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Exkurs – Zwei ­Geschichten von dem Jungen, der ­immer »Wolf! Wolf!« rief

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Zur Illustration der Panikmacher-Problematik soll eine alte Geschichte dienen. Die ursprüngliche Erzählung des griechischen Dichters Aesop (620–560 v. Chr.) ist vielleicht vielen vertraut:

Es war einmal ein Junge, der sich langweilte. Offenbar war in der »guten alten« Zeit der legalen Kinderarbeit – der Junge war Schäfer von Beruf – Langeweile bei Jugendlichen schon bekannt, sogar ohne Spielkonsolen, Kabel-TV und Internet. Um seine idyllisch-pastorale Tätigkeit etwas abwechslungsreicher zu gestalten, alarmierte besagter Junge die Bewohner seines Dorfes wegen eines (fiktiven) Angriffs von Wölfen auf die Schafherde, die seiner Obhut anvertraut war. (Ganz offensichtlich litt der Junge unter einem Defizit an Aufmerksamkeit und Anerkennung durch seine Mitmenschen, vermutlich die Schuld seiner Eltern.) Das Dorfkollektiv, besorgt um die kommunalen Ressourcen und deren ökonomische Nutzbarkeit, rüstete sich mit »geeigneten Maßnahmen« und stürmte engagiert dem drohenden Desaster entgegen.

Anstatt aber freudige Erleichterung darüber zu empfinden, dass die drohende Gefahr ohne schlimmere Folgen als Atemlosigkeit, Schweißausbrüche und Erschöpfungssymptome abgewendet werden konnte, murrten die Bürger über den gelungenen Test ihrer Einsatzbereitschaft. Ja, manche von ihnen bedachten unseren Jüngling mit zornigen Worten oder bedrohten ihn gar mit Schlägen! (Ja, ja, es war wirklich eine wilde, barbarische Zeit!)

Wenig später – wir wissen nicht, ob wegen abermals eingetretener Langeweile oder um die Effizienz des Alarm­einsatzes der Bürger durch Wiederholung des Manövers »Wolfswehr«1 zu verbessern – rief der Bursche abermals »Wolf! Wolf!«, und von Neuem starteten die Bürger ihren (humanitären, friedenssichernden) Rettungseinsatz. Wiederum wurde keinem Tier ein Haar gekrümmt, und wiederum ließen es die Dorfbewohner (obwohl zum Teil selbst Schafeigentümer) an Verständnis und Empathie gegenüber unserem jungen Schäfer mangeln. Vielmehr machten einige von ihnen – wir erinnern uns, es handelt sich um griechische Landbevölkerung um ca. 600 v. Chr. – Anstalten, ihre bereits geäußerten Versprechungen bezüglich etwa zu verabreichender Prügel in die Tat umzusetzen.

Usw. usw. – in einer Verfilmung würden jetzt einige Blätter eines Abreißkalenders im Winde davonfliegen …

Nun, eines Tages, im flirrenden Licht der Mittagssonne, unhörbar durch den Lärm der Zikaden und die friedvollen Schalmeienklänge2 unseres Hirten, erscheint: der Wolf!

Der Junge schreit auftragsmäßig aus Leibeskräften. Er versucht, die lethargische Öffentlichkeit aufzurütteln, um unverzüglich zweckdienliche, solidarisch-kollektive Abwehrmaßnahmen zu organisieren. Der Wolf jedoch kommt seiner natürlichen Bestimmung nach, verhält sich artgemäß, folgt seinem Instinkt und reißt ein Schaf.

Da bekommt es der Junge mit der Angst zu tun. Würde er seinen ruhigen Job als Hirte verlieren, so müsste er sich womöglich wesentlich anstrengenderen Tätigkeiten widmen. Zwar könnte die durch das verschwundene Schaf entstandene Verbindlichkeit gegenüber dem Schafseigentümer durch seinen eigenen Verkaufspreis als Sklave abgedeckt werden, die Sklaverei ist schließlich auch ein krisensicherer Job und immer noch besser als gar nichts; … aber trotzdem!

Die Verzweiflung des Jungen war beträchtlich. Aber wieso war das bisher so zuverlässige und dank seiner früheren Probealarme auch ausreichend trainierte Hilfskontingent an hochgerüsteten und -motivierten Dorfbewohnern ausgeblieben? Bittere Vorwürfe über die nachlässig-ignorante Haltung der Landbevölkerung kamen über seine Lippen, als er den Hügel zum Dorf hinauflief. Die Bürger aber sagten: »Warum hast du denn schon früher ›Wolf! Wolf!‹ gerufen, als noch weit und breit keiner zu finden war? Wir haben unsere Motivation inzwischen längst verloren, weil wir uns wie Idioten vorgekommen sind. Außerdem war unsere Aufmerksamkeit durch ein Übermaß an Ablenkungen – Symposien, Satyrspiele, Tragödien und ganz besonders von den soeben eingetroffenen Berichten von den olympischen Spiele – erlahmt.«

Das Dorfoberhaupt, ein alter weiser Mann, meinte schließlich zu dem Jüngling: »Nimm es nicht tragisch, wir werden dir kein Leid zufügen. Merke dir aber – wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Ruf nur dann um Hilfe, wenn diese auch wirklich notwendig ist. Die Menschen werden sonst nicht mehr auf dich hören, dir keine Hilfe bringen und dich für einen Wichtigtuer und Lügner halten.«

So ähnlich3 sprach der alte und überaus weise Dorfvorsteher. Allerdings hat Aesop die wahre Geschichte aus didaktisch-/propagandistischen Gründen für seine Erzählung abgeändert. Offenbar wollte er seine Ruhe finden und das dauernde »Wolf! Wolf!«-Geschrei abstellen. Die ursprüngliche Geschichte ging nämlich so:

… Als der Junge in begreiflicher Erregung ins Dorf gelaufen kam, nachdem der Wolf tatsächlich (!) ein Schaf gerissen hatte, nahm ihn der (in Wirklichkeit etwas weniger alte & weise) Dorfvorsteher beiseite und sprach:

»Ich danke dir, dass du uns auf die intolerable Bedrohung durch die Wölfe aufmerksam gemacht hast. Diese ungeheure Gefahr ist von meinem unfähigen Vorgänger sträflichst vernachlässigt worden. Ich werde sofort einen Ausschuss der Dorfwichtigsten einberufen und mit ihnen Wolfabwehrmaßnahmen beschließen.« Und er eilte davon, um unverzüglich die Tagesordnung für die Sitzungen des Planungskomitees auszuarbeiten.

Der tiefere Grund für diesen unüblichen Eifer war, dass der Dorfvorsteher sein karges Gehalt ziemlich regelmäßig durch Zugriff auf die dörflichen Vorratslager zu ergänzen pflegte, eine Gewohnheit, die bei manchen Bewohnern schon zu kritischem Stirnrunzeln geführt hatte. Einige stellten offen die Frage, ob so ein Dorfvorsteher heutzutage überhaupt nötig sei, und selbst wenn – ob dieser spezielle denn auch der richtige für dieses Amt sei? Auch hatte er erst in der vorangegangenen Nacht großen Gefallen an der überaus jungen Tochter eines angesehenen Dorfindustriellen (und Schafbesitzers) gefunden. Es schien ihm deshalb dringend notwendig, den Dorfbewohnern seine nimmermüde, oft zu Unrecht kritisierte und dem Dorf aber stets zum Vorteil gereichende Tätigkeit zu »kommunizieren«.

Die Klatschweiber (des einen, des anderen und beiderlei Geschlechts) stürzten sich sofort auf unseren armen Jungen. »Was ging dir durch den Kopf, als du den Wolf sahst? Wann hast du deine Mutter zuletzt besucht? Glaubst du, dass der Dorfvorsteher genug gegen Wölfe unternimmt? Wie sehr liebst du eigentlich dein ›Lieblingsschaf‹? – Und war es gerade dieses, das der Wolf geholt hat? Hast du den Wolf womöglich durch dein Verhalten provoziert oder hast du vielleicht immer schon etwas gegen Wölfe gehabt? Von welchem Schneider stammt dein Faltenröckchen? Wirst du deine Geschichte im Amphitheater aufführen lassen? – Und wer soll die Regie übernehmen?« So fragten sie durcheinander, bis der Junge vor lauter Verwirrung nur mehr blöde grinsen konnte und alle weiteren Auskünfte von einem rasch herbeigeeilten, erfahrenen »Freund« gegeben werden mussten.

Bei dieser Gelegenheit wurde natürlich auch vielfach bemerkt, wie sportlich, gut aussehend und gebräunt der Körper des jungen Schäfers war, der nun unter anderem auch schon selbst überlegte, ob er mit seinen Schalmeienklängen nicht eine Konzerttournee durch die Nachbardörfer machen sollte – jetzt, wo er doch endlich prominent war.

Vor die mittlerweile auf der Agora versammelte große Menschenmenge traten nun auch gemessenen Schrittes die Experten – Leute also, die schon selbst einmal von einem Wolf gehört oder sich über einen solchen Gedanken gemacht hatten, oder aber solche, die zwar keine Ahnung hatten, was ein Wolf überhaupt ist, aber ein dringendes Bedürfnis fühlten, den zahlreich versammelten Leuten eine Rede zu halten und ihnen zu erklären, was denn das eigentliche Problem bei der Sache sei.

Alle waren sehr zufrieden, dass ihr zuvor überaus langweiliges Leben im idyllischen griechischen Bergdorf um 600 v. Chr. plötzlich so interessant, ja geradezu aufregend geworden war. Einige regten sich auch wirklich sehr heftig auf, aber da erschien der Dorfrat und verkündete, zur Erleichterung (fast) aller, die soeben beschlossenen »Sofortmaßnahmen«:

Die vier bereits vorhandenen Dorftrottel wurden unverzüglich zu Wolfssicherheitskräften ausgebildet, auf Gott Pan4 vereidigt und zu einer Anti-Wolf-Einsatztruppe zusammengestellt. Weitere Dorftrottel aus der Umgebung würden in Kürze zur Verstärkung angeworben werden. Der Zimmermann des Dorfes freute sich insgeheim sehr, denn das Angebot, das er selbst im Dorfrat gemacht hatte, nämlich hohe, mehrfache Zäune und Wachtürme rund um die Schafsweide zu errichten, war ohne das sonst ortsübliche Feilschen sofort angenommen worden. (Er war deshalb sogar bereit, über die seiner Tochter vom Dorfvorsteher in der vergangenen Nacht angetane Schmach zu schweigen.)

Ein etwas sonderbarer Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten oft belächelt oder sogar offen verspottet worden waren, versprach unter großem Applaus der Anwesenden, sich unverzüglich an die Entwicklung eines neuartigen »Wolf-B-Gone®«-Sprays zu machen, der, sobald er einmal fertig wäre, wirklich alle (!) ihrer Probleme lösen würde.

Natürlich wurden die angekündigten Sofortmaßnahmen auch unverzüglich umgesetzt. Die Schafe mussten sich jetzt, bevor sie die Weide betreten durften, genauestens von den »Sicherheitskräften« auf Wolfsspuren durchsuchen lassen. Besonders streng wurde darauf geachtet, dass keine »Wölfe im Schafspelz«5 durch die Kontrollen kommen konnten. (In Ermangelung von Röntgenanlagen wurden die Tiere von zwei Bewachern einfach gegen die Sonne gehalten). Alle Gegenstände, ganz besonders das störende Fell (unter dem ja ein Wolf hätte versteckt sein können), mussten sicherheitshalber von den Schafen abgelegt werden. Die Schafe mussten sich deshalb vor dem Betreten der Weide jedes Mal gemäß den geltenden Sicherheitsvorschriften frisch scheren lassen, eine Maßnahme, die von dem Pressesprecher des Dachverbandes der Schafscherer mit »endlich fällig« kommentiert wurde.

Patrouillen und Beobachter auf den Wachtürmen bemerkten jede kleinste Unregelmäßigkeit in der Umgebung und verzeichneten diese sofort. (Da die ehemaligen Dorftrottel ja nicht besonders gut schreiben konnten, ritzten sie Zeichen in ihre hölzernen Sitzbänke – von da her stammt der Ausdruck »Datenbank«.)

Missliebige Dorfbewohner, die aus anderen, weiter zurückliegenden Gründen schon hinreichend verdächtig waren, wurden häufig der Lykantophilie beschuldigt. Entsprechend motivierte anständige und einfache Leute, zusammen mit den inzwischen überaus zahlreichen Sicherheitskräften, besuchten gelegentlich solche Bewohner in ihren Hütten, wo sie die Möbel und das sonstige Inventar zerschlugen, um möglicher Kooperation oder auch nur Duldung von Wölfen in deren Behausungen entgegenzuwirken. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass den Wölfen jede Gelegenheit zum Verstecken genommen werden sollte und die potentiellen Lykantophilen somit vor sich selbst geschützt, überzeugt, befriedet und befreit werden würden.

Bald musste jeder, der ein öffentliches Amt im Dorf innehaben wollte (und wer wollte das nicht, in wirtschaftlich schweren Zeiten?), einen Eid6 ablegen, dass er niemals, weder zu früherer Zeit noch hinkünftig, Sympathie, Duldung, Toleranz, Billigung o. Ä. gegenüber Wölfen und wolfsähnlichen Individuen oder Organisationen hatte oder haben würde. Besonders wichtig war das Ablegen dieses Eides für Schauspieler wegen deren Vorbildwirkung für die Dorfjugend. Sämtliche verfügbaren Epen und anderen Schriftwerke wurden auf vermeintlich wolfsfreundliche Passagen durchsucht und entsprechend korrigiert.7

Es ergaben sich natürlich auch einige unbedeutende Anfangsschwierigkeiten. Der Schäferjunge war nach dem Abebben seiner Popularität entlassen worden, weil er nicht die für Sicherheitskräfte notwendige »innere Einstellung« nachweisen konnte. Die Rechnungen des Zimmermanns für Sicherheitsanlagen, der Unterhalt der vielen Wächter und besonders die mit den zahlreichen Koordinierungs- und Expertentreffen verbundenen Spesen führten dazu, dass die Schafherde nach und nach, ein Tier nach dem anderen, verkauft werden musste. Die danach eingetretene kurzfristige Finanzierungskrise wurde nach eingehender Beratung des Dorfrats durch eine Wein- & Olivensolidarabgabe gelöst. Schließlich war es ja auch gerechterweise nicht einzusehen, warum nur die (inzwischen Ex-)Schafzüchter Opfer für die Abwehr der grausamen Bedrohung zu bringen hätten.

Einige dieser Ex-Schafzüchter – darunter besonders der Zimmermann – maulten, wozu die Sicherheitsmaßnahmen überhaupt noch gut seien, wo es doch gar keine Schafe mehr gäbe. Diesen unqualifizierten Kritikern wurde entgegengehalten, dass »der (allerdings nicht einzige) Preis der Freiheit ständige Wachsamkeit sei«, »man ja nie wissen« könne, und »außergewöhnliche Zeiten auch außergewöhnliche Maßnahmen erfordern« würden. Außerdem hatte der Zimmermann sich bekanntlich ohnedies schamlos an den überhöhten Preisen seiner Zäune und Wachtürme bereichert (und seine Tochter soll Gerüchten zufolge ein amoralisches Flittchen sein).

Die auch schon früher eher seltenen Wölfe erwiesen sich übrigens als erstaunlich flexibel. Durch Krach und Hektik der örtlichen Sicherheitsmaßnahmen stark belästigt, verlegten sie ihr Aktionsgebiet und änderten ihr Beuteschema: Sie beschränkten hinfort ihre Diät auf kleine Schweinchen (3), Geißlein (7), Rotkäppchen & Großmutter (je 1), etc.8 Gelegentlich wirkten sie später auch in Filmen (Disney™, Warner™, …) und Gameshows mit (z. B.: Wolf, Ziege, Kohlkopf – und im Ruderboot nur Platz für zwei).

Wenn diese Art des Nahrungserwerbs auch nicht immer erfolgreich war, so erfreuten sich die Wölfe doch eines gesicherten, stressfreien und weitestgehend unbehelligten Daseins. Die wenigen Reibereien mit Menschen verliefen zwar mitunter gewalttätig, waren dafür aber sehr selten (z. B. die fatale Begegnung mit dem Jäger nach dem Verzehr von Großmutter und Rotkäppchen).

Die meisten Berichte über solche Begegnungen waren außerdem stark von den Humanmedien geprägt, und daher durch den Anti-Wolf-Aktivismus propagandistisch dahingehend beeinflusst, dass die Wölfe immer als Verlierer dargestellt wurden. Alles andere wäre Defätismus, Subversion oder schlichtweg Verrat gewesen.

Als schließlich längere Zeit keine Wölfe mehr aufzutreiben waren und das Interesse und die Motivation der Bevölkerung schon wieder nachzulassen drohte,9 kam es zu einer erneuten Krise. Der Rat der Dorfwichtigen bemerkte an winzigen, beinahe ätherischen Anzeichen, dass die durch Wölfe verursachte zivile Ausnahmenotfallsituation kaum mehr jemanden interessierte. Kürzung der Spesen und Rücknahme der Abwehrmaßnahmen schwebten sozusagen fast greifbar über der Agora.

Nach nächtelangen Beratungen gelangte der Dorfrat zu dem Schluss, dass wohl ein geändertes Bedrohungsszenario eingetreten sei. Die Experten wurden befragt, ob es nicht vorstellbar wäre, dass z. B. auch Bären Schafe fressen könnten. Die flexibleren der Experten riefen sofort: »Ja! Ja! Bär! Bär!« – Es müssten unverzüglich Maßnahmen gegen diese noch viel größere Gefahr getroffen werden. Die dämlicheren Experten bestanden darauf, zuerst einmal das Wolfsproblem grundsätzlich, endgültig und ein für alle Mal zu lösen. Natürlich gerade nach eben derjenigen Methode, deren Entwicklung sie demnächst, bei nur geringfügiger Erhöhung ihrer Mittel, vervollkommnen würden.

Es kam alles, wie es kommen musste: Alte und neue Bärenexperten warnten eindringlich vor den lange verkannten Risiken durch die immanente Bärenplage (bzw. den lange unbekannten Risiken, hatte doch niemand in dieser Gegend jemals einen Bären gesehen!). Die Klatschweiber erzählten jedem immer wieder von den überaus schrecklichen Gefahren. Der Dorfrat dankte den Experten für die zum Glück noch rechtzeitig erfolgten Warnungen und versprach, unverzüglich Maßnahmen einzuleiten. Die Wolfssicherheitskräfte bildeten sofort eine »Sonderkommission Problembär«, der Zimmermann erklärte, wie die Zäune um die (mittlerweile schaffreie) Weide bärensicher verstärkt werden könnten, usw. usw.

Kurzfristig drohte der »WolfBuster 600®« – ein verbessertes Nachfolgeprodukt des (zwar bewährten, aber trotzdem wenig eleganten und inzwischen auch schon veralteten) »Wolf-B-Gone®«-Sprays – zum kommerziellen Flop zu werden. Der immer noch etwas sonderbare, aber inzwischen steinreich gewordene Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten inzwischen nicht mehr belächelt oder gar offen verspottet, sondern nach Möglichkeit imitiert wurden, konnte jedoch glücklicherweise durch ein sofort vermarktetes Upgrade sein Produkt zum »Bearliminator Extended 599®« und damit zum überhaupt-noch-nie-dagewesenen Kassenschlager verbessern.

Die Dorfbewohner hätten nun zufrieden sein können, allerdings waren sie – ohne es selbst zu bemerken – in eine Art Spirale geraten. Na ja, einige merkten es natürlich schon, aber je nach charakterlicher Veranlagung nützten sie die Lage schamlos aus, um sich selbst zu bereichern, oder – naserümpfend – fühlten sich weitaus überlegen und bezahlten die immer häufiger werdenden Steuern, Abgaben, Gebühren … mit hochmütiger Verzweiflung.

Den Bären folgten (unvollständige Aufzählung): Hyänen, Löwen, Greife (ursprünglich eigentlich Krähen, aber zum Glück hatte das niemand bemerkt), Kentauren, Zyklopen, Harpyien, Gorgonen, Sirenen sowie die Hydra, Sphinx und Chimäre (besonders Letztere galt als äußerst tückisch).

Obwohl alle diese Gefahren gerade noch knapp von der verängstigten Bürgerschaft abgewendet werden konnten, war das Leben im Dorf doch nie mehr wie früher. Der mittlerweile selbst zum Greis gealterte Junge bereute bitterlich, dass er seinerzeit »Wolf! Wolf!« gerufen hatte. Niemand wollte seine alte Geschichte noch hören. Er wurde von der Dorfjugend (die sich inzwischen nicht einmal mehr von Zombie-Cerberussen ängstigen ließ) verlacht und »Wopa! Wopa!« gerufen. Immer öfter dachte der inzwischen schon selbst beinahe weise gewordene ehemalige Junghirte, er hätte damals einfach die Klappe halten sollen. Bei den (damals noch) zahlreichen Schafen in der Herde wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn eins fehlte – und er hätte sich im Lichte des inzwischen Vorgefallenen bestimmt sehr, sehr bemüht, dass nie wieder ein Wolf ein Schaf aus seiner Herde fräße, und selbst wenn, dann hätte er das Problem viel diskreter gehandhabt.

Es gab allerdings auch wirklich schlimme Auswirkungen: Da ein sehr hoher Anteil der gemeinsamen Bemühungen des Dorfes für die Abwehr der immer gefährlicher werdenden Bedrohungen gebraucht wurde, begann es bald an anderen Dingen zu mangeln. Die Greise des Dorfes, die früher immer von irgendeiner freundlichen Dorfbewohnerin nebenbei mit Essen versorgt worden waren, mussten zunehmend selbst für ihre Ernährung sorgen. Die Kinder, die früher von einigen Dorfbewohnern beaufsichtigt wurden, blieben sich selbst überlassen, weil keiner mehr Zeit für sie hatte. Viele etwas größere Dorfjugendliche glaubten, keine andere Zukunftsaussicht zu haben, als später in die Dorfdeppenbranche einzusteigen. (Wir erinnern uns – dies war die Aufnahmevoraussetzung für die Sicherheitstruppen, und obwohl inzwischen viele Reformen stattgefunden hatten, um »die Effizienz zu steigern«, war dieses Kriterium immer unverändert geblieben.) Aus Verzweiflung über diese Berufsaussichten und viele andere – tatsächliche oder eingebildete – Fehler im System, tranken manche zu viel Wein, andre wurden gewalttätig, manche hockten nur mehr herum und starrten Tag und Nacht ins Herdfeuer, und wieder andere begannen, in diesem Feuer die Kräuter zu verbrennen, die neuerdings haufenweise auf den ehemaligen Weiden wuchsen, um den Rauch zu inhalieren. Vielen früher durchaus vernünftigen und achtbaren Dorfbewohnern war inzwischen schon alles egal – sie mieden Dorfrat und Dorfversammlung, kümmerten sich um nichts mehr und versuchten nur noch, ihre verbliebenen Habseligkeiten vor den Sicherheits-Spendeneinsammlern zu verbergen.

Am schlimmsten war, dass einige der Dorfbewohner auf die Idee kamen, die Schuld an sämtlichen Misslichkeiten einfach den Bewohnern anderer Dörfer in die Schuhe bzw. Riemensandalen zu schieben. Übersiedlungs- und Arbeitsverbote wurden erlassen, der Warenverkehr überwacht, und die Abkömmlinge von Nachbardörfern wurden mit Misstrauen und Schmähungen drangsaliert. Einige etwas weiter entfernte Nachbardörfer wurden verdächtigt, heimlich Wölfe zu züchten oder zumindest demnächst die Mittel dazu zu besitzen. Die inzwischen ja ohnedies kaum ausgelasteten Sicherheitskräfte überfielen dann diese Dörfer, sorgten für völliges Chaos, suchten intensiv nach Wolfsspuren, nahmen alles, was sie brauchen konnten, mit und zogen nach kürzerer oder längerer Zeit – völlige Verwüstung zurücklassend – wieder ab.

Die Nachbardörfer konnten wenig dagegen tun, waren ihre eigenen Dorftrottel doch mengenmäßig weit unterlegen und sie selbst in der Abwehr von Bedrohungen wenig geübt. Der eine oder andere der erzürnten Nachbardörfler versuchte zwar, es den Wolfsbekämpfungstruppen heimzuzahlen – dies führte aber nur zu verstärkten Maßnahmen, weil es ein Beweis niederer feindlicher Gesinnung war.

Begreiflicherweise geriet das Dorf bei den Nachbarn bald in etwas zwielichtigen Ruf. Alle verkauften ihnen gerne Baumaterial für monstersichere Zäune10 und Wachtürme, Nahrungsmittel, Öl (natürlich Oliven-) und Sicherheitsbedarfsartikel. Inzwischen waren Sklaven und Beutegut aber praktisch die einzigen Handelsprodukte unseres Dorfes, während der berühmte »MonsterRepulsor Supreme®« beispielsweise zur Gänze in einem ganz anderen Dorf an der Küste gefertigt wurde. Vielerorts wurden die Dorfbewohner von ihren Mitmenschen als gemeingefährliche, unzivilisierte Irre, mit denen man am besten so wenig wie möglich zu tun hätte, gemieden.

Mit geringfügigen Einschränkungen hätte alles ewig so weitergehen können, war doch die Furcht vor Wölfen – oder eigentlich die Reaktionen, die diese Furcht ­hervorriefen – keinerlei zeitlicher und kaum einer materiellen Beschränkung unterworfen.

Doch es kam anders: Die Römer – die dem Vernehmen nach ursprünglich von einer Wölfin aufgezogen worden waren und deshalb keinerlei Berührungsängste hatten – eroberten schließlich Griechenland. Sie nahmen viele Einwohner mit, als Haussklaven, Ärzte(sklaven), Lehrer(sklaven) … und als Geschichtenerzähler(sklaven). Letztere waren es dann natürlich auch, die die Kunde überall und bis zum heutigen Tage verbreiteten:

»Wolf! Wolf! …«

Na ja – das ist halt eine alte Geschichte! Die Zivilisation ist inzwischen viel weiter entwickelt. Mittlerweile haben wir (mehr oder weniger) demokratisch gewählte Führer, verantwortliche Medien, noch mehr Experten und hochgebildete Sicherheitsfachleute.

Aber lassen Sie uns die Lage einmal näher besehen!

Fehlalarm!

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