Читать книгу Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi - Страница 59

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Der Regenguß dauerte nicht lange, und als Wronski in vollem Trabe des Deichselpferdes, das die schon ohne Lenkriemen durch den Schmutz dahingaloppierenden Seitenpferde mit sich zog, in Peterhof ankam, schaute die Sonne schon wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der Hauptstraße blitzten in nassem Glanze, und das Wasser tropfte lustig von den Zweigen und rann von den Dächern herunter. Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen die Rennbahn verderbe, sondern jetzt freute er sich darüber, daß er dank diesem Regen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause treffen werde, und zwar allein, da er wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, der erst kürzlich vom Auslande aus dem Bade zurückgekehrt war, es vorgezogen hatte, nicht nach Peterhof hinauszuziehen, sondern in Petersburg wohnen zu bleiben.

In der Hoffnung, sie allein zu finden, fuhr Wronski, wie er das stets zu tun pflegte, um weniger die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht über die kleine Brücke hinüber, sondern stieg vorher aus und ging zu Fuß. Er benutzte nicht die nach der Straße zu gelegene Haustür, sondern ging über den Hof.

»Ist der Herr gekommen?« fragte er den Gärtner.

»Nein. Aber die gnädige Frau ist zu Hause. Haben Sie die Güte, nach der Vordertür zu gehen; es sind Leute von der Dienerschaft da, die Ihnen öffnen werden.«

»Nein, ich möchte durch den Garten gehen.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein sei, wurde in ihm der Wunsch rege, sie vollständig zu überraschen, da er nicht versprochen hatte, heute zu kommen, und sie gewiß nicht dachte, daß er vor dem Rennen noch herüberfahren werde. So ging er denn, den Säbel festhaltend, mit vorsichtigen Schritten auf dem mit Blumen eingefaßten Kieswege nach der Terrasse hin, die nach dem Garten zu lag. Er hatte jetzt alles vergessen, was ihm unterwegs über die Peinlichkeit und Schwierigkeit seiner Lage durch den Sinn gegangen war. Er dachte jetzt nur an eines: daß er sie im nächsten Augenblicke sehen werde, nicht allein in der Einbildung, sondern lebend und ganz, so, wie sie in Wirklichkeit war. Er ging bereits, mit dem ganzen Fuße auftretend, um kein Geräusch zu verursachen, die abgeschrägten Stufen der Terrasse hinan, als ihm plötzlich etwas einfiel, was er immer vergaß und was doch die schmerzlichste Seite in seinen Beziehungen zu ihr bildete: ihr Sohn mit seinem fragenden und, wie es ihm vorkam, feindseligen Blicke.

Dieser Knabe war ihrem Verkehr häufiger als alle anderen Personen hinderlich. Sobald er zugegen war, erlaubten sich weder Wronski noch Anna, etwas zu sagen, was sie nicht vor aller Ohren hätten wiederholen können, ja, sie erlaubten sich nicht einmal, von den Dingen, die der Knabe doch nicht verstanden hätte, auch nur in Andeutungen zu reden. Sie hatten sich darüber nicht miteinander verabredet, sondern das hatte sich ganz von selbst so gemacht. Sie hätten es ihrer selbst für unwürdig gehalten, dieses Kind zu täuschen. In seiner Gegenwart sprachen sie miteinander, als ob sie nur ein paar Bekannte wären. Aber trotz dieser Vorsicht merkte doch Wronski häufig, daß der Knabe einen aufmerksamen, verwunderten Blick auf ihn richtete und eine eigentümliche Schüchternheit gegen ihn zeigte oder vielmehr sich ganz ungleichmäßig ihm gegenüber benahm, bald freundlich, bald kühl und blöde. Es war, als hätte das Kind eine Empfindung dafür, daß zwischen diesem Manne und seiner Mutter irgendwelche wichtige Beziehung bestehe, deren Bedeutung es nicht verstehen könne.

Und wirklich fühlte der Knabe, daß er diese Beziehung nicht verstehen könne; er strengte sich an, sich darüber klarzuwerden, welches Gefühl er diesem Manne gegenüber haben müsse, konnte aber nicht damit ins reine kommen. Mit der Feinfühligkeit des Kindes sah er klar, daß sein Vater, seine Gouvernante, seine Wärterin, alle jenen Mann nicht leiden konnten, ja mit Abneigung und Furcht auf ihn blickten, wiewohl sie nichts über ihn sagten, daß aber seine Mutter in ihm ihren besten Freund sah.

›Was hat das zu bedeuten? Was für ein Mann ist das? Wie soll ich ihn lieben? Wenn ich das nicht verstehe, so ist das gewiß meine Schuld, und ich bin entweder ein dummer oder ein unartiger Junge‹, dachte das Kind, und daher kam jener forschende, fragende, oft feindselige Ausdruck und die Scheu und die Ungleichmäßigkeit des Benehmens, durch die Wronski sich so peinlich berührt fühlte. Die Gegenwart dieses Kindes rief jedesmal und unvermeidlich bei Wronski jenes sonderbare Gefühl eines Ekels ohne eigentlichen Gegenstand hervor, das er in der letzten Zeit so oft empfunden hatte. Die Gegenwart dieses Kindes weckte bei Wronski und bei Anna ein Gefühl, wie es ein Seefahrer haben mag, wenn er am Kompaß sieht, daß die Richtung, in der sein Schiff schnell dahinfährt, von der ordnungsmäßigen weit abweicht, sich aber sagen muß, daß es nicht in seiner Macht liegt, die Bewegung zu hemmen, daß jede Minute ihn mehr und mehr abtreibt und daß das Einwilligen in die Abweichung von der ordnungsmäßigen Richtung gleichbedeutend ist mit dem Einwilligen in seinen Untergang.

Dieses Kind mit seinem naiven, ungetrübten Blicke für das Leben war der Kompaß, der ihnen den Grad der Abweichung von dem Wege der Pflicht angab, von dem Wege, den sie zwar kannten, aber nicht kennen wollten.

Aber diesmal war der kleine Sergei nicht zu Hause, und sie war völlig allein; sie saß auf der Terrasse und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes, der spazierengegangen und dabei vom Regen überrascht worden war. Sie hatte einen Diener und ein Mädchen ausgeschickt, um ihn zu suchen, und saß nun da und wartete. Sie trug ein weißes Kleid mit breiter Stickerei und saß in einer Ecke der Terrasse hinter blühenden Gewächsen und hörte den herankommenden Wronski nicht. Den schwarzlockigen Kopf vorbeugend, preßte sie die Stirn gegen eine kalte Gießkanne, die auf dem Geländer stand, und hatte ihre beiden schönen Hände mit den ihm so wohlbekannten Ringen um die Gießkanne gelegt. Die Schönheit ihrer ganzen Gestalt, des Kopfes, des Halses, der Arme überraschte Wronski jedesmal wie etwas Neues, Unerwartetes. Er blieb stehen und betrachtete sie voll Entzücken. Aber kaum schickte er sich an, auf der Terrasse einen Schritt zu tun, um sich ihr zu nähern, als sie auch schon seine Annäherung bemerkte, die Gießkanne zurückstieß und ihm ihr heißes Gesicht zuwandte.

»Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl?« fragte er auf französisch, indem er zu ihr hintrat. Er hatte auf sie zustürzen wollen; aber da ihm einfiel, daß es möglicherweise jemand sehen könnte, blickte er nach der Verandatür und errötete, wie er jedesmal errötete, wenn er fühlte, daß er auf seiner Hut sein und sich umschauen müsse.

»Nein, ich bin ganz gesund«, antwortete sie, indem sie sich erhob und die Hand, die er ihr hinstreckte, kräftig drückte. »Ich hatte dich nicht erwartet.«

»Mein Gott, was für kalte Hände!« sagte er.

»Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich bin allein und warte auf meinen kleinen Sergei; er ist spazierengegangen; sie müssen von dieser Seite kommen.« Aber obwohl sie sich alle Mühe gab, ruhig zu sein, zitterten doch ihre Lippen.

»Verzeihen Sie mir, daß ich gekommen bin; aber ich konnte den Tag nicht hingehen lassen, ohne Sie zu sehen«, fuhr er auf französisch fort; dieser Sprache bediente er sich stets, um einerseits das zwischen ihnen unmögliche kühle russische Sie, anderseits das gefährliche russische Du zu vermeiden.

»Was ist denn zu verzeihen? Ich freue mich ja so!«

»Aber Sie sind nicht wohl, oder Sie haben einen Kummer«, fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, und beugte sich über sie. »Woran haben Sie gedacht?«

»Immer an ein und dasselbe«, antwortete sie lächelnd.

Sie sagte die Wahrheit. Man hätte sie fragen können, wann man wollte, woran sie denke, immer hätte sie wahrheitsgemäß antworten können, sie denke an ein und dasselbe, an ihr Glück und an ihr Unglück. So hatte sie gerade jetzt, wo er zu ihr getreten war, daran gedacht, warum doch andere Frauen, zum Beispiel Betsy (sie wußte von deren geheimem Verhältnis zu Tuschkewitsch), von all dergleichen so gar keine Sorgen hatten, während sie deswegen solche Qual ausstehen mußte. Heute hatte dieser Gedanke, aus bestimmtem Anlaß, sie ganz besonders gepeinigt. Sie fragte ihn nach dem Rennen. Er antwortete ihr, und da er sah, daß sie erregt war, so begann er, in der Absicht, sie zu zerstreuen, ihr im allerharmlosesten Tone Einzelheiten von den Vorbereitungen zum Rennen zu erzählen.

›Soll ich es ihm sagen oder nicht?‹ dachte sie, während sie in seine ruhigen, freundlichen Augen blickte. ›Er ist so glücklich, so ganz mit seinem Rennen beschäftigt, daß er meine Nachricht nicht in der gehörigen Weise auffassen, nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses für uns verstehen wird.‹

»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, woran Sie dachten, als ich kam«, sagte er, sein Erzählen unterbrechend. »Bitte, sagen Sie es mir!«

Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn, den Kopf ein wenig vorneigend, von unten her mit ihren schönen, durch die langen Wimpern hindurchleuchtenden Augen fragend an. Ihre Hand, die mit einem abgerissenen Blatte spielte, zitterte leise. Er sah dies, und sein Gesicht nahm den Ausdruck jener Ergebenheit, jener sklavischen Unterwürfigkeit an, der von jeher einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte.

»Ich sehe, daß etwas vorgefallen ist. Kann ich etwa auch nur einen Augenblick ruhig sein, wenn ich weiß, daß Sie einen Kummer haben, den ich nicht mit Ihnen teilen darf? Um Gottes willen, reden Sie!« bat er noch einmal in flehendem Tone.

›Ja‹, dachte sie, während sie ihn immer noch ebenso anblickte und fühlte, daß ihre Hand mit dem Blatte immer stärker zitterte, ›ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstehen sollte. Es ist besser, wenn ich nichts sage; wozu soll ich ihn auf die Probe stellen?‹

»Um Gottes willen, reden Sie!« drängte er von neuem, indem er ihre Hand ergriff.

»Soll ich es sagen?«

»Ja, ja, ja!«

»Ich bin in anderen Umständen«, sagte sie leise und langsam.

Das Blatt in ihrer Hand zitterte immer heftiger, aber sie wandte die Augen nicht von Wronski ab, um zu sehen, wie er diese Mitteilung aufnehmen werde. Er erblaßte, wollte etwas erwidern, hielt aber inne, ließ ihre Hand los und senkte den Kopf. ›Ja, er hat die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstanden‹, dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.

Trotzdem irrte sie sich in der Annahme, daß er die Bedeutung dieser Nachricht in derselben Weise verstehe, wie sie sie als Frau verstand. Bei dieser Mitteilung hatte er mit verzehnfachter Stärke einen Anfall jenes sonderbaren, ihn mitunter überkommenden Gefühls des Ekels gegen irgend jemand erlitten; aber zugleich hatte er erkannt, daß jene Krisis, die er herbeigewünscht hatte, jetzt eingetreten war, daß es unmöglich war, die Sache länger vor dem Ehemanne zu verheimlichen, und daß mit Notwendigkeit dieser unnatürlichen Lage bald auf die eine oder andere Weise ein Ende gemacht werden müsse. Aber außerdem war ihre Erregung in physischer Hinsicht auch auf ihn übergegangen. Er sah sie mit einem Blicke voll Rührung und Ergebenheit an, küßte ihr die Hand, stand auf und ging schweigend auf der Terrasse auf und ab.

»Ja«, sagte er dann, indem er entschlossen zu ihr trat. »Weder Sie noch ich haben unser Verhältnis als eine Spielerei betrachtet, und jetzt ist unser Schicksal entschieden. Diesem Lügenspiel, in dem wir leben, müssen wir unbedingt ein Ende machen«, äußerte er, sich nach allen Seiten umschauend.

»Ein Ende machen? Wie sollen wir ein Ende machen, Alexei?« fragte sie leise. Sie hatte sich jetzt beruhigt, und auf ihrem Gesichte strahlte ein zärtliches Lächeln.

»Du mußt deinen Mann verlassen und dein Leben mit dem meinen vereinigen.«

»Es ist auch so schon vereinigt«, antwortete sie kaum hörbar.

»Ja, aber völlig, völlig.«

»Aber wie soll ich das machen, Alexei? Belehre mich, wie ich das machen soll«, sagte sie mit trübem Spott über die Trostlosigkeit ihrer Lage. »Gibt es denn einen Ausweg aus einer solchen Lage? Bin ich denn nicht die Frau meines Mannes?«

»Aus jeder Lage gibt es einen Ausweg«, erwiderte er. »Man muß sich nur zu einem Entschlusse aufraffen. Alles ist besser als die Lage, in der du jetzt lebst. Ich sehe ja, wie du dich um alles quälst, um die Meinung der Welt und um deinen Sohn und um deinen Mann.«

»Ach, um meinen Mann nicht«, sagte sie mit einem ungezwungenen Lächeln. »Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ich denke gar nicht an ihn. Er ist für mich nicht vorhanden.«

»Du sprichst nicht aufrichtig. Ich kenne dich. Du quälst dich auch um ihn.«

»Aber er weiß ja von nichts«, erwiderte sie, und plötzlich stieg ihr eine tiefe Röte ins Gesicht; Wangen, Stirn und Hals wurden dunkelrot, und Tränen der Scham traten ihr in die Augen. »Wir wollen gar nicht von ihm sprechen.«

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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