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2 - Rom
ОглавлениеPATER DIETER MORGENSCHWEISS SASS AUF DER BETTKANTE seines Zimmers im Hotel Fornesino. Durch die Vorhänge konnte er die Ponte Milvio und die Kuppel des Petersdoms sehen. Seltsamer Weise hatte dieser Ausblick für ihn allerdings nicht mehr die gleiche Qualität wie gestern. Überhaupt war heute alles anders. Er hätte gerne mit jemandem über diese Sache gesprochen, aber das kam nicht in Frage. Seiner Schwester in Köln hatte er lediglich mitgeteilt, dass er eine Reise nach Russland machen würde und dass er nicht darüber sprechen wolle. Sie war beunruhigt gewesen. Hätte er jedoch gesagt, dass er nicht darüber sprechen dürfe, hätte sie sicher versucht, ihn auszuquetschen. Und das brauchte er jetzt ganz sicher nicht.
Warum Sibirien, warum Vassilian? Er hatte schon von diesem selbsternannten Heiland gehört. Kopfschüttelnd erinnerte er sich an die Dokumentation auf Youtube. Ein junger Journalist hatte die Stadt des Himmels besucht, wo sich die Anhänger Vassilians angesiedelt hatten. Mit versteckter Kamera filmte er die Bergpredigt, dann bekam er die Erlaubnis zu einem Interview mit dem sibirischen Messias. Morgenschweiß hatte sich gewundert, dass Jesus das Wagnis einging, sich ablichten zu lassen. War es denn nicht viel zu riskant, dass ein kleiner Fauxpas beim Drehtermin das Bild des Messias nachhaltig beschädigte? Wollte man denn wirklich für alle Ewigkeit im Internet die Hautunreinheiten des Erlösers in HD-Qualität sehen, sich darüber wundern, warum Jesus sich beim Rasieren geschnitten oder warum er sich die Nasenhaare nicht gestutzt hatte? Dunkle Augenringe, Warzen, eingetrockneter Speichel in den Mundwinkeln, halb zugewachsene Piercing-Löcher in den Ohrläppchen - all das war doch gefundenes Fressen für zynische, unesoterische Zeitgenossen und Nährboden für Verunglimpfungen aller Art.
Und wie es der Teufel wollte, sah man auf den Aufnahmen nicht nur den Messias, sondern auch zwei seiner Getreuen, die wohl darüber wachen sollten, dass der Journalist die richtigen Fragen stellte und einer der langhaarigen, nachlässig Gekleideten, die im Hintergrund lümmelten, biss an seinen Nägeln rum. Vorne der Messias, Jesus von Nazareth leibhaftig, in aufrechter Haltung, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, mit gütig-salbungsvollem Blick, der versucht, die peinlichen Fragen des Journalisten wie: Warum haben Sie als einziger ein Auto, wenn in der Stadt des Himmels generelles Verbot für Fahrzeuge aller Art besteht?, zu beantworten, ohne die Contenance zu verlieren und hinter ihm sitzen mit hängenden Schultern und ungewaschenen Haaren seine Nächsten, zwei seiner Jünger, und einer kaut an den Fingernägeln. Passte das denn zum Bild des Wiedergekehrten, der die Last der sündenbeladenen Menschheit auf seine Schultern nahm? Würde Leonardos Abendmahl noch heute das Refektorium das weltberühmten Dominikanerklosters schmücken, wenn die Apostel nicht in just dem Moment, in dem der Meister von Pinsel und Perspektive sie verewigt hatte, auf den Griff in den Schritt oder das Bohren in der Nase verzichtet hätten?
Mal ganz abgesehen davon, dass an der Wand des sibirischen Jesus-Hauses (Das Interview wurde auf der Terrasse gedreht) ein Verschalungsbrett runterhing. Wäre das nicht dem echten Jesus, seines Zeichens Zimmermann, ein Dorn im Auge gewesen? Hätte nicht der Heiland von heute schnurstracks zum Akkuschrauber gegriffen, um den bautechnischen Missstand mit Wasserwaage und Kreuzschlitzschrauben aus der Welt zu schaffen? Also: Fragen über Fragen, die sich Morgenschweiß nicht beantworten konnte.
Und warum schickte man Morgenschweiß zu Vassilian und nicht zu einem der anderen Jesusse? Er, Morgenschweiß, war doch sicher nicht der einzige Priester, der Russisch und Hindi fließend sprach und überhaupt, wozu? Er las das Dossier in aller Ruhe.
An Vassilian kamen nur auserwählte Gäste nahe heran. Und da Vassilian einen starken Bezug zu Indien und dem indischen Guru Saj Ba hatte und Morgenschweiß´ Mutter Inderin war, passte schon alles irgendwie zusammen. Sein Auftrag lautete, sich in der Rolle als Saj Ba nahestehender indischer Guru für Vassilian unentbehrlich zu machen, um überhaupt in dessen näheren Kreis aufgenommen zu werden und festzustellen, ob in Vassilians Umfeld Wunder geschahen. Falls dem so wäre, hätte er dies unverzüglich in seinem wöchentlichen Memo Kardinal Bonboni mitzuteilen.
Vassilian hatte sich vor zehn Jahren am Tagasuk-See nahe Krasnojarsk in Sibirien angesiedelt. Nahe bedeutete in diesem Zusammenhang zwei Tagesreisen mit dem Auto. Innerhalb weniger Wochen gelang es dem charismatischen Messias, knapp fünfzig Jünger um sich zu scharen, wobei nicht klar war, ob diese von Anfang an Vassilian als Heilsbringer sahen oder ob sie lediglich von seiner Idee für eine Ökosiedlung in der unendlichen Weite der Taiga fasziniert waren. Vassilian stammte aus Tscheljabinsk und hatte bis zu dem Moment als Taxifahrer gearbeitet, als der Herr ihm das Zeichen sandte, seine Schäflein um sich zu versammeln und zu verkünden, der Sohn Gottes sei zurückgekehrt, um die wenigen Gerechten an einem abgelegenen Ort in Ostsibirien zusammenzuführen. Er hatte es irgendwie geschafft, seine wenigen Anhänger in Tscheljabinsk mit seiner Euphorie anzustecken, so kratzten diese all ihre Ersparnisse zusammen und gründeten die Siedlung am abgelegenen Tagasuk-See mitten im moskitoverseuchten borealen Waldgebiet Ostsibiriens. Die ersten zehn ernannte er zu seinen Jüngern, die erste Siedlung nannten sie Stadt des Himmels und die erste Versammlung hieß die Verkündung der letzten Wahrheit.
Mit den Gerüchten über Wunder da und dort zogen mehr und mehr Gläubige in die Stadt des Himmels, nach zwei Jahren waren es bereits eintausend, die den Bauern der Gegend ihre Häuser und Gehöfte abkauften, so dass diese in entferntere Gegenden oder in größere Städte abwanderten. Vassilian war sehr belesen, insbesondere die Lehre des indischen Gurus Saj Ba floss in Vassilians Testament der letzten Wahrheit ein und bald darauf wurde am Tagasuksee auch eine neue Zeitrechnung eingeführt, natürlich beginnend mit dem Geburtstag Vassilians. Also schrieb die Kirche der letzten Wahrheit das Jahr 47, als Pater Dieter Morgenschweiß aus Köln kopfschüttelnd auf seinem Bett im römischen Hotel Fornesino saß und seine Chancen abwog.
Wenn er es, was ihm lachhaft erschien, mit dem Messias zu tun hatte, käme ihm dann wohl die Rolle des Judas zu, wenn er ihn an seine Vorgesetzten verriet. Gott allein wusste, was die im Vatikan dann wohl mit Vassilian anstellen würden. Wenn es sich um Scharlatanerie handelte, so würde Morgenschweiß später der Makel anhaften, nicht im ersten Moment erkannt zu haben, nicht den Sohn Gottes vor sich zu haben. Denn so viel musste klar sein: Als Geistlicher sollte man doch wohl den Heiland bei der ersten Begegnung erkennen können. Oder doch nicht? Und somit kam als dritte Variante die Möglichkeit ins Spiel, dass sie es mit dem Heiland zu tun hatten und Morgenschweiß dies nicht erkannte. Ach ja, und dann gab es noch die Möglichkeit seiner Exkommunikation, falls auch nur das kleinste Detail seines Auftrags ans Tageslicht kam. Diese Aussicht war dann wohl das geringste Übel. Er hätte es nicht geglaubt, wenn irgendjemand Morgenschweiß vor vierundzwanzig Stunden eröffnet hätte, dass seine Zukunft sich so gestalten würde und die beste Variante seines zukünftigen Lebens die eines unehrenhaft aus der heiligen Mutter Kirche Verstoßenen war.
Die weiteren Anweisungen, die in dem Kuvert enthalten waren, bezogen sich auf sein Auftreten vor Ort. So oder so wurde er zum Verstoß gegen das achte Gebots aufgefordert, was ihn zu einem Lügner machen würde. Es bestand keine Möglichkeit, den Auftrag abzulehnen. In vage umrissenen Drohungen wurde ihm klargemacht, was passieren würde, wenn er nicht nach Ostsibirien fuhr. Und man wollte nichts von ihm wissen, falls die Sache - mit oder ohne sein Verschulden - aufflog.
Er stand auf. Ein Schwächegefühl, ähnlich dem, das einen grippalen Infekt begleitet, ließ ihn zum Fenster torkeln. Er zog die Vorhänge zur Seite. Der Himmel über dem Petersdom war strahlend blau, so dass ihn Ekel überkam. Er zog den Vorhang wieder zu und schlurfte ins Bad. Er war groß, einsachtundachtzig, viel gereist und wie so oft zuvor fragte er sich, was die Ausstatter von Hotels sich eigentlich dabei dachten, die Spiegel so niedrig zu montieren, dass sich Gäste seiner Statur lediglich vom Kinn an abwärts darin sehen konnte.
Er beugte leicht die Knie und da war es wieder: Etwas, das einfach nicht authentisch war - sein Gesicht. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals das Gefühl gehabt zu haben, sein Spiegelbild als authentisch zu erleben. Das war nie er selbst. Es beschlichen ihn seltsame Gefühle, wenn er sich betrachtete und er vermied stets, zu lange dem eigenen Blick im Spiegel standhalten zu müssen. So mochte es Tieren ergehen, die ihr Spiegelbild erkennen und nicht erkennen. Eine Täuschung, eine Fata Morgana, etwas Vorgegaukeltes und doch das Abbild von etwas - wenn auch weit entfernt – Existierendem. Manchmal fragte er sich, warum er sich selbst nicht erkennen konnte oder wollte und es entspann sich beim Rasieren jedes Mal aufs Neue ein innerer Dialog zwischen ihm und der seitenverkehrten Wiedergabe seines Gesichts.
Die Wirklichkeit war unwirklicher als die Unwirklichkeit, das stand für ihn außer Frage und er hätte gerne gewusst, ob andere wohl auch so empfanden. Ein Blick in seine eigenen Augen lieferte ihm keine Antworten über sein Leben. Hatte es damit zu tun, dass man sich immer nur spiegelverkehrt sah? Er wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dieses ständige Hinterfragen zu vermeiden. Er näherte sich dem Spiegel, so dass sein Atem unterhalb seiner Nasenspitze eine Spur von Kondensat hinterließ. Eigentlich hatte er an seinem Äußeren nichts auszusetzen: Mit siebenundvierzig Jahren hatte er noch volles, schwarzes Haar, das dicht, kurz und gescheitelt einen schönen Kontrast zu seinen dichten Augenbrauen bildete. Sein schmales Gesicht besaß eine Nase, die wie gemeißelt wirkte und das Kinn mit leichtem Grübchen war sicherlich attraktiv, lediglich seine Ohren standen etwas ab und der Adamsapfel stand unnötig weit vor. Dennoch kam ihm dieser Mensch im Spiegel nicht authentisch vor.
Morgenschweiß ging zum Bett zurück, riss sich die Soutane vom Leib, zog Schuhe und Socken aus und zwirbelte sich die Brustwarzen. Sofort regte sich etwas unter der Gürtellinie. Er öffnete den Koffer, griff in ein kleines schmales Seitenfach und holte die halterlosen Strümpfe hervor. Er hatte sich extra für diese Reise ein Paar in schwarz und ein Paar elfenbeinfarbene gekauft. Da er noch eine Stunde Zeit hatte, bevor er zum Flughafen musste, nahm er die elfenbeinfarbenen und zog sie vorsichtig an. Einen Augenschlag später war jegliche Verzweiflung verflogen. Er ging zurück ins Bad und betrachtete seine zugegebenermaßen wohlproportionierten bestrumpften Beine. Er liebte es, mit den Fingerspitzen über die Strümpfe zu streichen, seinen Hintern sanft zu berühren und immer wieder seine Brustwarzen zu erregen. An seinem Spiegelbild störte ihn nichts mehr.