entzückte. Es gab sogar eine Bar, und die Hocker davor blieben genausowenig leer wie die Tanzfläche, auf der jetzt auch Trutz zu finden war. Mit der Nonchalance, die jedoch an diesem gewiß nicht alltäglichen Mann so anziehend wirkte, führte er seine Partnerin im wiegenden Walzertakt. Schmachtend schaute diese empor in das rassige Männerantlitz, um dessen Mund ein mokantes Lächeln lag.

Gräßlich, dachte Ragnilt, während ihr heiße Glut ins Gesicht schoß. Genauso habe ich ihn einmal angehimmelt.

»Schönste Frau – jetzt tanzen wir beide in den siebenten Himmel hinein«, stand plötzlich ein Mann vor ihr, der mehr getrunken hatte, als ihm dienlich war; denn er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ein Dunst von Alkohol quoll Ragnilt entgegen, so daß sie angewidert den Kopf abwandte.

Was mach ich bloß? überlegte sie fieberhaft. Lehne ich ab, kommt es bestimmt zum Skandal, Betrunkene darf man ja bekanntlich nicht reizen.

Und siehe da, schon nahte der Retter. Ruhig trat Trutz auf den Berauschten zu und nahm seinen Arm.

»Kommen Sie, mein Lieber, und trinken Sie gefälligst den versprochenen Schnaps mit mir.«

»Aber nur, wenn die… schönste Frau der Welt… mittrinkt. Ich… liebe sie…«

»Dann muß sie natürlich mit«, bekräftigte Trutz, dabei der Gattin einen warnenden Blick zuwerfend. Als sie danach an die Seite des Betrunkenen trat, ließ dieser sich zufrieden abführen, nur daß es nicht dorthin geschah, wo die Bar lockte, sondern dem Schloß zu. Auf halbem Wege kam ihnen Arninger entgegen, der zuerst wohl stutzte, dann jedoch die Situation erfaßte.

»Darf ich mich anschließen?« fragte er harmlos.

»Jawohl«, lallte der Trunkene. »Ich geh’… mit der… schö…, schönsten Frau… zum… Sta…, Standesamt…, da ist sie.«

»Aha«, nickte Arninger verständnisvoll, indem er den jungen Mann, den er als Nachbarssohn von klein auf kannte, unterfaßte. »Komm man, mein Jungchen, ich bin dein Trauzeuge.«

»Wir bringen ihn zu Bett«, raunte Trutz seinem Helfer zu, doch der schüttelte den Kopf und schlug den Weg dorthin ein, wo die Autos der Gäste aufgereiht standen.

»Ich seh’ mich nach seinem Chauffeur um«, sagte Arninger hastig. »Solange müssen Sie ihn schon in Schach halten, Herr Baron.«

Darauf enteilte er und kehrte bald darauf mit dem Fahrer zurück, der ohne viel Federlesens seinen Herrn im Wagen verstaute und davonfuhr.

»Der Mann scheint darin schon Übung zu haben«, lachte Ragnilt, Arninger jedoch seufzte.

»Leider. Aber erst seit kurzer Zeit, seitdem die Braut des armen Jungen mit einem anderen durchging. Um seinen Kummer zu betäuben, greift er jetzt zum Alkohol. Ein wahrer Jammer, daß dieser anständige Mensch an so eine lockere Person herangeraten mußte. Und am schlimmsten ist, er trauert ihr nach. Wahrscheinlich hat er die Frau Baronin in seinem bedudelten Kopf für die Entschwundene gehalten, daher die Faselei vom Standesamt. Hat er Sie etwa belästigt?«

»Nein. Er kam nicht dazu, weil mein Mann rechtzeitig erschien und somit ein Aufsehen verhinderte, das äußerst peinlich hätte werden können. Aber was ist das bloß für ein Mann, der sich wegen einer Frau so aus der Bahn werfen läßt.«

»Das ist schon reiferen Männern passiert als diesem noch sehr jungen«, versetzte Trutz trocken. »Wie sagt Logau: Wo Liebe kommt ins Haus, da zieht die Klugheit aus.«

»Und gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens«, parierte Ragnilt schlagfertig. »Das ist’s also.«

Vergnügt fiel sie in das Lachen der Herren ein, und langsam ging man zu den anderen zurück, von denen niemand den peinlichen Zwischenfall bemerkt hatte.

Zum Glück gab es keinen weiteren Betrunkenen. Wohl hatte man die Bar eifrig besucht, aber immerhin dabei Maß gehalten.

So herrschte denn eine leichtbeschwingte Fröhlichkeit. Das junge Volk konnte vom Tanz nicht mehr genug kriegen. Wenn es schon glaubte, keinen Schritt mehr tun zu können, wippten jedoch die Füße, sofern die Musik einsetzte.

Die älteren Herrschaften hingegen vergnügten sich jeder auf seine Art. In Gruppen saß man zusammen, plauderte oder machte Spielchen, wobei man aus dem Lachen kaum herauskam.

Nur Skat, das beliebte Spiel der älteren Herren, war heute verpönt. Doch da Trutz die verschworenen Spieler leid taten, gab er ihnen vertraulich zu verstehen, daß in der Bibliothek des Schlosses alles für ein Spielchen vorbereitet wäre.

So konnte es kommen, daß mehr als die Hälfte der älteren Herren aus dem Park verschwunden war. Darunter befanden sich auch Onkel Arnold, der Landschaftsrat und Arninger.

Und die schnöde im Stich gelassenen Ehehälften? Die suchten Zuflucht bei der alten Baronin, die an einem langen Tisch residierte, so daß es zu einem »Club der Angejahrten« kam, wie Trutz es schmunzelnd bei sich nannte, was jedoch nicht ausschloß, daß es ihn gerade zu diesem Club zog, weil es dort höchst fidel zuging. Doch wenn er sich so richtig breitmachen wollte, scheuchte die Großmutter ihn auf.

»Ab mit dir, mein Sohn, du hast bei uns Alten nichts zu suchen. Misch dich unter das junge Volk, zu dem du mit deinen dreißig Jahren immer noch gehörst.«

Als jedoch eine längere Tanzpause eingelegt wurde, die man mit leiblicher Stärkung ausfüllte, durfte er im »Club« verweilen und mit Behagen das verspeisen, was er sich von den langen Tischen geholt.

Jetzt nahte auch Ragnilt, in einer Hand ein Sektglas, in der anderen ein Tellerchen mit pikantem Fleischsalat. Das Brötchen dazu klemmte zwischen den Zähnen.

»Wann weiß sie sich mal nicht zu helfen«, lachte die Großmutter, während Trutz seiner Ehehälfte einen Stuhl zurechtschob, auf den sie sich vergnügt niederließ. Glas und Teller wurden abgestellt, der Mund von dem Knebel befreit.

Und dann sah sie mal erst gleich den anderen auf Brunhild, die an der Seite eines Mannes herankam, den sie fast um Haupteslänge überragte. Dazu war er beängstigend dürr, was neben Brunhilds Stattlichkeit doppelt erbarmungswürdig wirkte.

»Das ist Brunchens neuester Verehrer«, flüsterte die lose Rag­nilt den anderen zu, die darob vor unterdrücktem Lachen rot anliefen. Sie durften damit auch noch nicht herausplatzen, als das komische Männchen sich mit einem forschen Handkuß verabschiedete. Erst als es außer Hörweite war, brandete das Lachen auf.

»Brunchen, der paßt zu dir wie die Faust aufs Auge.« Hermine wischte die Tränen fort. »Diese Eroberung darfst du nicht entwischen lassen. Worüber hast du mit ihm gesprochen?«

»Über Altertumswert«, kam es in komischer Verzweiflung zurück. »Ich weiß jetzt genau, wieviel ich wert bin, anhand seines überzeugenden Vortrags. Und als ich halb wirr im Kopf entfleuchte, trippelte er hinter mir her, drängte mich in die Ecke der Bank, auf die ich schachmatt gesunken war, und belehrte mich weiter mit einer Hartnäckigkeit, wie sie nur noch Gustchen zuwege bringen kann. Nur daß man das Gefühl hat, in einer massigen Klemme erdrückt zu werden, während ich das Männlein hätte bequem auf den Schoß nehmen können.«

Anklagend sah sie auf die anderen, die sich vor Lachen bogen. Wer Gustchen war, wußten die wenigsten, doch der kleine Mann war allen bekannt als Schwiegervater des jungen Arztes, der mit seinem Vater zusammen in dem naheliegenden Kirchdorf praktizierte.

Seit der alte Herr vor einem halben Jahr seine Frau verlor, lebte er bei seiner Tochter, wo er ungestört der Gelehrsamkeiten achgehen konnte. Und da er in seiner Weltfremdheit annahm, die Menschen, mit denen er zusammenkam, belehren zu müssen, so war man vor seinen Vorträgen genausowenig sicher wie vor Gustchens Socken.

Heute nun hatte Brunhild dran glauben müssen, und nur mit List war es ihr gelungen, dem anhänglichen Herrn zu entfliehen.

Wären weniger Menschen an dem Tisch gewesen, hätte er sich gewiß zu ihnen gesetzt und weiter doziert, doch als Einzelgänger scheute er die Masse Mensch.

Ergo äugte er nach anderen Opfern aus, die er in den beiden Backfischchen des Hauses auch erwischte. Als die alte Baronin merkte, wie der Gelehrte sich ihnen näherte, sagte sie hastig:

»Um Gottes willen, jetzt hat er es ausgerechnet auf unser Grünzeug abgesehen. Geh rasch hin, Trutz, und hol es her. Denn die übermütigen Mädchen kriegen es fertig, sich über den seriösen Herrn lustig zu machen.«

Trutz enteilte, und als er gerade die Gruppe erreicht hatte, trat von der anderen Seite die junge Arztfrau hinzu und sagte lachend:

»Nun laß bloß die jungen Damen in Ruhe, Papachen. Die haben bestimmt keinen Altertumswert und der Herr Baron auch nicht. Wo hast du übrigens solange gesteckt?«

»Ich habe auf einer Bank im Park, wo die Dudelei nur noch gedämpft klang, mit einer Dame gesessen, die dem Nibelungenring entstiegen zu sein schien«, erklärte er würdevoll. »Schade, daß ich Nam’ und Art vergessen habe. Weißt du es vielleicht, mein Kind?«

»Nach deiner Schilderung kann es nur Brunhild von Reichwart gewesen sein.«

»Siehst du – Brunhild – da haben wir’s!« geriet der kleine Mann in helle Begeisterung. »Wie alt mag sie sein?«

»Bestimmt noch keine tausend Jahre, Papachen. Nun laß deine Altertümer mal ein Weilchen ruhen und komm an unseren Tisch, wo du nach den geistigen Genüssen dich den leiblichen hingeben kannst.«

Den anderen verschmitzt zuwinkend, faßte sie ihren Vater unter und zog ihn mit sich fort.

Obwohl sie zierlich war, überragte sie das Männlein dennoch um einige Zentimeter.

Trutz hingegen hakte sich rechts und links bei den Mädchen ein, um sie rasch außer Hörweite zu bringen, bevor sie in das Lachen ausbrachen, das sie bis jetzt tapfer bekämpft hatten. Aber nun ging es nicht länger. Sie drückten das Taschentuch vor den Mund und prusteten los.

»Ihr seid so richtige Gänschen«, stellte Trutz mißbilligend fest, während er, an jedem Arm ein reizendes Mägdlein, den Parkweg entlang schritt, wie schon vor einigen Wochen einmal. Und so wie damals sangen die Mädchen: Wo steht denn das geschrieben…

Das war nun etwas für die Musiker, die nach der Labung von Speise und Trank wieder frisch zu neuen Taten waren. Flott spielten sie die Melodie mit, schon wurde Trutz von den übermütigen Mädchen umfaßt, im Walzertakt herumgeschwenkt – und da zog es wie ein einziges Schmunzeln durch die zuschauende Gesellschaft.

Es war aber auch ein zu lustiges Bild, wie der Mann da zum Tanz gezwungen wurde. Wie entzückende Kobolde umgarnten sie ihn.

Die Füßchen flogen, die bauschigen Röcke wippten. So tanzten sie an den Tisch der Seniorin, versanken im schönsten Hofknicks und nahmen den Applaus gnädig auf.

»Na, das ist heute mal was für euch Strolche«, besah sich Hermine lächelnd das lustige Gespann. »Wieviel Dummheiten habt ihr hinter euch?«

»Ach, Umilein, wo denkst du hin«, tat Elvira beleidigt, während in ihren Augen der Schalk blitzte.

»Frau Baronin, wie sind Sie doch um so viel köstliche Jugend zu beneiden, die Sie um sich haben dürfen«, sagte Frau Elzerau wehmütig, und die andere lachte.

»Hauptsächlich dann, wenn sie allerlei Allotria treibt, wobei selbst Brunchen manchmal noch mitmacht.«

»Aber jetzt nicht mehr!« rief diese lachend dazwischen. »Fortan muß ich mich meines Altertumswertes würdig erweisen, wie Nofretete und Kleopatra, die der gelehrte Herr mit mir zusammen in einem Atemzug zu nennen beliebte.«

»Und uns hat er gesagt, du wärest dem Nibelungenring entstiegen!« rief Maren in das schallende Gelächter hinein. »Er fragte seine Tochter sogar, wie alt du wohl wärest, worauf diese erwiderte, tausend Jahre bestimmt noch nicht.«

»Damenwahl!« rief in dem Moment ein Musiker, und ehe Trutz es sich so recht versah, war er von einem Mädchenflor umringt.

»Ja, meine Damen, wen soll ich da wohl wählen?« tat er kläglich. »Eine ist so schön wie die andere.«

»Ich war aber zuerst da.«

»Nein, ich, Herr Baron.«

»Nein – ich!«

»Ja, was macht man denn da?« kratzte der bedrängte Mann sich den Kopf – und schon kam ihm die Gattin zur Hilfe. Singend gab sie ihm den guten Rat:

»Drum entscheid’ ich froh,

wie der weise König Salomo:

Wo steht denn das geschrieben…

Also tanze als Oberon mit deinen Elfen«, sprach sie dann weiter, und nur der Gatte hörte den Spott in ihrer Stimme: Alle anderen waren begeistert. Mit Triumph wurde er von den Mädchen zur Tanzfläche gezogen – und schon war der schönste Reigen im Gange.

»Der arme Trutz«, sagte Brunhild lachend. »Der wird ja ganz benebelt von all den weichen Armen, die ihn umschlingen. Und du siehst dir das alles so gelassen mit an, Ragnilt?«

»Warum denn nicht?« entgegnete sie gleichfalls lachend. »Der Mann gewinnt für die Gattin erst an Wert, wenn er auch anderen Frauen gefällt.«

Damit ging sie, um einen Herrn zum Tanz zu bitten, der als Schwerenöter bekannt war. Ein Wunder, daß er noch nicht tanzte, aber das lag wohl daran, weil die jungen Damen sich auf den Baron Swindbrecht gestürzt hatten, dem dieser Kavalier nicht das Wasser reichen konnte, wie man so sagt.

»Gnädigste Baronin, welch eine Ehre«, begann er, sich sozusagen in die Brust werfend. Das war aber auch alles, denn zum Tanz sollte es nicht kommen, weil die Musik unvermittelt abbrach. Ragnilt wußte auch warum, weil sie das Zeichen gesehen hatte, das der Gatte verstohlen den Musikern gab.

»Wie schade«, bedauerte der um den Tanz Betrogene, und höflich bedauerte Ragnilt mit. Langsam ging sie tiefer in den Park hinein, wo das Licht der Lampions nicht mehr hinreichte. Doch kaum hatte sie das Dunkel betreten, als eine wohlbekannte Stimme neben ihr sagte:

»Kehr um, Ragnilt, ich habe nämlich keine Katzenaugen.«

»Warum das?« fragte sie verblüfft, und er zuckte die Achsel.

»Kommentar überflüssig. Du bist klug genug, um zu wissen, daß im Dunkeln stets Gefahr lauert. Und immer kann ich nicht gleich zur Stelle sein, um sie von dir abzuwenden.«

»Weißt du, was du bist?«

»Bitte, nicht weiter«, schnitt er ihr kurz das Wort ab. »Warum siehst du den Splitter in deines Nächsten Auge und nicht den Balken in deinem eigenen? So heißt es doch in der Bibel, nicht wahr?«

Da wandte sie sich brüsk ab und hastete davon, um möglichst schnell die ihr unliebsame Begleitung abzuschütteln, was ihr auch gelang, sobald sie wieder in Licht und Helle war. Anscheinend kümmerte der Gatte sich jetzt nicht mehr um sie – und dennoch wußte sie, daß er sie auf Schritt und Tritt bewachte.

Warum?

Ja, warum. Um das zu ergründen, dafür kannte sie den Mann zu wenig, der ihr doch am nächsten stehen sollte von allen Menschen auf der Welt. Aber er hatte sie damals so grausam im Stich gelassen.

Nein, darüber kam sie nicht hinweg.

Viel Übles hab’ an Menschen ich bemerkt, das schlimmste ist ein unversöhnlich Herz.

Warum kamen ihr diese Worte Grillparzers so plötzlich in den Sinn? Das war ja Unsinn – oder auch nicht?

Ach, Ragnilt wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie durch das so plötzlich veränderte Benehmen des Gatten aus ihrem seelischen Gleichgewicht geraten war.

Ich mußte dir endlich einmal beweisen, daß ich nicht mehr länger mit mir spielen lasse, du gefährliche Circe.

Diese Worte verfolgten sie bis in den Traum, schafften ihr quälende Herzenspein. Dazwischen geisterte die Mahnung: Es gibt auf Erden nicht nur die eine.

Und als Ragnilt aus diesem unruhigen Schlummer erwachte, war ihr Kissen von Tränen naß.

*

Nach dem Gartenfest kam die Zeit für den Landwirt, die man mit Hochsaison bezeichnete. Mit der Heuernte begann sie und dehnte sich über die Sommermonate aus bis in den Herbst hinein. Und wo das Auge des Herrn nicht wacht, da werden die Kühe nicht fett, sagt eine alte Bauernregel.

Arnold von Reichwart, der nun endgültig Holzhusen käuflich erworben hatte, war dort genauso auf Posten wie sein Neffe Trutz auf Brechten. Mit ihm die Großmutter, in immer noch ungebeugter Kraft.

Brunhild hatte in der Buchhaltung ein vollgerüttelt Maß von Arbeit, und Ragnilt sah im Hauswesen nach dem Rechten.

Es war überhaupt stiller geworden in dem weiten Schloß, seitdem Elvira größtenteils in Holzhusen weilte und Maren sich mit den Eltern wieder einmal auf Reisen befand. Fast jeden Tag erhielt man von ihr eine Karte, und auf der letzten war auch ein Gruß von Gisbert dabei. Ein Zeichen, daß er sich Eltern und Schwester angeschlossen hatte.

Als Elvira die Karte las, sagte sie in ihrer freimütigen Art:

»Auf den Gisbert bin ich schrecklich neugierig. Ob er mit seinen Eltern nach Hause zurückkehren wird?«

»Wahrscheinlich«, gab Trutz Antwort, dabei einen verstohlenen Blick auf Ragnilt werfend, der dunkle Röte ins Gesicht gestiegen war. »Es wird ja auch langsam Zeit, daß er sein Studium wieder aufnimmt.

Und nun erzähle mal, du Irrwisch, was du in Holzhusen wieder alles auf den Kopf gestellt hast«, schweifte er um Ragnilts willen von dem verfänglichen Thema ab. »Ist Muttchen Arninger von deiner Wirbelei nicht schon schachmatt?«

»Ach wo, die wirbelt mit«, lachte das Mädchen. »Wir verstehen uns glänzend, nicht wahr, Paps?«

»Kunststück, da sie dir allen Willen läßt«, kam es trocken zurück. »Sehr für dich zum Schaden, du verwöhntes Gör.«

»Und dich verwöhnt sie wohl nicht, wie?«

»Das ist auch etwas anderes.«

»Aha. Na, laß nur, Papsileinchen, wir verwöhnen Muttchen Arninger ja auch, gleichfalls ihren Mann, und so kommt bei uns keiner zu kurz. Wir sind eben eine harmonische Familie, genauso wie die Swindbrechts. Nur so einen kleinen Jungen müßten wir noch haben wie den süßen Trutzi – warum lacht ihr mich denn aus?«

»Weil du so komische Wünsche hast, Marjellchen. Doch nun mal was anderes. Wann wirst du mit der Heuernte beginnen, Trutz?«

»Morgen, Onkel Arnold. Und du?«

»Ich auch. Freue mich ordentlich darauf, meine Kräfte regen zu können. Je turbulenter es zugeht, um so besser.«

Der Ansicht war auch Trutz. Der lag von morgens bis abends in den Sielen, wie man auf dem Lande sagt. Seine Frau bekam er nur noch bei den Mahlzeiten zu sehen, und wenn er nicht zu müde war, noch ein oder zwei Stunden nach dem Abendessen. Aber dann winkte der Bettzipfel, den er sich über die Ohren zog, um fest und traumlos zu schlafen wie ein Mensch, der ein anstrengendes Tagewerk hinter sich hat.

Ragnilt erging es kaum anders, zumal sie noch Trutzi viel um sich haben mußte, da seine Pflegerin den ihr zukommenden Urlaub angetreten hatte. Das lebhafte Kind sorgte schon dafür, daß seine Mutter tagsüber kaum zur Besinnung kam, und als es gar noch an Masern erkrankte, mußte Ragnilt auch nachts auf Posten sein.

Wohl hätte sie eine Krankenpflegerin mieten können, aber da der Arzt keine zuverlässige empfehlen konnte, ließ sie davon ab.

Sie wurde ja auch sehr gut fertig, zumal Brunhild und der Diener Kilian sie in der Pflege unterstützten, obwohl sie sich die Zeit dafür direkt abstehlen mußten.

Ragnilt hatte einen Diwan in das Kinderzimmer stellen lassen, auf dem sie nachts schlief. Das heißt, in den ersten Nächten, als der kleine Patient stark fieberte, war an Schlaf kaum zu denken. Doch nachdem das vorüberging, wurde Ragnilt kaum noch gestört. Und als Karla von ihrem Urlaub zurückkehrte, lief der Junge schon wieder munter umher.

Fragend sah das Mädchen, das vor dem Jungen kniete und ihn zur Begrüßung zärtlich küßte, zu Ragnilt auf.

»Sßester Tala, er hat Dasern dehabt«, erklärte das Kerlchen strahlend, sobald er seiner Pflegerin ansichtig wurde. »Aber nu is er desund.«

»Stimmt das, Frau Baronin?«

»Ja, Schwester Karla.«

»Und warum rief man mich nicht zurück?«

»Weil Sie wenigstens für vier Wochen im Jahr von Ihrem Quälgeist befreit sein sollen«, war die lachende Antwort. »Denn wie der einem zusetzen kann, habe ich jetzt erst so richtig erfahren.«

»Und doch hab’ ich mich nach ihm gebangt. Ach, du mein Bengelchen, ist es schön, daß ich wieder da bin?«

»Sßa, Sßester Tala«, streichelte das dicke Patschchen unbeholfen über das Mädchengesicht. »Er läßt dis nis mehr weg.«

»Das ist Musik für meine Ohren. Aber wer hat denn morgen Geburtstag?«

»Er.«

»Und was wünscht er sich?«

»Hottehüh.«

Die hatte Karla ihm mitgebracht und gleich den Stall dazu. Und ihr wurde die Genugtuung, daß ihr nun zweijähriger Pflegling darüber in hellen Jubel ausbrach. Wohl beschäftigte er sich auch mit den anderen Spielsachen, die auf dem Gabentisch lagen, kehrte aber immer wieder zu dem Stall zurück.

»Ach, du liebes bißchen«, kratzte Onkel Arnold, der sich nebst Tochter zu dem wichtigen Geburtstag einstellte, bedenklich seinen Kopf. »Das heißt ja Eulen nach Athen tragen.«

Was er damit meinte, stellte sich heraus, als aus dem großen Paket ein Pferdestall zutage kam, aber auch der wurde von dem kleinen Pferdenarr mit Jubel begrüßt.

»Und wie stehe ich nun mit meiner Eisenbahn da?« klagte Elvira. »Trutzi sieht sie ja gar nicht an.«

»Kommt schon noch«, tröstete Ragnilt. »Und zwar dann, wenn man dem Jungen zeigt, daß er darin seine Pferde verladen kann.«

»Das tu’ ich gleich. Komm mal her, Trutzi.«

Somit waren die beiden nebst Karla den Rest des Tages für alle Welt verloren. Die anderen jedoch setzten sich gemütlich zusammen. Selbst Trutz war dabei.

»Ackermann hat mir heute zur Feier des Tages den Nachmittag frei gegeben«, erklärte er schmunzelnd, dabei ein Päckchen aus der Tasche ziehend und auf den Tisch legend. »Das stiftet Gustchen dem Geburtstagskind.«

»Da können nur Socken drin sein«, lachte Ragnilt hellauf, und tatsächlich enthielt das Seidenpapier weiße Strümpfchen aus feiner Wolle. Ein Zettel steckte daran, auf dem stand: Mag der kleine Baron mein Präsent in bester Gesundheit tragen, ich habe meine ganze Liebe hineingestrickt.

»Einfach rührend«, sagte die Seniorin. »Dafür mußt du dich persönlich bedanken, Ragnilt. Fahr morgen zu ihr und nimm von dem besten Geburtstagskuchen mit.«

»Trinkbares und Delikatessen können auch dabei sein«, setzte Trutz hinzu. »Denn wie ich von Ackermann weiß, lebt Gustchen in nicht gerade glänzenden Verhältnissen und wird sich derartige Dinge kaum leisten können, zumal sie jede Mark, die sich nur erübrigen läßt, in Wolle anlegt. Sie behungert das, wie es in der Sprache unserer Leute heißt.«

»Na, so sieht das dicke Gustchen gerade nicht aus«, lachte Brunhild. »Also müßte in der Spende das enthalten sein, was nicht gerade zur täglichen Kost gehört.«

So machte Ragnilt sich denn am nächsten Tag auf den Weg zu Auguste, die am Ende des Dorfes ein kleines Haus ihr eigen nannte. Sie hatte es sich von der Abfindung, die ihr als Bauerntochter zukam, erbauen lassen und bewohnte das Erdgeschoß, das aus zwei geräumigen Stuben und Küche bestand, das Obergeschoß hatte sie an ein kinderloses Ehepaar vermietet.

Von dieser Miete und einer kleinen Rente lebte Auguste schlecht und recht. Aber mochte es manchmal auch noch so knapp sein, für Wolle reichte es immer.

Neben Ragnilt stand auf dem Sitz ein Korb, der außer Kuchen noch manch einen Leckerbissen barg. Hoffentlich floß nicht alles zusammen, denn es war sehr heiß. Für die Heuernte wie geschaffen, doch für die arbeitenden Menschen kaum erträglich.

Und doch wurde überall auf den Feldern hurtig geschafft. Die arbeitenden Menschen machten gar keinen verdrießlichen Eindruck, wie Ragnilt feststellen konnte. Hie und da klang sogar Gesang auf, also ein Zeichen, daß man recht fidel war. Fröhlich rief man der jungen Baronin in ihrem schmucken Wagen einen Gruß zu, den diese ebenso fröhlich erwiderte.

Das Land, durch das sie fuhr, gehörte zu Brechten. Überhaupt alles gehörte dazu, soweit das Auge reichte, und noch darüber hinaus. So einen großen Besitz zu bewirtschaften, war gewiß nicht einfach. Wie gut, daß Trutz so tüchtige Mitarbeiter zur Seite hatte wie die Großmutter und den getreuen Ackermann, sonst könnte er die Verwaltung wohl kaum schaffen.

Trutz war überhaupt einer, der im Leben seinen Mann stand – jetzt – aber damals, als er sie heiratete…

Nein, nicht mehr daran denken. Lieber an gestern denken, als Trutzi morgens zu ihr ins Schlafzimmer tapste, einen Rosenstrauß mit den dicken Patschen umklammernd.

»Das ßickt Papi«, erklärte der kleine Schelm wichtig. »Weil er heute Debutstag hat.«

Darauf wurden dem »Er« mal erst die Blumen abgenommen, er wurde zärtlich abgeküßt, und zufrieden trollte das Bürschlein von dannen. Seine kleine Mama jedoch drückte das heiße Gesicht in die leuchtende Pracht.

Rote Rosen, Blumen der Liebe – was sollten die in ihrer verpfuschten Ehe wohl bedeuten? Wieviel waren es – neunzehn Stück – so alt war sie gewesen, als sie ihrem Sohn das Leben gab.

Somit sollten sie wohl ein Dank sein für den Jungen. Gleichfalls der kostbare Ring, der an einem der Stiele funkelte. Dein Trutz – stand eingraviert – und das gab der skeptischen Ragnilt denn doch zu denken.

Dein Trutz – dachte sie auch jetzt, als ihr Blick auf das Kleinod fiel, das seit gestern an ihrem Finger steckte. Durfte sie es glauben – durfte sie es nicht?

Ein entferntes Grollen riß sie aus ihren grübelnden Gedanken. Sich umschauend, bemerkte sie, wie die Wolken am Himmel jagten, wie sie immer rascher dessen Bläue überzogen.

Das gibt ein Gewitter – dachte sie angstvoll. Hoffentlich erreiche ich Gustchens Haus, bevor es losbricht. Sicherheitshalber werde ich das Verdeck am Wagen hochklappen.

*

Nachdem das geschehen war, ließ Ragnilt das Auto hurtig laufen. Als sie vor dem Haus abstoppte, gelang es ihr gerade noch, den Korb vom Sitz zu heben, den Wagen abzuschließen, und schon brach der Sturm los, der ja jedem Gewitter voranzubrausen pflegt. Auguste, die vom Fenster aus alles beobachtet hatte, eilte dem Gast im Flur entgegen.

»Grüß Gott, Frau Baronin. Und gleich so mit dem Donnerwetter wirbeln Sie zu mir herein?«

»Ja, das ging man gerade noch knapp«, kam es lachend zurück. »Aber dieses Gewitter kam tatsächlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Denn als ich zu Hause abfuhr, war der Himmel lachend blau.«

»Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Frau Baronin?«

»Keine Ehre, Fräulein Gustchen, sondern eine herzliche Erwiderung auf das Geschenk, das Sie meinem Jungen machten.«

»Wird er die Strümpfchen wirklich tragen?«

»Ganz gewiß, wenn auch erst im Winter.«

»Das freut mich. Kommen Sie doch bitte weiter, Frau Baronin. Den Korb können Sie ruhig stehen lassen. Oder soll – der etwa für – mich sein?«

»Erraten, Fräulein Gustchen. Es ist Geburtstagskuchen darin und ein guter Tropfen.«

»So was nehme ich gern an«, erklärte Auguste ohne Ziererei, hob den Korb auf und trug ihn ins Zimmer, wo sie eifrig auszupacken begann.

»Aber was sind das doch bloß für schöne Sachen«, sagte sie entzückt. »So was kennt unsereins kaum vom Hörensagen. Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Baronin. Bevor sich das Gewitter ausgetobt hat, können Sie ja doch nicht fort. Setzen Sie sich bitte auf das Sofa. Zwar sitzt es sich im Sessel bequemer, aber da er am Fenster steht, ist das bei Gewitter zu gefährlich. Aber sonst ist er einfach großartig. Wenn ich da sitze und stricke, kann ich die Straße übersehen und weiß daher, wer kommt und geht. Man interessiert sich schließlich für alles, wo man hier doch geboren und alt geworden ist. Bis zu meinem Bruder ist es wirklich nur ein Katzensprung, aber ich geh’ selten hin, weil ich mich mit ihm nicht zubest verstehe und mit seiner Frau noch weniger. Sie sind nämlich sehr geizig, und als es um die Auszahlung meines Erbanteils ging – na, Schwamm drüber.

Jetzt ist die Berta krank und wollte mich zur Pflege haben, aber ich ging nicht, nein, so edel bin ich denn doch nicht.«

In der Art redete Gustchen weiter wie ein Wasserfall, während Ragnilt auf dem Sofa saß und das Zimmer in Augenschein nahm. Es war mit Sachen möbliert, die zum Teil noch von Augustes Eltern stammten. Gut erhalten waren sie und blitzsauber, soviel sich in dem Halbdunkel feststellen ließ, das im Raum herrschte, denn mittlerweile hatte der Himmel sich schwarzgrau überzogen. Wie schmutzige Watte bauschten sich die Wolken, durch die Blitz auf Blitz zuckte. Der Donner krachte Schlag auf Schlag, der Sturm johlte und pfiff, als wären tausend Teufel losgelassen – und immer noch fiel kein Tropfen.

»Großer Gott, draußen ist ja Himmel und Erde zusammen«, jammerte Gustlchen, sich zitternd vor Angst dicht neben Rag­nilt setzend. »Wir müssen beten, Frau Baronin, wir müssen beten: Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt…«

Weiter kam sie nicht, da ihr das Wort im Mund förmlich erstarrte. Denn es gab einen Krach, der die Fenster klirren ließ. Augenblickslang wurde es im Zimmer so hell, daß es schmerzend in die Augen stach – und danach herrschte eine Stille, als halte die Natur den Atem an.

»Das hat eingeschlagen«, flüsterte Gustchen entsetzt. »Das hat bestimmt eingeschlagen – aber wo? Barmherziger Himmel, das wird ja draußen ganz rot! Und ich kann doch nicht auf, so zittern mir die Beine vor Schreck.«

»Bleiben Sie nur sitzen«, sagte Ragnilt hastig. »Ich gehe an die Haustür und schau’ mich um.«

»Es brennt, Fräulein Gustchen! Und zwar auf dem Gehöft, das hier ganz nahe liegt.«

»Das ist bei meinem Bruder – o Gott, o Gott – das ist bei meinem Bruder!« Auguste wankte heran, an dem Türpfosten Halt suchend. »Ich sagte ja schon immer, er soll Blitzableiter anbringen lassen, aber dafür ist er zu geizig.«

»Feuer!« gellte das Horn. »Feuer!«

Schauerlich klang es, und Ragnilt, die sich ohnehin vor Gewitter fürchtete, zitterte jetzt genauso an allen Gliedern wie Gustchen. Doch als sie merkte, daß diese umzusinken drohte, riß sie sich zusammen.

»Kommen Sie, Fräulein Gustchen, legen Sie sich aufs Sofa. Der Anblick ist wirklich beänstigend, und helfen können Sie ja doch nicht.«

Es war ein schweres Stück Arbeit für die grazile Ragnilt, den massigen Körper aufs Sofa zu betten. Der Schweiß brach ihr dabei aus allen Poren.

»Ach, Frau Baronin, was bin ich doch froh, daß Sie hier sind«, küßte Auguste dankbar die Hände, die sie so lieb betreuten.

»Wenn ich jetzt allein wäre, ich käme um vor Angst. Wenn Sie so gut sein wollten und mir meine Herztropfen geben, sie stehen auf dem Tisch am Fenster. Zehn Tropfen bitte, zehn Tropfen auf Zucker. Der liegt in dem Napf.«

Die Tropfen schienen tatsächlich Wunder zu wirken, denn schon fünf Minuten später wurde sie ruhiger.

Und als draußen ein Auto mit dem Feuersignal vorüberraste, schnellte sie wie ein Gummiball hoch.

»Das ist die Brechtener Spritze, ich erkenne sie an der Hupe. Na ja, was wird auch nicht. Wo es etwas zu helfen gibt, da sind die Brechtener immer an erster Stelle. Ich muß doch mal sehen…

Aber nein, es geht nicht«, ließ sie sich wieder zurückfallen. »Was ist man doch bloß für ein Wrack, daß einen so was einfach umschmeißen kann. Zittern Sie auch so wie ich, Frau Baronin?«

»Ungefähr so. Feuer ist aber auch wirklich grausig – und vor Gewitter fürchte ich mich sowieso.«

»Ach Gott, Sie armes Dingelchen! Und da hab’ ich Ihnen so arg zu schaffen gemacht, anstatt Ihnen gut zuzureden. Aber der Mensch ist nun mal ein egoistisches Geschöpf.

Hören Sie auch das fürchterliche Schreien? Das klingt ja wie in höchster Not. Nein, ich kann nicht länger hier liegen – und wenn ich da gleich bis vor die Haustür kriechen soll.«

Damit wankte sie ab, und Ragnilt trug ihr fürsorglich einen Stuhl nach, auf den sie sich sofort fallen ließ.

»Was sind Sie doch bloß für ein hilfsbereiter Mensch«, sagte Gustchen gerührt. »Als Baronin haben Sie das doch wahrlich nicht nötig.«

Da mußte Ragnilt denn doch lachen.

»Fräulein Gustchen, deshalb bin ich doch ein Mensch wie jeder andere. Es gibt in jedem Stand Gute und Böse, das ist nun mal der Lauf der Welt.

Gott sei Dank, jetzt fängt es endlich an zu regnen.«

»Der Regen hätte auch früher kommen können«, schalt Gust­chen aufgebracht. »Aber nein, erst läßt er das Feuer wie verrückt prasseln, bevor er sich bequemt. Jetzt ist er ja doch bloß für die Katz, wo die Spritzen arbeiten. Er macht bloß die armen Menschen, die draußen sein müssen, naß bis auf die Haut.«

»Ich glaube, das Feuer ist im Abflauen«, zeigte Ragnilt hinüber, wo der Wasserstrahl der Spritzen zischend in die Flammen fuhr. »Es scheint sich auf ein Gebäude beschränkt zu haben.«

»Es ist das Wohnhaus«, erklärte Auguste. »Nicht schade drum, es war wirklich schon recht alt. Aber hoffentlich hat der Knauser es genügend versichert.

Aber wird der Regenguß auch Ihrem schönen Wagen nichts schaden, Frau Baronin? So was kostet doch immer einen Haufen Geld. Mein Himmel, was könnte ich dafür wohl Wolle kaufen.

Doch schauen Sie mal, wer kommt denn da angewankt – das sieht ja fast so aus, als würde ein Verunglückter geführt.

Barmherzigkeit, das ist doch der Herr Baron«, jammerte sie auf in den höchsten Tönen. »Und sogar mit einem verbundenen…«

Erschrocken verstummte sie, als ihr Blick auf Ragnilt fiel, die am Türpfosten lehnte, blaß wie eine Tote. Starr waren ihre Augen auf die beiden Männer gerichtet, die langsam näher kamen.

»Was schreist du denn wie aufgespickt!« fuhr Ackermann schon von weitem die Verwandte an, wurde dann jedoch kleinlaut, als er Ragnilt erkannte.

Aber da war sie auch schon bei ihm, ihre Augen flackerten in heißer Angst. Die Lippen zitterten so sehr, daß sie kaum die Worte formen konnten.

»Was ist mit meinem Mann?«

»Es ist nichts Besonderes, wirklich nicht, Frau Baronin«, beschwichtigte Ackermann. »Es sieht schlimmer aus, ganz bestimmt sieht es schlimmer aus. Guste, steh nicht da, wie Lots Weib! Sorg für ein Lager, auf das wir den Herrn Baron betten können.«

»Ja, ja…, aufs Sofa…, aufs Sofa!« Sie lief voran, das Zittern in den Beinen einfach ignorierend. Denn hier gab es etwas zu helfen, und dann war Gustchen stets obenauf.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sämtliche Betten auf den Mann gepackt, der da so regungslos auf dem Sofa lag.

»Guste, du bist wohl nicht recht gescheit!« scheuchte Ackermann die dienstbeflissene Dicke mit dem Arm voll Betten fort. »Das Sofakissen und die Decke hier genügen vollkommen. Am wichtigsten ist jetzt, daß der Herr Baron aus den triefend nassen Kleidern kommt. Hast du was Trockenes für ihn zum Umziehen?«

»Höchstens eine Nachtjacke von mir und Hosen.«

»Guste, benimm dich!«

»Aber, Franz, wo soll ich wohl was anderes herkriegen, da ich doch keinen Mann habe?«

»Ach so, ja«, brummte Ackermann. »Lauf mal schnell nach oben zu den Nachbarsleuten.«

Schon war Gustchen davon, und als sie zurückkam, trug sie im Arm alles das, was so ein »Mannsbild« zum Anziehen braucht. Nur Schuhe und Strümpfe waren nicht dabei, die konnte Gustchen stolz aus eigenem Bestand liefern.

»Frau Baronin, bitte«, wandte Ackermann sich nun so betreten Ragnilt zu, als wäre er an allem schuld. »Gehen Sie ein bißchen vor die Tür, ja?«

»Wenn es durchaus sein muß. Aber was ist denn mit meinem Mann?« rang sie sich mühsam die Worte ab.

»Das erkläre ich später. Zuerst muß der Herr Baron trockengelegt werden, sonst holt er sich den Tod in den nassen Kleidern.«

Da ging Ragnilt vor die Haustür und wartete dort in bebender Angst, bis der Verwalter sie hinein bat.

»So, Frau Baronin, jetzt trinken Sie mal erst einen Kognak«, hielt Ackermann ihr ein Glas entgegen, nach dem sie hastig griff und es in einem Zug leerte.

»Danke, das hat gutgetan. Darf ich nun endlich wissen, was meinem Mann passiert ist?«

»Er hat die kranke Bäuerin aus den Flammen geholt«, entgegnete der Verwalter leise. »Dabei muß er wohl zuviel Rauch geschluckt haben – und außerdem mit dem Kopf irgendwo gegengerannt sein. Aber die Wunde ist wirklich nicht gefährlich, Frau Baronin. Ich habe sie mir angesehen, bevor ich mein Taschentuch darum band – denn etwas anderes stand mir in dem Wirbel ja nicht zur Verfügung.«

»Ragnilt«, kam es wie ein Hauch vom Sofa her – und schon stand sie davor.

»Ja, Trutz, ich bin hier.«

»Wie schön. Komm, setz dich zu mir, damit ich deine Nähe spüre.«

Da setzte sie sich auf das Sofa und bettete behutsam den wunden Kopf in ihren Schoß.

»Er ist schon wieder ohnmächtig«, flüsterte sie angstvoll dem Verwalter zu, der sich gespannt über seinen Herrn beugte. »Hoffentlich hat er keine innere Verletzung.«

»Ganz bestimmt nicht, Frau Baronin«, beruhigte Ackermann. »Dann hätte er sich ja nicht aufrechthalten können, geschweige denn gehen. Ich lauf’ mal zum Gastwirt und ruf’ den Arzt an. Und du, Guste, koch mal einen steifen Kaffee, den haben wir alle nötig.«

Damit enteilte er durch eine Tür, Gustchen durch die andere, und Ragnilt war mit ihrem Mann allein. Angstvoll sah sie in das bleiche Gesicht, aufgewühlt bis zu des Herzens tiefstem Grund. Alles, was der Mann ihr einst angetan, war verweht wie Spreu im Wind.

Heiß stieg die Liebe zu ihm empor, aber eine ganz andere, als sie damals empfand. Keine rührselige, anbetende Liebe durchflutete ihr Herz, sondern eine, wie Trutz sie vor Wochen aus dem »Hohelied« Salomons anführte: Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer fest wie die Hölle.

Ganz plötzlich war diese Liebe da, geboren aus der herzzitternden Angst, die sie nun um den Mann ausstand. Ihre Tränen tropften auf das Taschentuch, das an der einen Seite rot gefärbt war von Blut.

Jäh schoß ihr die Schlußzeile des Liedes durch den Kopf; das sie noch kürzlich gesungen, ohne jedoch ganz den Sinn zu erfassen in seiner tiefsten Bedeutung.

Aber nun hatte sie es mit schmerzhafter Deutlichkeit erfaßt, dieses: Dunkle Stunden müssen offenbaren, was ein Herz des Großen birgt und Klaren.

»Trutz«, flüsterte sie in heißer Herzensangst. »Es darf nicht zu spät sein, hörst du? Trutz…, ich liebe dich.«

»Wie schön«, kam es wie ein Hauch zu ihr empor.

»Darf ich nun endlich dem Glück bezahlen meine Schuld?«

Zwar war es ihr unklar, was er damit meinte, aber sie nickte unter Lachen und Weinen zugleich. Erschrocken zuckte sie zusammen, als eine Hand nach ihrem Kopf griff, ihn hinunterzog, und dann spürte sie den heißen Kuß der Liebe, nach dem sie sich in den ersten Ehewochen krank gesehnt.

»Trutz«, stammelte sie, als sie wieder frei atmen konnte. »Trutz…, das war nicht recht von dir.«

»Was denn, Herzliebelein?«

»Den Bewußtlosen spielen…, und mir damit ein Geheimnis zu entlocken. Trutz, schäm dich!«

»Fällt mir gar nicht ein. In der Liebe ist jede List gestattet.«

»So warst du überhaupt nicht bewußtlos?«

»Doch, zu Anfang schon. Da war mir wirklich miserabel zumute. Doch da Liebe ja Wunder wirken soll, warum denn nicht auch bei mir?«

Ehe Ragnilt es verhindern konnte, saß er aufrecht und zog die grazile Gestalt fest an sich. Mund brannte auf Mund, in dem ewigen Spiel der Liebe.

»Na, wo ist denn so was statthaft?« kam es entrüstet von der Tür her, durch die Gustchen soeben schritt, ein Tablett vor dem Bauch balancierend. »Da wein’ ich mir die Augen rot, weil es den Herrn Baron doch so bös erwischt hat – und dabei ist doch so gar nichts dahinter.«

»Sagen Sie das nicht so laut, Fräulein Gustchen«, tat Trutz scheinheilig. »Dahinter war schon was.«

In dem Moment trat Ackermann ein – stutzte beim Anblick des jungen Paares auf dem Sofa, und lachte dann über das ganze Gesicht.

»Na also, da sind wir ja wieder, Herr Baron, forsch wie eh und je. Dazu Feinstliebelein im Arm, da können wir mal gleich zur Tagesordnung übergehen.«

Sprach’s, setzte sich an den Tisch und griff zur Kaffeekanne, aus der es aromatisch duftete. Doch bevor der braune Strahl in die Tasse fließen konnte, gab es noch ein kleines Intermezzo mit Gustchen.

»Wo ist der Arzt?« fragte es unheildrohend.

»Bei einer Geburt«, kam es seelenruhig zurück.

»Und der andere?«

»Auch.«

»Und der dritte?«

»Auch.«

»Na hör mal, Franz, so viel Geburten an einem Tag gibt’s ja gar nicht.«

»Hast du eine Ahnung, Gustchen. Wenn du für all die Erdenbürger, die an einem Tag eintrudeln, Socken stricken solltest – so viel Wolle gibt’s ja gar nicht.«

Jetzt konnte Ragnilt das unterdrückte Lachen nicht mehr zurückhalten. So recht von Herzen fröhlich perlte es auf – und so blieb dem guten Gustchen nichts anderes übrig, als mitzulachen.

»Franz, daß du aber auch immer spaßen mußt«, meinte sie vorwurfsvoll, während sie ihre Gäste mit Kaffee und den Schnitten versorgte, die dank der Spende üppig belegt waren. »Kommt denn wirklich kein Arzt her?«

»Aber, Gustchen, die Kinder gehen doch vor.«

»Du, fang nicht wieder an«, drohte sie mit dem Löffel. »Sei wenigstens mal fünf Minuten ernsthaft.«

»Na schön. Und wenn du mich da auch noch so böse anblitzt. Die Doktors, die ich anrief, waren wirklich zur Entbindung. Unsere beiden, Vater und Sohn, je bei einer Frau, der dritte allerdings bei einer… Kuh!«

»Also, Franz, du versündigst dich ja wie ein Heide!« fuhr Gustchen empört auf. »Frau und Kuh in einem Atemzug…, du lieber Gott im Himmel droben, verzeih ihm diesen Frevel!«

»Aber, Gustchen, sei doch nicht so böse«, tat er kläglich. »In meiner Aufregung hatte ich nämlich den Tierarzt angerufen.«

Jetzt konnten Ragnilt und Trutz nicht mehr das unterdrückte Lachen zurückhalten, in das dann eine brummende Stimme hineinsprach: »Dafür hetz’ ich mich nun ab.«

»Herr Doktor!« schrie Gustchen in höchster Not. »Ist bloß gut, daß Sie da sind.«

»Nanu, der Patient ist doch recht fidel!«

»Das schon, aber ich kann die drei hier nicht mehr bändigen, so übermütig sind sie. Und der Herr Baron sogar noch mit dem Loch im Kopf.«

Verblüfft sah sie auf den Arzt, der jetzt gleichfalls in herzliches Lachen ausbrach. Und zwar galt es Trutz, der in der geborgten Kleidung aber auch lächerlich genug wirkte. Die Ärmel der Jacke waren den Ellenbogen beängstigend nahe, sowie die Beine der Hose den Knien – und darunter prunkte Gustchens herrliches Fabrikat aus grauer Wolle und ihre Schuhe, die selbst dem Mann noch zu groß waren, obwohl er in seiner Größe über nicht gerade kleine Füße verfügte, dazu noch das Taschentuch um den Kopf.

So stand er vor dem Arzt, der sich die Lachtränen aus den Augen wischte.

Ebenso wie die andern, die jetzt erst die Maskerade bemerkten, nun der Mann sich von dem Sofa erhoben hatte, um den weit älteren Arzt zu begrüßen.

»Sehen Sie, Fräulein Gustchen, jetzt werde ich ausgelacht«, sagte Trutz anklagend. »Und dazu noch mit dem Loch im Kopf.«

»Werde ich mal gleich in Augenschein nehmen«, wurde der Arzt nun ernst und nickte nach der Untersuchung befriedigt.

»Ganz anständig, aber nicht gefährlich. Die Binde lassen wir fort, ein Pflaster genügt.«

Nachdem das fein säuberlich über der Wunde klebte, nahm der gute Onkel Doktor am Tisch Platz und brummte:

»So, jetzt möchte ich aber den Kaffee haben, den meine Alte mir grausam vorenthielt. Denn kaum wurde sie meiner ansichtig, hetzte sie mich auch schon davon.

›Was heißt hier Kaffee, es geht um den Baron Swindbrecht. Er ist bei dem Brand verunglückt und liegt bei Fräulein Gustchen. Also nun mal etwas hurtig!‹

So jagte sie mich davon«, führte der Arzt in seiner humorvollen Art weiter aus. »Und was finde ich vor? Einen lachenden Patienten. Ich muß schon sagen, daß mir so was in meiner langjährigen Praxis wohl zum erstenmal passiert ist.«

»Es sah aber sehr böse aus«, entgegnete Ackermann ernst. »Deubel noch eins, bekam ich einen Schreck, als der Herr Baron aus Flammen und Rauch auftauchte, die kranke Bäuerin im Arm, die der konfuse Bauer ganz vergessen hatte. Wie haben Sie das überhaupt erfahren, Herr Baron, daß die Ärmste sich noch im brennenden Haus befand?«

»Ich hörte Schreien und ging dem nach. Das ist alles.«

»Soso – das ist alles«, brummte der Verwalter, dabei seinen Herrn mit einem liebevollen Blick umfassend.

»Bescheidenheit soll ja wohl eine Zier sein…, na ja…, das ist eben unser Trutz. Den muß man nehmen, wie er ist, nicht wahr, Frau Baronin?« zwinkerte er ihr vergnügt zu, und sie lachte.

»Ja, das muß man – und fährt bestimmt nicht schlecht dabei.«

»Will ich meinen. Jedenfalls gingen mir meine sämtlichen paar Haare hoch, als der kühne Retter, nachdem er seine Last abgelegt, mir wie ein Stück Holz vor die Füße schlug. So gezittert hab’ ich noch nie in meinem Leben vor Schreck. Und nichts da, wo ich ihn hinlegen konnte, da ja alles vor Wasser schwamm, nachdem auch noch der prasselnde Regen einsetzte. Da fiel mir Gustchen ein – na ja, das ist alles – sage ich jetzt.

Nur zufügen möchte ich noch, daß mir die Gegenwart der Frau Baronin hier aber auch gar nicht paßte.«

»Und hat doch so große Wunder gewirkt«, fiel Trutz lachend ein. »Und nun wollen wir das Thema lassen, das mir so gar nicht behagt.«

»Na, was wird nicht«, schmunzelte der Arzt, sich mit Behagen an Gustchens Kaffee nebst Beilage labend. »Es soll Menschen geben, die lieber eine Grobheit hören als eine Anerkennung.

Um so mehr erhebe ich darauf Anspruch, der heute einem strammen Bengel ins Leben geholfen hat. Mutter und Sohn wohlauf, der Vater halb närrisch vor Freude. Und wissen Sie, wie er heißt: Siegfried Ackermann.

Los, Fräulein Gustchen, einen Schnaps her, damit wir mit dem neugebackenen Großvater anstoßen können!«

»Ach, du lieber Gott – Schnaps – ja, wo hab’ ich den bloß? Franz, hörst du! Franz, so sitz doch nicht so entgeistert da, man kann ja Angst kriegen!«

Da kam endlich Leben in die erstarrte Gestalt. Und dann brach ein Lachen aus der breiten Brust, das schon mehr einem Jauchzen glich.

»Also ein Junge ist es, bei Blitz und Donner geboren. Na, wenn das kein echter Kerl wird!«

Und dann gaben die Gläser einen guten, fröhlichen Klang.

*

Das schmucke Auto der Baronin Swindbrecht flitzte die Landstraße entlang. Sicher führten die zarten Hände das Steuer, doch unsicher war der Blick, der immer wieder zu dem Mann hinging.

»Trutz, fühlst du dich auch wirklich wohl?« fragte Ragnilt jetzt leise, und lachend kam es zurück:

»Wie könnte es wohl anders sein, mein Schatz, wie ich dich nun endlich nennen darf. Wozu so ein kleiner Unfall doch manchmal gut sein kann.«

»Na – klein?« zweifelte sie. »Es hätte ja auch anders kommen können. Ach, Trutz, wie glücklich bin ich doch, daß du lebst.«

»Und wie ich lebe! Lenk doch mal in den Nebenweg dort ein.«

»Warum?«

»Das wirst du gleich sehen.«

Kopfschüttelnd kam sie seinem Wunsch nach. Doch kaum, daß der Wagen stand, umfingen sie zwei Arme und drückten sie fest an das hartschlagende Herz. Zwei Lippen brannten auf den ihren in einem Kuß, der mehr ausdrückte, als viele Worte es vermocht hätten. Dann lockerte sich die Umarmung, und vier lachende Augen tauchten ineinander.

»So, mein mißtrauisches Kind, jetzt weißt du hoffentlich Bescheid. Oder muß ich noch betonen, daß ich dich liebe?«

»Nein.« Sie schmiegte sich beseligt an ihn. »Ach, Trutz, nun wollen wir beide so recht von Herzen glücklich sein.«

»Worauf du dich verlassen kannst. Und nun fahr zu.«

»Wohin?«

»Ins lachende Glück.«

»Wo ist das?«

»Bei uns zu Hause.«

O ja, da gab es wirklich ein lachendes Glück. Aber erst, nachdem man über den Schreck hinweggekommen war, der Hermine und Brunhild die Glieder zittern ließ, als sie Trutz’ ansichtig wurden. Angsterfüllt lauschten sie seinem Bericht, doch als er den Regenmantel auszog, mit dem Ackermann die »Eleganz« verhüllt hatte, da lachten sie Tränen.

Gleichfalls Arnold nebst Töchterlein, die gerade in dem Moment eintraten. Sie kamen aus der Stadt und hatten unterwegs Ackermann getroffen, von dem sie die Begebenheit haargenau erfuhren. Zwar beteuerte der Verwalter, daß sein Herr wohlauf wäre, aber Arnold war doch so beunruhigt, daß er sofort nach Brechten fuhr. Als er jedoch jetzt den Neffen sah, da lachte er Tränen.

»Junge, zieh dich bloß rasch um, sonst ist es um mein Zwerch­fell geschehen.«

Das beteuerten auch die anderen, so daß Trutz nichts anderes übrigblieb, als zu enteilen. Und als auch Ragnilt ging, um ihren äußeren Menschen aufzufrischen, da sagte Hermine leise:

»Habt ihr die glückstrahlenden Augen gesehen?«

»Und ob«, schmunzelte Arnold. »Übrigens weiß ich das schon von Ackermann, wie ja die ganze Begebenheit überhaupt.«

»Ist er denn bei dir gewesen?« fragte Brunhild erstaunt.

»Nein, wir kamen aus der Stadt und trafen ihn unterwegs. Und da ich doch in Unruhe um Trutz war, kam ich sofort hierher.

Elvi, geh doch mal zum Wagen und hole meine Pfeife, ohne die ich mir vorkomme wie eine Katze ohne Schwanz.

Ist nicht nötig, daß so ein Gör hier Nase und Mund aufsperrt«, brummte er, nachdem das Töchterlein gegangen war. »Es würde das Schnäbelchen ja doch nicht halten können und unser Paar damit in Verlegenheit bringen.

Ich muß schon sagen, daß das Schicksal da wieder einmal helfend eingriff. Denn wie hätte es sonst wohl möglich sein können, daß Ragnilt ausgerechnet da bei Gustchen weilte – und daß ausgerechnet auf dem Hof das Feuer ausbrach, bei dem unser Trutz sich wieder einmal glänzend bewährte?«

»Du meinst doch nicht etwa, daß Ragnild deswegen…«

»Nein, Hermine«, winkte er entschieden ab. »Die Angst um sein Leben war es, die sie aus ihrer seelischen Lethargie aufrüttelte. Und dazu sage ich Gott sei Dank.«

»Und ich bin glücklich«, sagte die Großmutter leise. »Daß ich diesen Tag noch erleben darf, dafür danke ich unserem Herrgott inbrünstig.«

Sie mußten das Thema fallen lassen, da Elvira eintrat und die verlangte Pfeife brachte. Gleich darauf erschien auch das junge Paar, elegant wie eh und je.

»Na also«, schmunzelte Arnold. »Da haben wir ja unseren Prachtkerl wieder. Hast du nun endlich deine Schuld bezahlt, mein Sohn?«

»Welch eine Schuld?« fragte Elvria neugierig dazwischen.

»Die Schuld an Ragnilt«, entgegnete der Vater trocken. »Er hatte sie nämlich mordsmäßig angepumpt. Mach aber bloß den Mund zu, Marjellchen, sonst kriegt das Herzchen Gegenzug.«

»Ach, Paps, du machst dich wieder mal über mich lustig«, schmollte sie. »Ich geh’ jetzt zu Trutzi.«

Damit wippte sie ab, und die Luft war rein, wie Arnold ver­gnügt bemerkte.

»Sag mal, Onkelchen, was hast du der Kleinen da eben für ein Märchen aufgetischt?« fragte Ragnilt lachend. »Seit wann hat Trutz mich denn angepumpt?«

»Das fragst du ihn am besten unter vier Augen. Jetzt wird erst mal angestoßen, und zwar auf Trutz, der sein Leben für das eines andern einsetzte, daß er dabei nicht ernstlich zu Schaden kam und dennoch damit ein verhärtetes Herzchen aufrüttelte bis zum tiefsten Grund, ferner stoßen wir an auf den Stammhalter der Ackermanns und dann auf Gustchens Socken.«

»Und ich auch noch auf Gisbert«, setzte Ragnilt hinzu, obwohl sie dabei heiß errötete. »Auf daß er fröhlich und unbeschwert zu uns zurückkehre – erst dann kann ich so ganz von Herzen glücklich sein.«

»Bist ein tapferes Kind«, sagte die Großmutter gerührt. »Nicht jede Frau hätte den Mut zu so einem Bekenntnis in Gegenwart des Gatten.«

»Na, dem geht doch dabei nichts ab«, blitzte sie ihn an, und da nahm er sie ganz einfach beim Schopf und küßte den lachenden Mund.

Und später, in trauter Zweisamkeit, fragte sie Trutz, was es mit der Schuld für eine Bewandtnis hätte.

»Die habe ich heute dem Glück bezahlt«, gab er mit unterdrücktem Lachen Antwort.

»Und wer ist das Glück?«

»Du.«

»Also, Trutz, wenn du noch weiter in Rätseln sprichst, dann bin ich dir böse.«

»Um alles nicht, das bist du lange genug gewesen. Und nun paß mal auf, Herzliebelein: Schuldig bin ich doch an dir geworden, als ich damals deine Liebe so rücksichtslos abtat. Heute durfte ich nun die Schuld bezahlen – am Glück – verstehst du nun endlich?«

»Ja«, lachte sie herzfröhlich auf. »Die Bezahlung nehme ich mit Wonne – wenn du mir versprichst, nie mehr bei mir Schulden zu machen.«

»Ich schwöre mit dem Eid der Liebe.«

Und da ein Eid ja besiegelt werden muß, geschah es mit einem heißen Kuß.

Leni Behrendt Staffel 3 – Liebesroman

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