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2.

Vergangenheit: Flucht vor dem Posizid

Die Antigravschächte, Materietransmitter und Expresslifte waren außer Betrieb. Wir mussten Sunset Beta zu Fuß durchqueren.

Um schneller voranzukommen, nahm ich Evlyn Kurum huckepack und sicherte sie mit dem linken Handlungsarm. Auf den Boulevards und Plätzen herrschte reger Betrieb, obwohl die Holoreklamen erloschen waren und die Notbeleuchtung nur mattes Dämmerlicht spendete.

Etwa ein Viertel der Rollstege funktionierte noch. Man machte uns bereitwillig Platz, auch in den durchsichtigen Transportröhren.

Von der Galerie, einer in Form eines Kunstfelsens erbauten Luxus-Appartementanlage am Rande der Kuppel, gelangten wir zum Venusianischen Garten. Er lag im rötlichen Halbdunkel der untergehenden Sonne, da die bunten Lampiongirlanden desaktiviert waren. Die berühmten, künstlerisch gestalteten Springbrunnen und Wasserspiele hatte man ebenfalls abgeschaltet.

Wir passierten den in einer Flussschleife liegenden Eispalast, einen Wohnturm, dessen Grundriss und vielfältig verzweigte Geschosse an Schneeflocken erinnerten. Über die im Winkel von 45 Grad geneigte Verbindungsröhre erreichten wir schließlich die Zitadelle.

*

Die Krisensitzung war bereits in vollem Gang.

Bürgermeister Olec Tau begrüßte Evlyn und mich mit einem Kopfnicken. Ich signalisierte ihm, keine Rücksicht auf uns zu nehmen und einfach fortzufahren.

Das Wort hatte gerade Gamo Ordaboy, der Leiter der Metapositronischen Abteilung. »... eine völlig neue Art Virus freigesetzt, das sich durch die Hyperfunkkanäle rasend schnell in den interstellaren Datennetzen ausbreitet. Perfiderweise reist es mit denselben Nachrichten, die vor ihm warnen oder von den verursachten Schäden berichten.«

»Als da wären Löschung oder Veränderung fast aller Daten in den Speichern der befallenen Rechner«, ergänzte Odette Buhesh, die Sicherheitschefin der Stadt. »Es gibt bereits einen Namen für das Phänomen: ›Posizid‹.«

»Ist es so schlimm?«, fragte ich.

»Die Technosphäre der gesamten Milchstraße scheint dem Untergang geweiht. Niemand kennt ein Gegenmittel. Auf zahlreichen betroffenen Planeten herrscht nackte Panik.«

»Wir haben daher veranlasst«, sagte der Bürgermeister, »dass in ganz Sunset City die positronischen Anwendungen und insbesondere der Datenaustausch auf das absolut lebensnotwendige Minimum gedrosselt werden. Hyperfunk empfängt nur noch eine Kurierkorvette als Relaisschiff im Orbit.«

»Die empfangenen Meldungen werden per Bote weitergegeben«, ergänzte Buhesh. »Als Nacherzählungen oder Briefe, damit sie garantiert keine verborgenen Mikro-Konstrukte enthalten können.«

»Trotzdem ist es vermutlich bereits zu spät«, sagte Stanislao DeHaan, der führende Hyperphysiker von Sunset City. »Zumal eine andere Theorie davon ausgeht, dass die Schadprogramme schon über längere Zeit hinweg verbreitet wurden. Bis vor Kurzem hatten sie unbemerkt in den Rechnern geschlummert. Dann wurde sie aktiviert, durch eine Art flächendeckenden Triggerimpuls.«

Eine solche kryptische Cyberwaffe, führte er weiter aus, könnte sich den Positroniken gegenüber als Gastprogramm ausgegeben haben. Es blieb zunächst unauffällig, eine geduldete Geringfügigkeit. Eventuell tarnte es sich als hilfreicher Symbiont, der das eine oder andere Verfahren beschleunigte oder eleganter durchführen ließ.

Sobald diese scheinbar substanzlose Marginalie aber getriggert wurde, entstand ein Virus mit gewaltiger destruktiver Kraft. Teilweise zerstörte es auch die Betriebssysteme und die darauf basierenden Programme. Es kontaminierte alle Daten. Die Bestände, die es nicht löschte, pervertierte es.

»Furchtbar«, sagte DeHaan. »Und unaufhaltsam. Ein Kollege auf Lepso nannte es vor wenigen Minuten eine ›Supernova im Datenkosmos‹. Ein wenig plakativ, gewiss. Inhaltlich kann ich ihm leider nicht widersprechen.«

»Wie gesagt, wir haben so schnell wie möglich reagiert.« Bürgermeister Tau wischte sich Schweißperlen von der Stirn. »Dennoch steht zu befürchten, dass unser Netzwerk und die Hauptpositronik BABEL bereits korrumpiert sind.«

»Ich bleibe optimistisch«, sagte die Sicherheitschefin. »Den Berichten aus befallenen Sonnensystemen zufolge dauert es von wenigen Stunden bis zu einem halben Tag vom Eintreffen des Virus – oder dessen Triggers – bis zum globalen Datenblackout. Dies gilt jedoch für wesentlich dichter besiedelte Welten und Systeme.«

Last Hope war der einzige Planet der roten Riesensonne Bolo, die 27.644 Lichtjahre vom Milchstraßenzentrum entfernt lag. Die Distanz nach Gatas betrug 61.234, nach Arkon 47.629 Lichtjahre und 24.872 Lichtjahre nach Rudyn.

Außer Sunset City gab es auf der Glutwelt nur sehr wenige, ungleich kleinere Siedlungen und Stützpunkte. Deswegen, mutmaßte Odette Buhesh, und wegen des sogleich unterbrochenen Kontakts zum übergeordneten Netzwerk hatten wir vielleicht noch eine Chance.

»Vielleicht kam die Nachricht vom Posizid ja schneller an als der Posizid selbst«, sagte Evlyn Kurum.

»Jedenfalls bietet sich uns so oder so ein gewisses Zeitfenster.« Stanislao DeHaan strich sich über die aschblonden, stark gekräuselten Haare, die er zu zwei langen, dicken Zöpfen geflochten trug. »Wir sollten es unbedingt nutzen – indem wir alsbald unseren wertvollsten Trumpf ausspielen.«

»Du meinst ...?«

»Die BLAISE PASCAL, klar. Was sonst?«

*

BLAISE PASCAL war der Eigenname eines Forschungsschiffs, das Sunset City seit etlichen Jahren gute Dienste bei Außeneinsätzen leistete.

Es handelte sich um einen Kugelraumer der 1600 Meter durchmessenden GALILEI-Klasse, stark modifiziert und vollgepackt mit enorm leistungsfähigen, wissenschaftlichen Apparaturen. Derzeit parkte er im Orbit von Last Hope.

»Genau genommen sind es sogar zwei Trümpfe«, sagte Gamo Ordaboy. »Zum einen der Prototyp der Hypertronik, der kurz vor der Erprobung steht. Und zum anderen der glückliche Zufall, dass die komplette Rechnerarchitektur der BLAISE PASCAL, wegen des mit dem Hochfahren ebendieser Hypertronik verbundenen Neustarts, seit sechzehn Stunden isoliert und de facto offline ist.«

»Es steht also zu hoffen«, sagte Bürgermeister Tau, »dass sie von dem Virus ...«

»Oder dem Triggerimpuls«, warf DeHaan ein.

»Oder was immer im Funkäther herumschwirrt – dass die PASCAL bislang davon verschont geblieben ist?«

»Diese Hoffnung lebt!« Ordaboy klatschte in die Hände.

Er war ein auf Last Hope geborener Terraner, nur 165 Zentimeter groß, mit einem stattlichen Bäuchlein und kurzen Extremitäten. Seine Studenten stritten noch darüber, ob »Kugelblitz« oder »Apfelmännchen« der passendere Spitzname wäre.

»Ich bin der Meinung«, sagte Stanislao DeHaan, »dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Wir sollten den geplanten Experimentalflug der BLAISE PASCAL vorziehen, sobald der Neustart abgeschlossen ist.«

»Ebenfalls unbedingt dafür!«, rief Ordaboy.

Seine Metapositronische Abteilung war federführend bei der Entwicklung der Hypertronik gewesen, zusammen mit DeHaans Hyperphysik-Sektion. Ich hatte ebenfalls mein Teil beigetragen.

Die Sicherheitschefin runzelte die Stirn. »Wäre ein verfrühter Start der PASCAL nicht sehr riskant?«

Inzwischen hatte ich mein Planhirn konsultiert, das einem organischen Computer mit beachtlicher Rechenleistung entsprach. Es war durch eine horizontale Knochenplatte vom Ordinärhirn getrennt und konnte willentlich entkoppelt werden, was einen nahezu perfekten Schutz gegen geistige Beeinflussung darstellte.

»Ich schätze das Risiko einer Fehlfunktion des schiffsinternen Logikverbunds mit 6,29 Prozent als unter den gegebenen Umständen vertretbar gering ein«, sagte ich.

Wie üblich nutzte ich nur einen Bruchteil meines Stimmvolumens. Sonst hätten die übrigen Anwesenden schwere Gehörschäden davongetragen.

»Alle im Vorfeld des Neustarts absolvierten Tests sind zur größten Zufriedenheit verlaufen«, pflichtete mir Ordaboy eifrig bei.

»Uns sollte bewusst sein«, sagte Stanislao DeHaan, »welch hohe Verantwortung auf unseren Schultern lastet. Die Menschheit hat in jüngerer Vergangenheit viel erduldet. Den Raptus von Terra und Luna. Das seit über anderthalb Jahrhunderten wirksame Terranische Odium. Das Auftauchen der Ladhonischen Scharen vor etwa hundertzwanzig Jahren ...«

»Nicht zu vergessen der verheerende Orion-Krieg von 1722 bis 1729 NGZ ...«

»Richtig, Gamo. Und jetzt dieser Posizid! Eine Katastrophe, durch die, falls es so schlimm kommt wie befürchtet, die galaktischen Völker einen großen Teil ihres historischen, kulturellen und technologischen Wissens zu verlieren drohen.«

»Wenigstens diesbezüglich könnte die Hypertronik der vielleicht einzige Rettungsanker sein.«

»Wohl wahr, Freund Ordaboy, wohl wahr.«

*

Der als streng geheimes Projekt in Sunset City entwickelte Prototyp der Hypertronik unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von herkömmlichen Computern.

Beispielsweise trat an die Stelle des Bits eine andere Recheneinheit, das »Hyperbit«. Es gehorchte nicht mehr den Gesetzen der klassischen Physik, sondern den weitaus exotischeren Regeln des Hyperraums.

Zur Rechengrundlage wurde bei der Hypertronik das Strukturfeld, das ein Objekt aus dem Normaluniversum – auch als »Einsteinraum« bezeichnet – in den Hyperraum versetzte, dort mobilisierte und vektorierte, also einem Zielpunkt zuführte. In diesem Hyperfeld wurden Rechengatter definiert: Areale, in denen das Feld die eingespeisten Hyperbits verarbeitete.

Diese interagierten nicht mehr mit der Umgebung des Normalraums. Daher galten für sie die Gesetze des Hyperraums, so auch die Nullzeithaftigkeit.

Hyperbits ließen sich miteinander »verschränken« und in annähernd unendlicher Anzahl auffächern. Dann repräsentierten die aufgefächerten Daten Rechenbezugswelten, die von der bedachten oder berechneten Welt des Einsteinraums mehr oder weniger weit abwichen.

Freilich ergab sich daraus eine nicht unwesentliche Schwierigkeit: Die Hypertronik berechnete absolut immer korrekt, sie konnte gar nicht irren – allerdings wusste man nicht von vornherein, für welche Welt – oder im Extremfall: welches Universum – ihre Berechnungen zutrafen.

Jedenfalls fanden die Berechnungen in definierten Gattern des entsprechend modifizierten Strukturfelds statt, und das, dem Hyperraum gemäß, in Nullzeit. Aber auch im Hyperraum wurden Distanzen überbrückt, und diese Distanzen konnten sehr wohl variieren. Sonst wäre schließlich jeglicher Überlichtflug sinnlos gewesen, wenn hinterher das Raumschiff stets am selben Ort im Normalraum rematerialisierte!

Entsprechend wurden in den Rechengittern der Hypertronik durchaus verschiedene Rechenwege begangen. Deren richtige Interpretation war es, die den Anwendern die meiste eigene Denkleistung abverlangte.

Selbstverständlich hatten in den vergangenen Wochen und Monaten zahlreiche Experimente mit unbemannten Sonden und Raumschiffen stattgefunden. Die Ergebnisse waren ebenso erstaunlich wie erfreulich gewesen.

Jedoch hatten wir den Prototyp nie zuvor in einer Größenordnung getestet, wie sie das Strukturfeld der BLAISE PASCAL zu erzeugen vermochte ...

*

»Sollte das Experiment erfolgreich sein«, sagte Evlyn Kurum langsam, fast feierlich, »könnte man anschließend versuchen, Datenbestände in den Hyperraum zu retten. Das Wissen der Galaxis wäre gesichert, weil außerhalb der Reichweite des Posizids.«

»Könnte, wäre. Zuerst muss der Jungfernflug der PASCAL mit der Hypertronik gelingen«, dämpfte Stanislao DeHaan die Euphorie seiner Assistentin. »Überhaupt muss der Bürgermeister den vorgezogenen Start genehmigen. Als amtierender Direktor trägt letztlich er die Verantwortung.«

Sogleich schwitzte Olec Tau noch mehr. Er blickte in die Runde. »Ihr seid euch einig?«

Der Hyperphysiker, die beiden Metapositroniker und ich bejahten. Die Sicherheitschefin hob die Schultern und erklärte, sie beuge sich dem Urteil der Experten.

»Na schön. Dann autorisiere ich das Unternehmen. Unter der Bedingung, dass ihr alle daran teilnehmt. Ausgenommen Odette, die in Sunset City unabkömmlich ist.«

»Selbstverständlich«, sagte DeHaan.

»Davon bin ich sowieso ausgegangen«, sagte Ordaboy.

Ich vollführte ebenfalls eine zustimmende Geste.

»Moment!«, meldete sich Odette Buhesh zu Wort. »Wie wollt ihr ohne Funkleitsystem und sonstige positronische Unterstützung zur BLAISE PASCAL in den Orbit gelangen?«

»Das«, antwortete ich fröhlich, »sollte kein Problem sein!«

Den gequälten Gesichtsausdrücken meiner Kollegen entnahm ich, dass ich nun doch ein bisschen zu laut geworden war.

*

Exakt 73 Minuten später saß ich am Steuer eines Gleiters, dessen Funk- und Ortungsanlage sowie Bordrechner ausgebaut worden waren.

Das mochte zwar leicht übertrieben wirken, aber wir wollten hundertprozentig sicher sein, dass wir während des kurzen Andockvorgangs die PASCAL nicht mit dem verflixten Virus kontaminierten. Schließlich war uns dessen Vorgehensweise im Detail weiterhin vollkommen unbekannt.

Ich flog den Gleiter rein manuell. Trotzdem hatte ich relativ wenig Mühe, uns zum Standort des Forschungsraumers zu bringen.

Ein halutisches Planhirn konnte kleinste Zeiteinheiten bis zu zehn Nanosekunden wahrnehmen, entsprechend schnell präzise, komplexe Berechnungen ausführen und absolut logische Schlussfolgerungen ziehen. Damit ließen sich in derselben Genauigkeit auch Erlebnisse und Sinneswahrnehmungen aufzeichnen und wieder abrufen.

Da ich die aktuelle Position der BLAISE PASCAL ebenso gut kannte wie jene von Sunset City, benötigte ich keine besondere Konzentration, um den optimalen Kurs zu eruieren und einzuhalten. Insgeheim gestand ich mir zu, dass mir der kurze Anflug mächtig Spaß bereitete.

Wir kamen an und schleusten ein. Ohne höherwertige Technologie am Leib begaben wir uns in die Hauptleitzentrale. Gemeinsam informierten wir Shea Halpern, die Schiffskommandantin, über die prekäre Sachlage und den im Einvernehmen mit dem Bürgermeister gefassten Beschluss.

Halpern, eine erfahrene, von vielen Risikoeinsätzen gestählte Epsalerin, erhob keine Einwände. Ihr war so klar wie uns, dass es beruhigender gewesen wäre, den Start besser abzusichern und weitere Tests durchzuführen, dass sich längeres Zuwarten aber als ruinös erweisen konnte.

Unmittelbar, nachdem der Neustart abgeschlossen war und die Zuständigen der damit befassten Abteilungen grünes Licht gegeben hatten, brach die BLAISE PASCAL auf. Sie verließ den Orbit von Last Hope, beschleunigte und ging in die Transition, die für die Tätigkeit der Hypertronik unabdingbar war.

Perry Rhodan 3059: Der transuniversale Keil

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