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Bagamojo

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den 15. Februar 1871

Fast zwei Wochen sind vergangen, seit ich zum letztenmal geschrieben habe. Ich habe es nicht geschafft. Alle Kräfte werden aufgezehrt von der Mühsal, Tag für Tag und Stunde für Stunde zu bewältigen. Ich habe nicht einmal mein Akkordeon angerührt. Was mir fehlt, ist jedoch nicht Zeit. Mir fehlt die Ruhe. Ich suche die Einsamkeit, doch zugleich leide ich darunter, ich meide die Gesellschaft der anderen, sehne mich aber nach Gemeinschaft.

Hier in Bagamojo wurden Farquhar und ich jeder in einer Kammer an der Rückseite des Hauses einquartiert, das Stanley mit Beschlag belegt hat. Vor dem Haus, an dem offenen Platz, der Anfang und Ende der Karawanenstraße bildet, haben wir die Zelte aufgeschlagen. Nach der anderen Seite hin hat Stanley einen Pferch für die vielen Tiere der Expedition errichten lassen, und ringsherum patrouillieren Soldaten, um Diebe und Neugierige fernzuhalten.

Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht – ja sogar während der Nacht – herrscht ein unerträglicher Lärm rings um das Haus. Esel schreien, Soldaten rufen und lachen, Ziegen meckern, und Schweine schnüffeln unablässig. Der Gestank vom Kot der Tiere ist schwer zu ertragen, da mein einziges Fenster auf den Pferch hinausgeht.

Nachts schlafe ich unruhig, und tagsüber muß ich die hämischen Blicke der Soldaten aushalten. Aber keiner sagt mehr etwas.

Die letzte Nacht in Sansibar fing damit an, daß wir uns zu einer Gruppe von Europäern zusammenfanden – vor allem englische Seeleute –, die einander in Bars und auf Basaren kennengelernt hatten. Man wollte meine und Farquhars Abreise feiern. Wir spendierten eine Runde nach der anderen. Es war, wie wenn man beim Leichenschmaus über die Stränge schlägt. Ich fühlte mich ganz leer. Aber was fehlte mir eigentlich? Der Alltag? Die künftigen Abenteuer füllten mich nicht aus, dafür aber gingen mir die festen Gewohnheiten des Alltags ab. Es war ein Gefühl, wie wenn man plötzlich auf einem Ohr taub wird. Nur um ein Vielfaches stärker.

«Seht euch mal den Shaw an, wie verbissen der dreinschaut», sagte einer.

«Mach nicht so ein langes Gesicht», sagte ein anderer, «nimm ein Glas und freu dich auf deinen künftigen Ruhm!»

Wir aßen und tranken die halbe Nacht. Um drei brachen wir auf. Ich ging zu mir nach Hause – nach Hause? – und versuchte zu schlafen. Es ging nicht. Michjuckte es von Kopf bis Fuß.

Nachdem ich mich über eine halbe Stunde im Bett hin- und hergewälzt hatte, stand ich auf, zündete eine kleine Stallaterne an und machte mich zum Gehen fertig. Da ertönte ein verstohlenes Klopfen an der Tür. Es war Farquhar.

«Ich komme nicht mit», sagte er kurz.

Wir standen unbeweglich da und sahen uns bloß an. Das Licht meiner Stallaterne fiel von unten über sein Gesicht, und es wirkte grotesk aufgedunsen, mit dunklen Schatten, die einen starken Kontrast zu den gelblich ausgeleuchteten Partien blanker Haut bildeten.

Da fing ich an zu lachen. Schwankend tastete ich mich zum Bett zurück, während Farquhar sich still auf einen Stuhl setzte. Das Gelächter war nicht aufzuhalten. Farquhars Bemerkung hatte einen Pfropfen herausgezogen, und mit dem Gelächter flossen die ganze Expedition, jede Glasperle und jedes Feuersteingewehr aus meinem Körper heraus.

«Ich komme auch nicht mit. Stanley muß allein reisen. Er ist von einem anderen Schlag.»

Viel mehr wurde nicht gesagt. Wir standen auf und gingen wie Schlafwandler in die tropische Nacht hinaus. Draußen herrschte pechschwarze Dunkelheit. Die Stallaterne warf einen gelblichen Schein auf die Hauswände, über die sich mit Riesenschritten die grotesken Schatten unserer Beine bewegten. Schweigend durchquerten wir leere Gassen. Ein Hund schlüpfte vorbei, mit irgend etwas im Maul, ein paar Ziegen duckten sich an eine Hauswand, und warnend gackerten Hühner auf den Innenhöfen. In einem Haus hörten wir einen Säugling schreien, in einem anderen schluchzte verzweifelt eine Frau. Nur ein einziger Hund bellte uns an. Ich fühlte mich heimisch.

Schließlich landeten wir in einer kleinen Kneipe direkt am Strand. Wir weckten den indischen Besitzer und bestellten eine Flasche. Wortlos händigte er sie uns aus, kassierte und ging wieder zu Bett.

Da saßen wir, Farquhar und ich, auf einer Art angebauter Veranda und erwarteten das Morgengrauen. Wir wechselten kaum ein Wort. Husteten, tranken und rauchten unsere Pfeifen.

Im Morgengrauen hellte die Farbe des Meeres sich auf. Ein grauer Dunst lag über dem Strand, an dem ein paar Neger mit Fischernetzen auf den Schultern entlangwanderten. Ein paar frühe Sturmmöwen schrien und tauchten in die Brandung hinab. Aus einer Hütte gleich nebenan trat eine junge Frau. Sie gähnte, streckte sich, raffte den Lendenschurz hoch und ging in die Hocke, um ihre Morgentoilette zu machen. Ein nackter kleiner Junge taperte hinter ihr zur Tür, blieb auf der Schwelle stehen und ließ einen langen Strahl aus seinem kleinen Glied spritzen. Als sie beide fertig waren, beugte sie sich geschmeidig herab, hob ihn auf ihre Hüfte und ging zur Hütte zurück. Ich sah gerade noch ihre weißen Zähne, als sie dem Kind zulächelte. Sie schienen ein gutes Leben zu haben.

Es war ein Morgen mit einem ganz besonderen Licht. Noch nie waren mir die Strände von Sansibar so schön erschienen.

Nach einer halben Stunde war die Sonne aufgegangen, und die Gassen füllten sich mit Menschen. Aus ihrem Geschnatter konnte ich hin und wieder den Namen Stanley heraushören. Unser Wirt kam heraus und warf uns lustlos einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Wir bestellten eine weitere Flasche und etwas zu essen. Widerwillig brachte er Reisbällchen vom Vortag und eine Flasche Maisschnaps, der ekelhaft schmeckte.

Zwei Stunden später, als sich mein Katzenjammer und mein Rausch langsam die Waage hielten, begannen die Menschen zum Hafen zu strömen. Sie waren munter, in Feststimmung. Wir kehrten ihnen den Rücken zu, und niemand bemerkte uns.

Als es in den Gassen und Hütten ringsumher ganz still geworden war, tauchte unser Wirt wieder auf. Er sah aus, als habe er gerade einen Frosch verschluckt. Er teilte uns kurz mit, daß er sein Lokal zu schließen beabsichtige, denn auch er wolle zum Hafen hinunter, um sich die Abfahrt anzusehen. Farquhar scheuchte den Mann mit einer Handbewegung weg, worauf dieser erschrocken mit seiner Frau im Schlepptau verschwand.

Nachdem wir eine Weile allein dagesessen hatten, stand Farquhar auf, nahm die leere Flasche und trat auf die Gasse hinaus. Dann warf er die Flasche mit aller Kraft gegen eine Wand, daß die Glassplitter nur so herumflirrten. Laut keuchend kehrte er zurück, noch röter im Gesicht als sonst, und ließ sich schwer auf den Stuhl sinken.

Wir sagten nichts. Mitten am Vormittag herrschte vollständige Stille. Eine unwirkliche Stille. Selbst die Tiere hielten still. Sie verkrochen sich, duckten sich an die Hauswände und lagen regungslos mit offenen Augen da. Es war wie eine Sonnenfinsternis am hellichten Tag.

Als einziges war ein Pfeifen aus Farquhars einem Nasenloch zu hören und ein fernes Stimmengewirr vom Hafen her. Es war, als säßen wir viele, viele Stunden so da.

Schließlich hörte ich Stimmen, die sich näherten. In der Gasse erschien Bombay zusammen mit vier kräftigen Soldaten. Rings um sie her hüpften halbwüchsige Jungen in gespannter Erwartung der kommenden Ereignisse. Bombay hielt eine Peitsche in der Hand, die Soldaten waren mit Gewehren bewaffnet. Ihre Augen leuchteten vor Schadenfreude. Nur Bombays Augen waren ganz kalt und ausdruckslos.

«Mister Stanley sagt, Sie sollen zum Boot kommen», sagte er in seinem schlechten Englisch.

«Sag ihm, daß er allein fahren soll. Wir bleiben hier», sagte ich ohne den Nachdruck, den ich gern in die Worte gelegt hätte.

Etwas brannte an meinem Arm. In meinem benebelten Zustand begriff ich zuerst nicht recht, was geschehen war. Ein blutiger Striemen auf meinem Arm machte mir klar, daß Bombay die Peitsche gebraucht hatte. Ein Neger hatte mir einen Peitschenhieb versetzt!

Dann brach ein kurzer Tumult aus. Farquhar zog seine Pistole, und ich warf mich gegen Bombay. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie uns unschädlich gemacht. Farquhar bekam einen kräftigen Schlag auf den Mund, und mein Hemd wurde von den Soldaten zerrissen. Wir gaben sofort auf. Farquhar veränderte sich auf sonderbare Weise. Er streckte sich, sein schlaffes Gesicht wurde straff und zielbewußt, obwohl aus einem Mundwinkel Blut sickerte. Die Soldaten ließen ihn los und machten ein betretenes Gesicht. Dann schritt er ruhig und würdevoll die Gasse hinunter, auf den Hafen zu. Mir gaben die Soldaten einen Schubs und trieben mich an mit Gewehrkolben, die sie mir in den Rücken rammten.

Woher nahm Farquhar seine Würde, seine Kraft?

Bombay ging an der Spitze, dicht gefolgt von Farquhar. Im Abstand von fünfundzwanzig Metern wankte ich hinterher, mit nacktem Oberkörper und umringt von Soldaten und Jungen aller Altersstufen, die Fratzen schnitten und Faxen machten. Die ersten fünfhundert Meter sahen wir nicht einen Menschen. Aber vor uns, in den besseren Vierteln, stieg das Stimmengewirr an. Ich versuchte, meine Schritte zu beschleunigen, um Farquhar einzuholen, konnte aber nicht einmal den Abstand verringern. Kaum war er um eine Ecke gebogen, brach ein gewaltiger Lärm aus. Leute riefen, lachten und sangen. Gleich darauf war ich an der Reihe. Flehend wandte ich mich an die Soldaten. Mir schwebte die vage Idee vor, daß wir vielleicht versuchen sollten, einen abgelegeneren Weg zu wählen. Aber ich schaffte es nicht einmal, diesen Gedanken auszusprechen. Ein Gewehrkolben im Nacken und ein Tritt in den Hintern ließen mich vor aller Augen stolpern. Der Jubel verstärkte sich.

Überall waren Leute: auf den Hausdächern, entlang der Straße, in den Fenstern, auf den Palmen. Die Farbenpracht der Kleider leuchtete vor den weißen Wänden der würfelförmigen Häuser. Die Stimmung war festlich und fröhlich, und diese unerwartete Belustigung gab dem Ganzen noch einen zusätzlichen Reiz. Die Leute kreischten wie verrückt. Neben mir Gesichter aller Schattierungen zwischen schwarz und weiß, und alle schienen sie von Schadenfreude und Bosheit verzerrt. Einige wirkten furchtbar zornig. Weshalb dieser Zorn?

Weiter unten, am Strand, ein Stück von den Booten entfernt, die im seichten Wasser hochgezogen lagen, stand eine große Schar vornehmer Europäer in weißen Anzügen und hellen Kleidern. Zwischen ihnen und den Booten stand ein einsamer Mann, die Arme auf der Brust gekreuzt. Stanley. Die kurze Gerte ragte unter der einen Achselhöhle hervor.

Ich sah alles wie durch einen dünnen Vorhang von strömendem Wasser. Der Lärm war so penetrant, daß er zeitweilig für mich erstarb. Ich weiß nicht, ob ich lachte oder weinte. Aber irgend etwas muß ich gemacht haben, denn ein Soldat schlug mich auf den Mund und schrie mir zu, ich solle still sein. Ich erinnere mich daran, weil ich überrascht war, daß ich einen Laut hervorgebracht hatte.

Ich konzentrierte mich darauf, zu Stanley zu gelangen. Ich fürchtete, die Volksmenge würde mich in Stücke reißen. Sie versuchten, mir Hiebe und Schläge zu versetzen, einige warfen sogar Steine nach mir. Als ich endlich durch den Sand auf Stanley zuwankte, erschien er mir als mein Befreier. Kein anderer konnte mich retten. Kaum war ich bei ihm angekommen, gab er mir mit der Gerte einen kurzen Schlag auf die Brust und zeigte dann mit ausgestrecktem Arm auf eins der Boote.

«Ins Boot, Mann!»schrie er im Falsett.

Da faßte ich Mut. Ich hatte nichts zu verlieren. Es war mir egal, daß alle Blicke auf uns gerichtet waren, ich kümmerte mich nicht um die sonderbare Stille, die dem Lärm gefolgt war.

«Ist es nicht klüger, daß ich hierbleibe? Sehen Sie mich an. Ich bin ein Nichts.»

Da lachte Stanley und wandte sich an die Europäer, um diesen Witz mit ihnen zu teilen. Aber ich sah, daß die meisten nur peinlich berührt dreinschauten. Da wurde er wieder ernst und brüllte:

«Ins Boot, Mann! Haben wir etwa keinen Vertrag gemacht!»

Ich bekam noch einen Hieb, diesmal einen wesentlich härteren. Da griff Farquhar ein. Ich weiß nicht, wie es sonst geendet hätte. Mit dunkler, ruhiger Stimme – wo nahm er die her? – sagte er zu mir:

«Komm, Shaw! Wir gehen ins Boot. Unser Leben steckt in dem Vertrag.»

Er faßte mich unter und führte mich auf eins der Boote zu. Langsam wateten wir durch die Gischt der Brandung. Er half mir über die Reling, und ich sank aufs Hellegatt hinunter, wo ich mich zusammenkauerte.

So lag ich lange, geschützt vor allen Blicken. Farquhar saß die ganze Zeit neben mir, sagte aber nichts. Meine Wunden brannten, und Durst quälte mich. Ringsumher ertönten Rufe und Kommandos, Pferdegewieher und die Schreie der Esel. Stanleys schrilles Falsett drang hin und wieder durch. Die Männer und die Pferde platschten durchs Wasser, regelmäßig rollte die Brandung heran und stieß jedesmal das Boot an. Nach einer Weile brachte mir Farquhar Wasser, ohne daß ich ihn darum bitten mußte.

Als die Sonne im Zenit stand, stieg das Stimmengewirr wieder an. Ich spürte, wie das Boot mit einem kräftigen Ruck vom Boden abhob und in die Brandung hinausschaukelte. Langsam erstarben die Hurrarufe und der Gesang, und das Klatschen der Wellen gegen die Beplankung nahm überhand. Aus der Ferne hörte ich von den anderen Booten her, vom Wind übers Wasser getrieben, die angstvollen Schreie der Esel. Ich hörte die Angst der Kreatur heraus, die sich nicht in ihrem Element befand.

Dann schlief ich im Schatten unter einem Mantel, den Farquhar aufgetrieben hatte.

Die Wale im Tanganjikasee

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