Читать книгу Gottes kleiner Partner - Leo Gold - Страница 5
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ОглавлениеDie Einfahrt des Zuges, der aus der nahen Großstadt kam, verzögerte sich. Aufgeregt schaute Julius auf die Uhr. Er wippte auf der Stelle hin und her, bis er die Spannung nicht mehr ertrug und anfing, den Bahnsteig entlang zu laufen.
Eine Frau fiel ihm auf. Sie trug einen beigen Frühlingsmantel. Aus einer Plastikflasche, die mit Wasser gefüllt war, trank sie einen kräftigen Schluck. Sodann schob sie die Flasche in ihre Umhängetasche und strich mit der Hand über ihren Mund. Sie passierend konnte Julius ihr Gesicht genauer erkennen. Es war schmal, hatte kaum sichtbare Lippen und kleine Augen, die in tiefen Augenhöhlen ruhten.
Nachdem der verspätete Zug an Julius Wohnort gestoppt und die Reisenden aufgenommen hatte, setzte er sich an ein Fenster. Er zog die Schuhe aus, stellte seine Tasche links neben sich, warf den Mantel darüber und legte seine Beine auf die Sitzfläche gegenüber.
Die Sonne bewegte sich noch hinterm Horizont. Julius hätte die zunehmende Geschwindigkeit des Zuges am liebsten gedrosselt. Eilig, nicht aufzuhalten, verließ er die Stadt. Die Gegend, durch die die Schienen führten, wurde weitläufiger. Die vorbeiziehenden Häuser der Kleinstädte und Dörfer standen hingegen zusehends dichter beieinander, je tiefer der Zug in die Provinz vordrang. Liebevoll hatten die Besitzer ihre Grundstücke gepflegt, Obstbäume, Gemüse und bunte Blumen gepflanzt.
Die Entfernung zur Bischofsstadt verringerte sich. An den Bahnhöfen mit ihren pastellfarben angestrichenen Gebäuden, dessen Fensterbretter Blumenkästen mit ausladenden Geranien schmückten, warteten laute Schülergruppen, die zum Gymnasium in der Bischofsstadt fahren wollten.
Vorbeugend nahm Julius seine Beine von der Sitzfläche und zog die Schuhe wieder an. Obgleich sich schon vereinzelt Schüler in den Gängen aufhielten, traute sich keiner von ihnen, sich neben ihn zu setzen. Sie musterten ihn in einer Mischung aus kindlichem Zutrauen wie zweifelndem Argwohn. Die Sorge überwog das Vertrauen. So suchten sie lieber weiter nach freien Plätzen. Am vorletzten Halt kam ein weiterer Schwung Schüler herein. Eine Jugendliche taxierte Julius. Dann fragte sie ihn, ob die Plätze noch frei seien und setzte sich mit ihrer Freundin dazu. Die zwei unterhielten sich wieder und beachteten ihn nicht mehr.
Als der Zugführer an der Endstation schließlich die Türen freigab, steigerte sich der Lärmpegel zum Höhepunkt. Johlend strömten die Schüler auf den Bahnsteig, indes die Berufspendler, die mit demselben Zug in gegensätzlicher Richtung zurück in die Großstadt fuhren, unruhig darauf warteten, ihre Lieblingsplätze zu besetzen.
Unweit des Bahnhofs war der Verband zusammen mit den Büros von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Arztpraxen in einem mehrstöckigen Haus untergebracht. Seine rund 100 Angestellten arbeiteten in den obersten drei Stockwerken, Etage acht bis zehn.
Ein Drittel der Fläche des zehnten Stockwerks umfassten die beiden Büros von Pfarrer Schatz und Direktor Saalfeld sowie die zwei Vorzimmer, in denen die Chefsekretärinnen arbeiteten. Dieser Bereich war mit dunkelblau getönten Glaswänden uneinsehbar abgegrenzt. Auf dem verbleibenden Raum der Etage verteilten sich die Büros der anderen Direktionsmitarbeiter, die durchsichtige Glaswände voneinander trennten. Diese wurden in der Schallschutzversion eingebaut, so dass die Mitarbeiter akustisch ungestört arbeiten konnten.
Damit sie zudem optisch unbehelligt blieben, entwickelten manche Mitarbeiter einen beachtlichen Einfallsreichtum: Sie stellten im richtigen Winkel Flipcharts auf, um die Bildschirmfläche von fremden Blicken zu schützen. Bücherregale hielten ihnen den Rücken frei, was ihre Konzentration erleichterte, weil es ihren Fluchtreflex beruhigte. Hochwachsende, buschige Pflanzen positionierten sie zweckdienlich. Oder sie befestigten Poster von Verbandskampagnen mit Tesafilm an den Glaswänden.
Allein in den drei Büros der Abteilungsleiter waren silberne Jalousien installiert, die heruntergelassen waren. Auf der rückwärtigen Seite des Aufzugs, der sich in der Mitte der Etage befand, lag die sogenannte ‚Insel‘. In ihr befanden sich eine Küchenzeile, ein Tisch mit sechs Stühlen und das Damen- wie Herren-WC, die einzigen zwei Räume des Stockwerks, deren Wände aus Betonbausteinen gemauert waren.
Der Aufzug stoppte. Von einer freundlichen Frauenstimme wurde Julius informiert, in welchem Stockwerk er angekommen war. Die Lifttüren öffneten sich und sogleich schaute Direktor Saalfelds Sekretärin Frau Wolkow Julius ins Gesicht, die ihn willkommen hieß.
Julius folgte ihrer Lockenmähne ins Vorzimmer, wo sie ihm ausrichtete, dass sich Direktor Saalfeld verspäten werde. Julius solle sich inzwischen einfach ins Büro setzen, sie bringe ihm gleich einen Kaffee.
Von seinem Platz konnte er auf die Kathedrale blicken. Auf der anderen Seite des Büros eröffnete sich der Blick durch eine breite Fensterfront über die Bischofsstadt. Aus dem schlichten, funktionalen Büromobiliar stach ein Humidor in einem der Bücherregale hinterm Schreibtisch hervor. Dort lagerten diverse Utensilien, die Direktor Saalfeld für die fachmännische Zubereitung der Zigarren benötigte. Sie ähnelten chirurgischem Werkzeug, mit dem es die richtigen Schnitte zu machen galt, um die Zigarren so zu präparieren, dass sie den vollen Geschmack entfalteten und den sorgenreichen Alltag Direktor Saalfelds zeitweise ausblendeten.
„Guten Morgen, Dr. Zey!“
Direktor Saalfeld kam mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Fahrradhelm in der Hand kurzatmig in sein Büro gelaufen.
„Ich nehm immer die Treppen, damit ich fit bleibe. Sie haben schon einen Kaffee. Fein! Ich geh mir noch eben die Hände waschen. Dann bin ich wieder bei Atem. Und wir können loslegen.“
Julius hörte, wie Direktor Saalfeld Frau Wolkow bat, Kaffee zu bringen. Bevor er wieder zurück war, hatte sie seinen Wunsch erfüllt. –
„Jetzt hab ich wieder genug Luft. Das ist der einzige Nachteil meiner Raucherei. Hat mit dem Zug alles geklappt?“
„Ja, vielen Dank.“
Aus seiner Tasche holte er eine Aktenmappe, auf der Julius Nachname stand. Er ging zu der Fensterfront, von der er über die Stadt blicken konnte, atmete tief durch und sagte:
„Was für ein schöner Morgen!“
Er setzte sich zu Julius, trank einen Schluck Kaffee und begann, ihm das Wesen und die Funktion der wichtigsten Gremien des Verbands zu erklären: Hierzu zählten neben dem Vorstand das Verbandskollegium sowie die Sektions- und die Bereichsleiterkonferenz.
An einem Flipchart skizzierte Direktor Saalfeld die Hierarchie und Beziehungen der Gremien zueinander. Der Vorstand, dem Fachausschüsse wie der Bauausschuss zugeordnet seien, bestehe aus zwei hauptamtlichen Mitgliedern, Pfarrer Schatz und ihm selbst, und zwei ehrenamtlichen Mitgliedern, Frau Weißbart und Herrn Göbbels.
Das Verbandskollegium trage die Funktion eines Aufsichtsrats. In ihm seien alle für die regionalen Verbände sowie für den Diözesanverband wesentlichen Entscheidungsträger vertreten. Auf ihm, der zwei Mal im Jahr tage, träfen sich der Vorstand des Diözesanverbandes, die Sektions- und alle Bereichsleiter sowie pro Regionalverband zwei haupt- und ehrenamtlich Delegierte.
Unterhalb der Direktion mit ihren drei Abteilungen (Presse, Sozialpolitische Grundsatzfragen, Bau) sei die Verbandsverwaltung in sechs Sektionen eingeteilt, denen jeweils ein Sektionsleiter vorstehe. Sie versammelten sich jeden Freitag auf der Sektionsleiterkonferenz (kurz: SLK). Julius könne einfach an das gleichnamige Cabrio von Daimler Benz denken, um sich die Abkürzung zu merken, riet ihm Direktor Saalfeld. Frau Eichhorn führe die ‚Sektion Wirtschaft‘, Herr Molitor die ‚Sektion Personal‘, Herr Sonnenzweig die ‚Sektion Fortbildung‘, Frau Larson die ‚Sektion Kinder- und Jugendhilfe‘, Herr Karstrop die ‚Sektion Familienhilfe‘ sowie Herr Dankmeier die ‚Sektion Alten- und Behindertenhilfe‘.
In der Bereichsleiterkonferenz (kurz: BLK) kämen alle zwei Monate die Bereichsleiter der Regionalverbände in die Bischofsstadt und tagten mit Pfarrer Schatz und ihm. Sie fungierten zwar als Geschäftsführer eigenständiger Verbände, die aber als kirchliche Verbände in die kirchliche Hierarchie eingebunden seien.
Direktor Saalfeld sah, dass Julius Mühe hatte, die Informationen zu verarbeiten.
„Am Anfang ist es ein Sprung ins kalte Wasser. Davor kann ich sie nicht schützen. Sie müssen schauen, wie sie mit der Flut an neuen Namen und Aufgaben zu Recht kommen. Am besten sie nehmen sich in den ersten zwei Monaten abends und am Wochenende nicht viel vor und nutzen auch ihre Freizeit, um mit den ganzen Aufgaben vertraut zu werden. Je zügiger sie sich einarbeiten, desto lieber kommen sie ins Büro.“
„Ja, wie sie sagen, je schneller ich mich auf die Umstände einlasse, umso eher kann ich mich orientieren“, versuchte Julius etwas Verbindliches zu sagen.
Direktor Saalfeld fuhr fort, nachdem er das erste Blatt des Flipcharts nach hinten umgeklappt hatte, Julius von den Verbänden zu erzählen, mit denen der Verband zusammenarbeite. Als Direktor Saalfeld sagte, seine Ausführung zur Kooperation mit anderen Verbänden sei lediglich zur allgemeinen Information, ließ Julius Aufmerksamkeit nach. Er legte seinen Stift auf sein Notizheft und schaute Direktor Saalfeld nur noch interessiert an.
Wie stark Direktor Saalfeld den Konventionen des Verbandes wie den Denk- und Sprachmustern seines Umfelds anhing, zeigte seine Präsentation. Von den vielen Fachbegriffen und Abkürzungen, die er benutzte, fühlte sich Julius überfordert. Und in der Kürze der Zeit konnte er die eigentümliche Sprache nicht entschlüsseln.
„Ich hoffe, ich konnte ihnen einen ersten Überblick über unsere Kooperationspartner, den Aufbau des Verbands und die Gremien geben. Beim Bauausschuss müssen sie darauf achten, dass die Einladung mit der Tagesordnung rechtzeitig versandt, der Raum für die Sitzung gebucht und die Bewirtung sichergestellt wird. Welche Besonderheiten darüber hinaus berücksichtigt werden müssen, lernen sie peu à peu. Keine Sorge. Über die Details zum Bauausschuss unterhalten wir uns in der kommenden Woche. – Gut wäre der Montag.“
Direktor Saalfeld holte aus seinem Rucksack einen Taschenkalender.
„Montagnachmittag, 16 Uhr, ginge. Dann will ich ihnen noch eine ausführlichere Einführung geben. Und dann können wir über ihre Fragen reden, die sich bis dahin ergeben haben.“
„Wunderbar. Der Termin ist notiert. Jetzt bin ich gespannt, was heut noch auf dem Programm steht?“, fragte Julius.
„Eine Menge. Sie wissen ja, der erste Tag ist anstrengend. Jetzt machen wir erst einen Rundgang durch die Büros, damit sie alle Mitarbeiter kennen lernen. Um 13 Uhr ist Pfarrer Schatz im Haus, der sie bei ihm im Büro begrüßen möchte. Um 14 Uhr bitte ich sie, zu Herrn Molitor zu gehen. Herrn Molitor kennen sie ja bereits vom ersten Vorstellungsgespräch. Und um 15 Uhr habe ich alle Mitarbeiter der Bauabteilung in den Konferenzraum 9.02 eingeladen. Dann können sie sich dort einander vorstellen.“
Julius und Direktor Saalfeld liefen ins achte Stockwerk, das unterste der Verbandsverwaltung. Von dort gingen sie von Büro zu Büro, um am Ende wieder die oberste Etage zu erreichen. Die achte Ebene beherbergte die Angestellten der drei Sektionen Kinder- und Jugendhilfe, Familienhilfe sowie Alten- und Behindertenhilfe. Deren Leiter Frau Larson, Herr Karstrop und Herr Dankmeier besuchten gemeinsam eine Tagung, so dass sich Julius allein den vorwiegend weiblichen Angestellten vorstellte.
Im neunten Stockwerk waren die restlichen drei Sektionen Wirtschaft, Personal und Fortbildung untergebracht. Die zu ihnen gehörenden Stellen wurden ungefähr zu gleichen Teilen von Männern und Frauen besetzt. Auch sie vermittelten den Eindruck, dass jede Sektion sein Eigenleben pflegte und seinen speziellen Charakter gegenüber dem der anderen abzugrenzen suchte.
Herrn Sonnenzweig umgab eine Aura, die Julius – ohne esoterisches Pathos – als engelhaft vorkam. Er erhob sich beschwingt von seinem Schreibtischstuhl und kam federnden Schrittes auf die beiden zu. Mit kindlicher Begeisterung begrüßte er sie und bot ihnen einen Platz, Kaffee und Kekse an. Direktor Saalfeld wehrte die Gastfreundschaft von Herrn Sonnenzweig abrupt ab. Mit seinen Armen, die er mehrmals vor seinem Oberkörper von oben nach unten drückte, als ob er Herrn Sonnenzweigs Eifer zu Boden pressen wollte, sagte er ihm, er wolle ihm nur kurz Dr. Zey vorstellen. In den kommenden Tagen könne er sich mit ihm in Ruhe zusammensetzen und die Übergabe der Geschäftsführung des Bauausschusses vornehmen.
Nachgiebig akzeptierte Herr Sonnenzweig Direktor Saalfelds Anweisung und hielt Julius die Schale mit den Keksen hin:
„Wenigstens eine kleine Wegzehrung für den restlichen Rundgang. Ich schreib ihnen eine E-Mail, wann wir uns treffen können.“
Bei Herrn Molitor erfolgte Julius Vorstellung in der Knappheit, in der es sich Direktor Saalfeld erhofft hatte. Nach drei Minuten, guten Wünschen für den Arbeitsbeginn und der Bitte, um 14 Uhr zu ihm zu kommen, verließen sie ihn wieder.
Viele kräftige Männer- und zarte Frauenhände begrüßten Julius, bis sie schließlich vor Frau Eichhorn standen. Julius erkannte sie als die Pendlerin, die er morgens am Bahnhof getroffen hatte, die Frau mit dem Frühlingsmantel, die einen kräftigen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche getrunken hatte. Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und schaute Julius unsicher an. Nachdem sie Direktor Saalfeld die Hand gab, wandte sie sich an Julius:
„Grüß Gott, Dr. Zey. Herzlich willkommen.“
„Grüß Gott, Frau Eichhorn“, antwortete Julius. Er überlegte kurz, ob er sie auf das morgendliche Zusammentreffen ansprechen solle.
„Kann es sein, dass wir uns am Bahnhof begegnet sind?“
Ehe Frau Eichhorn zur Antwort ansetzte, sagte Direktor Saalfeld:
„Stimmt. Sie wohnen in derselben Stadt. Und sie fahren auch noch beide mit dem Zug. Dann nutzen sie die Zeit am besten und reden dort über Geschäftliches.“
Direktor Saalfeld war klar, dass nicht jeder, wie er, jede Minute, die er im Auto oder Zug verbrachte, damit ausfüllte, per Telefon dienstliche Fragen zu klären. Frau Eichhorns Gesichtsausdruck verriet, dass sie, wie Julius, morgens im Zug lieber etwas anderes tat, als sich schon mit der Arbeit zu beschäftigen oder sich mit Kollegen darüber zu unterhalten. Da Frau Eichhorn nicht wusste, was sie auf Herrn Direktor Saalfelds Bemerkung antworten solle, sagte Julius:
„Das find ich prima, dass wir in derselben Stadt wohnen. Wir begegnen uns sicher öfters mal im Zug.“
Über Frau Eichhorns Mund huschte ein abgerungenes Lächeln. Sie schien froh zu sein, dass Julius Direktor Saalfelds Vorschlag ins Feld der Möglichkeit abgelenkt hatte. Um weitere persönliche Fragen zu verhindern und sich bald wieder hinter ihren Schreibtisch zurückziehen zu können, sagte sie:
„Ich glaub, ich hab sie am Bahngleis heute Morgen auch gesehen. In unserer Richtung fahren am Morgen ja nicht viele Leute zur Arbeit. Wir sehen uns da bestimmt mal wieder. Ich komme in den nächsten Tagen bei ihnen im Büro vorbei. Ich werde ihnen etwas über meinen Arbeitsbereich erzählen. Aber wir müssen nichts überstürzen.“
„Ich denke, sie sollten nicht zu lange mit der Einführung in ihren Arbeitsbereich warten, Frau Eichhorn“, sagte Direktor Saalfeld und fügte hinzu: „Ende dieser Woche sollte es spätestens erledigt sein.“
„Das kriegen wir hin“, sagte Frau Eichhorn, wonach sie erst Direktor Saalfeld, anschließend Julius, ihre Hand zur Verabschiedung gab. Sie kratzte sich an ihrem Hals und brachte die beiden zur Tür.
Direktor Saalfeld eilte mit Julius die Treppen in den zehnten Stock hinauf. Er hatte nicht mehr viel Zeit, Julius den Angestellten der Direktion vorzustellen. Sein nächster Termin stand kurz bevor.
Über die Sekretärinnen sagte Direktor Saalfeld, sie seien die Gruppe der Mitarbeiter, die sich über die drei Stockwerke am einheitlichsten zeige und die die Binnenidentität der Sektionen teilweise öffne. Ihre gegenseitige Treue verbinde sie. Viele von ihnen kämen aus dem nahe gelegenen, vom Katholizismus geprägten Landstrich. Und viele entsprächen dem sympathischen Typus einer katholischen, deutschen Frau mittleren Alters. Sie wären fleißig und legten Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Zudem – und das sei ihre feinste Eigenschaft – trügen sie mit ihrer mütterlich menschlichen Art den entscheidenden Anteil daran, dass ein Mindestmaß an emotionaler Wärme in der Verbandsverwaltung nicht unterschritten werde.
Herr Liebig, der zweite Architekt, aß gerade ein belegtes Brötchen, als Direktor Saalfeld in dessen Büro trat, von Julius gefolgt. Herr Liebig war überrascht. In seinen Gedanken versunken hatte er die beiden nicht gesehen, wie sie durch die anderen Büros gelaufen waren. Wegen der Schallschutzglaswände, hier im zehnten Stock, konnte er sie auch nicht hören. Standen bei den anderen Mitarbeitern die Glastüren allesamt offen, bemerkte Julius erst, als Direktor Saalfeld die Glastür von Herrn Liebigs Büro hinter sich schloss, welche Wirkung die Schallschutzglaswände erzeugten. Es war mucksmäuschenstill. Wie einem Taubstummen erschien Julius die außerhalb liegende Büroszenerie.
Herr Liebig legte das Brötchen in eine Schreibtischschublade und beeilte sich, während sich Julius vorstellte, seinen letzten Bissen schnell zu zerkauen, dass er ihn hinunterschlucken konnte. Er sagte, er freue sich, zukünftig mit Julius zusammenzuarbeiten. Julius bedankte sich. Sie schwiegen. Direktor Saalfeld, der immer ungeduldiger wurde, erinnerte Herrn Liebig an die beiden Gespräche am Nachmittag, worauf sich alle voneinander wieder verabschiedeten.
Auf dem Weg ins Büro der Pressesprecherin erzählte Direktor Saalfeld, dass der Leiter der Abteilung für Sozialpolitische Grundsatzfragen, Dr. Himmelstingel, noch die nächsten zwei Wochen seinen Urlaub in der Toskana verbringe, sie also vor dem Ende des Rundgangs nur noch der Pressesprecherin Hallo sagen müssten, weil der Bauzeichner von Julius Abteilung – Herr Schuhmacher – an diesem Vormittag frei habe.
Die Pressesprecherin Frau Eisler war eine zarte Person, dessen Haupthaar hinter den beiden großformatigen Bildschirmen auf ihrem Schreibtisch, auf dem sich Zeitungen, Broschüren, Plakate und verschiedene Werbematerialien stapelten, hervorschaute.
Interessiert schaute Frau Eisler Julius an, während Direktor Saalfeld freundliche Worte über ihn sagte. Seine Frage, ob sie Julius neben dem Verbandspressespiegel auch den der Bischöflichen Verwaltung weiterleiten könne, setzte sie einem Dilemma aus. Sie äußerte zunächst ihre Bedenken wegen des Datenschutzes. Es sei bereits eine Ausnahme, dass sie als Externe den Pressespiegel der Bischöflichen Verwaltung erhalte. Letztlich sagte sie aber doch zu, Julius täglich beide Pressespiegel per E-Mail zuzusenden.
Julius war froh, als er das Büro von Frau Eisler verließ. Eine weitere Hürde seines ersten Arbeitstags, das Kennenlernen der Kollegen, hatte er übersprungen. Direktor Saalfeld sagte ihm noch, dass er in drei Monaten beim ‚Plenum‘ die Möglichkeit habe, sich vor allen Mitarbeitern vorzustellen. Das ‚Plenum‘ sei eine halbjährliche Veranstaltung, bei der sich alle Kollegen der Verbandsverwaltung träfen und über gemeinsame Fragen berieten. Sie vereinbarten, dass sie sich am Mittwochmorgen in Direktor Saalfelds Büro wiedersehen würden, um über die wichtigsten aktuellen Aufgaben zu sprechen. Den Dienstag solle Julius nutzen, sich in die Ordner einzuarbeiten und sich mit dem status quo vertraut zu machen.
Julius schloss die Tür seines Arbeitszimmers. Wie bei Frau Eisler und Dr. Himmelstingel, die beiden anderen Abteilungsleiter der Direktion, waren die Jalousien blickdicht verschlossen.
Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken, das Fenster im Rücken, vor dem sich das Stadtpanorama ausbreitete. Die ohrenbetäubende Stille, die er in Herrn Liebigs Büro das erste Mal bewusst erlebt hatte, schützte nun seine Innen- vor der Außenwelt.
Julius musste an eine Fischart denken, die er bei seinem letzten Zoobesuch entdeckt hatte. Es handelte sich um den ‚Indischen Glasbarsch‘ (Parambassis ranga). Zum Zwecke der Tarnung entwickelten sich seine Vorfahren zu ‚unsichtbaren‘ Fischen. Seine Haut war durchsichtig. Die Fressfeinde konnten durch den gläsernen Körper hindurchsehen und bemerkten ihn (im Idealfall) nicht. Da Julius vom Indischen Glasbarsch zuvor nie gehört hatte, blieb er lange vor dem Aquarium stehen und beobachtete fasziniert ein Exemplar dieser Gattung. Als hätte es ihm seinen Wunsch von den Augen abgelesen, kam es mehrere Male an die Glasscheibe geschwommen und wandte sich ihm seitlich zu, so dass er das Rückenmark, die Gräten, die Kiemen, sowie kurz hinter den Augen sein pulsierendes Herz erkennen konnte. Der Indische Glasbarsch hörte nichts, genauso wie Julius. Der Indische Glasbarsch tarnte sich, um nicht gefressen zu werden, genauso wie Julius. Der Indische Glasbarsch wählte die Unsichtbarkeit als Tarnung, statt sich wie andere Fische durch Farben oder Muster ihrer Umwelt anzupassen. Vielleicht solle er sich nicht durch das Herunterlassen der Jalousien verbergen, dachte er, sondern wie der Indische Glasbarsch durch die Sichtbarkeit unsichtbar werden.
Im Anschluss an die Mittagspause hieß ihn Frau Niekisch willkommen. Sie leitete das Büro von Pfarrer Schatz. Augenscheinlich liebte sie das Solarium oder reiste häufig in Länder, wo die Sonne häufiger schien als in Deutschland und ihre Haut auf natürliche Weise bräunte.
Frau Niekisch öffnete sich im Lauf des Gesprächs und vertraute Julius die wichtigsten Stationen ihrer Biographie an. Julius wunderte sich, dass sie, ohne auf die Zeit zu achten, lebhaft von sich erzählte. Die Uhrzeit, zu der der Termin mit Pfarrer Schatz hätte beginnen sollen, war überschritten. Vielleicht sei er noch nicht in seinem Büro und komme später, überlegte Julius. Und so hörte er Frau Niekischs Geschichte weiter zu.
Als diese in der Gegenwart angekommen war, sagte sie, Pfarrer Schatz lasse sich entschuldigen. Er werde bei einem Termin festgehalten, wolle aber am Mittwoch zu dem Gespräch mit Direktor Saalfeld hinzukommen.
„Jetzt haben sie ja noch etwas Zeit, bis zu ihrem nächsten Termin“, stellte Frau Niekisch fest, „erzählen sie doch etwas über sich. Sie wirken auf den ersten Blick ganz sympathisch!“
Frau Niekisch hatte also Zugriff auf Julius Kalender. Bereits bei seinem alten Arbeitgeber mochte er diese technische Einrichtung nicht.
„Bevor ich’s vergesse“, sagte Frau Niekisch, „nach dem Treffen mit den Mitarbeitern ihrer Abteilung kommt um 16 Uhr noch Herr Wardorf zu ihnen. Herr Wardorf ist der Leiter der EDV-Abteilung. Er wird ihnen eine Einführung in den Computer geben.“
Julius hoffte, dass dies der letzte Termin an seinem ersten Arbeitstag sein würde. Dann erzählte er Frau Niekisch von sich, wobei sie ihn milde anschaute.
Unsicher, ob er Frau Niekisch zu viel von sich preisgegeben hatte, ging er zu Herrn Liebig, der ihn bereits erwartete. Zusammen liefen sie in die neunte Etage zu Herrn Molitors Büro, sprachen auf dem Weg dorthin über dies und jenes, doch Julius Versuch, herauszufinden, weshalb sie sich in dieser Konstellation trafen, blieb erfolglos.
Herr Molitor besaß eine athletische Statur. Sein kurz geschnittenes schwarzes Haar saß so perfekt wie sein Anzug, sein weißes Oberhemd und die rote Krawatte. Der dichte Vollbart, in dem sich sichtbar die grauen Barthaare mehrten, wie seine kräftige Stimme bildeten äußere Zeichen seiner Männlichkeit. Stand er bei einer Unterhaltung nicht im Mittelpunkt, wie bei Julius erstem Vorstellungsgespräch, starrte er, den Kopf ein wenig nach rechts gelegt, auf einen unsichtbaren Punkt.
Dieses Treffen führte Herr Molitor dagegen unbestritten. Nachdem seine Sekretärin Tee und Kaffee gebracht und das Büro wieder verlassen hatte, weihte er Julius in den Grund für die Besprechung ein:
„Sie werden sich gefragt haben, warum wir uns mit ihnen gleich am ersten Arbeitstag treffen möchten. Es handelt sich um eine schwierige Personalie. Der Bauzeichner ihrer Abteilung, Herr Schuhmacher, ist wegen einer ominösen Erkrankung öfters krankgeschrieben als er uns zur Verfügung steht. In 2010 hat er bis auf wenige Wochen das ganze Jahr gefehlt. Darum mussten Herr Liebig und ihre Sekretärin Frau Maus alle anfallenden Arbeiten alleine erledigen. Das Problem ist nicht, dass jemand krank ist. Unser Verdacht hat sich aber erhärtet, dass Herr Schuhmacher ein vages Krankheitsbild vorschiebt.
Als Ursache vermuten wir schlicht Unzufriedenheit. Er macht seine Arbeit ungern, will sich aber auch nicht woanders einen Arbeitsplatz suchen. Folglich: Auch wenn er nicht krankgeschrieben ist, sind seine Arbeitsergebnisse ungenügend. Zudem ist er, lassen sie es mich salopp formulieren, bockig, uneinsichtig. In mehreren Gesprächen mit ihm konnten wir wenigstens erreichen, dass er in drei Jahren in Altersteilzeit geht. Aber bis dahin müssen wir mit Herrn Schuhmacher leben. Den einzigen Weg, diese Phase zu überstehen, ist eine ‚enge‘ Führung.“
Auch von Schulz & Adler kannte Julius Kollegen, die ihren Beruf ungern ausübten. Sie schleppten sich von Tag zu Tag zur Arbeit. Julius fand es gut, dass ihm Herr Molitor von den Schwierigkeiten mit Herrn Schuhmacher berichtete. Ob das aber gleich am ersten Arbeitstag hätte sein müssen, wusste er nicht.
„Stellen sie ihre Sicht der Dinge doch bitte auch mal dar, Herr Liebig! Dann kann sich Dr. Zey einen besseren Überblick über die Situation verschaffen.“
Herr Liebig hatte während Herrn Molitors Ausführungen still durch seine kreisrunden Brillengläser geschaut. Dabei war er allmählich auf der Sitzfläche seines Stuhles mit dem Gesäß nach vorn gerutscht, während sich sein Rücken an der Lehne nach unten schob. Direkt von Herrn Molitor angesprochen richtete sich Herr Liebig auf und schilderte die Problematik:
„Ich kann dem, was sie gesagt haben, nur beipflichten. Die Unzuverlässigkeit von Herrn Schuhmacher hat mich schlaflose Nächte gekostet. Die Arbeitsergebnisse, die er ablieferte, waren unbefriedigend. Seitdem wir die Zügel angezogen haben, läuft es eigentlich ganz gut. Mir ist freilich daran gelegen, dass das so bleibt. Sobald ihnen im Umgang mit Herrn Schuhmacher etwas negativ auffällt, bitte ich sie, es mir mitzuteilen. Ich möchte ihnen das in diesem Rahmen sagen, weil bei unserer Abteilungsbesprechung auch Herr Schuhmacher anwesend sein wird. Er hat sich heute Vormittag frei genommen.“
Julius merkte, dass Herr Molitor und Herr Liebig versichert werden wollten, dass er mit der von ihnen angewandten Strategie gegenüber Herrn Schuhmacher einverstanden sei und sich bereit erkläre, seinen Part dabei zu erfüllen. Er entschied sich, seinen Kollegen eine salomonische Antwort zu geben:
„Heut bin ich ja den ersten Tag hier und bin Herrn Schuhmacher noch nicht begegnet. Ich denke, ich muss zunächst mal sehen, wie er auf mich reagiert. Danke aber, dass sie mir vorab von dem Problem erzählt haben. So kann ich die Lage besser einschätzen. Danke auch für das Angebot, dass ich mich mit ihnen absprechen kann“, er blickte zu Herrn Liebig, „wenn ich wegen Herrn Schuhmacher Redebedarf hab.“
Herr Liebig und Herr Molitor waren mit der Antwort zufrieden.
Herr Molitor machte keine Anstalten, das Gespräch fortzusetzen. Stattdessen schwieg er. Da auch Herr Liebig nichts mehr sagte, führte Julius die Unterhaltung zu Ende:
„Ich schlag vor, dass wir uns in einem Monat noch mal zusammensetzen. Dann kann ich von meinen Erfahrungen mit Herrn Schuhmacher erzählen und wir sehen weiter.“
Julius setzte an aufzustehen, beobachtete, ob ihm Herr Molitor und Herr Liebig folgten, was sie taten, worauf die drei langsam über Belanglosigkeiten redend zur Bürotür gingen. Herr Liebig und Julius verabschiedeten sich von Herrn Molitor und gingen zusammen zu Konferenzraum 9.02.
Die Tür des Konferenzraums stand offen. Frau Maus war gerade dabei, das Treffen vorzubereiten. Eine Kaffee- und Teekanne, eine Dose mit Zucker, ein Kännchen mit Milch, kleine Flaschen mit Wasser und Organgensaft, Obst, Gebäck und Teilchen arrangierte sie zwischen vier Gedecken. Eines lag vor dem Platz am Kopf des Konferenztisches. Zwei befanden sich zu dessen rechter, das letzte zur linken Seite. Frau Maus hatte ihren Notizblock wie Schlüsselanhänger neben das Gedeck linkerseits gelegt. Somit war die Sitzordnung fast vollständig vorgegeben. Julius platzierte sich an den Kopf des Konferenztisches. Herr Liebig setzte sich an Julius rechte Seite und griff zum Telefon, um Herrn Schuhmacher wegen der Vorverlegung des Termins zu informieren.
Nach den Klagen über Herrn Schuhmachers Unzuverlässigkeit war Julius überrascht, dass es nur drei Minuten dauerte, bis er erschien, die Tür des Konferenzraums schloss, den Anwesenden zunickte und sich auf den Platz rechts neben Herrn Liebig setzte. Julius wartete noch einen Moment, dass Herr Schuhmacher seine Unterlagen vorbereiten konnte und eröffnete das Treffen:
„Liebe Frau Maus, liebe Herren! Ich freue mich, dass sie früher als geplant zu unserem ersten gemeinsamen Treffen kommen konnten. Ich denke, unser Gespräch wird nicht länger als eine Stunde dauern. Damit müssten wir hinkommen. Inhaltlich geht es mir darum, sie kennen zu lernen und von ihnen zu hören, welche Erwartungen sie an unsere Zusammenarbeit haben. Damit sie aber erst mal wissen, mit wem sie es zu tun haben, will ich mich vorstellen. Außerdem möchte ich sagen, wie ich die zukünftige Ausrichtung und Kooperation innerhalb der Bauabteilung organisieren möchte.“
Julius Ansage, wie das Treffen ablaufen solle, ließ seine Kollegen eine aufrechte Sitzhaltung einnehmen. Er erzählte von seinen schulischen und beruflichen Stationen. Auch fügte er an, dass er verheiratet sei und seit kurzem mit seiner Frau in der Kleinstadt lebe, wo auch Frau Eichhorn wohne.
Anhand eines Schaubilds erläuterte Julius die Ziele, die er mit der Abteilung in den nächsten sechs Monaten erreichen wolle. Nach seinen Ausführungen war das Eis zwischen Herrn Liebig und Herrn Schuhmacher auf der einen und ihm auf der anderen Seite zwar noch nicht gebrochen. Aber zumindest hatte sich Frau Maus Wohlwollen gegenüber Julius vergrößert. Denn die von ihm dargestellte, neue Aufgabenverteilung war für sie vorteilhafter als die vorherige. An Herrn Liebig und Herrn Molitor gewandt sagte Julius:
„Das ist lediglich eine erste Skizze für unsere künftige Arbeit. Aber ich wollte bewusst, bevor ich von ihnen höre, wie sie bislang gearbeitet haben und wer, was gemacht hat, ihnen mein Konzept darlegen. Sobald ich mich mit den Unterlagen intensiv vertraut gemacht habe und weiß, wie bis dato der Auftrag der Bauabteilung umgesetzt wurde, werden sich dann automatisch meine Vorstellungen der Praxis annähern.“
Die Miene von Herrn Schuhmacher hellte sich auf. Er sah Chancen, seine alten Freiheiten auch in die Zeit unter Julius Führung hinüberretten zu können.
„So, jetzt habe ich genug geredet. Frau Maus, sind sie so freundlich und stellen sich vor. Und bitte sagen sie auch, welche Erwartungen sie an die neue Zusammenarbeit in der Abteilung haben.“
Frau Maus erzählte mehr von ihrer Familie als von sich selbst. Mit fünf Enkeln, zwei Töchtern und ihrem Ehemann lebe sie in einem Haus am Rande der Bischofsstadt. In ihrer Freizeit betreibe sie eine Schmetterlingszucht. Offen sprach sie darüber, dass sie hoffe, Julius neues Konzept würde eins zu eins umgesetzt werden.
Wie Julius trennte Herr Liebig gern Privates von Beruflichem. Facettenreich und dabei die Zeit vergessend schilderte er seine Tätigkeiten im Verband. Frau Maus und Herr Schuhmacher kannten diese liebenswerte Grille.
„Entschuldigen sie Herr Liebig, dass ich sie unterbreche“, sagte Julius, „aber wegen der vorangeschrittenen Zeit, Herr Schuhmacher möchte sich auch noch vorstellen, bitte ich sie –.“
„Pardon“, sagte Herr Liebig, ehe Julius seinen Satz zu Ende bringen konnte, „manchmal werd ich weitschweifend“, er lächelte verschmitzt, rückte seine Brille zurecht und sagte: „Dann geb ich das Wort jetzt an Herrn Schuhmacher.“
Herr Schuhmacher trug Jeans und ein sportliches Oberhemd. Sein Schnurrbart wucherte in viele Richtungen. Und sein Übergewicht unterschied ihn im Vergleich zu seinen anderen Merkmalen am deutlichsten von seinen Kollegen.
„Als ich meine Ausbildung zum Bauzeichner und meinen Wehrdienst absolviert hatte, hab ich als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet.“
Einige Erinnerungsstücke seiner Weltentdeckung hatte Julius bei seinem Rundgang mit Direktor Saalfeld in Herrn Schuhmachers Büro gesehen. Dort hing eine Weltkarte an der gläsernen Wand, ein hölzernes Schiffsmodell zierte seinen Schreibtisch und in einer Ecke seines Büros lag eine ausgestopfte Wasserschildkröte.
„Meine Frau hat mein Vagabundendasein beendet. Wir bekamen zwei Kinder, zogen sie auf und freuen uns, dass sie wie mein Vater bei der Polizei arbeiten. Ich selbst wollte nie zur Polizei gehen. Nur fürs Schießen hab ich mich immer schon interessiert. Seit drei Jahren leite ich als Vorsitzender den Sportschützenverband. Manche Mitglieder sagen zu mir sogar: ‚Herr Präsident‘.“
Seine persönliche Vorstellung beendet formulierte er in wenigen Sätzen die Erwartungen für die künftige Kooperation in der Abteilung:
„Ich wünsche mir, dass sich die interne Kommunikation verbessert. Oft hat es unter ihrem Vorgänger Herrn Henrich Probleme gegeben, weil er meist nur per E-Mail Arbeitsaufträge verteilt hat und wir dann sehen mussten, wie wir sie abarbeiten.“
Herr Liebig hob die Augenbrauen, während Herr Schuhmacher fortfuhr:
„Er hat uns nie den Zusammenhang der Aufgaben erzählt. Und ohne dieses Wissen haben wir dann Fehler gemacht, über die er sich ärgerte. Ich fänd es gut, wenn ein wöchentliches Dienstgespräch eingeführt würde, wo sie mit uns über alle wichtigen Vorgänge sprechen und wir dann gemeinsam überlegen, wie die Aufgaben verteilt werden. Frau Maus hat Recht, dass es auch Unstimmigkeiten gab, wer, für was in der Abteilung zuständig ist. Vielleicht könnten wir an einem Klausurtag unsere Stellenbeschreibungen aufeinander abstimmen. Das sind die Erwartungen, die mir einfallen. Die Kommunikation muss besser werden.“
Das sollte fürs erste genügen. Julius bedankte sich bei Frau Maus, Herrn Liebig und Herrn Schuhmacher für deren Offenheit und versicherte ihnen, dass er ihre Erwartungen und Anregungen bei der Neukonzeption der Abteilung berücksichtigen werde.
Paarweise verließen sie den Konferenzraum. Frau Maus und Herr Schuhmacher holten einen Servierwagen, mit dem sie das Geschirr, die Kaffee- und Teekanne, die kleinen Flaschen und die Reste von Obst, Gebäck und Teilchen in die Küche brachten. Derweil liefen Julius und Herr Liebig ins zehnte Stockwerk zurück.
Nur noch einen Termin und Julius hatte das Ende seines ersten Arbeitstages erreicht. Er fuhr den Computer hoch und übertrug seine handschriftlichen Notizen aus dem Gespräch in eine Datei. Morgen wollte er weiter an der Neustrukturierung der Abteilung arbeiten.
Beiläufig sah er, dass auf seinem Anrufbeantworter eine neue Nachricht gespeichert war. Ein Licht blinkte rot. Er hörte die Mailbox ab. Es war Rosas Stimme. Er hörte gar nicht genau hin, was sie ihm sagte. Ihr Tonfall war freundlich, aufmunternd, zärtlich. Und als er am Ende von Rosas Nachricht: „Ich freu mich auf heut Abend“ hörte, wusste er nicht, wie er die Nachricht ein zweites Mal anhören könne. Vielleicht hatte ihm Rosa auch eine E-Mail geschrieben. Er öffnete zunächst das Verbands-E-Mail-Postfach, wo er 24 neue E-Mails von Direktor Saalfeld, Pfarrer Schatz und Herrn Molitor fand, aber keine von Rosa. Auch sein privates E-Mail-Postfach enthielt keine Nachricht von Rosa. So begann er, die beruflichen E-Mails zu öffnen. Da klopfte Herr Wardorf an die Tür.
Wie bei Freunden, die sich hauptberuflich mit Computern und deren Programmierung beschäftigten, schätzte er Herrn Wardorfs korrektes Auftreten und seine faktenorientierten Aussagen. Er setzte sich auf einen Stuhl neben ihn vor den Computer und arbeitete mit ihm eine Checkliste ab, wie er es mit jedem neuen Mitarbeiter tat. Da Julius mit den installierten Programmen schon bei Schulz & Adler gearbeitet hatte, war ihm vieles vertraut. Nur einige Besonderheiten musste ihm Herr Wardorf näher erklären. Auch die Funktionen des Telefons erläuterte Herr Wardorf.
Sodann überreichte er Julius ein Smartphone, auf dem bereits alle relevanten Nummern des Verbands gespeichert waren.
„Sie werden ihren Spaß damit auch privat haben“, sagte Herr Wardorf, der in Smartphones vernarrt zu sein schien. Während er Julius auf verschiedene Funktionen hinwies, dachte Julius daran, welchen Einfluss das Smartphone auf sein Privatleben haben könne. Gefühlsmäßig spürte er eine Abneigung gegen das Gerät. Hinter der vermeintlichen Großzügigkeit, es auch privat nutzen zu dürfen, sah er die ständige Erreichbarkeit lauern.
Nachdem Herr Wardorf das Büro verlassen hatte, überlegte Julius, ob er noch die E-Mails bearbeiten solle. Aber morgen war auch noch ein Tag. Später als 18 Uhr wollte er das Büro nicht verlassen. Bis er zu Hause war, dauerte es eine weitere Stunde. Und Rosa wartete sicher schon, was er Neues zu erzählen habe.
Aus dem Zug probierte Julius, Rosa anzurufen. Jeden weiteren Kilometer, den er sich von der Bischofsstadt entfernte, verbesserte sich seine Stimmung. Zügig lief er vom Bahnhof nach Hause, wo er sich im Wohnzimmer auf einen Sessel fallen ließ. Das Haus war ruhig. So ruhig, dass er seinen Herzschlag hörte. Er bemühte sich, in zeitlicher Reihenfolge seinen ersten Arbeitstag Revue passieren zu lassen. Es gelang ihm nicht. Immer wieder durchkreuzten Gedanken seinen Plan, und er musste sich erneut daran erinnern, an welcher Stelle er abgelenkt worden war. Bis er ein Zen-Meister werden würde, fähig, Gewalt über seine Gedanken zu haben, so dass er sie letztlich überwinden und den Punkt erreichen könne, an dem er nichts mehr zu denken brauche, dabei aber lebte, in der Mitte der Gegenwart, bis dahin hieß es: üben, üben, üben.
Die Stille im Haus wurde durch Rosas Haustürschlüssel, als sie ihn ins Schloss steckte und umdrehte, beendet. Julius stand auf und begrüßte sie an der Wohnzimmertür. Sie umarmte ihn, gab ihm aber keinen Kuss, was in der Regel bedeutete, dass sie Kummer hatte. Sie erzählte, dass es ihrer Mutter momentan schlecht gehe. Deren Rückenschmerzen plagten sie wieder. Auch Rosa sah blass aus. In sechs Monaten, am Ende von Julius Probezeit war der Geburtstermin ihrer Tochter berechnet worden. Darauf freuten sie sich sehr.
„Jetzt hab ich ganz vergessen zu fragen, wie es bei dir war. Wie war’s denn?“, erkundigte sich Rosa, worauf ihr Julius von seinem ersten Arbeitstag erzählte.
Er wusste, wie wichtig es ihr war, dass er sich wohlfühlte. Deswegen konzentrierte er sich auf die erfreulichen Aspekte, konnte dabei ein Déjà-vu aber schwer verdrängen: Er glaubte, in seine Schulzeit zurückversetzt zu sein, in der ihn seine Eltern unnachgiebig fragten, wie es in der Schule gewesen sei und er keine Lust hatte, darüber zu sprechen.
In der Nacht schlief Julius schlecht. Müde ging er am Morgen zum Bahnhof und setzte sich in den Zug. Ab und an nickte sein Kopf unkontrolliert nach vorn oder nach hinten weg. Erst der ansteigende Lärm der Schüler schob seine Müdigkeit beiseite. Nur noch eine Haltestelle und auf der Digitalanzeige erschien das Wort ‚Endstation‘.
Die letzten Minuten, die Julius in der Regionalbahn verbrachte, schaute er aus dem Fenster hinaus. Die Sonnenstrahlen schnitten Schneisen in den Morgendunst, der über den Feldern lag. Am Waldrand stand ein Bretterverschlag, aus dessen Schornstein Rauch in kleinen Wolken quoll. Julius mutmaßte, ein Schäfer würde sich darin aufhalten, trinke seinen Morgenkaffee und sein Hund wärme ihm die Füße.
Die schrillen Bremsgeräusche ließen die Luftblase der Morgenphantasie zerplatzen. Der Zug kam zum Stehen. Julius bahnte sich zwischen den Schülern einen Weg, um vor ihnen den Bahnhof zu verlassen und nicht auf Frau Eichhorn zu treffen, die er ebenfalls im Zug vermutete, obwohl er sie vor der Abfahrt am Bahngleis nicht gesehen hatte.
An diesem Tag standen nur die drei Gespräche mit den Sektionsleitern auf dem Programm, die am Vortag eine Tagung besucht hatten. Vorher wollte Julius noch die 24 E-Mails bearbeiten. Zu diesen waren 29 neue hinzugekommen. So schnell rächte es sich, Aufgaben zu verschieben. Wenigstens blinkte das rote Licht am Anrufbeantworter nicht. Von den 53 E-Mails konnte Julius zwanzig schnell erfassen und brauchte sie nur zur Kenntnis zu nehmen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die restlichen 33 E-Mails am Nachmittag zu bearbeiten.
Drei Minuten vor neun. Er musste ins Büro von Herrn Dankmeier, dem Sektionsleiter der Alten- und Behindertenhilfe. Er zog sein Jackett an, klemmte sich sein Notizheft unter den Arm und ging in die achte Etage. Die Tür zu Herrn Dankmeiers Büro stand offen. Anfangs stellten sie sich einander vor, Name, Kurzbiographie, Suche nach Gemeinsamkeiten. Später unterhielten sie sich längere Zeit über München, wo Herr Dankmeier studiert hatte, der stark weitsichtig war, so dass Julius glaubte, von zwei magischen Kristallkugeln betrachtet zu werden.
Herrn Karstrop, den Leiter der Sektion Familienhilfe, den Julius anschließend kennen lernte, umgab ein mysteriöser Schleier. Er war ungewöhnlich zugänglich, erzählte Julius beispielsweise, dass sein Vater in einem Pflegeheim untergebracht sei und dass er als junger Sozialpädagoge in einer Einrichtung zwangsweise einen Bewohner gewaschen habe. Das gehe ihm bis heute nach. Er wünsche sich eine transparente Kommunikation und eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Am Ende des Gesprächs gab er ihm ein Faltblatt mit, auf dem Julius nachlesen könne, für was seine Abteilung zuständig sei.
Seinen letzten Antrittsbesuch machte er bei Frau Larson, die der Sektion Kinder- und Jugendhilfe vorstand. Ihre Mutter stammte aus Schweden, der Vater aus Norwegen. Sie erzählte Julius von der bevorstehenden Geburt ihres ersten Kindes. So verband sie von Anfang an eine frohe Erwartung. Frau Larsons Kleidungsstil war skandinavisch schnörkellos. Ihr feines, blondes, langes Haar vervollständigte das Bild einer schönen Europäerin.
Nachdem Julius in einem Straßencafé mit Frau Larson zu Mittag gegessen hatte und ins Büro zurückgekehrt war, lag die Tagespost auf seinem Schreibtisch. Die Lampe des Anrufbeantworters blinkte rot und neue E-Mails warteten auf eine Antwort. Er rief die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ab, wie es ihm Herr Wardorf am Tag zuvor erklärt hatte. Direktor Saalfelds Stimme bat Julius, er möge Pfarrer Schatz anrufen und ihn an das morgige Treffen um 9 Uhr erinnern. Julius rief Pfarrer Schatz an, der sich dafür bedankte und Julius bis zum nächsten Tag alles Gute wünschte.
Dann machte sich Julius daran, die Post zu sichten. Vieles davon verstand er nicht, weshalb er mit dem ganzen Stapel zu Frau Maus ging. Sie sagte, dass der Posteingang zu ihren Aufgaben gehöre. Sie habe sich schon gewundert, wo die Post an diesem Tag bleibe. Erleichtert gab ihr Julius die Briefe und war froh, endlich die Beantwortung der E-Mails beginnen zu können.
Doch indem er sich an seinen Schreibtisch setzte, klopfte es an die Tür. Ehe er etwas sagen konnte, trat Herr Sonnenzweig, der Sektionsleiter für Fortbildung, schon in sein Büro. Julius überlegte, wie er mit dem unerwarteten Besuch umgehen solle. Er bot ihm einen Kaffee an.
Herr Sonnenzweig fragte, wie Julius seinen ersten Arbeitstag überstanden habe, und beantwortete sich die Frage gleich selbst:
„Sie werden die neuen Eindrücke sicher problemlos verarbeitet haben. Architekten sind ja für eine schnelle Auffassungsgabe bekannt.“
Wie Herr Sonnenzweig zu dieser Einsicht gekommen war, wusste Julius nicht. Ohne Luft zu holen, sprach Herr Sonnzweig das eigentliche Anliegen an, das ihn zu ihm führte.
In der zweimonatigen Stellenvakanz musste Herr Sonnenzweig auf Wunsch von Direktor Saalfeld kommissarisch die Geschäftsführung des Bauausschusses übernehmen. Diese Funktion wollte er offenbar lieber jetzt als nachher an Julius abgeben. Er redete so hektisch, dass Julius ihm schwer folgen konnte, blätterte in einem Aktenordner, den er mitgebracht hatte und der die aktuellen Unterlagen zum Bauausschuss enthielt, streifte sich zwischendurch über sein dünnes Haar und stellte am Ende in derselben unumstößlichen Art, die Julius von Direktor Saalfeld kannte, fest:
„Wenn sie den Ordner durchgelesen haben, wissen sie, wie sie den Bauausschuss betreuen müssen. Und falls sie noch Fragen haben, melden sie sich. Die Einladungen für die nächste Sitzung in zwei Wochen sind schon raus. Sie müssen nur noch das Protokoll schreiben und sich um die üblichen Sachen kümmern.“
Anschließend wollte Julius eine Frage stellen, kam aber nicht dazu, weil Herr Sonnenzweig geschickt zu einem neuen Gesprächsthema überleitete, das mit dem Bauausschuss nichts zu tun hatte. Als Julius auf die Uhr schaute, war es schon 15 Uhr vorbei. Und da er nicht wusste, ob in seinen ungelesenen E-Mails eine oder mehrere dabei waren, die er an diesem Tag noch beantworten musste, wurde er ungeduldig. Um 15:30 Uhr ging Frau Maus nach Hause und Herr Liebig und Herr Schuhmacher waren heute auch nicht im Haus, wenn er noch Fragen hatte.
Herrn Sonnenzweigs Handy klingelte. Julius hörte eine aufgeregte Frauenstimme in einer fremdländischen Sprache auf ihn einreden. Zunächst schien es, als wolle er sie abwimmeln. Als das nicht funktionierte, entschuldigte sich Herr Sonnenzweig, stand auf und sagte, sie sähen sich spätestens am Freitagmorgen bei der Sektionsleiterkonferenz. Erleichtert schloss Julius hinter ihm die Tür und sah auf seinem Desktop, dass es schon halb vier war.
Endlich konnte er die E-Mails überfliegen. Bis um halb fünf schaffte er es, alle anzulesen. Er atmete durch, als eine Null in Klammern hinter dem Ordner „Posteingang“ erschien. Viele E-Mails enthielten Belanglosigkeiten, über einige musste er morgen mit Frau Maus sprechen und drei forderten schon heute eine längere Antwort. Da klopfte Pfarrer Schatz an die Tür, trat ein und fragte gut gelaunt:
„Haben sie Zeit?“
Einerseits wollte ihn Julius nicht enttäuschen, andererseits mochte er seine E-Mails fertig bearbeiten. Er entschied sich für die Antwort:
„Theoretisch schon.“
Pfarrer Schatz bat Julius, mit ihm in eines der Gebäude der Bischöflichen Verwaltung zu gehen. Dort hatte er um fünf Uhr einen Termin, bei dem viele Angestellte der Bischöflichen Verwaltung anwesend waren, die für deren Bauabteilung arbeiteten. Zwischen ihrem Ressort und der Bauabteilung des Verbandes kam es gelegentlich zu Überschneidungen. Darum sei es eine gute Gelegenheit, dass sich Julius ihnen vorstelle. Also begleitete er Pfarrer Schatz.
Nachdem Julius wieder in sein Büro zurückkehrte, war es kurz vor halb sechs. Er überlegte, ob er die Antworten auf die E-Mails, die er an diesem Tag noch schreiben musste, im Büro erledigte, auf der Rückfahrt über das Smartphone oder von zu Hause aus. Noch eine Stunde länger mochte er nicht im Verband verbringen. Im Büro packte er seine Tasche, schnappte den Mantel und rannte, damit er seinen Zug erwischte, der nur stündlich fuhr.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach der Tagesschau an seinen Schreibtisch zu setzen und die E-Mails zu beantworten, weil er sich im Zug nicht hatte dazu aufraffen können. Rosa traf sich mit einer Freundin, weshalb seine Überwindung, von zu Hause aus zu arbeiten, nicht noch größer war. Das gehöre bei einem beruflichen Neuanfang einfach dazu, dachte er sich. Doch sein innerer Schweinehund bleckte die Zähne.
Am kommenden Morgen, es war frühlingshaft warm, wartete Julius, wie an den zwei vorhergehenden Tagen, am Bahngleis auf den Zug. Er schaute mal in die eine, mal in die andere Richtung. Plötzlich kreuzte sich sein Blick mit dem von Frau Eichhorn. Sie lief gerade die Treppen hinauf, die die Unterführung mit dem Bahngleis verbanden. Es wäre unfreundlich gewesen, wenn er jetzt so getan hätte, als habe er sie nicht gesehen. Er ging Frau Eichhorn entgegen.
Sie unterhielten sich, bis der Zug aus der Großstadt einfuhr, stiegen hintereinander in ihn ein und setzten sich schräg gegenüber. Während sich Frau Eichhorn in ihre Zeitung vertiefte, drückte Julius seine Kopfhörer in die Ohren und hörte Bob Dylan. Erst in der Nähe der Bischofsstadt, nachdem Frau Eichhorn ihre Zeitung wieder zusammengefaltet hatte, unterhielten sie sich wieder.
Das Fenster in Julius Arbeitszimmer war von der Putzfrau gekippt worden. Im Unterschied zu den meisten Kollegen, die ihre Bürotür offen ließen, wenn sie darin arbeiteten, und sie schlossen, wenn sie es verließen, bevorzugte es Julius umgekehrt.
Er schloss das Fenster und widmete sich den E-Mails. Dabei fiel ihm das Ereignis des Untergangs der Bohrplattform Deepwater Horizon ein. Wie das Öl, das unaufhörlich in den Golf von Mexiko sprudelte und anfangs nicht zu stoppen war, egal was sich die Ingenieure auch hatten einfallen lassen, so unversiegbar kam ihm dieser E-Mail-Strom vor.
Frau Maus rief ihn kurz vor neun Uhr an und fragte, ob er an den Termin mit Direktor Saalfeld und Pfarrer Schatz denke. Er bedankte sich für den Hinweis, wunderte sich allerdings, warum sie ihn gestern nicht an seine Termine mit den Sektionsleitern erinnert hatte. Vermutlich kümmere sie sich nur um die wichtigen Termine, erklärte er es sich.
Im Vorzimmer von Direktor Saalfeld empfing ihn Frau Wolkow und rief ihren Chef an:
„Guten Morgen, Dr. Zey! Treten sie ein!“, kam Direktor Saalfeld aus dem Arbeitszimmer gelaufen.
„Guten Morgen, Direktor Saalfeld.“
Pfarrer Schatz war inzwischen auch aufgestanden und klagte:
„Ich muss mir die Beine vertreten. Diese ständige Sitzerei lässt mich noch einrosten.“ Und zu Direktor Saalfeld gewandt schlug er ironisch vor: „Es wird Zeit, dass wir eine Veranstaltung ‚Gesundheit am Arbeitsplatz‘ entwerfen.“
Direktor Saalfeld, der neue Ideen mochte, aber nicht verstand, dass Pfarrer Schatz eben einen Scherz gemacht hatte, sagte, während er sich an den Konferenztisch setzte:
„Guter Vorschlag. Ich schreib ihn gleich auf die To-do-Liste für Herrn Pappel [der Assistent]. Der soll sich ein paar Gedanken dazu machen.“
„Jetzt machen sie wieder aus einer flapsigen Bemerkung ein ganzes Projekt. Sie sind unverbesserlich. Aber gerade deswegen steht der Verband so gut da. Sie sind ein Tausendsassa, Saalfeld!“
Pfarrer Schatz klopfte ihm anerkennend auf den Rücken, bevor er sich selbst setzte.
„Momentan jagt leider ein Termin den nächsten. Ich hätte mir gewünscht, sie könnten sich in Ruhe in die Themen und Abläufe einarbeiten. Doch sie müssen sehen, wie sie alles unter einen Hut bringen. Da sie gut organisiert sind, schaffen sie das sicher“, ermunterte Direktor Saalfeld Julius.
Hier dachte Julius an Herrn Sonnenzweig, der dieselbe unerschütterliche Gewissheit teilte. Beide hatten schlichtweg keine Zeit, in Betracht zu ziehen, dass Julius scheitern könne. Die Arbeitsbelastung ließ keine Alternative zu, als den bestmöglichen Fall anzunehmen.
„Also“, Direktor Saalfeld schaute über den Rand seiner Lesebrille, „lassen sie uns über die wichtigsten aktuellen Aufgaben reden. Nächsten Mittwoch findet die BLK [Bereichsleiterkonferenz] statt. Hierfür muss noch eine Vorlage für das Neubauprojekt des Katharinen-Krankenhauses geschrieben werden. Lassen sie sich von Frau Maus über die Formalia von Vorlagen aufklären. Dann bitte ich sie, mir bis heute Abend einige Stichworte für ein Grußwort aufzuschreiben, das ich morgen bei der Eröffnung der Kita in St. Augustin halten muss.“
Kurz drehte Direktor Saalfeld seinen Kopf zu Pfarrer Schatz. Wissend lächelten sie sich an. Julius den Grund für ihre Reaktion zu erzählen, hätte zu lange gedauert.
„Genauere Informationen zum Kita-Bau finden sie hier in der Akte. Achso“, Direktor Saalfeld öffnete die nächste Akte, die vor ihm lag, „der Sekretär des Bischofs hat mir einen Beschwerdebrief weitergeleitet, zu dem er eine Stellungnahme anfordert. Recherchieren sie mal, was es mit der Sache auf sich hat. Die Einzelheiten können sie hier nachlesen. Schreiben sie Pfarrer Schatz bis heute Abend einen Entwurf, den er durchsehen kann und der möglichst noch heute an den Bischofssekretär rausgeht.“
Direktor Saalfeld wartete, bis Julius seine Notizen fertig geschrieben hatte.
„So, und für die SLK [Sektionsleiterkonferenz]am Freitag müssen sie heute noch eine Vorlage zur ‚Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim‘ verfassen. Frau Maus kann ihnen dabei helfen. Und schicken sie sie bitte an unseren Assistenten Herrn Pappel, der sie mit der Einladung versendet. Zu dem Tagesordnungspunkt werden sie am Freitag hinzugezogen. Also halten sie sich zwischen 9 und 12 Uhr bereit!“
Direktor Saalfeld nahm einen weiteren Dreiecksordner von seinem Stapel und gab ihn Julius.
„Übernächste Woche steht dann eine Klausur der Verbandsdirektoren an. Die wird abwechselnd von den Abteilungsleitern der Direktion organisiert. Hierfür hat Frau Maus schon Vorbereitungen getroffen, die sie zu Ende führen sollen.“
Pfarrer Schatz schaute und hörte interessiert zu, wie Direktor Saalfeld Julius die einzelnen Arbeitsaufträge erklärte.
„Das sind die wichtigsten Aufgaben in nächster Zeit. Schauen wir mal, was uns dazwischen noch alles in die Quere kommt. Langfristig, bis in etwa vier Wochen, müssen wir die Vorbereitungen für die Überarbeitung des Bauausschusses abgeschlossen haben, damit wir sie in den Gremien beraten und verabschieden können. Im Idealfall können wir dann im Oktober die neue Satzung anwenden. Lesen sie sich bis Montag doch mal in diese Informationen hier ein. Das ist von meiner Seite für heute alles. Jetzt sind sie dran, Pfarrer Schatz!“
Julius drehte sich zu Pfarrer Schatz und war auf dessen Anliegen gespannt.
„Ja, lieber Dr. Zey, was jetzt kommt, tu ich nicht gern, aber es fällt in mein Ressort. Sie kennen die Kirchliche Grundordnung, unsere speziellen Arbeitsrechtsbestimmungen. Aus meiner Sicht sind sie –, na gut. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass jede größere kirchliche Verwaltung einen sogenannten ‚Beauftragten für die Grundordnung‘ hat. Bislang war das Frau Eichhorn. Wir halten es aber für besser, wenn sie sich der Aufgabe annehmen würden. In der Praxis geht es dabei in der Regel um die Überprüfung der Frage, ob sich unsere Mitarbeiter an die Morallehre der Kirche halten. Konkreter: Wenn sich Mitarbeiter zum Beispiel scheiden lassen, führt der Beauftragte mit ihnen ein Gespräch, um die Regeln der Grundordnung und die daraus entstehenden Folgen darzulegen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie nachweislich in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben oder sich gesetzlich wiederverheiraten. Hierfür brauchen wir jemanden mit Fingerspitzengefühl. Würden sie sich dazu bereit erklären?“
Julius fand es komisch, dass er andere dazu bewegen solle, die römisch-katholische Morallehre einzuhalten. Außerdem dachte er, sei doch jeder erwachsen genug, um sein Privatleben allein zu verantworten. Die Annahme, Menschen würden in ihrem Beziehungsleben nur nach egoistischen Zielen leben und sich nicht Nächte darüber den Kopf zerbrechen, wie sie ihre Probleme in der Partnerschaft lösen könnten, auch wenn das im Ausnahmefall zu einer Trennung führte, verstand er nicht.
In seine Abneigung mischte sich der Gedanke, er könne sich als ‚Beauftragter der Grundordnung‘ für die jeweiligen Mitarbeiter einsetzen. Also sicherte er kurzerhand seine Bereitschaft zu, den Nebenposten zu übernehmen. Pfarrer Schatz freute sich und wollte offenbar das für ihn leidige Thema beenden, weil er Julius übergangslos aufforderte, er solle in Ruhe überlegen, wie er sich sein Büro einrichten wolle. Es wäre ihm wichtig, dass sich seine Kollegen in ihrem Büro wohl fühlten. Sie verbrächten ja viele Stunden am Tag darin. Bei Frau Wolkow liege ein Katalog, aus dem er sich seine Möbel aussuchen könne. Aber wenn er spezielle Wünsche habe, würden diese selbstverständlich auch erfüllt.
So endete ihr Gespräch mit der Aussicht auf ein schönes Büro, die Julius kurzzeitig vergessen ließ, welche Arbeiten er bis zum Feierabend noch erledigen musste.
Mit der Hilfe von Frau Maus gelang es ihm bis um 18 Uhr die drängenden Angelegenheiten zu bearbeiten. Auf die letzte Minute erreichte er auch den Zug, in dem ihm wie an den Vortagen die Augen zufielen und sein Kopf unwillkürlich auf seine Brust sackte. Zu Hause fiel er schließlich Rosa in die Arme. Wie gut sie roch, dachte er. Ihre Haut war weich. Julius küsste sie gern.
Anfang Mai war es abends wieder lange hell. Sie aßen im Wintergarten zu Abend, der Zimmer-Springbrunnen plätscherte leise vor sich hin, das heiße Wasser im Heizkörper erwärmte mit der zunehmenden abendlichen Kühle stärker den Raum. Rosa erzählte Julius von den Querelen aus der Schule und dem Besuch bei ihrer Mutter Thea, der es immer noch wegen ihrer Rückenschmerzen schlecht ginge. Irgendwann hörten sie auf, über die alltäglichen Probleme zu sprechen. Rosa setzte sich neben Julius aufs Sofa, legte den Kopf auf seinen Schoß, das Licht der Stehlampe leuchtete gedimmt und nur noch die beruhigenden Geräusche des Zimmerspringbrunnens wie der Heizung waren zu hören.
Am kommenden Morgen stand Frau Eichhorn bereits am Bahngleis, als Julius von der Unterführung die Treppen hinaufkam. Sie wirkte missmutiger als am Tag zuvor, gewann aber nach den ersten Sätzen ihre bemühte Freundlichkeit zurück. Wie gestern setzten sie sich im Zug auf einen Viererplatz, schräg einander gegenüber, und widmeten sich den Beschäftigungen, die sie vor dem Arbeitsbeginn am liebsten taten. Frau Eichhorn las in ihrer Zeitung. Julius hörte Musik. Auf dem Weg vom Bahnhof bis zum Verband redeten sie dann wieder, wie am Tag zuvor, über dieses und jenes. Julius glaubte, dass sie eine gute Routine gefunden hätten. Obwohl er eigentlich lieber die Zugfahrten am Morgen alleine verbracht hätte, begann er, auch an dieser Art des Zusammensitzens seinen Reiz zu finden.
Seine Arbeitsstunden im Verband verrannen wegen der Formulierung der Vorlagen für die bevorstehenden Gremiensitzungen wie im Flug. Zum Mittagessen traf er sich mit Herrn Schuhmacher, der ihm langsam zu vertrauen begann. Es sah so aus, dass Julius an diesem Tag sogar den Zug um kurz nach fünf erreichen würde. Er wollte aber nochmal zu Herrn Liebig, mit dem er einige Dinge wegen des Entwurfs der neuen Satzung für den Bauausschuss absprechen wollte.
Als ob es vom Schicksal vorherbestimmt gewesen wäre, führte das Gespräch zu folgender Entdeckung: Beide begeisterten sich für die Schöne Literatur. Damit tat sich ihnen, unverhofft, ein buntes Paralleluniversum auf, vor dessen Hintergrund der Verband mit seinen Nickeligkeiten wie eine Schattenwelt erschien. Durch immer neue Aussagen, Kommentare, Zitate und Bonmots über Goethe, Stendhal, Proust, Nabokov und Salter schraubte sich ihre Unterhaltung zu elfenbeinernen Höhen hoch. Auch erzählte Julius Herrn Liebig, dass er früher selbst Geschichte geschrieben habe und eigentlich lieber selbst schreibe, als andere Autoren zu lesen.
Julius war der erste, dem die Zwänge der bürgerlichen Welt wieder bewusst wurden: Der Zug wartete nicht. Geschwind versicherten sie sich, nicht zu viel Zeit verstreichen zu lassen, ehe sie sich erneut über ihr gemeinsames Hobby austauschten. Und bereits auf dem Weg zum Bahnhof wurde Julius bewusst, welches Geschenk es war, auf einen Literaturliebhaber innerhalb des Verbands gestoßen zu sein.
Nachdem Julius am Donnerstagabend seinen Teil zu einer lustigen Chorprobe beigetragen hatte, erlebte er am Freitagmorgen eine böse Überraschung. Frau Eichhorn stand am Bahngleis und schien auf ihn zu warten. Aufgeregt verlagerte sie ihr Körpergewicht von einem auf das andere Bein. Sie sah aus, als habe sie die Nacht über kein Auge zugetan. Als sie Julius begrüßte, brach Folgendes aus ihr heraus:
„Herr Dr. Zey, ich bin seit zehn Jahren gewohnt, alleine im Zug zu sitzen. Ich möchte, dass das so bleibt. Setzen sie sich bitte woanders hin! Ich brauche den Platz für mich allein. Und ich brauche meine alte Routine wieder. Das Reden morgens möcht ich nicht. Ich find es aufdringlich, dass sie das nicht von selbst merken. Also, jetzt. Jetzt ist die Sache ja klargestellt. Das ist nichts gegen sie persönlich.“
Perplex hatte ihr Julius zugehört. Er war von dieser Zurückweisung kalt erwischt worden, weil er Frau Eichhorn anders eingeschätzt hatte. Sie hatte gutmütig auf ihn gewirkt. Julius schwenkte ein:
„Entschuldigen sie, dass ich ihnen zu nahe gekommen bin. Ich werde mich natürlich woanders hinsetzen.“
Danach versuchte Frau Eichhorn noch nette Worte zu sagen. Glücklicherweise kam der Zug bald eingefahren, die beiden stiegen ein und setzten sich in unterschiedliche Waggons.
Julius dachte darüber nach, was wenige Minuten zuvor geschehen war. Im Grunde gab es an Frau Eichhorns Verhalten nicht viel auszusetzen. Auch er wollte morgens lieber allein im Zug sitzen. Und dass er das nun tun konnte, bevorzugte er, als schweigend auf einem Vierersitz mit Frau Eichhorn zu sitzen, während jeder seiner Beschäftigung nachging. Doch er verstand die Art und Weise nicht, in der ihn Frau Eichhorn bloßgestellt hatte. Besonders weil es in einer Phase erfolgte, in der er bemüht war, sich den Gepflogenheiten bei seinem neuen Arbeitgeber anzupassen.
Der Zug näherte sich der Bischofsstadt. Wie sollte sich Julius nach der Ankunft des Zuges verhalten? Die Tage zuvor war er mit Frau Eichhorn vom Bahnhof zum Verband gelaufen. Das wollte er nicht mehr. Er wollte sich dem Willen Frau Eichhorns nicht anpassen, der vorsah, im Zug getrennt zu sitzen und den Weg vom Bahnhof zum Verband gemeinsam zu laufen. Er blieb also im Zug und wartete bis alle anderen Passagiere ausgestiegen waren. Als er selbst aufstand und am Ausgang des Zuges ankam, sah er Frau Eichhorn am Bahnsteig nach ihm Ausschau halten. Julius trat zurück in den Zug und beobachtete Frau Eichhorn durch ein Fenster. Noch einige Augenblicke dann wartete Frau Eichhorn nicht länger. Julius stieg aus und lief noch einen Umweg, bevor er zu seinem Büro ging.
Julius Telefon klingelte. Direktor Saalfelds und Pfarrer Schatz Assistent Herr Pappel bat ihn, zum Sitzungsraum zu kommen. Er nahm den überarbeiteten Ausdruck der Vorlage, sein Notizheft und den USB-Stick mit, auf dem die Präsentation gespeichert war.
Im Sitzungssaal saßen neben Direktor Saalfeld, Pfarrer Schatz und Herrn Pappel die sechs Sektionsleiter. Sie diskutierten noch über den vorangehenden Tagesordnungspunkt, während Julius Herrn Pappel den USB-Stick gab. Direktor Saalfeld und Pfarrer Schatz saßen an einem Tischende, Herr Molitor, Frau Eichhorn, Frau Larson sowie Julius zu ihrer linken-, Herr Pappel, Herr Karstrop, Herr Dankmeier sowie Herr Sonnenzweig zu ihrer rechten Seite.
Julius war froh, sich erst an die Atmosphäre im Raum gewöhnen zu können, bis er seine Vorlage vorstellte. Das machte ihn ruhiger. Auch die Sitzordnung, dank der er Frau Eichhorn an dem ovalen Tisch kaum sehen konnte, minderte seine Aufregung. Die Teilnehmer diskutierten eifrig. Erst als Direktor Saalfeld die Diskussion zum Tagesordnungspunkt 6 mittels einer Abstimmung beendete, deren Ergebnis Herr Pappel protokollierte, konnte die „Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim“ beraten werden.
Direktor Saalfeld sagte zu Julius:
„Dr. Zey, ich begrüße sie zu ihrer Premiere in dieser Runde und wünsche ihnen nochmals einen guten Start bei uns.“
Die Gremienmitglieder klopften mit ihren Mittelfingerknochen auf die Tische, um Direktor Saalfelds Worten Nachdruck zu verleihen.
„Um keine Zeit zu verlieren, bitte ich sie, uns ins Thema einzuführen. Sie können dabei ruhig sitzen bleiben.“
Julius gab Herrn Pappel ein Zeichen, die vorbereitete Computerpräsentation zu starten. Die Sektionsleiter folgten Julius Erläuterungen, einige machten sich Notizen, manche tranken Tee oder Kaffee und andere suchten unaufhörlich eine Sitzhaltung, die ihrem Selbstbild entsprach.
Mit Interesse beobachtete Julius die Körperhaltung der männlichen Kollegen. Bereits bei der Diskussion zum vorangehenden Tagesordnungspunkt fiel ihm auf, dass deren Redebeiträge und Argumentation oft phrasenhaft waren. Mehr als die Themen schienen die Charaktere und langjährigen Beziehungsgeflechte der Anwesenden im Zentrum zu stehen.
Julius versuchte, sich wieder ganz auf seinen Vortrag zu konzentrieren, den er schon zur Hälfte präsentiert hatte. Und weil er sich sicherer fühlte als anfangs, glückte es ihm, den zweiten Teil überzeugender darzustellen. Je länger Julius referierte, desto mehr wunderte er sich über einen seiner männlichen Kollegen: Dieser spannte rhythmisch seine Oberarmmuskeln an und testete mit der Hand deren Festigkeit. Er legte seine Arme, weit von sich gestreckt, auf die Rückenlehnen seiner Sitznachbarn, so dass seine Brust gedehnt wurde. Und er konnte seinen Blick nicht lang vom Dekolleté einer Kollegin entfernen.
Nach dem Ende seines Vortrags wollten wieder viele zu Wort kommen.
Zunächst lehnte sich Julius einfach zurück. Direktor Saalfeld moderierte die Diskussion und erteilte das Wort. Die persönlichen Spannungen zwischen einigen Mitgliedern ließen bald Funken sprühen. Besonders knisterte es zwischen Herrn Karstrop und Herrn Molitor. Herr Karstrop hielt die Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim für dringend geboten, Herr Molitor dagegen für überflüssig. Die Diskussion spitzte sich auf einen Dialog der größten Widersacher zu. Frau Larson wandte sich an Julius und sagte:
„So geht das fast immer. Die werden erst aufhören, wenn Direktor Saalfeld dazwischen geht.“
Und es geschah, wie es Frau Larson vorausgesagt hatte. Nach weiteren sieben Minuten, in denen Herr Karstrop und Herr Molitor heftig ihre Positionen verteidigten, ergriff Direktor Saalfeld das Wort, weil die Auseinandersetzung persönlich wurde:
„Lieber Herr Karstrop, lieber Herr Molitor, ich bedanke mich für ihre engagierten Statements. Jetzt können Fragen zum Sachverhalt an Dr. Zey gestellt werden.“
Um sich von ihrem Schlagabtausch zu erholen, ließen Herr Karstrop und Herr Molitor nun erst mal ihren Kollegen den Vortritt, Julius Einschätzung zu der Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim abzufragen. Julius parierte die Einlassungen und stieß bei dem Großteil der Sektionsleiter auf Verständnis, wenn seine Antworten offenbarten, dass er zwar den Sachverhalt nach Aktenlage kannte, aber nicht über einen der vielen Zusammenhänge Bescheid wusste, die es zu berücksichtigen galt. Denn auf die ‚Zusammenhänge‘ kam es an. Sie bestimmten nicht selten, welche Wendung eine Entscheidung nahm. An dieses Grundgesetz des Verbandes musste sich Julius erst gewöhnen. Dahingehend beruhigte ihn Direktor Saalfeld:
„Ihre Premiere ist gelungen, Dr. Zey. Gratulation! Sie haben die Angelegenheit sachkundig präsentiert und alle Fragen beantwortet. Die Zusammenhänge, ja, die Zusammenhänge können sie nicht wissen. Uns fehlt die Zeit, dass ich sie in alle einweihe. Aber bei unserem Beschluss muss eine Rolle spielen, dass unser Vorstandsmitglied Herr Göbbels der ehemalige Bürgermeister von Meesheim ist und eben in seiner Vorstandsfunktion des Verbandes mit diesem Haus identifiziert wird. Deshalb muss ein tadelloser baulicher Zustand gewährleistet sein.
Wenn die Leute in Meesheim denken, der Verband kümmere sich nicht um seine Häuser in den Gemeinden, wo zentrale Figuren des Verbandes zu Hause sind, dann wird uns gar nichts mehr zugetraut. Es gilt in dieser Angelegenheit also ein besonderes Augenmerk auf die Öffentlichkeitswirkung zu legen. Das Altenheim muss – wobei ich dem Beschluss nicht vorgreifen möchte – ein Beispiel für die professionelle Arbeit des Verbands darstellen. Und dazu gehört eben auch ein einwandfreies bauliches Erscheinungsbild.“
Herr Karstrop hob seinen rechten Arm, worauf Direktor Saalfeld fragte:
„Ja, Herr Karstrop, was möchten sie noch hinzufügen?“
„Ich bin ganz ihrer Meinung, Direktor Saalfeld. Die Sanierungsmaßnahmen sind zwingend erforderlich. Aber ich möchte nochmals auf einige sachliche Unklarheiten von Dr. Zeys Vortrag eingehen, wenn ich darf.“
Direktor Saalfeld ließ ihn gewähren, obgleich auch die für diesen Tagesordnungspunkt eingeplante Zeit bereits überschritten war. Julius hörte Herrn Karstrops Einwand zu:
„Ihre Kostenrechnung für die Sanierungsmaßnahmen halte ich für fehlerhaft“, so direkt setzte er ein. Bei ihrer ersten Begegnung hatte ihn Julius umgänglicher erlebt.
Herr Karstrop fuhr fort:
„Ich habe mir die Mühe gemacht, eine Gegenrechnung aufzustellen, und bin dabei auf eine geringere Summe als die von ihnen veranschlagte gekommen. Wie erklären sie die Differenz?“
Herr Karstrop ließ Kopien von seiner Kostenrechnung verteilen und Herr Pappel warf die Zahlen mit dem Beamer an die Wand. Julius überflog Herrn Karstrops Vorlage. Er hatte zu wenig Zeit, die Daten genauer zu vergleichen. Also entschied er sich, ausgeglichen zu reagieren.
Er nannte Herrn Karstrop mehrere Argumente, weshalb ein Unterschied zwischen den beiden Kostenaufstellungen bestehe. Der wichtigste sei darin begründet, dass er grundsätzlich mit großzügigeren Kostenannahmen rechne, während Herr Karstrop mit den mindestens zu erwartenden Aufwendungen operiert habe. Damit glaubte Julius, ihm den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Anstatt sich mit seiner Erklärung zufrieden zu geben, hakte Herr Karstrop nach:
„Das mag vielleicht stimmen, dass meine Annahmen optimistisch sind. Doch wenn ich mir den unübersichtlichen Aufbau der Vorlage anschaue und ihre Tendenz, alles so ausführlich darzustellen, dass ich glaube, sie halten mich für minderbemittelt, liegt der Schluss näher, dass ihre Annahmen mit einem Fragezeichen zu versehen sind?“
Julius glaubte es nicht. Er dachte, dass diese Einlassung so deutlich unfair gewesen sei, dass Direktor Saalfeld Herrn Karstrop zu mehr Gelassenheit rate. Direktor Saalfeld blieb stumm. Da Julius keine andere Alternative sah, antwortete er Herrn Karstrop:
„Ich kann ihre Schlussfolgerung nicht teilen. Vom Aufbau und Stil der Vorlage auf die Angemessenheit der Kostenaufstellung zu schließen, leuchtet mir nicht ein. Dass der Text Wiederholungen und genaue Erklärungen enthält, das stimmt. Da jede Institution eigene Vorlieben an Texte stellt, muss ich die des Verbands erst kennenlernen. Um aber noch mal auf ihren ursprünglichen Kritikpunkt zurückzukommen, unsere unterschiedlich hochgerechneten Ergebnisse bei den Kosten für die Sanierungsmaßnahmen: Ich werde ihre Auflistung in Ruhe anschauen und ihnen dann eine Rückmeldung geben. Momentan kann ich ihnen nur die Antwort wiederholen, die ich ihnen zuvor gegeben hab.“
Als Herr Karstrop von Julius Reaktion herausgefordert zu einer Replik ansetzte, fühlte sich Direktor Saalfeld schließlich doch veranlasst, eine weitere Zuspitzung abzuwenden:
„Nun fordern sie unseren neuen Kollegen nicht gleich zu sehr heraus. Ich denke, die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Kostenaufstellung sind klar geworden. Und Dr. Zey hat ihnen ja zugesagt, ihnen später eine detailliertere Antwort nachzureichen.“
Herr Karstrop gab nach und nickte seinem Chef zu. Alle Mitglieder der Sektionsleiterkonferenz forderte Direktor Saalfeld auf:
„Nun möchte ich alle um ein Handzeichen bitten, ob sie für oder gegen die Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim stimmen?“
Frau Larson und Herr Molitor stimmten gegen die Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen. Das gefährdete jedoch nicht die relative Mehrheit, die dafür votierte. Erleichtert fasste Direktor Saalfeld das Abstimmungsergebnis zusammen:
„Damit sind unsererseits die Sanierungsmaßnahmen beschlossen. Herr Pappel hat das Resultat protokolliert, so dass unser Votum an den Bauausschuss weitergeleitet werden kann. Danke nochmal an Dr. Zey für die Erläuterungen zum Tagesordnungspunkt. Gibt es noch irgendwelche Anmerkungen?“, Direktor Saalfeld schaute in die Runde, „nein, damit können wir zu TOP 8 übergehen.“
Nachdem Julius seine Bürotür hinter sich zugezogen hatte, öffnete er die Jalousien zu einem Drittel. Er spürte, dass er wegen Herrn Karstrops Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, Abstand brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und schloss die Augen. Es war erst halb zwölf. Julius musste noch 30 Minuten warten, bevor er seine Mittagspause beginnen konnte. Diese durfte nur im Zeitfenster zwischen 12:00 und 13:30 Uhr erfolgen. Und da er es für unpassend hielt, sich am Ende seiner ersten Arbeitswoche nicht an die Regeln zu halten, wartete er. Eigentlich hätte er das Programm für die Tagung der Verbandsdirektoren aktualisieren können. Doch er verschob die lästige Aufgabe auf den Nachmittag. In unregelmäßigen Abfolgen öffnete er ein Auge, um auf dem rechten, unteren Rand des Monitors zu schauen, wann er in die Mittagspause aufbrechen dürfe.
Für den Großteil der Angestellten begann das Wochenende schon am Freitagnachmittag. Manche verzichteten auf die Mittagspause und verließen ihren Arbeitsplatz um Punkt 12 Uhr. Der Großteil blieb bis 14 Uhr. Übrig blieben nur die Karrieristen, die Singles und die Neulinge wie Julius, die sich noch an die Arbeitsabläufe und -inhalte anpassten und deshalb mit einigen Aufgaben in Verzug geraten waren.
Nur zu gern hätte Julius den Freitagnachmittag mit Rosa verbracht. Aber das aktualisierte Tagungsprogramm für das Treffen der Verbandsdirektoren musste an diesem Tag noch geschrieben und zusammen mit der Teilnahmebestätigung per Post versandt werden. Da Frau Maus am Nachmittag keine Überstunden machen konnte, weil sie zur Hochzeit eines Neffen in Hamburg eingeladen war, Herr Schuhmacher Urlaub genommen hatte und Herr Liebig mit Musikfreunden ein langes Wochenende in Salzburg verbrachte, musste Julius die Vorarbeiten von Frau Maus allein fertigstellen, ausdrucken, in Kuverts eintüten und zur Post bringen. Freitags nahm die Hauspost um 13 Uhr das letzte Mal Briefsendungen an.
Julius beeilte sich, damit er wenigstens den Zug um 17.05 Uhr erreichte. Aber gegen 16:30 Uhr sah er ein, dass das nicht klappen werde. Mit Glück schaffte er es, die Briefe bis 18 Uhr an der Hauptpost der Bischofsstadt abzugeben. Von dort rannte er zum Bahnhof und bekam gerade noch seinen Zug.
Julius zog die Schuhe aus und legte seine Beine auf den Sitz gegenüber. Erschöpft schaute er auf die Landschaft und ließ die Gedanken über Frau Eichhorns schroffe Zurückweisung am Morgen, die Kritik Herrn Karstrops am Vormittag sowie die zähe Bearbeitung des Programms und der Einladungen für die Direktorentagung am Nachmittag kommen und gehen.
Sein soziales Immunsystem war geschwächt. Er wünschte sich, den Abend entspannt mit Rosa verbringen zu können. Sie rief Julius im Zug an, sagte ihm, dass sie den Tisch auf der Terrasse gedeckt habe und das Abendessen, bis er ankomme, fertig sein werde. Julius freute sich.
Der angenehme Abend mit Rosa baute ihn wieder auf. Beim Abendessen wiederholte er öfter, wie glücklich er sei, dass er die erste Arbeitswoche überstanden habe und sich zwei Tage ausruhen könne. Rosa befand sich in einer brenzligen Lage. Einerseits wollte sie ja, dass Julius mit seinem neuen Arbeitsplatz zufrieden war. Andererseits wollte sie die Erfahrungen, von denen er erzählte, nicht einfach schönreden. Ihr kamen die Verhaltensweisen seiner Kollegen und die Vorgänge im Verband ebenfalls spanisch vor.
Rosa hatte während ihres Referendariats, ihrer ersten Anstellung an einer Münchner Schule und nun als Direktorin im Großen und Ganzen Glück mit ihren Mitarbeitern gehabt. Manchmal gab es Schwierigkeiten mit übereifrigen Eltern. Auch andere Konflikte gab es hin und wieder. Doch mit Abstand betrachtet handelte es sich dabei um Kleinigkeiten. Und Rosa beruhigte sich mit der Binsenweisheit: Anfangs gebe es halt immer Reibungsverluste.
Am Samstagmorgen hatten sich Rosa und ihre Mutter Thea zu einem gemeinsamen Friseurtermin verabredet. Im Haus war es still. Julius, der immer noch im Bett lag, war wieder eingeschlafen und träumte wirr, bis er zum zweiten Mal aufwachte, aufstand, sich duschte und auf der Terrasse frühstückte.
Hartnäckig wurde sein Denken von den Ereignissen der ersten Arbeitswoche blockiert. Das ärgerte ihn. Mit Gedanken an den Verband wollte er sich in seiner Freizeit nicht beschäftigen. Er erinnerte sich an ein Sprichwort Konrad Adenauers: „Wer sich ärgert, büßt die Sünden anderer.“ Geradewegs legte er das Frühstücksgeschirr wieder aufs Tablett, räumte es in der Küche in die Spülmaschine ein und stieg die Treppen ins Dachgeschoss hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag.
Der Schreibtisch stand vor einem der beiden Fenster, aus dem er auf die Dächer der anderen Häuser blicken konnte. Er kippte es, worauf verschiedene Geräusche das Zimmer belebten: Kinderstimmen, Blätterrascheln, Vogelzwitschern, ab und an Fluglärm. Julius setzte sich an den Schreibtisch, legte die Hände darauf und tat nichts weiter. –
Irgendwann reizte es ihn, wie schon früher hin und wieder, eine Geschichte zu schreiben. Er fuhr den Laptop hoch, öffnete eine neue Datei und fand letztlich den Zugang unter die Oberfläche der Realität. Hier stieß er, als sei er ein Radiologe der Wirklichkeit, auf deren Strukturen und Bauprinzipien. Doch anders als Wissenschaftler konnte er mit der schriftstellerischen Kunst – diese Prinzipien in Gleichnisse zu übersetzen –, das Innere der Wirklichkeit für ein breiteres Publikum begreifbar machen und zu Erkenntnisschichten vordringen, die den Wissenschaften unzugänglich blieben.
Dieses poetische Mittel, das sich in seiner Rätselhaftigkeit akademischen Erklärungsversuchen erfolgreich entzieht, begründet die Anziehungskraft der ‚Schönen Literatur‘. Sie verleiht ihr eine Wirklichkeitsnähe, die wissenschaftlicher Methodik unerreichbar ist. Und somit werden die entlarvt, die die Schöne Literatur als Ansammlung von Trugbildern oder Hirngespinsten kleinzureden versuchen, indes sie den Geistes- oder Naturwissenschaften unterstellen, der Wahrheit am nächsten kommen zu können.