Читать книгу Die Wale im Tanganjikasee - Lennart Hagerfors - Страница 5
Sansibar
Оглавлениеden 1. Februar 1871
Nach dem Kalender sind zwei Wochen vergangen, seit Stanley mich angestellt hat. Sie waren so ereignisreich, daß ich jegliches Zeitgefühl verloren habe. Vielleicht waren es zwei Jahre, seit wir uns in meiner Hütte begegnet sind, die Erfahrungen zweier Jahre scheinen zwischen damals und jetzt zu liegen. Die Eigenbewegung der Zeit dagegen gleicht einem Sturmwind: zwei Wochen sind in einem Zeitraum davongewirbelt, der zwei Tagen entspricht.
Es ist, als fänden die Gedanken in diesen beiden Wochen keinen rechten Halt. Nicht einen Augenblick lang habe ich mich wirklich anwesend gefühlt. Mein Körper war von einem Fieber der Gesundheit durchglüht. Ich befand mich in einem Abstand, war beiseite gestellt. Von wem?
Zwei Jahre, zwei Wochen, zwei Tage? Was spielt das für eine Rolle? Ich bin bei Stanley, und zusammen haben wir unsere Expedition ausgerüstet.
Nichts hat uns hindern können. Hier gibt es kaum einen einzigen Basar oder Markt, kaum ein neu eingelaufenes Schiff, kaum einen Kaufmann und kaum ein Warenlager, die wir nicht besucht haben. Stanley ist unermüdlich. Selbst die verkommensten Negerviertel haben wir auf der Jagd nach Ausrüstung für unsere Expedition durchkämmt. Der Gestank nach Exkrementen, gärenden Müllkippen, Fisch in allen nur erdenklichen Stadien der Fäulnis, Rauch von Feuern und der abgestandene Geruch köchelnder Gerichte, all das drängte sich uns in den engen Gassen auf. Schmutzige, mit Schwären bedeckte Kinder, mit aufgetriebenen Bäuchen und geschwollenem Nabel, kamen aus den baufälligen Hütten gerannt und bettelten uns aufdringlich an. Stanley hielt sie sich mit seiner Gerte vom Leib, ich mit Knien und Armen. Unsere Waden waren vom Gehen im lockeren Sand wie abgestorben, und der Schweiß rann in Strömen (zumindest bei mir, Stanleys Haut war anscheinend zu trocken zum Schwitzen). Noch nie habe ich soviel Wasser getrunken – Wasser!
Kaum weniger mühselig war es in den Arabervierteln, ganz zu schweigen von dem Bezirk, in dem die mohammedanischen Inder wohnen. Dort, in den gewundenen Gassen mit weißgekalkten Häusern, Portalen und Alkoven, mit in den Torwegen postierten Sklaven und, weiter drinnen, schweigsamen Haremsfrauen und Sklavinnen, die in den Innenhöfen herumschlichen, wo sich die Baumwollstoffe zu riesigen Bergen türmten, das Elfenbein wie Holz gestapelt war, Kisten und Körbe mit Werkzeug, Draht und Glasperlen aufeinandergestellt waren, dort schwitzte ich aus anderen Gründen. Der unergründliche, geduldige und überlegene Blick des Orientalen, seine Fähigkeit, dem Europäer ein Gefühl der Unsicherheit und Ungeduld zu geben, als habe er selbst ihm irgendein Wissen voraus, all das berührte mich unangenehm. Sie bewegten sich mit kühler Würde, im vollen Bewußtsein der tiefen Quellen sinnlicher Genüsse, die ihnen in Form von Macht und Ehre, Speisen und Frauen durch ihren Reichtum zur Verfügung stehen. Sie sind allesamt falsch, jedoch beneidenswert.
Sogar Stanley wurde im Umgang mit ihnen steif und nervös. Als Preis und Qualität der Waren erörtert wurden, traten seine Kinnbacken hervor, und die Knöchel der Hand, mit der er die kurze Reitgerte umklammerte, wurden weiß. Es sah aus, als würde er gleich explodieren. Hin und wieder zeigten seine Blässe und ein kurzer Hustenanfall, daß die Explosion nach innen losgegangen war. Verdammte Araber!
Manchmal hat uns Farquhar begleitet. William L. Farquhar ist nach Stanley der Ranghöchste, also derjenige unter den Expeditionsteilnehmern, der direkt über mir steht. Seine Ernennung läßt mich argwöhnen, daß auch Stanley Fehler machen kann. Farquhar ist nämlich jeden Tag betrunken gewesen, was man von mir durchaus nicht sagen kann. Er ist groß und dick, viel fetter als ich, sein rötliches Gesicht endet in einem schütteren Spitzbart, und aus seinem Mund quellen ständig Schwaden von Fusel.
Irgendwann habe ich Stanley gegenüber angedeutet, wie unpassend es sei, ihn mitzunehmen. Aber er lachte nur und erwiderte:
«Keine Angst. Auf dem Karawanenpfad, viele Meilen von den ungesunden Bars dieser Stadt entfernt, werden seine Qualitäten als guter Seemann und scharfsinniger Mathematiker für uns von unschätzbarem Wert sein.»
Seemann und Mathematiker? Auf einer Expedition ins Innere Afrikas? Stanleys Planung ist so minuziös und dabei so unergründlich, daß selbst ich, der seine Gedanken ganz aus der Nähe verfolgt, Schwierigkeiten habe, ihn zu verstehen.
Zuerst dachte ich, Farquhar hätte irgend etwas gegen Stanley in der Hand. Sonst würde er nicht so ruhig und selbstsicher auftreten. Heute schäme ich mich für diesen Verdacht. Es verhält sich wohl eher umgekehrt. Als ich Farquhar zum erstenmal begegnete, schaute er mich amüsiert mit seinen blanken Augen an und sagte:
«Das macht Zwei Seeleute in der Karawane.»
Dann stieß er ein freudloses Gelächter aus. Aber diese Äußerung gefiel Stanley. Ich frage mich bloß, welche inneren Qualitäten dieser Mann besitzen mag, was Stanley eigentlich in ihm sieht. Einstweilen begegne ich ihm mit Respekt.
Bisher habe ich mir von den Negern, die Stanley angestellt hat, nur drei mit Namen merken können. Der eine wird Bombay genannt, ein robustes Mannsbild mit graumelierten Haaren. Er ist zum Hauptmann der Eskorte ernannt, das heißt, der Soldaten. Ihm untersteht eine Schar von Unteroffizieren, von denen ich nur einen beim Namen kenne, Mabruki. Er ist mir aufgefallen, weil er verkrüppelt ist. Eine Hand ist abgestorben – er wurde einmal bestraft, indem man ihn mit gefesselten Handgelenken an einem Ast hängen ließ.
Der dritte ist in Wirklichkeit kein Neger, sondern ein Araber. Als Dolmetscher und persönlicher Diener hat Stanley einen hübschen Araberjungen namens Selim angestellt.
Sowohl Bombay als auch Mabruki sollen an einer früheren Expedition teilgenommen haben, unter der Leitung von zwei Leuten namens Burton und Speke, wenn ich Stanley richtig verstanden habe.
Keiner der Expeditionsteilnehmer darf ein Halbblut sein. Stanley hat mir klargemacht, was für erbärmliche Menschen das sind. Sie sind unzuverlässig, kriecherisch und grausam und haben kein Ziel in diesem Leben. Es mangelt ihnen an Charakter, und sie taugen weder zu Trägern noch zu Soldaten oder Vorgesetzten. Das einzige, was sie zum Handeln anspornen kann, ist ihre Liederlichkeit. Hier auf der Insel gibt es keine Gruppe, die sich so rasch fortpflanzt wie sie.
Mehrere Tage lang ließ Stanley sich kaum blicken. Er stattete zuerst dem amerikanischen und dann dem englischen Konsul seinen Besuch ab. Letzterer trägt den Namen Doktor Kirk. Stanley spricht mit ehrerbietigem Widerwillen von ihm. Als ich ihn einen Tag nach dem Besuch bei Doktor Kirk traf, wirkte er gereizt, hellte sich aber auf, als er mich sah.
«Du bist ein einfacher, gradliniger Kerl», sagte er und schlug mir auf den Arm.
Trotz eines gewissen Schmerzes, denn der Schlag hatte einen empfindlichen Nerv getroffen, freute ich mich über die Wertschätzung, die er mir erwies.
Jedenfalls, die Vorbereitungen für die Reise sind abgeschlossen. In einem riesigen Lagerschuppen, der dem amerikanischen Konsul Webb gehört, ist jetzt alles gestapelt. Die Ausrüstung hat so gigantische Ausmaße, daß es mir unbegreiflich ist, wie das alles ins Innere Afrikas verfrachtet werden soll. Allein diese Berge von Stoffballen, die als Zahlungsmittel für die Ernährung der Expedition und als Tribut für die Häuptlinge dienen sollen, machen einen Wert aus, der das Fünffache von dem darstellt, was ich in meinem ganzen Leben verdienen werde. Dazu kommen die Lebensmittel, Kochtöpfe, zwei demontierte Boote, Seile, Schnüre, Zelte, Sättel, Segeltuch, Teer, Werkzeuge, Munition, Flinten, Hacken, Arzneien, Bettzeug, Geschenke für die Häuptlinge und eine Sonderausrüstung für uns Europäer wie Kleider zum Wechseln, Hygieneartikel und Delikatessen.
Außerdem hat Stanley zweiundzwanzig Esel erworben, die alle keinen Sattel hatten. Endlich gab es Arbeit für Farquhar. Erstaunlich schnell schaffte er es, für jeden Esel einen Sattel anzufertigen.
In den letzten Tagen habe ich kaum ein Wort mit Stanley gewechselt. Aber das liegt an den praktischen Umständen. Farquhars Arbeit mit den Sätteln und mit der Berechnung der Proviantmenge hat Stanley gezwungen, mehr bei ihm als bei mir zu sein.
Eines Nachmittags, nachdem er den ganzen Tag kein Wort mit mir gesprochen hatte und wir im Begriff waren, uns vor seinem Haus zu trennen, sah er mich lange mit seinen graublauen Augen an, die niemals blinzeln. Dann sagte er:
«Shaw, bald werden wir sehen, was für ein Kerl in dir steckt. In Udschidschi, mitten in der tiefsten Dunkelheit, wirst du vielleicht einen Schimmer des Lichts erblicken. Und dann werden wir sehen, ob du dich dieser Gabe als würdig erweist.»
Ich muß ein überaus verständnisloses und einfältiges Gesicht gemacht haben, denn er lachte geniert auf und gab mir einen harten, aber kameradschaftlichen Schlag auf die Wange. Dann machte er militärisch kehrt und stiefelte ins Haus. Worauf immer er angespielt haben mag, ich fühlte mich dessen nicht würdig.
Im übrigen habe ich bemerkt, daß Leute, die ich nicht kenne, mich jetzt in den Gassen grüßen. Sie wissen, wer ich bin: einer von den Leitern der größten Expedition, die jemals aus Sansibar aufgebrochen ist, um von Bagamojo aus den Marsch zu beginnen. Oft lädt man mich auf ein Glas ein.
Jetzt ist Nacht. In nur wenigen Tagen werden wir uns nach Bagamojo einschiffen, wo wir bleiben, bis wir Träger besorgt haben. Heute abend fühle ich mich einsam. Meine Sklavin habe ich schon an meinen Nachbarn verkauft, ein unausstehliches Halbblut, Besitzer der wüstesten Kneipe von ganz Sansibar. Er hatte schon lange ein Auge auf sie geworfen und überbot den üblichen Preis. Sie weinte und jammerte, wie es die Neger zu tun pflegen, sie ist ja auch noch nicht alt, aber sie wird sich wohl bald an ihren neuen Herrn gewöhnen. Im Moment fehlt sie mir jedoch. Für das Geld werde ich unter anderem ein paar Freunde zu einem ordentlichen Gelage einladen, bevor ich abreise.
Vor ein paar Stunden habe ich mir eine Flasche genommen und bin allein einen der schönsten Strände Sansibars entlanggewandert. Ich fühlte mich verlassen, dem Weinen nahe. Es ist eigenartig. Jetzt, wo alles eigentlich anfangen soll, wo ich mich als Mann bewähren, wo mein Leben endlich ein Ziel bekommen soll, ist es, als stünde ich vor dem Ende.
Ich erbrach mich in den Sand. Ich wollte nicht mehr mitmachen. So ist es.
Die Meeresbrise war wunderbar erfrischend, aber mir war übel. Die Wellen spülten sanft über den Strand, und weiter draußen zeichneten sich die Silhouetten der Boote ab, die den Sund zwischen Sansibar und dem Festland befahren. Alles schien so einfach und selbstverständlich. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich war ein Fehler. Wie zum Teufel kann Stanley zwei Leute wie Farquhar und mich mitnehmen?
«Es gibt eine Chance von dreiunddreißig Komma dreiunddreißig Prozent, eine Expedition ins Innere Afrikas zu überleben», hat Farquhar neulich mit einem widerwärtigen Grinsen gesagt. In der Mathematik kennt er sich ja aus.
Als ich nach Hause kam, fühlte sich mein Magen leer und unruhig an. Da ich weder einen Essensvorrat hatte noch jemanden, der mir etwas zubereitet, mußte ich zu dem verdammten Halbblut gehen. Er begrüßte mich mit einem zufriedenen Lächeln und sagte, er habe sie schon mehrmals ausprobiert.
«Ich habe ein gutes Geschäft gemacht», stellte er fest.
Ich sah sie vorbeihuschen, bevor sie hinter einem Vorhang verschwand. Sie warf mir einen kurzen, haßerfüllten Blick zu. Ich hätte sie beide umbringen können.
Die Gedanken bringen mich zum Schwitzen, und ich muß ständig hinauslaufen, um meine Blase zu entleeren. Diese verdammte Hure! Dieses verdammte Halbblut! Es wird guttun, morgen mit Stanley zu reden. Und endlich aufzubrechen!
Jetzt will ich schließen – aber es ist ein Trost zu schreiben. Vor meinem schäbigen Haus steht dicht und dunkel die afrikanische Nacht mit ihrer salzigen, abgestandenen Luft. Sie ist voller Geheimnisse. Die Glühwürmchen wissen Bescheid. Zwischen den Häusern hallt das Zirpen der Grillen. Und noch andere Geräusche, die ich nicht näher bestimmen kann, dringen durch mein einziges Fenster herein. Da draußen – da drüben – über den Wäldern, Savannen und Bergen wartet das tiefere Dunkel. Dort leben, in einer dichten, magischen Gemeinschaft, Haut an Haut, Neger, die das Meer nie gesehen haben. Ich gehöre da nicht hin.
Die Neger hier in Sansibar lachen manchmal über mich, als wüßten sie etwas von mir. Ich weiß nichts von ihnen.
Ich denke an meine Heimat, an den ersten Biß in einen Weihnachtsapfel, an den kalten, feuchten Morgennebel über einer gepflasterten Straße, an die Wärme in einem Pub, während draußen der Schnee in großen Flocken fällt. Ich denke sogar an meine Mutter, an ihr bestes Sonntagskleid und den langen Sonntagsspaziergang, den wir Hand in Hand machten, während Papa daheim seinen Rausch ausschlief.