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Die holde Gärtnersfrau

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Am Tatort war es so wie immer, wenn ein größeres Ding passiert war. Der Kommissar war nervös und gab unentwegt Weisungen, daß dieses und jenes zu geschehen hätte, und Inspektor Pernell und noch einige Kriminalbeamte sagten, »Jawohl, Herr Kommissar« und taten dann, was sie für richtig hielten. Die Sekretärin hielt ihren Stenogrammblock wie ein Schutzschild vor ihre Brust, obwohl für diese in der gegenwärtigen Situation überhaupt keine Gefahr bestand, und wartete, bis der Kommissar mit dem Diktat des Tatortberichtes beginnen würde. Ihre Anwesenheit am Tatort war eine Neueinführung des Kommissars, seit er Leiter der Abteilung geworden war. »Quod non est in actis, non est in mundo«, sagte er oft sehr intellektuell – was nicht in den Akten steht, existiert nicht auf der Welt – und er konnte es nicht erwarten, alles zu Papier zu bringen.

Chefinspektor Marcel Trudeau hatte die Hände in den Taschen, rauchte an seiner dritten Gauloise und sah abwechselnd auf den sehr lebhaften Kommissar und den sehr toten, verkohlten Leichnam, den man bereits zum Abtransport ins Gerichtsmedizinische Institut an den Straßenrand geschafft hatte. Die Sekretärin kaute jetzt an ihrem Bleistift und betrachtete verstohlen das Gesicht des Chefinspektors. Wieder einmal mußte sie daran denken, daß wohl kaum jemand grantiger dreinschauen konnte als der Alte. Und hätte sie jetzt auf höheren Befehl eines der beiden Gesichter abküssen müssen – die Wahl wäre ihr schwer gefallen. Sie mußte lächeln. Den Bleistift nahm sie aus dem Mund.

»Können wir jetzt endlich mit dem Tatortbericht beginnen«, sagte der Kommissar ungeduldig. Die Sekretärin nickte, und der alte Chefinspektor murmelte in seine Gauloise, daß weit und breit niemand da wäre, der ihn daran hinderte.

»Also, Fräulein«, sagte der Kommissar entschlossen, »schreiben Sie: Rechts oben, Beginn der Tatortuntersuchung: 1.4.1981, 09.30 Uhr…«

»…09.30 Uhr«, wiederholte die Sekretärin, und dann hörte man wieder den Kommissar: »Bei dem mutmaßlich Ermordeten handelt es sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit um den Gärtner Robert Jardin, am 31. März 1911 in Paris geboren, verheiratet, französischer Staatsbürger…«

»Was?!« sagte der Chefinspektor plötzlich laut. »Wann ist der alte Gärtner geboren?« Der Kommissar wiederholte das Datum: »31. März 1911«. Er haßte Unterbrechungen, wenn er am Diktieren war. Zu aller Überraschung zeigte der Chefinspektor plötzlich reges Interesse an dem Fall. »Ich geh jetzt zur Gärtnerswitwe«, sagte er und trabte in Richtung des einstöckigen Ziegelhauses. »Madame Jardin hat ihre Aussagen schon dem Inspektor Pernell gemacht«, rief ihm der Kommissar ärgerlich nach. Aber das war so, als ob man einem tauben Roß was nachschreien würde.

Am Eingang zum Haus sah der Alte seinen Inspektor Pernell, der mit den Kriminaltechnikern und dem Brandsachverständigen diskutierte. »Komm her, Kleiner«, rief er, »komm her zu mir!« Inspektor Pernell kam heran. »Erklär mir noch einmal den Sachverhalt, Kleiner. Aber mach’s kurz!« Pernell begann verdrossen zu berichten. Er mochte es nicht, wenn der Alte »Kleiner« zu ihm sagte. Schließlich war er einen Kopf größer.

Um sechs Uhr früh hatte Madame Jardin die Feuerwehr angerufen. Zu diesem Zeitpunkt brannte das kleine Holzhäuschen in der Gärtnerei bereits lichterloh.

Als die Feuerwehr eintraf, brannte fast nichts mehr. Es glühte und rauchte nur mehr aus einem rechtekkigen, schwarzen Haufen von Holzkohle, der vormals das niedliche Gärtnerhäuschen gewesen war. An sich wäre die abgebrannte Hütte kein riesiger Fall gewesen. Aber dann machte die Gärtnersfrau den Feuerwehrleuten Angaben, die auch die Mordkommission der Pariser Polizei alarmierte:

Etwa um halb sechs, so sagte sie, wären ihr Mann und sie von dem Klirren einer eingeschlagenen Fensterscheibe geweckt worden. Aus dem Schlafzimmerfenster blickend, sahen sie einen jüngeren Mann, der gerade durch ein eingeschlagenes Fenster in die Gartenhütte eindrang. Der mutige Gärtnersmann bewaffnete sich mit einer Harke und ging hinunter, um den mutmaßlichen Einbrecher zu verscheuchen. Dann geschah eine ganze Weile gar nichts. Als dann helle Flammen aus der Holzhütte züngelten, verständigte die Gärtnersfrau die Feuerwehr. Sonst konnte sie nichts angeben. Außer, daß sie ihren Mann samt Harke seitdem nicht mehr gesehen hätte. Aber was lag näher, als die Annahme, der Gärtner hätte den Einbrecher auf frischer Tat ertappt, wurde von diesem ermordet, und anschließend legte dieser verruchte Bursche auch noch Feuer. »Um die Spuren zu verwischen«, sagte Inspektor Pernell. Und das wäre auch die Ansicht des Kommissars.

Dem alten Chefinspektor war anzusehen, daß ihm die Geschichte sehr mißfiel. »Was ist das für eine, diese Gärtnersfrau?«, fragte er.

»Madame Clothilde Jardin, 65 Jahre alt, ist Präsidentin des Verbandes der Antialkoholiker, Sekretärin des Vereines der tugendhaften Frauen und Obfrau des Initiativkommittees ›Ohne Rauch geht’s auch‹. Sie genießt einen ausgezeichneten Ruf«, schloß Pernell.

»Und der tapfere Gärtnersmann mit der Harke«, fragte der Chefinspektor, »war der auch so ein Tugendbolzen wie seine Alte?«

Inspektor Pernell meinte, daß, nach seinen bisherigen Ermittlungen, der Gärtner genau das Gegenteil gewesen wäre. Er hätte mäßig aber regelmäßig getrunken, so seine zwei Liter Rotwein am Tag. Geraucht hätte er etwa drei Packungen Gauloise, ohne Filter. »Ihre Marke«, sagte Pernell schadenfroh, »Ihre Marke, Herr Chefinspektor.« Trotzdem aber wäre der Gärtner als fleißiger Mann in der Umgebung allseits bekannt und geliebt gewesen.

»Na, das beruhigt mich ja«, sagte der Alte. Dann sah er seinem Inspektor aufmerksam ins Gesicht. »Warst du im Schlafzimmer?« fragte er.

Inspektor Pernell war nicht im Schlafzimmer. Was hätte er auch dort zu suchen? Mit dem Alten war es heute wieder einmal besonders schwierig. »Was sollte ich im Schlafzimmer der Gärtners«, fragte er verständnislos. »Komm mit«, sagte der Chefinspektor, »ich zeig’s dir.«

Sie stiegen die Treppe hinauf, kaum zwanzig Stufen, aber der Chefinspektor begann trotzdem hörbar zu schnaufen. Irgendwo im Hause hörte man das Gejammer der Witwe, die von mitfühlenden Nachbarn getröstet wurde. Dann waren die beiden im Schlafzimmer: Altmodische Ehebetten, zwei Nachtkästchen, ein Nachttopf, ein Heiligenbild mit der Muttergottes und dem Jesukindlein.

»Da haben wir’s ja«, sagte der alte Chefinspektor gemütlich. »Was haben wir?« fragte Inspektor Pernell verständnislos. Der Alte suchte einen Aschenbecher. Es war keiner zu sehen. So schnippte er die Asche seiner Zigarette in den Nachttopf. Es zischte leise.

»Pernell«, sagte er böse, »schau dir die Betten an.« Es dauerte etwa fünf Sekunden, bis sich in Pernells grauen Gehirnzellen so etwas wie ein verständnisvoller, heller Blitz entzündete. »Chef«, schrie er, »Chef! Das eine Bett ist ja unberührt, darin hat niemand geschlafen! Das bedeutet ja… das hieße also… da hat ja die Witwe…«

»Eben«, sagte der Alte, »eben. Komm jetzt, Kleiner.« Und dann stiegen sie wieder die Treppe hinunter. Diesmal schnaufte der Chefinspektor nicht. Im Gegenteil. Er summte ein Liedchen vor sich hin. »Lebe wohl, du holde Gärtnersfrau…«, hörte Inspektor Pernell. Es war ein sehr altes Liedchen.

Sie gingen quer über eine Rasenfläche und an der Brandstätte vorbei und kamen in den Hörkreis des Kommissars, der noch immer den Tatortbericht diktierte. »Beantragt wird gerichtliche Obduktion des Toten sowie gaschromatographische Untersuchung hinsichtlich der Brandursache«, hörte man die gefestigte Stimme des Kommissars. Die Sekretärin wollte wissen, wie man »gaschromatographisch« schreibt. Der Kommissar erklärte es ihr.

Der Chefinspektor blieb stehen. »Wie heißt das blöde Wort?« fragte er. Inspektor Pernell beeilte sich zu erklären: »gaschromatographisch«, sagte er. »Kommt von Gaschromatographie. Eine neue Erkenntnis in der Kriminaltechnik. Man kann durch dieses Verfahren eindeutig eine Brandursache feststellen, Chef. Die Gaschromatographie ist seit 1970 ein fixer Bestandteil der Zentralstelle für Kriminaltechnik und…«

»Allerhand«, sagte der Alte beeindruckt. »Allerhand, was es heutzutage schon alles gibt!« Er schüttelte den Kopf. »Zeit für mich«, sagte er, »Zeit für mich, in Pension zu gehen.« Aber vorher, so sagte er noch, vorher müßte er noch in dieses Wirtshaus da drüben gehen. Und tatsächlich, keine 50 Meter von der Gärtnerei entfernt, nur schräg über die Straße, stand ein altes Wirtshaus.

›Zum Gelben Drachen‹ konnte man auf einem verblichenen Schild lesen. Mit freiem Auge.

Inspektor Pernell ging gar nicht mit.

Ein Chef, der nicht einmal die Grundbegriffe der Gaschromatographie kannte, war für ihn erledigt. So blieb er beim Kommissar, der immer noch diktierte…

Nach etwa zehn Minuten kam der Chefinspektor vom ›Gelben Drachen‹ zurück. Er ging geradewegs wieder ins Gärtnerhaus. Die Tatbestandsaufnahme wäre jetzt beendet, rief ihm der Kommissar noch zu. Aber, na ja, Sie wissen ja schon, das war, wie wenn man einem tauben Roß nachschreit…

Es dauerte noch einmal zehn Minuten. Die Leiche war abtransportiert ins Gerichtsmedizinische Institut. Die Feuerwehr war abgefahren. Der Brandsachverständige auch. Die Kriminaltechniker fuhren gerade weg und der Kommissar samt Sekretärin und Inspektor Pernell saßen schon im Auto. Ungeduldig warteten sie auf den Alten. »Immer dasselbe«, sagte der Kommissar und trommelte mit den Fingern an die Windschutzscheibe.

Dann kam er endlich, der Alte.

Sie fuhren schon etwa drei Minuten, und der Chefinspektor zündete sich eine Zigarette an. Die Sekretärin hustete. Es wäre ja jetzt alles klar, sagte der Alte freundlich. Kein Mord, auch kein Einbruch. Höchstens der Tatbestand der Vortäuschung einer strafbaren Handlung. Zu Lasten der Gärtnerswitwe. Aber das überließe er dem Kommissar. Das wäre schließlich ein juridisches Problem.

Den Kommissar hätte fast der Schlag getroffen. »Was reden Sie da!« schrie er hysterisch.

Der Alte plauderte weiter.

Im ›Gelben Drachen‹ und überhaupt in der Umgebung wäre allgemein bekannt, daß der alte Gärtner in seiner Wohnung weder rauchen noch trinken durfte. Wegen seiner tugendhaften Alten. So tat er dieses vornehmlich in der kleinen Holzhütte, dort keifte niemand. »Na, und weil er doch gestern Grund zum Feiern hatte«, sagte der Chefinspektor…

»Was denn für einen verdammten Grund zum Feiern«, schrie der Kommissar.

Das stände ja sogar in dem Tatortbericht, meinte der Chefinspektor.

Der Kommissar war am Überschnappen.

Er wäre doch schließlich nicht besoffen, schrie er. Er wüßte doch noch genau, was er vor einer Viertelstunde diktiert hätte. »Von einem Grund zum Feiern«, schrie er, »da steht in meinem Bericht also wirklich nichts drinnen!«

Es wäre das Datum, erklärte der Chefinspektor nachsichtig. Am 31. März hatte der alte Gärtner seinen 70. Geburtstag. Natürlich feierte er diesen ausgiebig – im ›Gelben Drachen‹. Na und nachher schwankte er wie gewohnt in seine Hütte. Ins eheliche Bett durfte er ja nicht. Die Alte hätte ihn glatt rausgeworfen, wie schon so oft. »Die Brandursache war seine letzte Zigarette«, sagte der Chefinspektor. Seine letzte Zigarette, die er in seinem Rausch nicht mehr ausdämpfte. »Der Fall ist klar, Kommissar, da brauche ich keine Gaschroma, Gaschromi… oder wie das Ding heißt.«

Und was denn dann die Gärtnerswitwe für einen Grund gehabt hätte, eine Einbrechergeschichte zu erzählen, wollte der Kommissar irritiert wissen.

Das müßte man auch verstehen, meinte der Chefinspektor. Diese tugendsame Frau wollte einfach nicht zugeben, daß ihr versoffener Ehegatte an so banalen Folgen seiner Saufereien zugrunde gegangen war. Schon wegen der Nachbarn und so… Daher erfand sie diese Einbruchsgeschichte. »Sie hat übrigens zugegeben, daß das Ganze nur ein Märchen war«, sagte der Chefinspektor.

Man war jetzt im Hof des Polizeipräsidiums.

Man ging die Stufen hinauf. Der Chefinspektor schnaufte wieder.

»Warten wir das Gutachten der gaschromatischen Untersuchung ab«, sagte der Kommissar knapp.

Das Gutachten kam in zwei Tagen. Einwandfreie Brandursache, hieß es, eine brennende Zigarette.

»Großartig«, sagte der Chefinspektor, »was es heutzutage schon alles gibt…«

Inspektor Pernell sagte gar nichts.

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