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Die dunkle Burg

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Die dunkle Burg thronte wie ein Nachtschatten mit drei Türmen auf dem hoch aufragenden Fels. Aus dem dichten Nadelwald ringsum erhob sie sich, war ein Zeugnis vergangener Zeiten und verblasster Größe. Die Sonne schien durch einen seltsamen Dunst hindurch und tauchte den gesamten Himmel in ein unheimliches Rot.

Der Bus quälte sich die kurvenreiche Straße hoch, schrammte oft nur haarscharf an Abgründen vorbei und erreichte schließlich doch den Parkplatz vor dem Haupttor der Burg. Die Schülergruppe stieg aus und sammelte sich um ihre Lehrerin. Die Fahrt hatte lange gedauert, der Abend war nicht mehr fern. Alle waren froh, sich endlich wieder die Beine vertreten zu können.

Martin und Tanja blieben dicht beieinander, damit sie Händchenhalten konnten. Tanja hatte im Bus geschlafen und Martin grinste breit, als er ihre zerdrückte Frisur sah. Sie schlug ihn zur Vergeltung mit der Faust, woraufhin sie beide lachten.

Die Lehrerin zählte ihre Schüler durch und war zufrieden, weil noch alle da waren. Sie hob die Arme und schlagartig senkte sich der Lärmpegel, der bei einer Gruppe Jugendlicher unweigerlich hoch war.

„Kinder, wie ihr wisst, haben wir diese Reise schon lange geplant“, rief ihnen ihre Lehrerin ins Gedächtnis. „Zu unserem Glück findet diese Woche der alljährliche Jahrmarkt innerhalb dieser geschichtsträchtigen Mauern statt. Darum freut es mich außerordentlich, endlich hier zu sein. Die Führung durch die Burg beginnt in wenigen Minuten. Benehmt euch und bleibt zusammen.“

Die Schüler murmelten ihre Zustimmung und warteten auf ihre Führerin. Als die junge Frau auftauchte, zählte die Lehrerin noch einmal zur Sicherheit durch, dann setzten sie sich in Bewegung und schlenderten durch den weitläufigen Burghof. An jeder Ecke hatten sich Souvenirstände festgesetzt, die alles Mögliche anboten. Kostümierte Männer und Frauen ließen eine alte Epoche wieder aufleben, Gaukler jonglierten und spielten mit Feuer. Es sah aus wie auf einem Mittelalterfest.

Die Führerin zeigte ihnen wirklich jeden Winkel der Burg, erzählte etwas zur Geschichte und über die verschiedenen Besitzer. Martin und Tanja bekamen davon nicht allzu viel mit, sie beschäftigten sich lieber mit sich selbst. Am Ende der ausgedehnten Tour wurden sie in den höchsten der drei Türme geführt, dort warteten Erfrischungsgetränke auf die müden Schüler, die so lange so brav ausgehalten hatten. Zwei verglaste Bogenfenster zeigten einen Ausschnitt des roten Himmels. Niemand kümmerte sich um die seltsame Himmelsfarbe.

Martin schnappte sich sofort einen der Becher, die auf dem Tisch standen, zögerte aber, ihn zum Mund zu führen. Misstrauisch beäugte er die grünliche Flüssigkeit darin.

„Was hast du?“, fragte Tanja. Alle anderen ließen das Getränk genüsslich ihre Kehlen hinabrinnen, ohne es einer genauen Musterung zu unterziehen.

Versuchsweise roch Martin an dem scharfen Getränk. Dann zuckte er mit den Schultern und nahm einen tiefen Schluck. „Sieht etwas komisch aus“, erklärte er seiner Freundin. „Kann man aber trinken.“

Tanja probierte vorsichtshalber nur einen kleinen Schluck. Als sie zum selben Urteil wie Martin kam, trank sie den Rest hastig aus. Sie alle hatten wahnsinnigen Durst.

Die junge Führerin war sichtlich erfreut, dass die Becher geleert wurden. „Was ihr da gerade getrunken habt, das war ein Zaubertrank“, sagte sie mit verschwörerischer Mine. Einige Schüler lachten verächtlich über den durchschaubaren Versuch der Erwachsenen, ihnen ein Märchen aufzutischen. Die glaubten wohl, sie waren noch Kinder!

Das Lächeln der Führerin wuchs aber nur noch in die Breite. Die vermeintlich durchschaute Führerin hatte offenbar noch einen Trumpf im Ärmel. „Es wird sich zeigen, bei wem er seine Wirkung entfaltet. Nicht alles wirkt bei allen gleich, müsst ihr wissen. Die, die darauf reagieren, werden erweckt. Ihnen werden die Augen geöffnet für die wahre Welt.“

Martin schüttelte den Kopf. Leise sagte er zu Tanja: „Die spinnt doch.“

„Ich weiß nicht“, antwortete seine Freundin mit schwerer Zunge. Sie griff sich an den Kopf und schluckte schwer. Sie wirkte blass.

Martin wollte ihr den Arm um die Schulter legen und fragen, was denn los sei. Da bemerkte er plötzlich selbst die bleierne Schwere, die sich unaufhaltsam und rasend schnell in seinem Körper ausbreitete. Er blinzelte, atmete tief ein, schüttelte den Kopf, um die schwarzen Sterne vor seinen Augen wegzuwischen. Es gelang nicht. Alles begann sich um ihn zu drehen, dann knallte er schwer auf den Boden. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass seine Beine nachgegeben hatten. Irgendeiner seiner Kameraden machte noch die scherzhafte Bemerkung: „Die beiden gehören dann wohl nicht zu den Erweckten.“ Dann wurde alles um Martin schwarz.

Martin schlug die Augen auf. Noch immer drehte sich alles, trotzdem erkannte er seine Umgebung wieder und erinnerte sich im selben Moment an das, was geschehen war. Ruckartig setzte er sich auf, ignorierte das Hämmern in seinem Schädel und sah sich um. Tanja lag direkt neben ihm. Sie waren alleine in dem Turmzimmer. Als er aus dem Fenster sah, bemerkte er zu seinem Schreck, dass der Tag schon weit fortgeschritten war; erstes Dunkel mischte sich in den roten Himmel.

Schnell kroch er zu seiner Freundin hinüber. Auch sie kam gerade wieder zu sich.

„Martin?“, fragte sie verschlafen, als sie ihn erkannte. „Was ist passiert?“

„Keine Ahnung“, antwortete Martin wahrheitsgemäß.

Tanja stand wackelig auf und stützte sich dabei auf Martin ab. Dann erhob auch er sich.

„Du hast zu mir gesagt, dass die Führerin spinnt. Danach weiß ich nichts mehr.“ Tanja sah sich aufmerksam im Raum um. „Wo sind die anderen?“

Martin zuckte hilflos die Schultern. „Es hat irgendwas mit diesem Zaubertrank zu tun. Ich wusste, etwas daran ist seltsam.“

„Und trotzdem hast du ihn getrunken.“

„Ja, ja“, machte Martin. „Ist jetzt egal. Wir sollten hier raus. Die anderen suchen.“ Er stellte absichtlich nicht die offensichtliche Frage, warum man sie hier so lange alleine gelassen hatte. Sein Herz klopfte schneller, er hatte Angst.

Tanja deutete auf etwas am Boden. „Sieh mal. Was ist das? Das war vorhin noch nicht hier.“

Martin folgte Tanjas ausgestrecktem Zeigefinger und sah zwei dreieckige Glasscheiben, die durch drei Metallstäbe miteinander verbunden waren. Es sah nicht aus wie etwas, das in eine Burg gehörte. Es sah nicht einmal nach etwas aus, das irgendwohin gehörte.

Neugierig ging Martin hinüber und hob das seltsame Gebilde auf. „Muss wohl eine Art moderne Kunst sein“, vermutete er. Obwohl er selbst nicht daran glaubte.

Er schwenkte das Glas und wollte es ins schwächer werdende Licht halten, das noch durch die Fenstern fiel. Dabei erschrak er so sehr, dass er aufschrie und das Glas fast hätte fallen lassen.

„Was hast du?“, fragte Tanja alarmiert.

Martin schluckte schwer und sah sich verschreckt im ganzen Raum um, als ob er gleich ein Unheil erwartete. Er traute seinen eigenen Augen nicht mehr.

Tanja kam auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter. Martin rang sichtlich nach Worten. „Ich… es… durch das Glas habe ich etwas gesehen, das nicht da ist“, stammelte er.

Tanja runzelte die Stirn und nahm ihm das Ding aus der Hand. Sie schwenkte es ebenfalls durch den Raum und erschrak nur deshalb nicht bis ins Mark, weil Martins Worte sie vorgewarnt hatten. Durch das Glas sah sie das Burgzimmer, wie es vor Jahrhunderten ausgesehen haben musste! Edle Wandteppiche hingen an der Wand, uralte Möbel und allerhand Unbekanntes standen herum. Als sie das Glas mit zittrigen Händen zur Tür schwenkte, sprang diese plötzlich auf und ein schwer gerüsteter Ritter stürmte in den Raum. Er hob das wuchtige Schwert und ließ es auf Tanja herabsausen. Mit einem Schrei ließ sie das Glasgebilde fallen und hob die Hände im Reflex schützend vors Gesicht. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

Schwer atmend sah sie abwechselnd zur noch immer geschlossenen Tür und dann zu den Scherben auf dem Boden. Kein Ritter war gekommen, um sie zu töten.

„Was hast du gesehen?“, fragte Martin vorsichtig.

Tanja schüttelte nur den Kopf. „Raus hier“, hauchte sie. Das ließ sich Martin nicht zweimal sagen. Er nahm seine Freundin an der Hand und öffnete die Tür. Er spürte, wie sich Tanja innerlich spannte, aber durch sanften Händedruck gab er ihr zu verstehen, dass er für sie da war.

Sie schlichen langsam den steinernen Gang entlang und warfen immer wieder einen neugierigen Blick aus den Fenstern, wenn sie an einem vorbeikamen. Irgendetwas ging im Burghof vor, aber sie konnten nicht genau erkennen, was es war. Eine große Menschenmenge hatte sich dort unten vor dem Tor versammelt. Dafür trafen Martin und Tanja auf keinen anderen Menschen im Inneren der verwaisten Burg.

Als die beiden schließlich den Ausgang erreicht hatten und in den weitläufigen Hof traten, packte sie das Grauen. Ängstlich klammerten sie sich aneinander und blieben im Tor stehen, während sie die zerstörten Stände und die Toten davor betrachteten. Es waren Dutzende, die blutüberströmt zwischen den rauchenden Trümmern lagen; auf den ersten Blick konnten sie keine bekannten Gesichter unter den Leichen ausmachen. Was war nur geschehen, während sie ohnmächtig waren?

Für einen Moment waren Martin und Tanja sprachlos und reglos. Genau das rettete ihnen das Leben, denn genau in diesem Augenblick bog eine handvoll Bewaffneter um die Ecke und rannte den Burghof entlang. Die mit schwarzen Brustpanzern ausgerüsteten Soldaten schwenkten automatische Waffen und trugen Helme aus einem seltsam reflektierenden Material, auf dem ein spiegelndes Visier saß. Man konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Martin hatte solche Leute noch nie gesehen.

Benommen von den Eindrücken sahen sie den rennenden Männern nach. „Wir müssen hier unbedingt weg“, sagte Martin leise. Tanja nickte.

Sie setzten sich wieder in Bewegung und gingen in Richtung Tor, dabei nutzten sie jede Deckung, die sich ihnen bot. Schon von weitem hörten sie die Stimmen der aufgebrachten Menge. Als sie näher kamen, erkannten sie auch den Grund dafür. Das Tor war nur einen Spalt breit geöffnet worden, davor und auf der Mauer darüber hielten Soldaten Wache, die alle so gekleidet und bewaffnet waren wie die Männer, denen Martin und Tanja um ein Haar entkommen waren.

Der kleine Platz vor dem Tor war hoffnungslos verstopft, wie ein Korken in der Flasche blockierten dutzende Menschen den Ausgang. Wütend verlangte die Menge danach, hinausgelassen zu werden. Die Soldaten hinderten die Menschenmasse am Durchbrechen, durch Fingerzeig wurden Einzelpersonen ausgewählt, die durch das Tor treten durften. Ein Hubschrauber drehte wie ein Raubvogel beinahe lautlos seine Runde über den Mauern. An den geöffneten Seiten standen die selben Soldaten und wachten über das Geschehen.

„Was geht hier vor?“, flüsterte Tanja ängstlich. Martin wünschte sich, er könnte die Frage beantworten.

Die Menge wurde immer wütender, angestachelt von Einzelnen wagte die Masse den Durchbruch und warf sich gegen die Bewaffneten. Die Männer auf den Zinnen eröffneten das Feuer und schossen wahllos in die Menge. Der Hubschrauber beschränkte sich aufs Kreisen und Beobachten.

Sofort drängten die Menschen wieder zurück, wahrten diesmal aber nur noch einen geringeren Abstand zu den Soldaten als zuvor. Tote und Verwundete blieben auf dem schmalen Streifen zwischen den beiden verfeindeten Gruppen liegen. Wieder begann das Fingerzeigritual und einigen wenigen Geschockten und Verstörten wurde die Erlaubnis erteilt, das Tor zu durchschreiten.

„Es muss hier noch einen anderen Ausgang geben“, meinte Martin nachdenklich. „Komm!“

Sie gingen los, ließen das große Tor hinter sich und hielten sich wieder an jede Deckung, die sie kriegen konnten. Sie bemühten sich, die Eindrücke zurückzudrängen; sie mussten sich auf ihre Flucht konzentrieren und darauf, nicht diesen seltsam gekleideten Soldaten in die Hände zu fallen.

Der Himmel hing schwer und rot über ihnen, fast wie eine Drohung, als sie endlich in einem entlegenen Winkel der Mauern ein zweites Tor fanden. Anscheinend war hier so etwas wie eine Bombe eingeschlagen, denn sowohl der obere Teil des massiven Holztores als auch der untere Teil des gemauerten Torbogens waren weggesprengt worden. Ruß bedeckte das, was nicht zerstört war. Die spitzen Wundränder des zerborstenen Holzes stachen wie kleine Nadeln in die Luft.

Prüfend stemmte sich Martin gegen das Tor und versuchte es aufzudrücken. Es bewegte sich keinen Millimeter. „Wir müssen drüberklettern“, sagte er. Tanja biss sich auf die Lippe und nickte.

„Warte, ich breche nur noch die spitzesten Überreste heraus, damit du dich nicht schneidest.“ Er glättete die Ränder des abgebrochenen Holzes notdürftig, wobei er sich die Hände aufriss. Dann machte er eine Räuberleiter und half Tanja dabei, über das Tor zu klettern. Tapfer hielt sie sich am oberen Rand fest und schwang ihren Körper dann auf die andere Seite.

Jetzt sprang Martin in die Höhe und fasste den ausgefransten Torrand. Die Splitter stachen ihm ins Fleisch und rissen seine Haut auf. Trotzdem zog er sich hoch und suchte Halt. Er zog seine Füße nach und überwand den höchsten Punkt. Dann ließ er sich auf der anderen Seite wieder hinab. Sein Gewand war zerrissen, sein Körper noch schlimmer geschunden. Aus unzähligen Wunden blutete er. Erleichtert sah er, dass Tanja den Überstieg dank seiner Hilfe wesentlich besser überstanden hatte.

Sie standen am Rand einer steil abfallenden Felsenklippe, der rote Himmel lag noch immer über der Welt. Martins und Tanjas Blick ging weit über die flache Ebene, sie sahen nichts außer Wald. Ein schmaler Weg, nur so breit wie ein Fuß, führte dicht an der Burgmauer entlang hinunter zum Tor; das vermutete Martin jedenfalls.

Ein frischer Wind fuhr ihnen ins Gesicht und brachte gute Luft mit sich. Martin und Tanja fielen sich in die Arme und ruhten einen Moment aus. Wie sollte es jetzt nur weitergehen?

Finsterlicht

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