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Einleitung

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Nur noch eine Nacht trennte Julius vor dem Anfang eines neuen Lebensabschnitts. Schon als Kind mochte er diese Abende nicht. Er fragte seine Eltern, was auf ihn zukommen würde, was er können, was er machen müsse. Seine Eltern, die keine Hellseher waren, konnten ihm keine abschließende Antwort geben. Sie sagten einfach:

„Du wirst das schaffen!“

Als Julius älter wurde, in die Pubertät kam, später die Volljährigkeit erlangte, an diesen Abenden begleitete ihn immer die Sorge vor dem Unbekannten. So rätselte er beispielsweise, wie er sich angemessen kleiden solle.

Bei seinem neuen Arbeitgeber wollte er nicht zu schick erscheinen. Das hätte für die Kollegen bedeuten können, er sei ein Streber. Zu sportlich wollte er aber auch nicht wirken. Bis vor kurzem hatte er sich darüber keine Gedanken machen müssen. Traf er im Architekturbüro oder auf der Baustelle Kunden, trug er einen Anzug und ein weißes Hemd. Ansonsten war er leger gekleidet.

So betrachtete er sich an diesem Abend mit und ohne Krawatte. Was passte besser? Für eine brauchbare Antwort hätte er seine neuen Kollegen schon kennen müssen. Seine Frau Rosa konnte ihm ebenfalls keinen verlässlichen Rat geben. Also verschob er seine Entscheidung auf den kommenden Morgen.

Nach dem Aufstehen ließ er den Schlips im Schrank hängen. Froh, diese erste Hürde genommen zu haben, goss er in der Küche heißes Wasser auf lösliches Kaffeepulver, schmierte ein Marmeladenbrot, halbierte eine Kiwi und schaltete das Radio an. Als er sich an den kleinen Tisch vorm Küchenfenster setzte, hörte er eine Eilmeldung: Osama bin Laden sei bei der Erstürmung einer Villa in Pakistan getötet worden. Der Leichnam werde noch am selben Tag auf See bestattet. Ein Video der Aktion sei gedreht worden. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der Vizepräsident, die Außenministerin wie enge Berater und Vertreter des US-amerikanischen Militärs hätten das Geschehen live aus dem Weißen Haus mitverfolgt.

Julius war noch schläfrig und brauchte länger als die Nachrichten dauerten, um das Gehörte zu verstehen. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, dass sie bin Laden fassen würden. Dass sie ihn gleich wieder einer anderen Instanz unterstellten, kam ihm vor, als fürchteten sie, mit ihm als Gefangenem überfordert zu sein. Seit beinahe zehn Jahren war ihre Suche missglückt. Und jetzt an Julius erstem Arbeitstag töteten sie bin Laden, der die freie Welt mit dem Attentat auf das World Trade Center in Schrecken versetzt hatte.

„War die Welt nun freier? Oder handelte es sich um ein Hydra-Phänomen? Wurde ein Kopf abgeschlagen, wuchsen zwei neue nach.“

Es war zu früh am Morgen, darüber nachzudenken. Julius musste zum Bahnhof gehen.

Drei Wochen vor seinem ersten Arbeitstag hatte er den Wohnort gewechselt. Er zog vom Süden in den Norden Deutschlands. Endlich wollte er den Alltag wieder mit Rosa verbringen. Ein gutes Jahr lang musste er zwischen München und ihrer Heimatstadt pendeln, wo sie eine Grundschule leitete.

Sein Umzug und beruflicher Neuanfang stieß in seinem Familien- und Freundeskreis auf ein geteiltes Echo. Die Eltern fanden es bisher schön, sagen zu können, ihr Sohn arbeite beim Architekturbüro Schulz & Adler. Auch schon vor seiner Anstellung als Architekt konnten seine Eltern zufrieden über seine aktuelle Beschäftigung erzählen.

Seine künftige Anstellung bei einem kirchlichen Verband hingegen, die zunächst auf zwei Jahre befristet war, konnte sie neuerdings in eine Bredouille bringen. Die meisten Bekannten erkundigten sich nicht extra nach Julius Beruf. Sie gingen davon aus, dass er den gut dotierten Posten nicht gegen einen schlechter bezahlten und zeitlich begrenzten aufgeben würde.

Es gab aber auch ‚Inquisitoren‘. Dies waren Eltern, die es schon lange vermieden, über den Beruf ihrer Kinder zu sprechen. Aus Scham und Neid hofften sie, dass auch die Eltern, die bislang mehr Glück mit ihren Kindern gehabt hatten, eines Tages ihre Situation ertragen müssten. Vor diesen ‚Inquisitoren‘ führten Julius Eltern die Gründe für seine Entscheidung an, die sie selbst nicht für vernünftig hielten, die sie ihm zu Liebe jedoch so geschickt wie möglich darstellten.

Nach ungefähr fünf Jahren wollte Julius einfach nicht mehr für das Architekturbüro arbeiten. Alles war zu Routine geworden. Zusätzlich belastete ihn das Verhalten zweier Kollegen. Er meinte, sie nützten seine Nachsicht aus. Die Respektlosigkeiten machten ihn dünnhäutig. Immer öfter schweiften seine Gedanken in Tagträume ab und sammelten sich bei einem Bedürfnis, das er in der jüngeren Vergangenheit verdrängte:

Nachdem sich Julius in eine Frau verliebt hatte, prüfte er geduldig das Für und Wider heraus. Das kostete Zeit. So viel, dass sich in der Regel die Selbstzweifel der davon betroffenen Frauen vergrößerten, bis sie früher oder später nicht mehr warten wollten. Die erste Ausnahme seiner Mitschülerinnen bildete Bea. Ihre Selbstsicherheit ertrug den Siebvorgang bis zum Schluss. Sie führte aber letztlich auch dazu, dass sie nach dem Abitur die dreijährige Beziehung beendete. Denn sie hatte für sich erkannt, was von manchen Feministinnen wie folgt formuliert wurde: „Frauen brauchen Männer wie Fische ein Fahrrad.“

Aus Liebeskummer flüchtete sich Julius ins Studium. Er genoss es, sich dabei selbst zu vergessen. Diesem Zustand, den einige Liebschaften unterbrachen, blieb er auch während seines Promotionsstudiums treu. Erst anschließend reihte er sich wieder in den lustigen Reigen ein. Sechs Monate vergingen, bevor die lose Bekanntschaft zu Melissa eine feste Form annahm. Und nur anderthalb Jahre später versprachen sie vor Gott, füreinander da zu sein. Jetzt hoffte er, dass sie sich in Ruhe aneinander gewöhnen und mit der Zeit ein passables Ehepaar abgeben würden. Stattdessen löste sich ihre Verbindung auf tragische Weise auf: Melissa starb an Krebs.

So eine tiefgreifende Erfahrung hatte Julius bis dato nicht bewältigen müssen. Es fehlte nicht viel und er hätte einen Psychologen konsultiert. Aber etwas, das im Verborgenen blieb, hielt ihn davor zurück. Er zog es vor, über Melissas Tod zu schreiben und sich das Schicksal selbst zu deuten. Es klappte. Und deshalb ließ sich das schmerzhafte Kapitel seiner Biographie am Schluss der Aufzeichnungen schließen. Erleichtert setzte er seinen Weg fort, der ihn zu einer neuen Frau führte.

Rosa hieß ihr Name. Julius saß in einem Flugzeug, in das die letzten Passagiere einstiegen, ehe es von Frankfurt nach Palma de Mallorca abhob. Stumm bat er, dass sich kein Fluggast neben ihn setzen möge. Erst als Rosa in sein Sichtfeld trat, kehrte sich sein Wunsch ins Gegenteil.

Mit jedem Schritt, den sie sich näherte, wurde sein Zeitgefühl verlangsamt. Sie trug einen weißen Rock. Die Flip-Flops aus braunem Leder wie die geflochtene Badetasche passten, anders als ihre schwarze Hornbrille, zu ihrem Sommeroutfit. Rosa blieb eine Reihe vor ihm stehen und sagte zu dem Mann, der am Fenster saß:

„Schade. Ich dachte, ich hab einen Fensterplatz. Naja, muss ich mich halt hier hin setzen“, worauf der Mann bereitwillig seinen Platz mit ihr tauschte. Sie bedankte sich für sein Entgegenkommen, streckte sich, um ihre geflochtene Tasche in die Gepäckablage zu legen, und setzte sich ans Fenster.

Rosas Sitznachbar, den Julius auf Anfang sechzig schätzte, redete während des gesamten Flugs auf sie ein. Er erzählte viel und stellte viele Fragen. Auch bei der Ankunft hatte Julius keine Chance, Rosa anzusprechen. Der Sitznachbar umlagerte sie wie ein eifersüchtiger Ehemann. Er begleitete sie zum Gepäckband, schaute ihn streng an und winkte am Ausgang ein Taxi für sie herbei.

Julius rechnete nicht damit, dass er Rosa wieder sehen würde. Doch drei Tage später betrat sie ein Restaurant in Santa Ponça, in dem er an einem Fensterplatz zu Abend aß.

Ihren weißen Rock hatte sie mit weißen kurzen Hosen getauscht. Ihren Oberkörper bedeckte ein marineblaues Top. Die Flip-Flops aus Leder wie die Hornbrille zerstreuten seine restlichen Zweifel, ob es sich um Rosa handelte. Zögerlich lief sie zu seinem Tisch.

„Hallo. Ich hab sie grad von draußen hier essen sehen. Kann ich mich zu ihnen setzen?“

„Gerne. Nehmen sie Platz!“, antwortete er und fuhr ironisch fort: „Jetzt haben sie ja schon wieder einen Fensterplatz bekommen“, worauf sie lachte und konterte:

„Man muss einfach die richtigen Männer kennen.“

Und so begann sich zwischen den beiden ein fröhliches Gespräch zu entwickeln, in dessen Verlauf Julius schwer verbergen konnte, wie gut sie ihm gefiel.

Als er bei der Verabschiedung keine Anstalten machte, ein weiteres Treffen zu vereinbaren, nahm Rosa das Zepter in die Hand.

Wie üblich dauerte es, weit über diesen Mallorca-Urlaub hinaus, bis sich Julius auf das Wagnis einer Beziehung einließ. Es vergingen zwei Jahre mit Höhen und Tiefen und kleineren Enttäuschungen. Und ein Jahr darauf wurde ihre Verbindung in einem Münchner Standesamt rechtskräftig geschlossen. Nach einem weiteren Jahr erhielt sie den Segen der römisch-katholischen Kirche.

Schon vor der Hochzeit deutete sich an, dass Rosa lieber in ihrer Geburtsstadt als in München wohnen würde. Ein Anruf nach den Flitterwochen stärkte ihren Wunsch. Eine alte Schulfreundin sagte ihr, die Stelle der Grundschuldirektorin sei frei geworden. Sie solle sich doch einfach auf den Posten bewerben. Vielleicht habe sie Glück. Sie hatte Glück. Doch damit gerieten sie und Julius in die Verlegenheit, wenige Monate nach der Hochzeit eine Wochenendbeziehung zu beginnen. Da sich auch bei Julius ankündigte, dass er nicht lange bei Schulz & Adler weiterarbeiten wolle, fiel es ihm leicht, Rosa zu ermutigen, die Chance in ihrer Heimatstadt zu ergreifen. Er wollte bald nachkommen.

So begann das Jahr, in dem sie sich nahezu ausschließlich an den Wochenenden sahen, und an dessen Ende Rosa ein Stellenangebot in der Zeitung fand, das sie Julius weiterleitete. Ein katholischer Wohlfahrtsverband suchte einen Leiter für die Bauabteilung. Als Voraussetzungen nannten sie eine „mehrjährige Berufserfahrung als Architekt“ sowie die „Identifikation mit der Lehre der katholischen Kirche“. Zwar erschienen Julius viele moralische Haltungen der apostolischen Kirche lebensfremd. Aber da er die Kirche für einen zuverlässigen Arbeitgeber hielt, bewarb er sich auf die Stelle und wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen.

Dort konnte er Direktor Saalfeld und Herrn Molitor von sich überzeugen. Und deren Not, sobald wie möglich die Stelle zu besetzen, ließ nur drei Tage später bei Julius das Telefon klingeln. Die Direktionssekretärin Frau Wolkow meldete sich und teilte ihm mit, er sei zum zweiten Vorstellungsgespräch eingeladen. Bei diesem werde neben Direktor Saalfeld statt Herrn Molitor der Vorsitzende des Verbands, Pfarrer Schatz, anwesend sein.

Direktor Saalfeld war äußerlich ein unauffälliger Mann. Seine Glatze wurde von einem weißen Haaransatz bekränzt. Dunkle Ränder untermalten seine Augen, ein Bauchansatz lugte aus seinem Jackett hervor und auf den einander zugewandten Innenseiten seines linken Zeige- wie Mittelfingers lag eine vom Kettenrauchen nikotingelbe Patina. Er lief etwas gebeugt und schaute oft skeptisch über den Rand seiner Lesebrille.

Pfarrer Schatz, dessen Hochdeutsch durch den in dieser Gegend verbreiteten Dialekt gefärbt wurde, war hochgewachsen, besaß eine stattliche Figur, graue, akkurat geschnittene Haare, markante Gesichtszüge und einen Schnurrbart. Lebensfroh, mit einem breiten Lachen hieß er Julius willkommen. Zur Begrüßung reichte er Julius seine rechte Hand und klopfte ihm mit seiner linken aufmunternd auf den Rücken, indes Direktor Saalfeld von seinem Schreibtisch zu ihnen gelaufen kam. So viel Leutseligkeit kannte Julius von seinen Kollegen bei Schulz & Adler nicht. Vielleicht liege es an den unterschiedlichen Mentalitäten oder an der unterschiedlichen Berufsgruppe, versuchte er sich den Unterschied zu erklären.

Nachdem er auch von Direktor Saalfeld begrüßt worden war und sie sich an einen Tisch in dessen Arbeitszimmer gesetzt hatten, bestimmte Pfarrer Schatz das weitere Gespräch. Julius ließ ihn reden und wartete ab, wann er ihm eine Frage stellte. Er hingegen schien darauf aus zu sein, dass ihn Julius bei seinem Monolog unterbrechen würde. Als er merkte, dass er Julius nur durch eine Aufforderung zum Sprechen bewegen könne, bat er ihn, ihm von seinen Eindrücken aus dem ersten Vorstellungsgespräch zu erzählen.

Julius antwortete ausführlich, abwägend und vermied, Ansatzpunkte zum Nachhaken zu setzen. Mit seiner Reaktion konnte Pfarrer Schatz wenig anfangen. Er liebte klare Worte. Akademische Differenziertheit und höfliche Zurückhaltung waren nicht seine Welt. Um Fahrt ins Gespräch zu bringen, fragte er:

„Lieber Dr. Zey, lassen sie es mich mal anders probieren. Sagen sie mir bitte, welche Aufgabe, die mit ihrer Tätigkeit als Leiter der Bauabteilung verbunden wäre, würden sie besonders gern, welche besonders ungern machen?“

Beim ersten Gespräch hatte Direktor Saalfeld Julius bereits die Aufgaben näher erläutert, die in der Stellenanzeige aufgelistet waren. Er sollte sich im Wesentlichen um alles kümmern, das mit dem Neu- und Umbau bzw. Abriss von Gebäuden des Wohlfahrtsverbands zu tun hatte. Und das hieß auch, die Entscheidungen darüber nicht selbst zu treffen, sondern sie in den verschiedenen Gremien durch Beschlüsse herbeizuführen. Zu der Abteilung, die er leiten sollte, gehörten ein weiterer Architekt, ein Bauzeichner wie eine Sekretärin.

„Wie ich schon im Gespräch mit Direktor Saalfeld und Herrn Molitor angedeutet habe, liegt mir die inhaltliche Arbeit sicher mehr als die Verwaltungstätigkeiten.“

Direktor Saalfeld, der sicher gehen wollte, dass Pfarrer Schatz am Ende des Gesprächs nichts gegen Julius Einstellung einwenden konnte, unterstützte ihn:

„Genau. Darüber haben wir ja schon gesprochen. Der Anteil an Verwaltungsarbeiten wird zu Beginn ihrer Tätigkeit vielleicht mehr als 30% ihrer Stelle betragen. Aber spätestens nach einem halben Jahr werden sie Routine sein und sie können sich verstärkt auf die bauliche Arbeit konzentrieren.“

Pfarrer Schatz spürte, dass Direktor Saalfeld bereits seine Entscheidung für Julius getroffen hatte und das Bewerbungsverfahren zügig abschließen wollte. Dadurch fühlte er sich herausgefordert. Den Personalvorschlag einfach abzusegnen, das war nicht seine Art:

„Schön und gut. Denken sie, sie können sich Direktor Saalfeld und den Gremien unterordnen, ihm und ihnen zuarbeiten, akzeptieren, wenn andere Entscheidungen getroffen werden, als sie sie für richtig halten? Oder wollen sie nicht lieber selbst der Direktor sein?“

„Es stimmt, dass ich bisher größtenteils eigenständig arbeiten durfte. Aber ich war weisungsgebunden und musste mich mit anderen absprechen. Klar, es gab Entscheidungen meiner Vorgesetzten, denen ich mich beugen musste. Da ist mir aber auch kein Zacken aus der Krone gefallen. Insgesamt haben wir kollegial zusammen gearbeitet. Die Hierarchie war mehr eine Formalität. Wenn es um die Sache ging, zählte das beste Argument, unabhängig davon, ob es vom Praktikanten, Bauzeichner, Kollegen, einem meiner Chefs oder mir kam. – Das Bild vom Staatsanwalt und Richter passt ganz gut. Ich bereite die Entscheidungsgrundlage vor und Direktor Saalfeld beschließt sie mit den anderen Gremienmitgliedern.“

„Der Vergleich gefällt mir“, sagte Pfarrer Schatz, um gleich darauf eine weiterführende Frage zu stellen, weil er weiterhin den Anschein vermeiden wollte, er würde Julius Anstellung zu früh seine Zustimmung geben:

„Wenn Direktor Saalfeld der Richter ist, welche Rolle schreiben sie mir zu?“

„Bei manchen Prozessen ist es ja üblich, dass es mehrere Richter gibt, von denen einer der Vorsitzende ist. Dieser wären dann sie.“

Da Pfarrer Schatz auf diese Antwort nicht gleich eine Reaktion einfiel, wechselte er das Thema:

„Wie sie sicherlich wissen, überschneiden sich die Sphären von Staat und Kirche in vielen Bereichen. Was denken sie darüber?“

Mit dieser Frage wollte Pfarrer Schatz Julius kirchliches Wissen testen. Dieser hatte wenige Monate zuvor einen Zeitungsartikel gelesen, der von dem Thema handelte, nach dem er nun gefragt wurde. Es wurde dargelegt, weshalb die Kirche überzeugt sei, mit weltlichen Gruppen nicht vergleichbar zu sein. Sie verstehe sich als Gemeinschaft ‚sui generis‘ (eigener Art). Julius verstand, dass die Kirche ihre Stellung durch die Betonung der Unterschiedlichkeit zu anderen Vereinen und Gruppen zu sichern versuchte.

Er wunderte sich aber, weshalb sich einige Verantwortliche der Kirche von der Welt abkehrten, anstatt auf sie zuzugehen und sich auf die Gemeinsamkeiten mit ihr zu konzentrieren und so unter Beweis zu stellen, dass sie die wahre Kirche Jesu Christi sei, wie es in dem Artikel hieß. Auf der Basis der Zusage Jesu Christi, die Kirche gehe nicht unter, könne sie doch gelassener auftreten, dachte Julius. Direktor Saalfeld schaute zu ihm und sagte:

„Pfarrer Schatz möchte ihre Kirchlichkeit testen. Passen sie auf!“

Pfarrer Schatz mochte es nicht, dass Direktor Saalfeld seinen Vorstoß entschärfte und entgegnete ihm:

„Sie brauchen unseren möglichen Kollegen nicht warnen! Er wird sich selbst verteidigen können.“

Julius erzählte den beiden, was er in dem Artikel gelesen hatte, ohne dessen Quelle zu nennen. Da er die Arbeitsstelle bekommen wollte, verwies er auf die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und ließ bei der Zusammenfassung auch den Fachbegriff ‚sui generis‘ fallen.

„Sie sind ein aufmerksamer Zeitungsleser“, stellte Pfarrer Schatz fest, bevor er wissen wollte: „Ab und zu kann die Tätigkeit des Abteilungsleiters für Bauangelegenheiten auch stressig sein. Wie gehen sie mit Stress um?“

„Wenn es Stress gibt, bekomm ich hohen Blutdruck und versuch, das Problem, das ihn verursacht, so schnell es geht zu lösen.“

Pfarrer Schatz lachte. Er war froh, dass es seinen Provokationen endlich gelungen war, Julius die spontane Reaktion mit dem ‚hohen Blutdruck‘ zu entlocken. Er hakte nach:

„Und können sie abends abschalten und ruhig schlafen? Wir wollen nicht, dass sie wegen uns krank werden.“

Julius antwortete und log dabei:

„Ich schlafe wie ein neugeborenes Baby.“

Es war eine seiner Schwächen, dass er eben nicht abschalten konnte und mehrmals in der Nacht aufwachte, wenn ihn beruflicher Ärger belastete. Aber da Pfarrer Schatz genaue Antworten liebte und Julius in dieser Situation, hätte er die Wahrheit gesagt, diese hätte erklären müssen, zog er die Unwahrheit vor.

„Hoffentlich wie ein Neugeborenes ohne Koliken, lieber Dr. Zey! Jetzt lasse ich es dabei bewenden. Keine Sorge. Müssen wir noch mehr wissen?“, fragte Pfarrer Schatz Direktor Saalfeld, der kurz überlegte, bis er sagte:

„Ist es dabei geblieben, dass sie in zwei Monaten zum 1. Mai ihren Dienst antreten können? Die nächsten zwei Monate können wir überbrücken. Aber dann warten eine Menge Termine, für die wir Unterstützung brauchen.“

„Ja, der 1. Mai ginge.“

„Prima. Dann hab ich von meiner Seite keine weiteren Fragen mehr. Sobald wir unsere Entscheidung getroffen haben, ruf ich sie an.“

Noch am selben Abend, Julius saß gerade mit Rosa im Kino, klingelte sein Handy und Direktor Saalfeld teilte ihm mit, dass er sich auf die Zusammenarbeit mit ihm freue und im Namen von Pfarrer Schatz freundliche Grüße ausrichten solle.

Gottes kleiner Partner

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