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Der Türmer Palingenius
Von Karl Hans Strobl

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I.

uf dem höheren der beiden Türme des Domes über dem alten verräucherten Viertel hauste Heinrich Palingenius, der Türmer, mit seiner Tochter Regina und der alten Johanna. Er hauste, denn nach Art der Eulen und Krähen hatte er sein Nest unzugänglich zu machen gewusst, zu einem Horst, in den er — mit einer einzigen Ausnahme — keinen Fremden zuließ. Wie er von der Welt verlangte, dass sie seine Ruhe nicht störe, ebenso trug auch er kein Verlangen, von seinem Turm hinabzusteigen, und seit er zum letzten Mal in der Stadt unten gewesen war, waren dreizehn Jahre verflossen. Damals begleitete er den Sarg seines Weibes hinaus, und als er finster und ohne eine Träne zurückkehrte, zählte er die Stufen bis zur Höhe seines Horstes. Über der hundertsten malte er ein schwarzes Kreuz an die Wand, und bis zu diesem Kreuze hinab erstreckte sich von nun an sein Reich. Bis zu dieser hundertsten Stufe hinan ging noch die Brandung der Welt; durch die Fensterluken der Treppe, durch die alten, an Luntenbüchsen und bleierne Feldschlangen erinnernden Schießscharten drang der Lärm der Straße, das Gebimmel der elektrischen Bahn, das Geschrei des Marktes, das, wiewohl durch das stillere Viertel um den Dom gedämpft, dennoch über diese Zone hinweg zu einem gleichmäßigen, starken Schwall verwoben, den Atem der Stadt bis hierher trug. Von der hundertsten Stufe an aber wurde das Brausen zu einem Summen, und ganz oben war es nicht anders wie das Gemurmel eines fernen Meeres, dem keine Macht mehr gegeben ist, die Ruhe aufzurütteln. Seitdem war der Turm einmal innen und außen restauriert worden, und die Maurer hatten sich besondere Mühe gegeben, das unheimliche Kreuz, dessen Bedeutung ihnen fremd war, zu übertünchen. Als sie aber mit der Arbeit zu Ende waren, ging Heinrich Palingenius bis zu den Grenzen seines Reiches hinab und erneuerte sein Grenzzeichen, dass es noch greller als zuvor von der weißen Wand abstach. Wenn seine Tochter und die alte Johanna zur Stadt hinabstiegen, um das Grab der Mutter auf dem großen Friedhof der Stadt zu besuchen, folgte ihnen der Türmer mit seinem Fernrohr. Durch das auf der Brüstung der Turmgalerie angeschraubte Rohr beobachtete Palingenius die Straße, die aus dem Gewirr der Vorstädte zum Friedhof führte. Dort mussten die beiden, die er in den Gassen unten verloren hatte, wieder auftauchen. Und in dem Augenblick, in dem sie in das Gesichtsfeld des Fernrohres traten, wandten die zwei den Kopf und grüßten den Alten mit einem Nicken und einem Winken der Hand. Heinrich Palingenius nickte und winkte zurück, obzwar er wusste, dass man nichts von seinem Gruß sehen konnte. Dann folgte er ihnen mit dem Fernrohr, begleitete sie auf dem Weg bis zum Friedhof, sah sie an dem Einkehrwirtshaus, vor dem immer die Wagen der Bauern standen, vorbeigehen, sah die Wagen der elektrischen Bahn an ihnen vorbeirollen und ging mit ihnen bis zu dem weißen Hause des Totengräbers, unter dessen Torbogen sie verschwanden; sah sie dann wieder zwischen Gräbern hervorkommen, die Straßen der Toten entlang gehen und endlich vor einem Grab stehen bleiben. Er wusste genau, ob über diesem Grab schon der Flieder blühte, ob die Blumen auf dem Hügel schön standen, ob die Blätter über das schlichte Eisenkreuz hintanzten und ob der Schnee nicht allzu schwer drückte. Die Zurückkehrenden brauchten ihm darum nichts zu erzählen. Aber niemals versäumte es Regina, zu dem Vater hinzutreten und ihn mit warmen Lippen auf die Stirne zu küssen. Sie brachte ihm den Gruß der Toten.

Heinrich Palingenius liebte seine Tochter und die alte Johanna mit der großen Liebe, die er nun nicht mehr seinem Weib zuwenden konnte. Aber neben ihnen liebte er auch seinen Turm, wie man die Heimat liebt, die man niemals verlassen hat. Wie man die Erde liebt, aus der man hervorgegangen ist. Seit er denken konnte, wohnte er hier oben, und seine frühesten Erinnerungen sahen ihn neben dem Vater den Horizont absuchen, ob nirgends ein seiner den Besitz der Menschen da unten bedrohe. Es war ihm, als sei er ein Geschöpf des Turmes, und auch Regina und die alte Johanna umschloss die gemeinsame Verwandtschaft. Die Geschichte des Turmes war ihm ein Stück seiner eigenen Vergangenheit. Er hatte alle Aufzeichnungen gesammelt, die über ihn zu finden waren, die kurzen Hindeutungen der Chroniken, die Sagen, die sich an seine Erbauung knüpften, von der Wette, die dem Baumeister das Leben gekostet hatte, von dem Kind, das man lebend in das Fundament eingemauert hatte, um dem Turm Bestand zu geben, und dessen Wimmern man in den stürmischen Nächten des Herbstäquinoktiums noch immer hören konnte. Von dem pflichtvergessenen Türmer, der im Schlafe eines schweren Rausches ein Feuer nicht gemeldet hatte, das nächtlings um sich greifend die halbe Stadt in Trümmer legte. Man hatte ihn gebunden in den Uhrkasten gelegt, wo er von den ungeheuren Rädern mit den grimmigen Zähnen gepackt und zermahlen, von den schweren Gewichten zerstampft wurde. Seine zerbrochenen Knochen, sein zerfetztes Fleisch hatte man vom Turm hinabgeworfen, und die Hunde hatten sich um die Bissen gebalgt. Aber in der Dreikönigsnacht konnte man im Uhrkasten noch immer das Brechen der Knochen, das Röcheln des Gemarterten hören, während die Uhr ihren gleichmäßigen, schweren Schlag weiter ging. Auch die Geheimnisse der Glocken waren in diesem Buche, aus dem Palingenius an Winterabenden vorzulesen pflegte, aufgezeichnet; von der großen Susanna, die mit Blut getauft worden war, von der Viktoriaglocke, die man aus dem Metall erbeuteter schwedischer Kanonen gegossen hatte.

Damals war der Turm noch höher gewesen als heute, und er musste mit dem hohen Helm machtvoll hinausgesehen haben, wenn selbst sein Stumpf noch so stolz über die Stadt aufstieg.

Aber die schwedischen Kanonen, dieselben, die dann ihr Metall für die Viktoriaglocken geben mussten, hatten, nachdem sie den Zwillingsbruder des Turmes fast bis an das Schiff des Domes herab abgetragen hatten, auch den stolzen Helm herabgeschossen und die Mauern durchlöchert. Nach dem Sieg begann man wohl wieder an seiner Herstellung zu arbeiten, aber das Geld war rar geworden in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, den Bauherren ging der Atem aus, Feuersbrünste leckten dreimal an seinen Quadern, und wenn sie auch den Turm selbst nicht stürzen konnten, so vernichteten sie doch einen Teil des schon Erbauten. Alles das stand in des Heinrich Palingenius großem Folioband vom Turme, und die Rechnungen der Baumeister, die Pläne für die Wiederherstellung lagen bei jedem Punkte dabei wie in einem mit äußerster Sorgfalt geführten Archiv.

Ein seltsamer Brauch gab dem Turm ein seltsames Aussehen. So oft einer der Domherren starb, wurde eine der Quadern an der Außenseite des Turmes weiß gestrichen. Nun sah der Turm mit seinen weißen Würfeln einem großen Kasten gleich, dessen Flächen von ungeheuren Schachbrettern gebildet sind. Heinrich Palingenius ließ es sich nicht nehmen, wenn er das Zügenglöcklein geläutet und nach drei Tagen für den Verstorbenen den Donner der großen Susanna gelöst hatte, selbst auf das schwankende Brett hinauszukriechen und an den schaukelnden Seilen von einer Fensterluke aus festgehalten mit grobem Pinsel die Quader des neuen Toten zu überweißen. Dieser Arbeit widmete er eine treue Sorgfalt. Nichts kam der stillen Wehmut gleich, mit der er von seinem Sitze auf die gewürfelten Mauern unter sich herabsah, die in einer Flucht von stürzenden Linien zur Erde zu sinken und das Andenken an alle diese Hunderte von Toten mit sich herabzureißen schienen, als gäbe selbst dieser unverwüstliche Bau keine Ewigkeit des Gedächtnisses. Auch dies stand in dem Buche vom Turm: wer alle die Toten waren, um derentwillen man die Quadern des Turmes weiß getüncht hatte. Mit allen ihren Namen, Würden und Verdiensten standen sie hier verzeichnet; und hinter jedem von ihnen sagte ein kleines schwarzes Kreuz dasselbe, das Wort vom gemeinsamen Schicksal aller, so dass es war, als lese man eine Liste ab, eine Litanei, auf die mit eintöniger Stimme immer das gleiche geantwortet werde. Dann stand eine Zahl daneben, und die zeigte an, welche Quader dem Toten gehörte. So genau wusste Heinrich Palingenius in diesem Verzeichnis Bescheid, dass er, aus dem Schlaf aufgeweckt, zu jeder Zahl sofort den dazugehörigen Namen, zu jedem Namen augenblicks seine Zahl genannt hätte.

Aber neben dem Turm gab es noch eines, das ihn erfüllte. Heinrich Palingenius war ein Genie der Mechanik. Seinem Vater hatte er an langen Winterabenden tausend Kunstgriffe und Geschicklichkeiten abgelernt, zu denen er eigene Erfahrungen und Verbesserungen fügte, so dass er jetzt eine Meisterschaft erreicht hatte. Wenn der Vater noch bloß zur Unterhaltung, zum Vertreib müßiger Stunden harmlose Spielereien angefertigt hatte, so waren die kleinen Kunstwerke des Sohnes fast niemals ohne tieferen Sinn. Hier saß er, oben, hoch über der Stadt, und hatte schon dreizehn Jahre die durch ein schwarzes Kreuz bezeichnete Grenze seines Reiches nicht überschritten. Aber seine mechanischen Figuren, die geheimnisvollen Maschinen, die Kästchen, die mit Walzen Rädern, Spulen und Triebfedern erfüllt waren, hatten Beziehung auf die Bedürfnisse der Menschen da unten, auf ihre Wünsche und ihre Strebungen. Manchmal erfuhr Palingenius durch seine Tochter oder die alte Johanna, die ihn mit der Welt verbanden, von neuen Erfindungen, durch die man wieder einmal verblüfft war. Das waren Augenblicke des Triumphes. Nie war der Türmer glücklicher, als wenn er, nachdem er schmunzelnd den Bericht bis zu Ende gehört hatte, aus seinen Schätzen ein Modell hervorholen konnte, um daran nachzuweisen, dass er diese Erfindung schon vorher gemacht hatte. Ihm offenbarte sich die geheime Kette der Assoziationen, in denen die Erfindungen vorwärts schreiten, und er vermochte, als sei ihm der Gang der Entwicklung klar aufgedeckt, vorherzusagen, was nun an der Reihe sei, erfunden zu werden. Das Zimmer neben dem Wohnraum war Werkstatt und Museum. Im beschränkten Raum lagen die Maschinen und Modelle in den Ecken übereinander, die feineren Kunstwerke waren in Glasschränken aufbewahrt, von der Decke hingen die seltsamsten Dinge herab, und wenn die Spitze des Turmes im Gewitter bebte, dann schwankten die hängenden Maschinen und schlugen gegeneinander, dass Holz und Eisen klapperten. Für die elektrischen Batterien hatte Palingenius Nischen in den Wänden angebracht, und ein höchst sinnreiches System von Schachtelungen erlaubte ihm in diesem Zimmer dreimal so viel unterzubringen, als eigentlich darin hätte Platz finden können. Nachdem Palingenius einmal die Triumphe seines Prophetentums in Angelegenheiten der Mechanik gekostet hatte, trieb ihn der Ehrgeiz immer weiter. Nun arbeitete er schon seit Jahren an der Flugmaschine. Er war entschlossen, sie früher zu erfinden als die Menschen da unten, und oft genug stand er, wenn er schon einen ganzen Tag in seiner Werkstatt gearbeitet hatte, auch nachts auf, um eine Idee des Traumes aufzuzeichnen. Der Traum vom Fliegen, das seltene Glück anderer Menschen, war bei ihm das Ereignis fast einer jeden Nacht. Immer erwachte er durch einen Sturz, aber er beeilte sich, rasch festzuhalten, was er an neuen Eindrücken aus diesem Traum gewonnen hatte. Und er übertrug die Erfahrungen seiner Träume in die Wirklichkeit, so dass in der Werkstatt langsam eine Art Vogel entstand, ein Gestell mit Flügeln, Rädern und Schrauben, das umso komplizierter wurde, je länger Palingenius daran arbeitete.

In diesem von Sagen durchwisperten Turm, inmitten der sinnreichen und absonderlichen Spielereien des Großvaters und des Vaters wuchs Regina auf. Sie gewöhnte sich daran, die Welt aus der Perspektive großer Höhen zu betrachten, und nahm gleich dem Vater den Aufenthalt unten nur als eine Unterbrechung ihres Daseins auf dem Turme hin. Als wäre sie in die ungewohnte Atmosphäre eines fremden Sternes versetzt, atmete sie unten schwerer, wie unter einem Druck, und folgte gern der alten Johanna, die gleichfalls nichts sehnlicher wünschte, als rasch wieder zum Horst aufzusteigen. Nur ungern besorgten die beiden die notwendigen Gänge. Wenn die alte Johanna sich anschickte hinabzusteigen, betrachtete sie ihr Stelzbein mit wehmütigen Blicken, als wäre es der Gefahr ausgesetzt, zu brechen. Und wenn sie dann wieder zurückgekehrt waren, saß sie in ihrem weichgepolsterten Sessel und rieb das hölzerne Bein mit einer Miene, als müsse sie es für eine besondere Leistung belohnen. Nachdem Regina in ihrem siebenten Jahr die Mutter — eine stille, immer kränkliche Frau, deren Herz den Aufenthalt in dieser Höhe nicht vertrug — verloren hatte, waren der Vater und die alte Johanna fast ihr einziger Umgang. Ab und zu kamen Fremde. Da musste Regina die Glocken zeigen, die Feuermeldeapparate erklären und das Uhrwerk öffnen, wobei sie es nie versäumte, schauernd die Sage vom Pflichtvergessenen Türmer zu erwähnen. Dann führte sie die Fremden auf die Galerie, die sich um den Turm zog, und wies auf die Stadt und das Land hin, die hier unten einen Teppich mit reichster Ornamentik webten. Wenn dann aber die Besucher nach der Wohnung des Türmers fragten, so musste ihnen Regina auf Befehl des Vaters den Eintritt verwehren.

Heinrich Palingenius hielt sich — mit einer Ausnahme — die Menschen fern. Diese Ausnahme war sein Freund Eleagabal Kuperus, der Mann, der schon seines Vaters Freund gewesen war. Manchmal verließ Eleagabal das alte Haus mit dem schiefen Giebel auf dem faltigen, braunen Gesicht, stieg zu dem Türmer hinauf und war dem Einsiedler immer herzlich willkommen.

Als er an diesem kalten, nassen Herbstabend in das Wohnzimmer des Freundes trat, fand er die Menschen dieses kleinen Reiches um das große Buch vom Turm versammelt. Auf dem Tisch stand eine helle Lampe, deren Schirm aus beweglichen, durchscheinenden Bildern bestand, die in reicher Mannigfaltigkeit zu den schweren, gebräunten Worten des Buches passten, indem sie Ansichten aller Städte, Trachten vergangener Zeiten, das ganze bunte Leben vorführten, wie es sich auf alten Holzschnitten findet.

Eleagabal Kuperus hing seinen Mantel, der auf dem kurzen Weg über den Domplatz tüchtig nass geworden war, in die Ecke und folgte der Einladung des 8Fenudes, einen Stuhl zum Tisch zu rücken.

„Grausame Geschichten wohnen in deinem Turm,“ sagte Eleagabal Kuperus, als sein Freund geendet hatte.

Palingenius schloss das Buch und strich mit der Hand über den ledernen Rücken: „Ja, es ist eine grausame Zeit gewesen . . . wahrhaftig! Man muss sich wundern, wie erfinderisch die Menschen waren . . . wenn es um solche Dinge ging. Aber dennoch . . . ich glaube, unsere Zeit ist nicht weniger grausam. Damals, da sammelte es sich in den Menschen an, stieg und stieg, und auf einmal brach es dann ans ihnen hervor . . . wie eine Eruption, verstehst du! Da geschah irgendetwas Großes. Man schlug ein paar tausend Menschen tot; oder man quälte sie . . . Dazwischen aber lagen ruhige und behagliche Zeiten . . . so stelle ich es mir wenigstens vor. Aber jetzt ist die Grausamkeit feiner verteilt. Sie bildet einen Bestandteil der Luft. Sie dringt überall ein. Sie umflutet alle unsere Handlungen; und wir bemerken und beachten sie ebenso wenig, wie die giftigen Gase, die wir unaufhörlich einatmen. Sie ist dünner und feiner geworden. Aber sie ist in allem, was wir tun.“

„Du wirst diesen Gedanken zu einer Theorie von den Aggregatzuständen der Grausamkeit verarbeiten.“

„Ich habe anderes zu tun. Meine Flugmaschine liegt mir am Herzen.“

„Bist du mit deiner Arbeit zufrieden?“

Heinrich Palingenius begann sofort von den neuen Verbesserungen zu sprechen, die er seiner Erfindung zuwandte. Mit einer unendlichen Liebe schilderte er die kleinsten Fortschritte, verweilte bei Fragen der Mechanik, stieg bis in die subtilste Erörterung herab, ließ dann wieder die Gesänge seiner Hoffnungen, seiner unaussprechlichen Sehnsucht nach der Wonne des Fliegens hören. Er wurde zum Rhapsoden einer mühevollen Arbeit. Er führte die Bilder eines heiteren und ganz reinen Glückes vor, das darin bestehen müsse, ein Reich zu erschließen, in dem ungemeine Wunder zu entdecken waren. „Das Selbstverständliche zu finden! Das ist das große Wort. Unter den Bewegungen in den Reichen des Lebens ist das Fliegen die selbstverständlichste. Der schwebende Vogel ist das Ideal der Glückseligkeit. Auf ausgebreiteten Flügeln hoch oben zu ruhen, während die Erde unten bleibt, ist mein Ziel. Und wenn dies erreicht ist, wird aller Kampf, alle Hässlichkeit der Ermüdung schwinden, die Menschen werden gut und groß und tapfer und umsichtig sein. Sie werden den Blick aus großen Höhen gewinnen. Sie werden zu lieben lernen, wenn sie fliegen können.“

„Und wenn deine Arbeit ihr Ziel erreicht hat, wirst du doch deine Erfindung den Menschen vorenthalten; du hast es noch immer so getan.“

„Weil ich nicht Lust habe, das Schicksal aller Entdecker zu teilen. Zuerst werden sie verlacht. Das ist schmerzlich. Dann werden sie gefeiert. In der lärmenden Weise der Welt. Und das ist peinlich.“

„Wie sollen die Menschen aber dann fliegen lernen?“

„Oh, ich weiß gewiss, dass ich meine Erfindung nur zu vollenden brauche, und sie lernen es von einem andern. Es wird einer aufstehen, der dasselbe gefunden hat und unter Geschrei der Welt übergibt. Die ganze Menschheit ist doch nur ein Individuum. Es gibt ein Fluidum des Erfindens. Das strömt zugleich durch den ganzen Körper der Menschheit. Alle großen Erfindungen beweisen das. Sie werden nicht nur einmal, an einem Orte, sondern fast gleichzeitig an mehreren Orten gemacht. Die Geschichte hat sich nicht genug darüber verwundern können. Und es ist doch weiter nichts Wunderbares daran. Ebenso wenig, wie an einem Baum, der von der Idee und der Kraft des Frühlings erfüllt ist und gleichzeitig an vielen Stellen Blüten treibt. Oder — wie mein Freund Eleagabal Kuperus zu sagen pflegt: auch dies ist selbstverständlich und darum ein Wunder. Ich bleibe abseits. Aber ich erlebe diese Wunder umso tiefer. Ich will nur die erste Blüte sein, ich, der alte Mann. Ich will, dass sich die Kräfte des Frühlings zuerst an mir erweisen. Das hoffe ich mit aller Sehnsucht, mit aller Erwartung der Knospe. Wenn ich dann mein Ziel erreicht habe, so weiß ich, dass es zugleich auch für die Menschheit erreicht ist. Das Fluidum muss dann auch an anderen Stellen wirksam werden. Ich glaube, du wirst mich verstehen, Eleagabal. Du selbst hältst ja die Welt von dir ab.“

„Du kennst meine Gründe dafür!“

„Ich kenne sie und schweige.“

Während dieses Gespräches war die alte Johanna entschlafen. Sie saß mit zurückgesunkenem Kopf, die Haube war ein wenig verschoben und zeigte ihr kurzgeschorenes, graues Haar, ihr männlich hartes Gesicht mit den vielen Falten lag im Schatten, nur die Kehle war im Lichtschein der Lampe, hochgereckt, steil, von starken Sehnenbändern durchsetzt, zwischen denen von Zeit zu Zeit der Kehlkopf in krampfigen Bewegungen auf- und niederfuhr. Mit ihrem von Bartstoppeln überwucherten Kinn, mit der flachen Brust und den behaarten, knochigen Händen, denen der Strickstrumpf entfallen war, sah sie eher wie ein Mann aus, und Regina hatte als Kind nie so recht glauben wollen, dass Johanna wirklich eine Frau sei. Ihre Bartstoppeln kratzten genauso wie die Stoppeln des Vaters, ihre Stimme war ähnlich tief und rau. Endlich hatte sie ihren Vater zu verstehen begonnen, der ihr erklärte, dass die Geschlechter sich im Alter näherten und auszugleichen anfingen, genauso wie man im zarten Kindesalter Buben und Mädel schwer unterscheiden könne. Seit die Mutter gestorben war, vertraute Regina der alten Johanna alle ihre Mädchengedanken und liebte sie, wie sie die Tote geliebt hatte. Nun hatte sie ihren Sessel ganz nahe an die Schlafende herangerückt und versuchte den schweren Kopf zu stützen. Dabei verfolgte sie wachen Ohres das Gespräch der Freunde. Ihre Augen glänzten. Die Gedanken des Vaters waren dem Mädchen nicht fremd und unverständlich. Unter einer Fülle von mechanischen Spielwerken aufgewachsen, hatte sie sich gewöhnt, die Interessen des Erfinders zu teilen und ihm zu folgen. Fern von dem Skeptizismus der großen Welt, von ihren auf das unmittelbar Praktische, auf das Nützliche des Augenblicks gerichteten Ansichten, fehlten ihr alle Hemmungen und Korrekturen des Wirklichkeitssinnes. Absonderliche Hypothesen und verwegene Pläne hatten nichts Lächerliches für sie, und ebenso wie ihr die Geschichten der Chroniken zu wirklichen Ereignissen geworden waren, ebenso lernte sie in ihrer phantastischen Umgebung das unmöglich Scheinende als feste Brücke in die Zukunft anzusehen.

Die Lampe, zu der Palingenius nicht die dem Turme zugeleitete elektrische Kraft, sondern irgendein selbstbereitetes leuchtendes Gas benutzte, stieß rasch nacheinander eine Reihe von blassenden Seufzern aus, worauf der Türmer mit einigen Handgriffen ihr Leben verlängern. Dann war es wieder stille, und die schweren Erschütterungen, mit denen die Uhr die zehnte Stunde anzeigte, schienen den Fußboden des Zimmers aufzuheben. Mit kräftigen Stößen dröhnten die Stunden empor und übertrugen ihren lärmenden Ruf auf die stille Stube des Türmers, dass die Bilder an der Wand zu klirren, dass die kleinen Maschinen, die mechanischen Spielwerke, die rings auf allen Schränken standen, zu klappern begannen. Die Welle schien sich durch den ganzen Körper bis in den Kopf fortzupflanzen, und als der letzte Schlag geschehen war, stürzte die Stille in den von dem Lärm geschaffenen leeren Raum, wie die Luft hinter rasch bewegten Gegenständen hinterdreinfegt.

Heinrich Palingenius nahm seinen Gummimantel vom Haken und ging auf die Galerie hinaus.

„Und du fürchtest dich niemals,“ fragte der Freund, indem er Reginas Hand nahm, „du fürchtest dich nicht, wenn der Vater draußen ist und die alte Johanna schläft?“

„Wovor soll ich mich fürchten?“

„Du hörst da so blutige Geschichten, Mord und Brand aus allen Jahrhunderten, und es ist, als ob die grässlichsten Geschehnisse der ganzen Stadt gerade mit diesem Turm verknüpft wären.“

„Als Kind habe ich oft Nächte gehabt, in denen ich vor Angst nicht schlafen konnte. Aber der Vater hat gesagt, wir müssen uns daran gewöhnen, mit den Gespenstern der Vergangenheit zusammen zu leben. Ich habe mich daran gewöhnt. Und es ist mir von der Angst nicht viel geblieben. Nur ein leichter Schauder, und der ist gar nicht so schrecklich. Ich glaube, ich könnte in einem neuen Haus nicht einmal leben. Ein neues Haus ist kahl und leer. Nur ein Haufen Steine. Es ist noch nichts da . . . noch nichts drinnen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Man riecht noch überall die Arbeit; man denkt noch immer daran, dass die Ziegel übereinandergelegt und mit Mörtel beworfen worden sind. Es ist alles so nützlich. Es ist gar nichts Überflüssiges da. Vor zwei Jahren haben sie den Turm renoviert. Wir waren alle ein paar Wochen ganz unglücklich. Bis das Alte über das Neue gesiegt hatte.“

„Ich höre dich gerne sprechen. Du sprichst ganz anders als die Mädchen von zwanzig Jahren da unten. Komm doch wieder einmal zu mir. Mein Haus, mein altes Haus wird dich gerne sehen.“

„Ich werde kommen.“

Die alte Johanna erwachte mit einem schweren Atemzug und einem Glucksen in der Kehle, als der Türmer von seinem Rundgang zurückkam und den tropfenden Gummimantel wieder an seinen Platz hing.

„Schlafen gehen, schlafen gehen,“ sagte er und trieb die Frauen in die kleine Nebenkammer, wo die Betten bereitet waren. Regina reichte Kuperus die Hand und wiederholte ihr Versprechen, dann folgte sie der alten Johanna, die mit wackelndem Kopf und wankenden Knien vorangegangen war. Mit der linken Hand hob der Türmer den herabhängenden Bart über die Lippen und sagte leise:

Johanna wird schwach und kindisch. Das Stiegensteigen ist ihm eine Last geworden, und er behauptet, Schmerzen in dem fehlenden Fuß zu haben. Früher saß er mit mir oft bis Mitternacht und länger, erzählte Geschichten und freute sich, über die Leute da unten lachen zu können. Jetzt macht ihm nicht einmal mehr das Vergnügen.“

Als die Geräusche in der Nebenkammer verstummten, wölbte sich die Einsamkeit wie eine große, klingende Glocke aus Glas über die Freunde. Gleichsam losgelöst von der Erde, ohne Zusammenhang mit der Welt unterhalb des Turmes schwebten sie im Raum. Nur das Knacken der alten Stiege, das laute, gleichmäßige Schlagen der Uhr gesellte sich ihren Gesprächen, lauter Geräusche, an die sie allzu sehr gewöhnt waren, um sie überhaupt zu hören. Vom alten Johann ging das Gespräch, der unter dem Namen Johanna, in den Kleidern einer Frau seit Jahrzehnten im Turme wohnte, die Wirtschaft besorgte und der Regina nach dem Tode der Mutter alle Zärtlichkeit, die tausend Liebesdienste, die erleuchtenden Wunder einer besorgten Frau erwiesen hatte. Jetzt brach er langsam in sich zusammen. Vor einigen Tagen fand ihn Palingenius vor einem Sessel knien, auf dem einige Papiere lagen, die er mit sinnlosen Worten bedeckte. Auf die Frage, was er hier treibe, entgegnete er, dass er seine Erlebnisse niederzuschreiben gedenke. Und dann fügte er hinzu, indem er vor sich hinlachte: es sei wenig Sinn in seinem Leben. Er schreibe deshalb alle Worte auf, die es gebe, und werde dann erst aus ihnen die passenden aussuchen. Auf diese Weise hoffe er doch zum Ziele zu kommen. Ein anderes Mal wieder hatte er sich in die Werkstatt des Türmers geschlichen und dort eines der Gestelle mit Frauenröcken, Jacken und einer Haube herausgeputzt. Dies sei, erklärte er, seine Vergangenheit, und da er nun bemüht sei, die vergangenen Jahre seines Lebens unparteiisch zu betrachten, müsse er sie von sich entfernen, um sie besser sehen zu können. Dabei neigte er den Kopf auf die Seite und rief seinem Abbild bald Schimpfworte, bald Kosenamen zu.

„Nur eines scheint ihn noch aufrecht zu halten,“ fuhr Palingenius fort, „der Hass gegen den, der ihn zum Krüppel gemacht hat. Er hofft noch immer, sich rächen zu können. Wenn er darauf zu sprechen kommt, richtet er sich auf und sein Holzfuß klappert wie früher rasch und kräftig durch das Zimmer.“

Die Freunde hatten die Wohnstube verlassen und waren in die Werkstatt des Türmers getreten, wo die Flugmaschine wie das Gerippe eines Vogels auf dem Boden lag. Mit dem weißen Gestänge, dem matten Glanz der Aluminiumbestandteile und dem gespreizten Gerüst der Flügel glich sie dem Skelett eines urweltlichen Tieres, dessen Gestalt uns keine Erinnerung bewahren konnte.

Von irgendeinem Antrieb bewegt, begannen die Gerüste der Flügel, die zum Teil schon mit einem grauen Stoff bespannt waren, sich zu rühren, erhoben sich ein wenig vom Boden, als gewannen sie Leben und wären ungeduldig, den Meister, der da zwischen ihnen stand, zu einem ersten Flug in die Luft zu reißen. Das ganze Skelett des Vogels zitterte, und in rasenden Umdrehungen vervielfältigte sich eine Kurbel ganz in der Nähe von Palingenius’ Hand zu einer flirrenden, sirrenden Scheibe. Es sah aus, als werde hier sichtbar, wie ein geheimes Fluidum von dieser Hand ströme. In einer Ecke stand eine Negerin aus einem schwarzen Stein, die in ihrem rechten Auge die Stunden, in ihrem linken die Minuten anzeigte. Während das rechte Auge unbeweglich auf die Flugmaschine starrte, zitterte das linke unaufhörlich von dem Aufspringen neuer Ziffern, als zwinkere es in einer nervösen Unruhe dem Meister zu. Von fünf zu fünf Minuten hob sie die Hand und winkte einen Gruß, die Viertelstunden zeigte sie durch Kreuzen der Arme und Neigen des Hauptes an, und wenn in ihrem rechten Auge die Ziffer einer vollendeten Stunde aufsprang, stampfte sie mit den Beinen, dass die Schellen an ihren Fußgelenken klingelten, drehte sich im Kreise und vollführte einen Tanz, als freue sie sich nach der Art brutaler Menschen darüber, dass ein Übel, von dem alle betroffen werden, ihr allein nichts anhaben könne: die Zeit. Eleagabal Kuperus liebte diese Negerin. Mit dem Arm um ihren schwarzen Hals sah er den ersten Lebensregungen des Flugapparates zu. Über seinem Haupte kreiste ein Planetensystem aus vielen Bällen, die in Größe, Färbung und Bewegung verschieden, die Wunder des Weltalls gleichsam wie in einer leichter fasslichen Abkürzung, in einer menschlichem Vermögen angepassteren Chiffreschrift darstellten. Von allen diesen Gegenständen, von den fertigen und unfertigen Maschinen, von den feinen mechanischen Apparaten und dem robusten Skelett des Vogels, von den Werkzeugen und den noch unverwendeten Bestandteilen ging eine eigene Art von Leben aus, eine stumme und nur hier in der Höhe des Turmes verständliche Sprache, die den beiden Freunden vertraut war.

Die Negerin entglitt den Liebkosungen ihres Freundes und tanzte mit bimmelnden Schellen die zwölfte Stunde. Sie tanzte in den neuen Tag hinein, während über ihrem Haupte die Planeten unvermeidlich weiterkreisten.

Vor den Füßen der Freunde, die auf die Galerie des Turmes hinausgetreten waren, lag die Nacht. Ganz tief und dunkel schlief die Stadt. Palingenius begann seinen Umgang mit den sorgsamen Blicken des Wächters, und Kuperus begleitete ihn dabei, von einem warmen Mitleid und von einer sehnsüchtigen Liebe zu den törichten Schläfern erfüllt. Wie zu einem Versprechen gaben sich die beiden die Hände. Hinter ihnen in den Mauern schlug das Uhrwerk, und jeder Schlag schnitt ein Stück von der Zeit ab.

II.

Regina hatte einen Fremden führen müssen, der sie mit Fragen belästigte. Es war ihr schwer geworden, ihn vor dem Allerheiligsten ihres Vaters abzuwehren. Irgendetwas hatte ihr an diesem Mann nicht gefallen, obzwar er sich offenbar bemühte, ihr Vertrauen zu erringen. Seine geschwätzige Treuherzigkeit schien ihr im Widerspruch zu dem Ausdruck seines Gesichts zu stehen, eines englisch geschnittenen Gesichts mit harten Zügen und lauernden Augen. In übersprudelndem Eifer erzählte er ihr von seinem Leben. Er war ein flotter Student gewesen und lebte jetzt als Verwalter auf einem der großen Güter in der Nähe der Stadt. Verstohlen hatte Regina dabei seine Hände betrachtet und gefunden, dass er die Unwahrheit sprach. Es waren gepflegte Städterhände, keineswegs die rauen Pfoten eines Landwirts. Wozu belog er sie? Ihr Misstrauen machte Regina gegen seine Fragen verschlossen, und sie beschränkte sich darauf, ihm zu zeigen, was sie zu zeigen verpflichtet war, und die nötigen Erklärungen beizufügen. Über ihre persönlichen Verhältnisse Aufschluss zu geben, wie es der Fremde offenbar wünschte, unterlag nicht der Taxe. Nach einer Stunde zog der Fremde wieder ab.

Nun stand Regina an einer der Schießscharten in dem alten Gemäuer und sah auf den einzigen Ausschnitt hinaus, der einige Dächer und die Wipfel einiger herbstgebräunter Bäume zeigte. Ein leichter, feiner Nebel mischte sich mit der Dämmerung und verwischte die Umrisse da unten. Jetzt, da der Fremde gegangen war, empfand Regina erst, wie wohltätig es auf sie gewirkt hatte, durch ihn ihren Gedanken auf eine Weile entrissen worden zu sein. Immer um den einen Punkt gedreht, war sie manchmal vom Schwindel erfasst worden. Eine schlimme Zeit lag hinter ihr. Der Vater war krank gewesen und der Geliebte fern. Zuerst hatte sie kaum zu einigen flüchtigen Zeilen an ihn Zeit gefunden, zu wenig mehr als einem kurzen Bericht über ihr Befinden und einer Frage nach seiner Liebe. Dann war das seltsame Verbot gekommen, dem sie gehorchte, weil es von Kuperus kam, ohne aber einzusehen, welchem Zwecke es dienen sollte. Wenn ihr Vertrauen zu dem Alten nicht so unbedingt gewesen wäre, so hätte sie dieses Verbot jedes Mal gebrochen, so oft sie einen der flehenden Briefe Adalberts bekam.

Sie machte sich manchmal Vorwürfe, dass neben dieser eigenen Angelegenheit die Sorge um den kranken Vater in den Hintergrund trat. Mit aller Liebe und guter Mühe umgeben, überwand er auch diesmal seinen Anfall. „Nein,“ hatte er lächelnd gesagt, „ich kann noch nicht gehen, bevor nicht mein Werk vollendet ist.“ Und damit hatte er sich von seinem Lager erhoben. Aber er hatte gewünscht, dass der Spiegel verhängt werden möge, denn im grünlichen Glas zeigte sich ihm das Gesicht eines Todgeweihten, so dass er taumelnd zurücktrat. Dieser Anblick war nicht geeignet, seinen aus dem letzten Vorrat von Energie aufgerichteten Willen zu unterstützen.

Alle diese Vorgänge der letzten Wochen waren in ihrer Gleichförmigkeit schwer in Reginas Seele gesunken, hatten sie dumpf und mutlos gemacht, ihre Kraft gebrochen und sie seltsamen Vorstellungen unterworfen. Nur Kuperus vermochte ihr einige Zuversicht zurückzugeben, wenn er sie auf eine lichtere Zeit jenseits des schweren Dunkels verwies.

In der Stadt unten strahlte aus unsichtbaren Quellen ein rötlicher Schimmer in die nebelerfüllte Finsternis des frühen Herbstabends. Regina, die mit aufgestütztem Arm, das Kinn in die Hand gelegt, hinausgesehen hatte, fröstelte. War es die Kälte des Abends, oder war es ein Schauer aus Abgründen der Seele, der sie ergriffen hatte? Mit einem Mal fühlte sie sich ganz sonderbar gespannt, als gebiete ihr jemand, auf die Geräusche zu horchen, die den alten Turm hinter ihr zu beleben schienen. In dem Gemäuer unter ihr rieselte es, als habe sich ein Spalt aufgetan . . . und plötzlich kam ganz deutlich das Wimmern und Weinen eines kleinen Kindes aus dem Stein. Tief von unten her, ganz fein, aber doch deutlich erkennbar. Es war ein furchtbar kläglicher Ton, das Entsetzen eines nur den einfachsten Regungen zugänglichen Wesens, ein kindliches Schluchzen und Winseln.

Regina stand, vom Grauen gebannt und vermochte sich nicht zu rühren. Da kam noch ein anderes Geräusch hinzu, das aus dem Uhrkasten hinter ihr zu dringen schien. Im gleichmäßigen, lauten Gang unterbrochen, begann das Räderwerk zu ächzen, als sei ein fremder Körper zwischen die metallenen Zähne geraten. Die Pendelschläge setzten aus, verdoppelten sich, indem sie nach Pausen mit jagender Geschwindigkeit einfielen, und dazwischen war ein Knirschen, so durchdringend, dass es Regina als Schmerz in ihrem eigenen Körper fühlte. Es war wie das Krachen zermalmter Knochen, und ein Stöhnen war darüber ergossen, als sei ein lebendiger Mensch dort drinnen zu schrecklichen Martern verdammt. Alle diese Geräusche vereinigten sich zu einem Brei, der Regina umgab und immer höher an ihr hinanzusteigen schien, so dass sie zu ersticken glaubte. An die Mauer gelehnt, fühlte sie sich schutzlos dem Entsetzen preisgegeben. Irgendwoher aus dem Dunkel sahen sie zwei große, glimmende Augen immerfort an. Diese Augen saßen in einem formlosen Körper, von dem sie nicht wusste, ob er nahe oder weit entfernt war.

Oben ging eine Tür, und ein breites scharfes Lichtschwert zerschnitt den Leib des Ungetüms.

„Regina, bist du da?“ rief die alte Johanna.

„Ja, ich komme,“ antwortete Regina mühsam, und dann stieg sie im Schutz des Lichtschwerts die Treppe hinauf.

„Wo warst du denn so lange?“

„Der Fremde hat mich . . .“ in einer Anwandlung von Schwäche sank Regina in den großen Lehnstuhl des Vaters am Tische. Sie schloss die Augen, denn noch immer fühlte sie den grauenvollen Blick auf sich, und noch immer bebte ihr Leib unter den Schauern des Entsetzens. Aber sie wollte nichts verraten und nahm unter dem forschenden Blick der Alten alle Kraft zusammen . . . „er hat mich furchtbar viel gefragt. Es hat ein bisschen lang gedauert?“

„Hast du nicht wieder geträumt? An diesen Kerl gedacht, der nicht mehr kommt, der dich verlassen hat?“

„Ich bitte dich, sprich nicht so von ihm! Du weißt nicht . . .!“ „Was weiß ich nicht! Alles weiß ich! Oh . . . wenn du mir früher gestanden hättest, wer er ist . . . Niemals hätte es so weit zwischen euch kommen dürfen.“

Regina gab keine Antwort. Seit sie der alten Johanna in einer trostbedürftigen einsamen Stunde, bald nach Adalbert Semilassos Abreise alles erzählt hatte, was sie von ihm wusste, hasste die Alte den Eindringling. Und wenn sich nur entfernt eine Gelegenheit dazu bot, fiel sie mit harten Worten über ihn her und verwünschte ihn. Aber immer nahmen diese Auftritte ein Ende wie jetzt. Behutsam näherte sich die Alte dem im Lehnstuhl zurückgesunkenen Mädchen, indem sie das hölzerne Bein so vorsichtig als möglich aufsetzte. Und dann legte sie ihre harte, knochige Hand auf Reginas Scheitel: „Lass nur, Kind,“ sagte sie, „ich sage ja schon nichts mehr. Es ist ja wahr, was weiß denn ich davon . . . ich weiß ja nichts. Vielleicht, wie Kuperus sagt. . . er ist ein Irrender. Wir alle irren . . . und haben unsere Ziele. Er das seine und ich . . . ich habe das meine . . .“ Hier war wieder jene dunkle Andeutung eines Entschlusses; jener geheimnisvollen Macht, die der alten Johanna geholfen zu haben schien, den Anfall von Wahnsinn zu überwinden, dem sie eine Zeitlang erlegen war.

Dankbar ergriff Regina die welke Hand der Alten und drückte sie. Dabei erinnerte sie sich, dass sie in der andern Hand noch immer krampfhaft das Geldstück bewahrte, das der Fremde für die Besichtigung des Turmes erlegt hatte. Sie erhob sich und warf es in die neben der Tür hängende Blechbüchse. Als sie zurückkehrte, fiel ihr Blick auf die im hellen Schein der Lampe aufgeschlagene Chronik. Und sie sah, dass mit frischer Tinte eine letzte Eintragung gemacht war. In den Lehnstuhl zurückgesunken, las sie in den klaren, von Alter und Krankheit noch nicht verzerrten Schriftzügen des Vaters:

„Ich, Heinrich Palingenius, habe meine Maschine endlich fertiggemacht. Und ich glaube mit aller Kraft meiner Unsterblichen Seele, dass das Fliegen den Menschen nicht zum Unheil, sondern zum Heil und Segen sein wird. Höhen gewinnen und von dort aus alle Erbärmlichkeiten mit Lächeln betrachten, das werden sie dadurch lernen. Und das ist Glück. Ich, Heinrich Palingenius, der Türmer, habe mir dieses Glück gewonnen. Und morgen will ich fliegen, als erster von allen. Vielleicht wird es sie zuerst verwirren, aber dann werden sie größer werden und besser. Morgen will ich fliegen. Meine Maschine hat eine Seele. Was vermöchte der Mensch nicht zu beseelen? Wenn er sich nur mit ganzem Herzen und allen Gedanken hingibt. Ist es wahr, was Kuperus sagt? Die leblose Materie sträubt sich dagegen, belebt zu werden. Und sie trägt dem Geist Hass, der sie aus der Erstarrung gerissen hat. Darum ist der Leib dem Geiste feind, weil Gott den Leib aus Erde gemacht hat. Ich glaube nicht daran. Und es ist mir, als ob Kuperus auch nicht daran glaubte. Als ob er von einer höheren Einheit des Leibes mit dem Geist, des Leblosen mit dem Lebendigen wüsste. Er sagt es nur, um mich von meinem Flug abzuhalten. Aber dennoch: morgen will ich fliegen. Ich bin ganz ruhig, denn ich vertraue vollkommen.“

Hier waren die Aufzeichnungen, die Regina mit steigender Angst gelesen hatte, zu Ende. Sie sah auf: drüben in der Ecke saß die alte Johanna, den Strickstrumpf im Schoß, und schaute vor sich hin. Aus der Werkstatt kamen Geräusche, die Regina sagten, dass der Vater an der Arbeit war.

Der Alte hatte eben den innersten Mechanismus seiner Maschine auseinandergenommen und war dabei, jeden der unzähligen Teile mit aller Sorgfalt zu putzen und zu ölen, als Regina eintrat. Er grüßte sie mit einem Kopfnicken und nahm mit vergnügtem Ernst eine winzige Schraube vor, deren Windungen er mit weichem Pinsel reinigte.

„Du glaubst nicht,“ sagte er, „was an diesen kleinen Dingen hängt, diese Schraube zum Beispiel . . .“

„Also morgen!“ unterbrach ihn Regina.

Palingenius sah nach der Tür und verstand sogleich: „Du hast es gelesen?“

„Es ist also wahr?“

„Ich bin fertig. Sie lebt. Morgen werde ich fliegen.“

„Du willst es tun?“ Und dann drang Regina in das Gewirr von Stangen, Schraubenflügeln, Drähten und Rädern ein, in dem der Vater stand, und warf die Arme um seinen Hals: „Vater . . . Vater!“

Sanft befreite sich der Alte, besah die Schraube, die er in der Hand behalten hatte, und legte sie auf eine Glasplatte. Dann geleitete er Regina aus dem Bereich seiner Maschine und setzte sich mit ihr auf eine große schwarze Kiste, in der eine der elektrischen Batterien untergebracht war. „Siehst du . . . Kind,“ sagte er, „du hast Angst?“

Regina nickte und legte den Kopf an seine Brust.

Gerührt sah Palingenius auf den blonden Scheitel und die zart abfallenden Schultern. „Ich glaub’ es dir,“ fuhr er fort, „denn du kannst ja nicht das Vertrauen haben, das ich zu meinem Werk habe. Wer von euch kennt es denn? Keiner! Der Eleagabal redet ja auch solchen Unsinn. So gescheit er sonst ist.“

„Folg’ ihm doch, Vater, er weiß . . .“

„Er weiß mehr als ich, willst du sagen! Das ist möglich. Aber davon versteht er nichts. Und dann! Das ist die Aufgabe meines Lebens gewesen. Soll ich nun durch mein ganzes Leben einen Strich machen? Das wäre, als hätte ich niemals gelebt. Jetzt, wo ich am Ziel bin?“

Regina schwieg. Ihre Schultern zitterten. Dann hob sie ein blasses Gesicht, in dem furchtsame Augen flehten. „Vater!“ sagte sie stockend, „tu es nicht! Ich habe . . . ich habe das . . . das eingemauerte Kind weinen gehört . . . Und . . . und . . . im Uhrkasten brachen die Knochen. Ein Stöhnen . . . Es war schrecklich.“

„Wann hast das gehört?“

„Heute. Vorhin. Im Dunkeln auf der Stiege . . .“

„So.“ Palingenius stand auf und ging im Zimmer, dessen Enge zum baldigen Wenden zwang, auf und ab. „Heute. Und was? Was meinst du? Das soll etwas bedeuten! Für mich?“

„Eine Warnung . . . Vater!“

Triumphierend stand Palingenius vor seiner Tochter: „Nein, mein Kind! Keine Warnung! Es kann nur eine Ermunterung sein! Weißt du, was da in dem alten Turm stöhnt und jammert? Das ist die Vergangenheit! die Vergangenheit! Weil sie endlich und endgültig überwunden ist. Denn meiner Maschine und dem Fliegen gehört die Zukunft.“ Als Sieger stand der Vater vor Regina.

„Vater! Du bist ganz —“

„Verblendet? Nein, Regina! Nicht verblendet. Nur voll Zuversicht. Morgen besteht mein Werk die Probe. Schau, Kind . . . selbst wenn sie noch am Leben wäre. . . deine Mutter . . . und mich bitten würde, ich müsste nein sagen.“ Zärtlich legte der Alte seinen Arm um die Tochter und führte sie zur Tür: „Und jetzt geh schlafen, Kind.“

Sie zog ihn mit sich: „Du auch, Vater . . . du brauchst die Ruhe.“

„Du wünschst es?“

„Es macht mich ruhiger.“

„Gut. Ich will schlafen gehen.“

Nach einem schweigend eingenommenen Nachtmahl ging Regina, einen warmen Kuss des Vaters auf der Stirn, zu Bett. Aber sie brachte es nicht über sich, zu schlafen, es war ihr, als käme es ihr zu, über den Vater zu wachen, und aus kleinen Geräuschen, die aus dem Nebenraum zu ihr kamen, schloss sie, dass auch der Vater wach im Bette lag. Erst gegen Morgen verfiel sie in einen schweren Schlaf, aus dem sie wenig später mit dem unangenehmen Gefühl erwachte, eine Pflicht versäumt zu haben. Im Schlafraum des Vaters war es ganz still. Aber über sich und außen, auf dem Umgang des Turmes hörte sie ein Ziehen und Schieben, schwere Gegenstände gegeneinander stoßen und ein Gehämmer auf Stahl und Holz. Rasch kleidete sie sich an. Dabei erwachte die alte Johanna, sah ihr verwundert zu, wurde dann auch auf die Geräusche aufmerksam und erhob sich, ohne zu fragen. Noch war es früh am Morgen, und ein mattes Licht über dem Waschtisch leuchtete zu der hastigen Geschäftigkeit der Frauen. Als Regina, von der Alten gefolgt, heraustrat, sah sie den Vater beim hellen Schein seiner stärksten Lampen mit dem Zusammenfügen der Maschine beschäftigt.

Sie sprach kein Wort, denn sie wusste, dass nichts den Vater zurückzuhalten vermöge, und sah seiner Arbeit zu. An zwei am Geländer der Galerie befestigten Stahlstangen hing schon der innere Teil der Maschine. Mit halbem Leib über die Brüstung gelehnt, fügte Palingenius mit vollkommener Sicherheit immer neue Bestandteile an. Im Eifer seiner Arbeit hatte er zuerst die beiden Frauen gar nicht bemerkt. Nun trat er auf Regina zu und reichte ihr die Hand. „In einer halben Stunde“, sagte er, „kann man sie vollkommen zerlegen. Und in einer Stunde kann man sie zusammensetzen.“

„Unsinn,“ brummte die alte Johanna, „vollkommener Unsinn.“

Ohne den Einwurf zu beachten, ging Palingenius wieder an die Arbeit. „Nun brachte er den sonderbaren Flügel an, dessen Gestänge sich zusammenfalten und ausspannen ließ, wobei sich eine glänzende dünne Haut zwischen den schmalen Rippen dehnte. Das fächerförmige Gestänge schloss sich an ein Kugelgelenk an, das eng mit dem innersten Gehäuse verbunden war. Feine Drähte gingen von dem Mechanismus des Gestänges entlang bis zu den Flügelspitzen. Mit besonderer Sorgfalt gab Palingenius diesen Drähten Halt und Spannung.

Von dem Flügelwesen hinweg, das da unter ihren Augen entstand, lenkte Regina den Blick hinaus. Sie erinnerte sich eines anderen Tages, da sie auf der Galerie des Turmes gestanden hatte, eines untergehenden Tages . . . damals mit Adalbert. Und in dieser Stunde war ihr noch weher zumute als damals, bevor sie Adalberts Liebe erkannt hatte. In aller Wehmut war da doch eine Hoffnung gewesen, ganz tief, eine noch ungeborene Hoffnung, die sich aber schon regte und wuchs. Heute aber war die Angst und der Schmerz ohne Trost, und sie hatte keinen Halt, keinen Widerstand in sich. Wo war Adalbert! Was war mit ihm geschehen? Seit Wochen hatte sie keine Nachricht von ihm. War er ihr verloren gegangen? Und nun sollte ihr auch der Vater verloren gehen. Angstvoll sah sie wieder auf das Flügelwesen, das da über dem Abgrund hing und von dem der Vater gesprochen hatte, als habe es eine Seele, als sei es belebt.

Der Morgen war kühl und versprach einen schönen Herbsttag. Im Osten brach ein rötlicher Schein durch Wolkenbänke, und es war, als greife eine zarte Hand in die Schleier der Nacht, um sie hinwegzuziehen. Regina entsann sich eines Wortes, womit die alten Griechen die Morgenröte bezeichnet hatten: rosenfingrige Morgenröte. Sie hatte das Wort von Adalbert gehört. Und obzwar sie ihre Gedanken von Adalbert abzulenken versucht hatte, waren sie so wieder zu ihm zurückgekehrt. „Guten Morgen,“ sagte Eleagabal Kuperus, der hinter ihr die Turmgalerie betrat. Heinrich Palingenius wandte sich um und begrüßte den Freund mit einem verwunderten Blick: „Du bist es!“ „Ja . . . ich will doch zusehen, wie du fliegst.“ Kuperus war sehr ernst und der Ton von Ruhe und Heiterkeit, den er seinen Worten zu geben versuchte, widersprach dem Ausdruck seines Gesichtes. „Du hast mich zwar nicht eingeladen...“ „Weil du immer Bedenken hast . . . immer etwas einzuwenden . . .“ „Du bist doch stark genug, um Bedenken und Einwände zu ertragen. Nicht? Übrigens heute habe ich keine Bedenken mehr.“ Freudig fragte Palingenius: „Du stimmst mir also zu?“

„Ja!“ — Und während der Türmer sich bemühte, seine Freude über Eleagabals Zustimmung hinter einer angenommenen Gleichgültigkeit zu verbergen, wandte sich der Freund den Lampen zu und verlöschte die Lichter. „Übrigens . . . wenn du mich über deine Pläne im Dunkeln lassen willst, darfst du keine solche Illumination anbrennen.“

„Du hast es bemerkt?“ „Gewiss! Und andere auch. Unten steht schon eine Menge Menschen.“

„Gut! Gut! Sie werden sehen, wie man fliegt.“

Es war schon genügend hell geworden, die Sonne hatte sich durchgerungen und stand rotglühend über einem dunstigen Meer. Heinrich Palingenius machte sich daran, seiner Maschine den anderen Flügel einzusetzen. Plötzlich fühlte Eleagabal, der aufmerksam zuschaute, seine Hand erfasst. Er sah in Reginas blasses Gesicht. „Ich habe alles versucht“, flüsterte sie . . . „er will nicht zurück.“ Mit einer Gebärde deutete Eleagabal an, dass alles Bemühen umsonst sei.

„Unsinn . . . ein vollkommener Unsinn“, brummte die alte Johanna.

Die Hammerschläge des Türmers wurden heftiger und schneller, als beeile er sich, mit seiner Arbeit zu Ende zu kommen. Unter Kreischen und Knirschen fügte er eine Schraube in ihr Gewinde.

Nun war der Tag gekommen. Die Stadt unten machte die tiefen Atemzüge eines Erwachenden und schien sich den Hügeln entgegen zu dehnen. Aus den unzähligen Schornsteinen über den verschiedenfarbigen und -gestalteten Dächern drehten sich bläuliche Rauchwirbel in die klare Herbstluft; wo sie der Mündung des Schlotes entquollen, noch massig und schwer, fest geballt, als wollten sie wieder zurücksinken, weiter oben aber immer lockerer und heiterer und, wo sie sich in leichte Wölkchen aufzulösen begannen, schon von der Sonne angestrahlt. Braunrot und goldig flossen die letzten Flocken über den zartblauen Himmel. Unten auf dem Domplatz aber war ein dichter Klumpen von Menschen, die unverwandt nach der Turmgalerie blickten. Frühaufsteher aus Beruf und Neigung, die sich hier zusammengefunden hatten und nun ihren neugierigen Fragen keine Antwort wussten.

„Wos geschiegt denn durten?“ fragte ein Fleischhauer, der mit seinem, mit einem Kälberviertel und einigen großen Stücken Rindfleisch beladenen Hundewagen eben über den Domplatz kam. Er steckte beide Hände vorn in die blutfleckige Schürze und stellte sich hinter der letzten Reihe an, während der Hund, ebenso neugierig wie sein Herr, an den Röcken des vor ihm stehenden Milchweibes schnupperte. Im Mittelpunkt des Klumpens befanden sich, als die Aufgeregteste von allen, Frau Swoboda und ihr morgendlicher Freund, der Sakristan. Die beiden waren am ehesten imstande, eine Auskunft zu geben. Aber Genaues wussten auch sie nicht. Sie konnten nur sagen, dass der Türmer dort oben war, seine Tochter, die Johanna und — hier dämpften sie jedes Mal die Stimmen — „der Zauberer von drüben“. Aber was geschah? Was geschah dort oben?

„Er wird an Drachen steig’n lossen,“ sagte der Dreifaltigkeitsschuster zu dem Fleischhauer, der seine Frage einige Mal, immer nachdrücklicher, wiederholt hatte. Aber der Rahmenmacher, der auch Tiere ausstopfte und die Passionsblumen hinter dem Fenster hielt, schüttelte den Kopf. Dazu sei der Alte dort oben zu gescheit, das müsse wohl etwas anderes sein. Und nun gruben die alten Leute, die schon seit Jahrzehnten hier oben wohnten, alle Erinnerungen aus. Alle Sonderbarkeiten des Türmers wurden ins Licht gesetzt, und wer einen neuen Zug zu dem seltsamen Bilde wusste, beeilte sich, ihn mit einigem Stolz hinzuzufügen. Die Aufregung der Menge stieg, als nun an dem zweiten Flügel unzweideutig zu erkennen war, dass es sich um ein Abenteuer in der Luft handeln musste.

In diesem Augenblick kam Adalbert Semilasso über die Domstiege, betrat zwischen den beiden mürrischen, verrenkten Heiligen den Platz und folgte mit dem Blick den vielen weisenden Armen. War es soweit! Machte sich Palingenius zum Flug fertig? War es die Vorahnung dieses Ereignisses gewesen, die ihn heute Nacht so unruhig gemacht und so früh am Morgen hierher getrieben hatte? Und nun fiel es ihm schwer auf die Seele, dass er nicht bei Regina sein durfte in dieser Stunde, vor der sie schon immer heimlich gebangt hatte. Schon war er im Begriff in den Turm einzutreten. Aber da kamen die alten Bedenken und Ängste mit doppelter Gewalt und zerrten ihn von der Türe weg. Es war ihm verwehrt, sie zu trösten, er durfte sich ihrer Reinheit nicht nähern. Und dann, sie war ja doch nicht ganz allein. Er sah Eleagabal Kuperus oben bei ihr, den Freund, der ihr Mut geben würde. Langsam entfernte er sich von der Turmtüre, und da er fand, dass er schon die Aufmerksamkeit der Leute erregt hatte, wollte er sich unter die Menge mischen.

Aber Frau Swoboda hatte ihn erkannt und kam hastig auf ihn zu.

„Was sagen S’, gnä’ Herr, was will er tun?“ fragte sie, indem sie ihn aufgeregt am Rockärmel fasste.

Adalbert wusste nicht, ob er die Wahrheit sagen sollte. Aber wozu verschweigen, was sie doch in den nächsten Minuten selbst sehen mussten. „Er wird fliegen,“ sagte er, „das dort oben ist seine Flugmaschine.“

„Jessus Maria! Fliegen? In der Luft? Über die Dächer?“

„Ja.“

„Er wird runterfallen! Gott’swill’n!“

Die Nachricht ging durch die Menge, ließ sie aufbrausen und drängte sie näher zusammen, in dem Gefühl des Entsetzens über die Gefahr eines Menschen.

Heinrich Palingenius war mit seinen Vorbereitungen fertig. Zuletzt hatte er unterhalb des Bewegungsmechanismus einen gepolsterten Hängeapparat angebracht, aus dem der Körper in bequemster Lage die Hebelstellungen regeln konnte. Mit strahlendem Gesicht wandte er sich um. „Eine Stunde . . . nicht viel länger!

Was habe ich gesagt? Aber macht doch nicht solche Mienen! Regina!“ Er hob den Kopf seiner Tochter mit einem zärtlichen Griff unter das Kinn. Da sah er die Tränen in ihren Augen. „Kind! Kind!“ sagte er und küsste sie auf die Stirne.

Eleagabal Kuperus legte dem Freund die Hand auf die Schulter: „Ein Glas Wein!“

„Wozu?“

„Trink nur ein Glas Wein! Das wird dir nicht schaden! Vom alten, von dem griechischen.“

„Es ist die letzte Flasche.“

„Warum soll man bei einer solchen Gelegenheit nicht eine letzte Flasche trinken?“

Auf Eleagabals Wink ging die alte Johanna, den Wein zu holen.

„Dein Publikum wird immer größer“, sagte Kuperus, indem er auf den Domplatz hinabdeutete. „Und die löbliche Polizei ist auch schon da!“

Ein Wachmann mit blitzendem Helm ging quer über den Platz auf die Turmtüre zu. Hinten im Turmzimmer tobte die elektrische Klingel.

„Du hast wohl keine Erlaubnis zum Fliegen. Er wird es dir verbieten wollen.“

Palingenius lächelte: „Die Obrigkeit! Mit dem Gewinn des Fliegens hat man alle Obrigkeit verloren.“

Gerade als die Glocke über ihnen mit vier schnelleren Schlägen das Ende einer Stunde verkündete, kam die alte Johanna mit der verstaubten Flasche und einem altertümlichen Glas, auf dem zwischen Rosen und Lilien in verschnörkelten Buchstaben stand: „Zur Erinnerung.“ Siebenmal rollte wuchtig und schwer der Hall der Stundenglocke über die Turmgalerie hin und übertäubte das Geschrill der elektrischen Klingel im Zimmer.

„Aus diesem Glas hat sie bei unserer Hochzeit getrunken“, sagte Palingenius halb zu Regina und halb für sich. Mit verklärtem Gesicht hob er das Glas mit dem schweren, fast braunen Wein und leerte es auf einen Zug. Anstatt des Weines erfüllte es jetzt das funkelnde Gold der Sonne, brach sich an den Kanten und dem Rand und machte die Rosen und Lilien durchscheinend und leuchtend. Langsam und vorsichtig gab es Palingenius der alten Johanna zurück. „So“, sagte er und es war, als ob auch in seinem Blick etwas vom Gold der Sonne sei.

Zitternd lag die Flugmaschine mit ausgespannten Flügeln auf den vorgeschobenen Stangen. Selbst vor Aufregung bebend, schien sie ein lebendiges Wesen, das sich in höchster Spannung befindet. Regina starrte sie an; der Glaube ihres Vaters hatte sie ergriffen und es war ihr, als müsse sie dieses Flügelwesen mit flehenden Worten beschwören. Als sie Palingenius umarmte und küsste, gewann sie es über sich, nicht aufzuschreien, denn Eleagabal hatte ihr rasch vorher zugeflüstert: „Sei stark! Mach’ ihn nicht schwach.“

Dann reichte Palingenius noch Eleagabal und der alten Johanna die Hand, mit einem so strahlenden Stolze, so dass Johanna ein halb mürrisches, halb ängstliches Wort des Tadels unterdrückte. Und dann schwang er sich mit jugendlicher Kraft über die Brüstung der Galerie und rückte sich in dem Hängeapparat zurecht. Mit beiden Händen auf das Geländer gestützt, sah Regina dem Vater zu. Er drehte an einer Kurbel, und pfauchend schoss eine kleine blaue Flamme aus einer durchlöcherten Messingscheibe, verschwand, schoss wieder hervor und so in immer schnellerer, rhythmischer Wiederkehr.


Sogleich riss Palingenius einen Hebel herum, die Maschine glitt an ihren Tragbändern über die vorgeschobenen Eisenstangen, verließ den Halt und schwebte draußen frei in der Luft.

Das Gemurmel der Menge, die den Platz vor dem Dom erfüllte, war verstummt, und das tobende Schrillen der elektrischen Klingel brach ab. Der Wachmann war von der Turmtüre zurückgetreten und stand unter den übrigen, die mit verdrehten Hälsen zusahen, wie die Flugmaschine des Türmers über die Dächer Kreise zog. Mit schönen, langsamen Bewegungen stieg und sank sie, zuckte in plötzlichem Flug hin und kehrte willig wieder zurück. Jetzt schoss Palingenius mit einem Mal so hoch hinauf, dass die Maschine bloß als schwarzer Punkt in der klaren Herbstfrühe stand, und dann war er wieder da, mit schweren, lässigen Flügelschlägen den Domplatz überschattend. Die drei Menschen auf der Turmgalerie sprachen kein Wort. Regina hatte Eleagabals Arm gepackt, und als sie den sicheren Flug des Vaters sah, kehrte mit der Hoffnung auch ein herzhafter Stolz auf seine Kühnheit ein. Noch immer ließ Palingenius seine Maschine alle Arten von Bewegungen vollführen, wie ein lebendes Tier, das jedem Wort seines Herrn gehorcht. Er schwebte in breitem Wanderflug über die Stadt hin, kam zurück, stand einen Augenblick über dem Haus des Kuperus und strich nun in gleicher Höhe mit der Turmgalerie hin. Plötzlich fühlte Regina ein hastiges Zusammenfahren Eleagabals, als ob die Sehnen seines hageren Armes von einem elektrischen Schlag getroffen wären. Er hatte bemerkt, dass der ruhige Flug der Maschine sich veränderte, es kam etwas Irres, flackerndes in ihre Bewegungen, und er sah, dass Palingenius heftig und zornig an den Hebeln riss.

„Was ist denn!“ fragte Regina ängstlich.

„Sie hat . . . sie hat ihren eigenen Willen“, murmelte er.

„Es ist da!“

„Was denn; was?“

Eleagabal vermochte keine Antwort zu geben. Drüben in der Luft fand ein wütender Kampf zwischen dem Meister und seinem Werk statt. Einen Augenblick war es Eleagabal, als wende ihm Palingenius ein totenblasses Gesicht mit einem zum Schreien geöffneten Mund zu. Aber es war nichts zu hören als das Schwirren der großen Flügel und die rhythmischen Pulsschläge der Maschine. Es war klar, dass Palingenius die Herrschaft über seinen Apparat verloren hatte. Regellos stieg die Maschine auf und ab, kam in unbesonnenen Kreisen bald den Dächern der Häuser, bald den Wänden des Turmes nahe, flog einmal so dicht über den Köpfen der Menge unten weg, dass sich einige duckten und nun . . . war sie plötzlich hinter dem Turm verschwunden.

Unten entstand ein Geschrei: „Wo ist sie, wo ist sie?“

Regina lehnte an der Wand. Zwei Schläge der Viertelstundenglocke wogten über sie hinaus. Eleagabal hatte ihre Hand gefasst und streicheln sie unaufhörlich, ohne ihr einen Trost geben zu können. Mit gefalteten Händen kniete die alte Johanna in der Türe des Turmzimmers und bewegte die Lippen. Sie betete, sie, die niemand noch beten gesehen hatte.

Plötzlich schoss die Maschine wieder hinter dem Turm hervor. Sie stieg in schrägem Flug, und Eleagabal sah, wie Palingenius in blindem Zorn, außer sich vor Wut, mit geballten Fäusten auf den Apparat losschlug, als wolle er ein ungebärdiges, störrisches Tier züchtigen. Als die Maschine um einige Meter über der Turmspitze war, hielt sie plötzlich an. Und nun geschah das Fürchterliche. Zuerst ging ein Zittern durch ihr Gestänge, die Flügel streckten sich wie in plötzlichem Krampf aus und zogen sich zusammen. Diese Bewegungen wurden so heftig, dass Palingenius in seinem Hängeapparat hin und her flog. In jäh erwachender Angst griff er nach beiden Seiten aus und fasste zwei Eisenbügel des Flügelrahmens, um sich an ihnen zu halten. Aber die Maschine schüttelte sich und befreite sich von ihm. Und nun schoss sie plötzlich hinauf, mit wilden, ruckweisen Stößen. Hoch oben . . . überschlug sie sich plötzlich in rascher Drehung. Ein dunkler Körper trennte sich von ihrem verwirrten, durcheinander geworfenen Gestänge. Ein einziger Schrei der Menge auf dem Domplatz . . . dann ein dumpf klatschender Schlag auf dem Pflaster . . .

Wie erleichtert stieg die Maschine noch ein Stückchen höher, dann sank sie schräg hinab und blieb auf dem flachen Glasdach eines photographischen Ateliers liegen, mit zuckenden Flügeln, wie erschöpft vor Aufregung und Anstrengung.

Regina war zusammengesunken, so wie sie an der Wand gelehnt hatte, einfach in sich zusammengesunken. „Bleib bei ihr,“ rief Eleagabal die alte Johanna an und rannte der Treppe zu. Aber als er die Hälfte der Stufen zurückgelegt hatte, hörte er das harte, hastige Klappern des Holzfußes über sich. „Was ist’s?“ schrie er zurück. Aber die alte Johanna gab ihm keine Antwort, überholte ihn und rannte ihm voran, halb stolpernd und das Stiegengeländer entlang gleitend, in wilder Verstörtheit bemüht, zuerst unten anzukommen.

Inmitten der zurückgewichenen Menge lag Heinrich Palingenius auf dem Domplatz. Die alte Swoboda kniete bei ihm, weinend, ohne der herabströmenden Tränen zu achten. Vorsichtig hob der Fleischhauer den Kopf des Toten und legte ihn auf den Schoß der Alten. Heinrich Palingenius war ganz unversehrt, nur aus dem Hinterkopf kam ein dünner Strahl hellen Blutes hervor, der in den Vertiefungen des holprigen Pflasters kleine Lachen gebildet hatte. Außer dem Wachmann, der bereits sein Notizbuch gezogen hatte und eifrig den Tatbestand notierte, war noch jemand da — Adalbert Semilasso. Er hatte sich durch die Menge hindurchgedrängt und hatte dem Toten die Weste geöffnet, um die mit grauen Haaren bedeckte Brust zu befühlen. Mit vor Aufregung überstürzten Worten berieten einige zunächststehende Gruppen, was zu tun sei.

Als Eleagabal eben bei dem Toten ankam, gab der Wachmann dem Hund des Fleischhauers einen Fußtritt. Das Tier war, den Wagen hinter sich herziehend, seinem Herrn gefolgt und hatte begonnen, die Blutlachen auf dem Pflaster aufzulecken.

Adalbert Semilasso erhob sich und trat Eleagabal entgegen. Nach einem ersten furchtsamen Blick senkte er den Kopf. Da fühlte er sich vor die Brust gestoßen. Die alte Johanna stand vor ihm und schrie ihm wütend ins Gesicht: „Gehen Sie! was wollen Sie bei diesem Toten!“

„Bleiben Sie!“ sagte Eleagabal und hielt Adalbert an der Hand zurück. „Sie gehören hierher.“ Irgendjemand hatte einen nahewohnenden Arzt gerufen. Es blieb diesem nichts zu tun übrig, als festzustellen, dass Palingenius tot war. Nun besann sich auch der Wachmann auf seine Würde. „Weg da! Zurück!“ schrie er mit gebietender Armbewegung. „Er kommt ins Spital.“ „Nein“, sagte Eleagabal, „was wollen Sie! Er ist tot. Wir nehmen ihn hinauf.“

„Auf den Turm? Sie werden ihn dort hinaufschleppen?“

„Das ist doch unsere Sache. Ich weiß, es ist sein Wunsch gewesen, oben auf das Grab zu warten.“

„Und wer wird die Turmwache halten?“

„Die Tochter und diese alte Frau hier. Wie immer, wenn er krank war.“

„Es ist gut. Ich werde die Meldung machen.“

„Kommen Sie!“ rief Eleagabal Adalbert auf, der schüchtern abseits stand. „Kommen Sie, fassen Sie an.“

„Ich soll mit hinauf! Ich kann es nicht. Ich kann nicht vor sie treten. Sie wissen nicht . . .“

„Ich weiß alles. Kommen Sie nur! Die große Liebe verzeiht alles!“ Adalbert trat einen Schritt zurück. Das waren dieselben Worte, die er von der anderen gehört hatte, diese Worte, die ihn nächtelang verfolgten, als wollten sie ihm neuen Mut machen. Wie sonderbar, dass sich der Weise und die Dirne in derselben Erkenntnis begegneten. Sein Zögern dauerte nur noch Sekunden, dann bückte er sich und fasste

mit Eleagabal die Schultern des Toten. Weinend erhob sich die alte Frau Swoboda, die den Kopf des toten Jugendgeliebten auf ihrem Schoß gebettet hatte.

„Weinen Sie nicht“, sagte Eleagabal Kuperus leise, „es war doch Ihr Wunsch. Sie wollten ihn doch noch einmal sehen.“

Die Alte vergaß ganz, dass es der gefürchtete Zauberer war, der mit ihr sprach. „Aber nicht so . . . aber nicht so . . .“ schluchzte sie. „Es war sein Wille. Wir können nichts tun. Kommen Sie nur mit. Regina wird Sie brauchen.“

Der Dreifaltigkeitsschuster und der Rahmenmacher hatten die Beine des Toten gefasst, und in langsamem Zug erreichten die Träger mit dem mageren Körper des Greises die Turmtüre. Die Menge drängte in teilnehmender Neugierde nach und gab die Unglücksstätte frei, wo der Hund des Fleischhauers nach einem scheuen Rundblick wieder an den blutigen Steinen zu lecken begann.

Regina stand mitten im Turmzimmer und erwartete die keuchenden Männer, die den Leichnam des Vaters brachten. Ohne zu weinen, öffnete sie die Türe der Werkstatt, wo sie, inmitten der Apparate und Werkzeuge, inzwischen aus einer Matratze und frischem Leinen ein Lager bereitet hatte.

„Ich glaube . . . so wäre es ihm recht gewesen . . . hier,“ fragte sie Eleagabal, vor innerlichem Schluchzen stockend, ohne aufzusehen, den Blick fest auf das Gesicht des Toten geheftet. Der Freund nickte.

Beim Eintreten war Eleagabal sogleich etwas aufgefallen, aber er hatte sich nicht sagen können, was es war. Irgendetwas war in diesem Raum anders als sonst, es fehlte etwas, eine Starrheit hatte sich über alles ausgebreitet, wie eine Panzerdecke, die nicht zu durchbrechen ist. Mit einem Blick streifte Kuperus das Gesicht Adalberts, der sich, nachdem der Tote auf sein Lager gebettet worden war, scheu zurückgezogen hatte.

Er sah, dass auch Adalbert das gleiche aufgefallen sein mochte. Und jetzt wusste Kuperus plötzlich, was es war. Alle die mechanischen Kunstwerke, die hier untergebracht waren, standen still, die Pendelschläge, das Schnurren der Räder, die mannigfachen kleinen und großen Geräusche, die das Leben dieses Raumes ausmachten, waren verstummt.

Alle diese Maschinen, die eine unaufhörlich tätige Geschicklichkeit im Laufe vieler Jahrzehnte erbaut hatte, an denen die Stationen eines Schicksals abgesehen werden konnten, waren mit dem Tod des Meisters zugleich still geworden. Das Planetensystem unter der Decke hatte seine Bewegung eingestellt. Die Negerin, in deren Augen die Zahlen aufsprangen, die die Stunden anzeigten, schien mitten in einer Verbeugung erstarrt zu sein. In ihren Augen war zu sehen, dass das Werk gerade um halb acht Uhr stehen geblieben war. Langsam wandte sich Eleagabal wieder Regina zu. Neben dem Toten kniend, hatte sie seine Hände ergriffen und sie nach einem scheuen Kuss auf die runzeligen Finger in ihren Händen behalten, als wolle sie den Toten erwärmen. Während die alte Johanna in ratloser Geschäftigkeit ab und zu ging, standen die Männer, die Palingenius heraufgebracht hatten, abseits.

Nur Frau Swoboda hatte sich ein wenig vorgewagt, und es schien, als folge sie einem unwiderstehlichen Zug zum Lager des Toten, an die Seite Reginas. Hatte sie nicht ein Anrecht darauf, neben der Tochter zu knien? Der Rahmenmacher schien in ein stilles Gebet versunken, der Dreifaltigkeitsschuster aber sah mit neugierigen Augen herum, in diesem mit so vielen sonderbaren Geräten angefüllten Raum, von dem man sich die merkwürdigsten Dinge erzählte und den zu sehen einer seiner brennendsten Wünsche gewesen war.

Nun erhob sich Regina und trat auf die Männer zu, um ihnen zu danken. Zwischen den vorgeschobenen Köpfen und den verlegen wankenden Schultern erblickte sie ein Gesicht . . . sie stieß nur einen leisen Schrei aus und fuhr einmal mit der Hand über die Augen. Dann sah sie noch einmal hin, es war Adalbert, und es schien ihr, als sei er bestrebt, sich vor ihr zu verbergen. Nach einem sekundenkurzen Beben des ganzen Körpers vollführte sie ihre Absicht und gab dem Rahmenmacher zuerst und dann dem Dreifaltigkeitsschuster die Hand. Sie wollte vor den Fremden nichts von ihrer Überraschung zeigen. Als sie auch Adalbert die Hand gab, fühlte sie, dass seine Finger nicht wärmer waren als die des Toten.

Verlegen grüßend stolperten die fremden Männer zur Türe hinaus. Einen Augenblick war es, als ob ihnen Adalbert folgen wolle; aber ein Wink Eleagabals hielt ihn zurück. Er stand und sah in Reginas Augen, bittend, mit einem scheuen und heißen Ausdruck, mit einer Leidenschaft des Gefühls, die ihn über sich erhöhte, so dass er in diesem Moment das Bewusstsein seines Unwertes verlor.

„Bist du endlich gekommen?“ fragte Regina, als die Tritte der Männer auf der Turmtreppe verhallten. „Bist du da?“

„Und, wenn du mich nicht von dir schickst . . . ich will jetzt immer bei dir bleiben.“

Verwundert blickte Frau Swoboda auf und entdeckte die Beziehungen, die zwischen Regina und dem jungen Mann bestanden, der sich immer nach dem Befinden des Türmers erkundigt hatte. Sie sah, dass sich die beiden an der Leiche des Vaters küssten, und sie wurde nur noch gerührter dadurch, dass sie der eigenen Jugend gedenken musste.

„Und weißt du alles?“ fragte Adalbert.

„Ich will es nicht wissen. Nun bist du wieder da.“

„Gerettet.“

„Warst du in Gefahr? Ich werde achtgeben auf dich . . .“ Noch einmal keuchte jemand die Turmtreppe hinauf. Es war der Bezirksarzt, der den Toten zu besichtigen und den Totenschein auszustellen hatte. Als er gegangen war, begannen die Frauen den Leichnam zu entkleiden und zu waschen.

Eleagabal Kuperus winkte Adalbert, ihm in das Wohnhaus zu folgen. Sie setzten sich an dem Tisch des Türmers einander gegenüber.

„Nebenan liegt ein Toter“, sagte Adalbert nach einer Weile. „Ihr Vater! Aber ich. . . ich bin so maßlos glücklich. Ist das nicht ein Frevel? Und ich bin ganz verwirrt.“

„Sehen Sie: es ist, wie ich gesagt habe. Die große Liebe verzeiht alles.“

„Ja . . . ja! Aber ob sie alles weiß . . .“

„Ich glaube, sie ahnt es wenigstens.“

„Ich werde ihr alles sagen. Ich will ganz rein sein vor ihr.“

Eleagabal Kuperus nickte zustimmend mit dem Kopf. „Später . . . später einmal.“ „Aber ich verstehe noch nicht alles. Einiges ist mir noch dunkel. Warum hat sie auf meine dringenden Briefe nicht geantwortet! Der Vater war krank. Da wurde sie karg. Aber als er wieder gesund war, warum hat sie da nicht geschrieben?“

Lächelnd sagte Kuperus, und die beiden Eberhauer krochen wie gekrümmte Messer aus ihren Scheiden: „Es ist auf meinen Rat geschehen; ich habe ihr geraten, nicht zu antworten. Und Regina hat gehorcht. Sie wissen nicht, was es sie für Kämpfe gekostet hat. Aber sie hielt sich brav, weil sie mir geglaubt hat, dass es zu ihrem Glück ist.“

„Zu ihrem Glück? Aber es hätte sein können, dass ich . . . sehen Sie, ich hätte verzweifeln können und ganz . . . ganz . . . der anderen verfallen.“

„Ich habe gewusst . . . wenn Sie so ganz um und umgewühlt werden, so wird Ihnen die Besinnung kommen . . . Sie werden wieder unser fein.“

Adalbert sann eine Weile nach: „Es ist wahr!“ sagte er schließlich, „es ist wahr.“ Aber nun fuhr er mit plötzlicher Energie fort: „Und jetzt ist es auch zu Ende mit meiner Sklaverei. Ich mache mich frei.“

Mit ruhig glänzenden Augen sah ihn Kuperus an. Es brannte ein tiefes Feuer in diesem Blick. „Werden Sie stark genug dazu sein?“

„Ich werde an alles denken, was ich schon erduldet habe. Vor allem aber daran, dass ich Regina beinahe verloren hätte.“

„Brav! brav! Und jetzt mein Lieber, will ich Ihnen ein Buch zu lesen geben. Ich glaube, dass es Sie in Ihrem Entschluss stärken wird. Erwarten Sie mich hier, ich will es holen gehen.“

Und damit verließ Eleagabal den jungen Freund, der in einer sonderbaren Mischung von Glück und Besorgnis, von Hingabe und Empörung verharrte. Nebenan war es ruhig geworden. Das Ab- und Zulaufen, mit dem alles Nötige herbeigeholt wurde, war zu Ende, und die alte Johanna kam nur noch ein letztes Mal durch das Wohnzimmer, gerade als Eleagabal Kuperus ging.

Adalbert hörte nichts als ein dumpfes, eintöniges Murmeln, das gleichmäßige Beten der alten Swoboda, die nun ihre als Kerzelweib erworbene Fertigkeit für den Jugendgeliebten verwenden durfte. Aus ihrem Vorrat hatte sie zwei dicke, große und ein Dutzend kleinere Wachskerzen gespendet. Sie brannten in zwei Reihen zu beiden Seiten des Toten, mit blassen, fast unsichtbaren Flammen, denn das Sonnenlicht des hellen Herbsttages war in breiten Flächen eingefallen und ließ die künstlichen Lichter nicht aufkommen. Regina stand am Fenster, mit dem Rücken gegen einen der kleinen Schränke gelehnt, in dem das sinnreiche Schachtelsystem des Vaters Hunderte von Werkzeugen und kleinen Maschinen unterzubringen gewusst hatte. Es war ihr, wie sie so dastand und den Blick auf den mit weißen Binden umwickelten Kopf des Vaters ruhen ließ, zwar traurig, aber auch unendlich friedlich zumute. War nicht gerade dieser Tod das notwendige Ende seines Lebens? War nicht erst dadurch sein Geschick erfüllt?“

Mürrisch berichtete die alte Johanna, dass Adalbert draußen allein sei, und Regina löste sich darauf langsam von ihrem Platz und ging zu ihm. Sie legte ihm die rechte Hand auf den Kopf, und Adalbert fasste ihre Linke und küsste sie inbrünstig. So fand sie Eleagabal Kuperus, als er nach geraumer Zeit wieder das Turmzimmer betrat.

„Hört ihr nichts?“ fragte Regina, „hört ihr nichts?“

„Was denn?“

„Ein Gesang . . . eine Melodie! Nichts! Ich weiß nicht . . . als ob sie aus dem Boden hervorkäme . . .“

Eleagabal Kuperus trat zu Regina hin: „Sie quillt dir überall entgegen. Sie scheint den ganzen Turm zu erfüllen. Endlos, eintönig, eine unsagbar traurige Litanei. Sie quält dich wie ein schweres Gefühl, das dich nicht verlässt. Nicht wahr?“

„Ja! Ja!“

„Die Mauern sind voll von diesen Tönen, die von Tränen feucht zu sein scheinen. Es ist ein Gewisper von tausend klagenden Stimmen. Es kommt aus großen Tiefen.“

„Ja!“ flüsterte Regina. Und Adalbert nickte. Auch er hatte diese klagende Melodie schon gehört, diese trostlose Litanei, die endlos dahinwallte, ein Zug von müden Tönen, die ihre Seele verloren haben.

„Es ist die Stimme des Domes“, fuhr Kuperus fort, „die Stimme des Domes. Alle die durch Jahrhunderte anhäufte Qual, die Unerfüllten Wünsche, die ringende Sehnsucht, die sich hier vor den Altären aus den Herzen der Beter erhob. Wohl jeder hört so einmal die Stimme des Domes. Einmal wenigstens. Und die tröstenden Worte der Priester sind darin die vergeblichen Beruhigungen und Versprechungen. Es ist die Stimme des Domes.“

„Die Stimme des Domes“, murmelte Regina.

Der Herr der Luft

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