Читать книгу Der programmierte Agent - Leo Frank-Maier - Страница 6
ОглавлениеFrank konnte den rechten Arm nicht bewegen, und das war unbequem. Er wußte, daß Judith mit ihrem Kopf auf seinem Arm schlief, und er wollte sie nicht wecken. So blieb er regungslos liegen, wollte weiterschlafen, nichts denken, nichts wissen.
Nun wäre er gerne allein gewesen.
Er hörte den Muezzin plärren, drüben in der Altstadt von Jerusalem. Es war noch Zeit zu schlafen. Aber der Arm tat weh.
Sein Körper war feucht, und er fror. Schließlich blinzelte er mühsam, drehte sich ein wenig und zog seinen Arm behutsam an sich.
Sie schlief weiter und das war gut so.
Er versuchte mit den Beinen ein Leintuch zum Zudecken zu finden, gab es aber wieder auf.
Von der Straße hörte er das Klingeln des Petroleumverkäufers, der um diese Zeit mit seinem Eselkarren umherzog. Ein vertrautes Geräusch nach fast vier Monaten, die er nun in diesem Land war.
Er wollte weiterschlafen, weil er fühlte, daß da irgend etwas Unangenehmes war, an das er zu denken hatte. Es war zu kalt. Schließlich setzte er sich mühsam auf, fand eine Decke und zog sie über sich.
Noch spürte er den Alkohol von gestern. Mit dem Schlafen war es wohl jetzt vorbei. Er tappte nach einer Zigarette, konnte aber kein Feuerzeug finden und lehnte sich wieder zurück. Eine Weile betrachtete er Judith. Sie war nackt und schlief tief, den Mund halb geöffnet. Das Bett ist viel zu schmal, dachte er.
Er hatte noch nie zuvor mit einer Jüdin geschlafen. Sie roch ein wenig unangenehm nach ungeputzten Zähnen und Schweiß. Einen schönen Körper hat sie, mit ihren zweiundzwanzig Jahren, mußte er denken. Etwas füllig, wie sie wohl mit zweiunddreißig Jahren aussehen würde? Judith war eine Sabre, eines dieser in Israel geborenen Mädchen, deren herbe Schönheit und Natürlichkeit so faszinieren. Der beste Exportartikel dieses Landes, süßer als Jaffa Orangen, verläßlicher als Uzi-Maschinenpistolen, made in Israel, aber leider meist unverkäuflich.
Er fand das Feuerzeug, machte einen tiefen Zug und unterdrückte den Hustenreiz, um sie nicht zu wecken. Er betrachtete ihre schwarzen Schamhaare und ihre makellosen Zähne, und plötzlich wußte er wieder, daß sie schwanger war. Er bedeckte sie behutsam mit einem Leintuch und dämpfte die Zigarette wieder aus.
Er versuchte weiterzuschlafen.
Unter der Decke wurde ihm wieder langsam warm. Der Schlaf ist der Bruder des Todes, sagten sie in diesem Land.
Mit einer Frau ins Bett zu gehen und in der Früh mit ihr aufzuwachen, sind grundverschiedene Dinge.
Sie war zum ersten Mal bei ihm in seinem kleinen Zimmer in der King Georg Street, ganz in der Nähe des neuen Gebäudes, das man eigens für den Eichmann-Prozeß eingerichtet hatte. Vorher war er immer bei ihr gewesen, das war bequemer. Dort konnte er nach Mitternacht wieder gehen, unter dem Vorwand, daß er doch am nächsten Tag frische Wäsche haben müsse.
Er liebte diese nächtlichen Spaziergänge nach Hause, entspannt und müde. Gewöhnlich trank er noch ein Bier in der My-Bar. Die einzige Kneipe, die um diese Zeit in Jerusalem noch offen hatte.
Dort saßen meist ein paar angetrunkene Journalisten, Kollegen, die sich seit Beginn des Prozesses in der Heiligen Stadt langweilten. Ein paar Soldaten von den United Nations, die aus unerfindlichen Gründen in der My-Bar einen Dollar für einen Whisky bezahlten, den sie in der Kantine in ihrem Hauptquartier duty free für zwei Dollar die Flasche haben konnten.
»Jerusalem ist halb so groß wie der Friedhof von Chicago«, sagten alle, »nur doppelt so ruhig.«
In der My-Bar kannten sie ihn und Judith und alle wußten, wenn er von ihr kam. Sie waren neidisch auf ihn, und er genoß ihren Neid. Jeder von den Ausländern kannte jeden in diesen Tagen des Eichmann-Prozesses, und alle wußten alles voneinander. Oder glaubten zumindest, alles zu wissen.
Der Prozeß dauerte nun einmal viel zu lang für die Journalisten und Jerusalem war nichts anderes als ein großes Dorf.
Blöd von ihm, sie diesmal mit nach Hause zu nehmen. Er verspürte den heftigen Drang zum Urinieren, kroch behutsam aus dem Bett, ängstlich bemüht, sie nicht zu wecken.
Im Bad betrachtete er kritisch seine geröteten Augen, es war ihm zum Speien übel. Mit seinen stark ergrauten Haaren sah er glatt um zehn Jahre älter aus. Besonders an so einem Morgen.
»Alter Hund, blöder«, sagte er leise.
Wieder stellte er fest, daß auch seine Bartstoppel grau wurden. Er wollte nicht, daß Judith ihn so sah. Er begann sich zu rasieren. Mit dem weißen Rasierschaum im Gesicht sahen seine Zähne richtig grau aus, und er beschloß wieder einmal, weniger zu rauchen und wußte dabei, daß er zu Mittag schon das zweite Paket aufreißen würde.
»Du bist ein Idiot, Frank«, murmelte er.
Es gefiel ihm, hier in der Fremde Frank zu heißen. Zu Hause sagten sie Franz.
Es gelang ihm, wieder ins Bett zu schlüpfen, ohne Judith zu wecken. Er wußte, daß sie ihn küssen würde, und es war ihm ganz und gar nicht danach. Ihr Körper war jetzt warm und als sie sich schlaftrunken zur Seite drehte und ihm den Rücken zukehrte, war er zufrieden.
Es war noch Zeit zu schlafen.
So sehr hatte er sich um diesen Job bemüht. Es war nicht sein erster Auslandsauftrag, aber er hatte Unwillen und Neid seiner Kollegen mehr denn je zuvor gespürt. Und wie immer in seinem Leben mußte er darauf mit höhnischer Provokation reagieren, es war wie ein innerer Zwang, den er nicht überwinden konnte.
Warum, zum Teufel, mußte er sich immer Feinde schaffen. Er erinnerte sich an Irene, die jetzt schon eine eigene Rechtsanwaltskanzlei in München hatte. Tüchtiges Weib. »Du bist ein hoffnungsloser Zyniker«, hatte sie ihm zuletzt gesagt. Warum hatte er sie eigentlich nicht geheiratet?
»Sie ist mir zu gescheit und hat zu viel Geld«, pflegte er damals seinen Freunden zu sagen, und irgendwie war er verlegen dabei.
Seinen Freunden? Hatte er überhaupt welche? Oft schon hatte er darüber nachgedacht und sich diese Frage gestellt.
Er versuchte zu rechnen. Als er den Job übernahm, schien es ihm der einzige Ausweg aus einer tristen finanziellen Situation. Er konnte es nun drehen wie er wollte, es hatte sich kaum etwas geändert, und er hatte sich solche Hoffnungen gemacht.
Er hatte zu viel Geld ausgegeben in den letzten vier Monaten. Sinnlos, ohne zu rechnen, wie immer.
In etwa vier Wochen würde die Urteilsverkündung gegen Eichmann sein. Dann erwartete man ihn zu Hause. Er würde die üblichen Streitereien wegen seines Spesenkontos haben.
»Mach dir nichts vor«, sagte er sich, »du bist in derselben Scheiße wie vorher. Lucky Frank! Mit dem Unterschied, daß du jetzt noch eine schwangere Freundin am Hals hast.«
Ob sie es darauf abgesehen hatte? Der Gedanke beschäftigte ihn für einen Moment.
Er erinnerte sich an ihr »dont worry, darling, it’s a good time« vor einem Monat. Hatte sie versucht ihn zu täuschen?
Nein. Frauen konnten ihm nichts vormachen. Dachte er. Sie war zu erschrocken, zu ängstlich, als die Regel ausblieb.
Und sie wollte es auch jetzt noch nicht glauben.
Er wußte es besser seit jenem Sonntagmorgen, als sie nach der ersten Zigarette plötzlich blaß wurde und mit der Hand vor dem Mund aus dem Zimmer rannte.
Sie war wohl zum ersten Mal schwanger, dachte er.
Die Wasserspülung der Nachbartoilette hörte sich an wie das gequälte Röcheln eines alten Mannes. Vertraute Geräusche aus seiner Kindheit. Es klang wie zu Hause, in der Gemeindewohnung im 1o. Bezirk in Wien, aus der man seine Mutter 1945 delogierte, weil sein Vater ein Nazi war.
Er war wohl wieder eingeschlafen und hörte im Halbschlaf Judith im Badezimmer herumplätschern. Als sie wieder ins Bett schlüpfte, roch sie nach sie nach Seife und seiner Zahncreme. Sie saß eine Weile neben ihm, er wußte, daß sie ihn beobachtete und hielt die Augen geschlossen.
Sie begann ihn zu streicheln und zu betasten, und nach einer Weile fühlte er, wie sein Blut gehorsam ins Geschlecht strömte, und er zog sie an sich. Unter seinen Händen fing sie an schwer zu atmen. Er beobachtete sie jetzt verstohlen, und ihr gelöster Gesichtsausdruck erregte ihn. Er wollte wissen, wie spät es war, und hatte Angst, es könnte sie irritieren, würde er jetzt nach seiner Uhr greifen, die auf dem Sessel lag. Er richtete es so ein, daß er einen kurzen Blick auf die Uhr werfen konnte.
Es war noch Zeit.
*
Im Gerichtsgebäude war alles wie jeden Tag. Die Verhandlung hatte schon begonnen, er kam ein wenig zu spät. Er ging zuerst in den Presseraum und begrüßte mit Kopfnicken und Handbewegungen seine Berufskollegen, die dort mit ihren Kopfhörern saßen und den Simultanübersetzungen lauschten. Er suchte Jonny Davis von UPI, und als er ihn fand, machte er nur eine fragende Augenbewegung und erhielt als Antwort ein kurzes Abwinken, es gab also nichts Neues. So ging er ans Buffet, trank einen heißen Kaffee und rauchte in Ruhe eine Zigarette zu Ende. Oben an seinem Platz in der Galerie war Rauchverbot. Als er dann dort seine Kopfhörer aufsetzte, stellte er zuerst die englische Übersetzung ein, nach einer Weile wurde es ihm zu anstrengend, und er stellte auf deutsch um.
An Stelle der schon vertrauten Stimme des deutschen Simultanübersetzers hörte er eine Frauenstimme. Eine Weile horchte er und machte ein paar Notizen. Es war wieder von den Vernichtungslagern die Rede, er hörte die bekannten Namen Majdanek, Auschwitz, Sobibor. Die neue Dolmetscherin machte ihre Sache sehr gut. Eine sympathische Stimme, ein klassisches Deutsch. Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. Die Stimme erinnerte ihn an etwas, das schon lange zurück lag. Was war es nur?
Frank hatte den angeklagten Adolf Eichmann in seinem kugelsicheren Glaskasten oft und lange betrachtet und versucht sich vorzustellen, wie dieser Mann wohl in seiner SS-Uniform und im Vollbesitz seiner Befehlsgewalt ausgesehen haben mochte. Es gelang ihm nicht recht. Der hagere, nervös wirkende Endfünfziger hinter dem Panzerglas hätte Buchhalter oder Gaskassier sein können, ein Mann den man täglich trifft, in der Straßenbahn oder im Gasthaus, nichts Außergewöhnliches war an ihm. Eichmann sprach in langen Sätzen, eindringlich und beschwörend, verhedderte sich immer wieder und wußte am Ende nie, wie er den Satz begonnen hatte. Sein geschwollenes Amtsdeutsch verursachte dem Journalisten Wallisch oft Zahnweh. Manchmal griff der Vorsitzende des Gerichtes, Dr. Landau, ein, von dem man wußte, daß er einst Richter in Deutschland war. Der Jude Landau sprach ein glockenreines Deutsch, das jedem Sprachästheten das Herz höher schlagen ließ. Und es war grotesk, mitanzusehen, wie Eichmann als Vertreter der einstigen germanischen Herrenrasse der souveränen Persönlichkeit Dr. Landaus Tribut zollte, wie er förmlich buckelte und liebdienerte vor diesem Vertreter einer Rasse, die er zu Hunderttausenden in die Gaskammern geschickt hatte, als minderwertiges Leben, als Abschaum der Menschheit. Es war einfach nicht zu glauben, mit dem Verstand nicht zu fassen. Und doch war es die Wahrheit, waren es Tatsachen. Frank stellte sich vor, wie er als Obergefreiter wohl salutiert haben mochte, wäre er dem Obersturmbannführer Eichmann einmal begegnet. SS-Obersturmbannführer, das entsprach dem Rang eines Oberstleutnants. Dort, wo der Obergefreite Wallisch im Krieg war, hatte man solche hohen Ränge selten gesehen. Ganz seltene Vögel waren das. Man hatte sie höchstens in Autos vorbeifahren oder in Fronturlauberzügen gesehen, natürlich in reservierten Erstklasseabteilen, während sich die Landser auf den Gängen drängten. Und Franz Wallisch hatte die kalte Wut im Bauch, wenn er die Fiktion einer solchen Begegnung überdachte.
Der Journalist Wallisch schämte sich manchmal eines seltsamen Gefühls wegen: Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Eichmann nach der Anklageverlesung aufgestanden wäre und einfach »Heil Hitler« geschrien hätte. Wenn er geschrien hätte: »Ich habe Euch, Ihr Juden, millionenfach gemordet, nun habt ihr mich, tötet mich, zu sagen habe ich nichts!«
Aber Eichmann winselte, daß er nur Befehle ausgeführt habe, daß er nur Werkzeug gewesen sei, – es war einfach widerlich.
Und Frank Wallisch schämte sich. Nicht, weil er jemals Nazi war. Er schömte sich, weil er solchen Figuren Ehrenbezeugung erwiesen hatte, als Obergefreiter.
Er bekam wieder Kopfweh von der Sauferei gestern. Er erinnerte sich, daß er mit einem jüdischen Journalisten in der Bar zu streiten begonnen hatte, weil der ihm nicht glauben wollte, daß ein großer Teil der Deutschen von der Judenvernichtung während des Krieges nichts gewußt hatte. Die ungläubigen und zynischen Bemerkungen hatten ihn zornig gemacht, und er hatte seine eigenen Erlebnisse während des Krieges zum Beispiel genommen, hatte versucht zu erklären, daß er als Gefreiter der Infanterie an der Ostfront von all diesen Dingen keine Ahnung haben konnte. Es war alles umsonst gewesen. Warum war das alles für jüdische Ohren so unglaubwürdig?
Die Frauenstimme im Kopfhörer rollte das »R« stark betont, besonders bei den Wortendungen. Es war ein gutes Gefühl, zuzuhören. Wo nur hatte er Ähnliches schon gehört?
Am liebsten hätte der dem Kerl gestern eine Ohrfeige gegeben. Aber das war schließlich kein Argument.
Sobibor, hörte er immer wieder die Stimme sagen – Sobibor.
Irgendwo in seinem Gehirn schloß sich der Kontakt. Natürlich, das war es. Die Sprecherin von BBC London – Feindsender während des Krieges – sie hatte dieselbe Art, das »R« zu betonen, gehabt.
Sobibor.
Und dann erinnerte er sich wieder.