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»Die Menschen sind wie Flüsse« Philosophisches und Psychologisches zum menschlichen Wesen

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Es gibt gar keine schlechten Menschen; alle Menschen sind eines Vaters Kinder, alle Menschen sind Brüder und untereinander gleich – keiner ist besser als der andere.

(Briefe)

Es ist einer der gewöhnlichsten und verbreitetsten Aberglauben, daß jeder Mensch nur eine ihm zugehörige, bestimmte Eigenschaft habe, daß ein Mensch gut, böse, klug, dumm, energisch, apathisch u. s. w. sei. Die Menschen pflegen nicht so zu sein. Wir können von einem Menschen sagen, daß er öfter gut als böse, öfter klug als dumm, öfter energisch als apathisch und umgekehrt sei, aber es ist nicht wahr, wenn wir von einem Menschen sagen, daß er gut oder klug, und von einem andern, daß er schlecht oder dumm sei. Wir aber teilen die Menschen immer so ein. Und das ist nicht richtig. Die Menschen sind wie Flüsse: das Wasser ist überall gleich, überall dasselbe, aber jeder Fluß ist bald schmal, bald rasch, bald breit, bald still, bald rein, bald kalt, bald trübe, bald warm. Ebenso auch die Menschen. Jeder Mensch trägt in sich die Keime aller menschlichen Eigenschaften, und manchmal offenbart er die einen, manchmal die andern, und ist oft sich selber ganz und gar nicht ähnlich, während er doch immer dasselbe Selbst bleibt.

(Auferstehung)

Brüderlichkeit ist den Menschen eigentümlich und natürlich. Unbrüderlichkeit, Entzweiung wird künstlich anerzogen.

(Tagebücher)

Der Mensch denkt das, was sein Herz begehrt.

(Tagebücher)

Der Mensch ist doch ein geistiges und tierisches Wesen. Man kann den Menschen in Bewegung setzen, indem man auf sein geistiges Wesen Einfluß übt, und kann ihn in Bewegung setzen, indem man auf sein tierisches Wesen Einfluß übt, so wie man eine Uhr am Zeiger und am Hauptrade in Bewegung setzen kann. Und wie es für die Uhr besser ist, ihre Bewegung durch den inneren Mechanismus zu leiten, so ist es auch angemessener, den Menschen – sich selbst oder andere – durch das Bewußtsein zu leiten.

(Warum die Menschen sich betäuben)

Jeder Mensch, besonders ein Christ, will ein Werkzeug sein, das geistig, nicht physisch wirkt.

(Briefe)

Der Mensch ist nie ein solcher Egoist, wie in Augenblicken seelischer Hochstimmung.

(Die Kosaken)

Der Mensch ist ein von allen anderen abgesondertes Wesen, das seine Grenzen fühlt.

(Tagebücher)

Der Mensch ist ein Wesen außerhalb der Zeit und des Raumes, er sieht sich aber in Bedingungen von Zeit und Raum gestellt.

(Tagebücher)

Damit sich ein Wesen als existierend erkenne, ist es nicht nötig, daß es begrenzt sei. Wenn die Wesen nicht begrenzt wären, existierten sie auch nicht. Wir sagen: der Mensch ist ein bewußtes Wesen, weil es begrenzt ist, aber man könnte ebenso gut sagen: der Mensch ist begrenzt, weil er ein bewußtes Wesen ist.

(Tagebücher)

Für die Menschen sind im Leben nicht Taten das Bestimmende, sondern Worte. Es kommt ihnen nicht sowohl auf die Möglichkeit an, etwas zu tun oder nicht zu tun, als vielmehr auf die Möglichkeit, mit Bezug auf allerlei Gegenstände gewisse Worte von konventioneller Bedeutung zu gebrauchen. Solche Worte, die bei ihnen für sehr wichtig gelten, sind die Worte ›mein, meine‹, deren sie sich in bezug auf die verschiedensten Dinge, auf lebende Wesen und leblose Gegenstände, bedienen, sogar in bezug auf den Erdboden, auf Menschen und auf Pferde. Sie haben untereinander festgesetzt, daß von ein und demselben Dinge immer nur einer ›mein‹ sagen darf. Und wer nach diesem unter ihnen vereinbarten Spiel von der größten Anzahl von Dingen ›mein‹ sagt, der gilt bei ihnen für den Glücklichsten. Weshalb das so ist, weiß ich nicht; aber es ist so.

(Der Leinwandmesser)

Es ist leichter, selbst nachzugeben, als andere zu beugen.

(Familienglück)

In der Jugend sind alle Seelenkräfte auf das Zukünftige gerichtet, und dieses Zukünftige nimmt unter dem Einfluß der Hoffnung, die nicht auf der Erfahrung der Vergangenheit beruht, sondern auf der eingebildeten Möglichkeit des Glückes, so verschiedenartige, lebendige und bezaubernde Formen an, daß schon die bloßen Begriffe und die Mitteilung der Phantasien von künftigem Glück ein wirkliches Glück dieses Alters bilden.

(Knabenalter)

Die Menschen, die einem Führer folgen, ihm glauben und auf ihn hören, irren unbedingt im Dunkeln, mitsamt ihrem Führer.

(Tagebücher)

Was für ein zerstörungssüchtiges Wesen ist doch der Mensch, wieviel lebende Organismen mannigfachster Art vernichtet er, um sein eignes Leben zu erhalten!

(Chadschi Murat)

Ist es denn den Menschen zu eng auf dieser schönen Welt, unter diesem unermeßlichen Sternenhimmel? Kann sich denn wirklich inmitten dieser bezaubernden Natur im Herzen des Menschen das Gefühl von Feindschaft und Rachsucht oder die Leidenschaft, seinesgleichen auszurotten festsetzen? Alles Böse im Menschenherzen sollte schwinden bei der Berührung mit der Natur, diesem unmittelbarsten Ausdruck alles Schönen und Guten.

(Der Überfall)

Nur jene Menschen, welche starker Liebe fähig sind, können auch starke Schmerzen empfinden; aber das Bedürfnis zu lieben, dient ihnen auch als Gegenwirkung gegen den Schmerz und macht sie wieder gesund. Daher ist die moralische Natur des Menschen noch lebenskräftiger als die physische; Schmerz tötet nie.

(Kindheit)

Wer die Schüchternheit aus Erfahrung kennt, weiß, daß dieses Gefühl sich im geraden Verhältnisse zur Zeit vergrößert, während die Entschlossenheit sich im umgekehrten Verhältnisse vermindert; das heißt, je länger dieser Zustand währt, desto unüberwindlicher wird er und desto geringer wird die Energie.

(Kindheit)

Die Eitelkeit ist ein Gefühl, das sich mit echter Trauer ganz und gar nicht verträgt, und dabei ist dieses Gefühl so fest verwachsen mit der menschlichen Natur, daß es selbst durch den größten Schmerz nur sehr selten ganz vertrieben wird. Eitelkeit im Schmerz äußert sich in dem Wunsche, sehr betrübt oder unglücklich oder stark zu erscheinen; und diese niedrigen Wünsche, die wir nicht eingestehen, die uns aber beinahe nie – selbst im bittersten Leide nicht – verlassen, nehmen dem Schmerz Kraft, Würde und Aufrichtigkeit.

(Kindheit)

Es ist ein großer Irrtum zu denken, daß die menschliche Vernunft etwas Vollkommenes sei und dem Menschen alles entdecken könne.

(Tagebücher)

Es wird mir immer klarer, daß der Mensch der fremden Einflüsterung umso mehr zugänglich ist, je schwächer er in seinem Gefühlsleben ist und je weniger er des Selbstdenkens fähig ist.

(Tagebücher)

Je stärker der Mensch geistig ist, desto weniger ist er der fremden Eingebung unterworfen, sondern unterliegt der eigenen Eingebung und umgekehrt.

(Über Erziehung und Bildung)

99 unter 100 Handlungen entstehen durch Nachahmung, Suggestion und Instinkt. Eine Handlung unter 100 entspringt aus der Vernunft; aber diese eine unter 100 Handlungen ist das, was die Menschheit in Bewegung setzt, ist das eigentliche, wahre Leben.

(Tagebücher)

Was für eine schreckliche Eigenschaft ist doch die Selbstzufriedenheit! Das ist eine Art Zufrieren des Menschen, es bildet sich rings um ihn eine Eiskruste, die jedes innere Wachsen, jede Gemeinschaft mit den anderen unmöglich macht; und diese Eiskruste wird immer dicker!

(Tagebücher)

Die Menschen leben ihre Gedanken, setzen die Gedanken Anderer in Leben um, sie leben ihre Gefühle, setzen die Gefühle Anderer in Handlungen um (d. h. sie lassen sich durch die Gefühle der Andern leiten). Der beste Mensch ist der, welcher seine eigenen Gedanken lebt und sich von den Gefühlen der Andern bestimmen läßt; die schlimmste Sorte Mensch ist die, welche sich von fremden Gedanken und fremden Gefühlen leiten läßt. Aus den verschiedenen Verbindungen dieser vier Motive des Handelns, ergibt sich die ganze Verschiedenheit der Menschen. Es gibt Menschen, die weder eigene noch fremde Gedanken haben und die nur in den Gefühlen anderer Menschen leben; das sind die aufopferungsvollen Närrchen, die Heiligen. Es gibt Menschen, die nur in ihren eigenen Gefühlen stecken – das sind Tiere. Es gibt Menschen, die nur in ihren eigenen Gedanken leben: die Weisen, die Propheten. Und es gibt Menschen, die nur in fremden Gedanken zuhause sind: das sind die Gelehrten und die Schwachsinnigen. In der Mischung dieser Eigenschaften besteht die ganze Musik der menschlichen Charaktere.

(Tagebücher)

Alle Menschen leben und wirken teils eigenen Gedanken gemäß, teils gemäß den Gedanken anderer Leute. Darin, in wie weit die Menschen nach eigenen Gedanken und in wie weit nach den Gedanken anderer Leute leben, darin besteht einer der Hauptunterschiede der Menschen unter einander: die einen brauchen in den meisten Fällen ihre Gedanken gleichsam zu einem geistigen Spiel, gehen mit ihrem Intellekt um, wie mit einem Schwungrad, von dem der Transmissionsriemen abgenommen worden, und in allen ihren Handlungen unterwerfen sie sich fremden Gedanken – dem Brauch, der Überlieferung, dem Gesetz. Die anderen dagegen, die ihre eigenen Gedanken für die Hauptbewegkraft ihrer ganzen Tätigkeit halten, geben fast immer den Forderungen ihres Intellekts Gehör und unterwerfen sich ihm, und nur selten, und dies nur nach kritischer Schätzung, folgen sie dem, was die anderen entschieden haben.

(Auferstehung)

Zu den qualvollsten geistigen Leiden gehört die Situation, wenn die Menschen dich nicht verstehen und du dich mit deinen Gedanken hoffnungslos einsam fühlst.

(Tagebücher)

Es gibt Charaktere, die sich an keine der Abscheulichkeiten erinnern, die sie verübt haben, sie erinnern sich aber an alles, was man ihnen angetan hat.

(Tagebücher)

Der Mensch besitzt die Eigentümlichkeit, die Leiden nicht zu sehen, die er nicht sehen will. Und die Leiden, die er selbst verursacht, will er eben nicht sehen.

(Tagebücher)

Ein wunderlich Ding: ich weiß von mir, wie böse und dumm ich bin, während die andern mich für einen genialen Menschen halten. Wie muß es da erst mit den andern Leuten bestellt sein?

(Tagebücher)

Einer der häufigsten und folgenschwersten Irrtümer, dem die Leute anheimfallen, ist der, daß sie das für gut halten, was ihnen lieb ist.

(Tagebücher)

Ich mag Menschen nicht, wenn sie betrunken sind, aber ich kenne welche, die interessant werden, wenn sie einen Schwips haben, die dann etwas kriegen, was ihnen in ihrem nüchternen Zustand nicht natürlich ist – Witz, Schönheit des Gedankens, Geistesgegenwart und Reichtum der Sprache. In solchen Fällen bin ich bereit, den Wein zu segnen.

(Erinnerungen an Lew Nikolajewitsch Tolstoi)

Das allerschlimmste ist der Rausch, durch Wein, Spiel, Gewinnsucht, Politik, Kunst oder Verliebtsein. Mit solchen Menschen kann man solange nicht sprechen, bis sie ausgeschlafen haben. Furchtbar.

(Tagebücher)

Wie gut ist es, daß man die Folgen seiner Handlungen nicht kennt! Wenn man sie kennte, (…) so würde man sich zu nichts mehr entschließen. So aber entschließt man sich, nicht weil man die Folgen kennt, sondern weil man muß.

(Tagebücher)

Sie sind alle Menschen, und haben ihre Fehler wie wir; weshalb also soll es Mißgunst und Hader geben?

(Anna Karenina)

Je länger man lebt, desto öfter verändert man sich (…) Ich denke, die Mängel und die guten Eigenschaften – die Grundlagen des Charakters bleiben immer dieselben, aber die Ansichten über das Leben und über das Glück müssen sich mit den Jahren ändern.

(Briefe)

Je länger ich lebe, desto mehr fange ich an, die Menschen zu schätzen, die nie störrisch werden.

(Briefe)

Übrigens spürt man den Zauber der Ruhe erst nach der Ermüdung, und die Freuden der Liebe nur nach dem Verlust.

(Briefe)

Der Mensch überlebt Erdbeben, Epidemien, die Schrekken der Krankheit und alle Todesqualen der Seele, aber seine marterndste Tragödie all die Zeit war, ist und wird sein – die Tragödie des Schlafzimmers.

(Erinnerungen an Lew Nikolajewitsch Tolstoi)

Wenn der Mensch nicht lüstern wäre, hätte er gar keinen Begriff für Keuschheit.

(Briefe)

Das Plaudern – ist die allertörichteste und doch auch wieder eine große Sache.

(Briefe)

Ja ich bin dumm gewesen; ich glaubte noch an Menschen und liebte sie und opferte mich für sie auf. Aber Erfolg haben in der Welt nur diejenigen, die schändlich und nichtswürdig sind.

(Krieg und Frieden)

Es gibt keine Verhältnisse, an die sich der Mensch nicht gewöhnen könnte; besonders wenn er sieht, daß alle, die ihn umgeben, ebenso leben.

(Anna Karenina)

Wenn zwei Menschen im Streit miteinander leben, so sind immer beide schuldig, und die eigene Schuld wiegt immer schrecklich schwer, wenn die andere Person nicht mehr ist.

(Krieg und Frieden)

Es ist sonderbar, wenn man bedenkt, wie leicht wir Böses sprechen.

(Briefe)

Wer kennt nicht jene geheimnisvollen, wortlosen Beziehungen, die sich in dem kaum merklichen Lächeln, in einer Bewegung oder in einem Blick, bei Menschen, die immer zusammenleben, verraten: bei Brüdern, Freunden, Ehegatten, bei Herr und Diener, besonders, wenn diese Leute nicht vollständig aufrichtig gegeneinander sind. Wie viele unausgesprochene Wünsche und Gedanken, wieviel Furcht, durchschaut zu werden, drükken sich in einem zufälligen Blicke aus, wenn die Augen sich scheu und zaghaft begegnen!

(Knabenalter)

In Nechljudow waren, wie in allen Leuten, zwei Menschen. Der eine, geistige, strebte nur nach dem Heil, das auch anderen zum Heile gereicht; und der andere, der animalische Mensch, nur nach dem eigenen Heil, bereit, diesem das Wohl der ganzen Menschheit zum Opfer zu bringen.

(Auferstehung)

Damals sah er sein wahres Ich in seinem inneren, geistigen Menschen, jetzt galt ihm sein gesundes, frisches, animalisches Ich als der eigentliche Mensch.

Und diese ganze furchtbare Wandlung hatte sich nur dadurch in ihm vollzogen, daß er aufgehört hatte, sich selbst zu glauben, und statt dessen begonnen hatte, andern zu glauben, weil es ihm gar zu schwer ward, zu leben, indem er sich selbst glaubte; wenn er nämlich sich selbst glaubte, mußte er fast jede Frage so entscheiden, daß die Entscheidung zu Ungunsten seines animalischen Ichs ausfiel, das nur nach leichten Genüssen strebte; wenn er dagegen den andern glaubte, brauchte er nichts selbst zu entscheiden, alles war vielmehr bereits entschieden, und zwar gegen sein geistiges Ich und zugunsten seines animalischen Ichs. Und nicht genug daran: wenn er sich selbst glaubte, konnte er sicher sein, daß die Menschen ihn stets verurteilten – glaubte er dagegen den andern, dann war er des Beifalls von seiten derjenigen, die ihn umgaben, gewiß.

(Auferstehung)

Nichts ist schlimmer, als seine üble Laune anerkennen (…) Ich gestehe mir so etwas nie ein, und bin daher immer bei guter Stimmung.

(Auferstehung)

Die Menschen können über mich urteilen, wie sie wollen; Menschen kann ich betrügen, mich selbst aber nicht!

(Auferstehung)

Jeder Mensch muß, um handeln zu können, seine Tätigkeit für wichtig und gut halten. Und daher wird der Mensch, gleichviel in welcher Lage er sich befindet, sich stets eine solche Ansicht vom menschlichen Leben überhaupt zu eigen machen, vermöge welcher ihm seine Tätigkeit wichtig und gut erscheinen muß.

Man pflegt gewöhnlich zu glauben, daß ein Dieb, ein Spion, eine Prostituierte ihre Profession für schlecht halten und sich ihrer schämen müssen. Es geschieht aber das gerade Gegenteil davon. Die Menschen pflegen, vom Schicksal und durch ihre eigenen Sünden und Fehler in eine gewisse Lage gebracht, sei dieselbe auch noch so schief, sich immer eine Lebensanschauung zu bilden, die es ihnen ermöglicht, ihre Position für gut und achtungswert zu halten. Um aber eine solche Anschauung aufrecht erhalten zu können, halten sich die Leute instinktiv zu dem Kreise der Gesellschaft, in dem diese Auffassung des Lebens eine allgemeine Anerkennung genießt. Wir wundern uns darüber, wenn es sich um Diebe handelt, die mit ihrer Geschicklichkeit, um Prostituierte, die mit ihrer Lasterhaftigkeit, oder um Mörder, die mit ihrer Grausamkeit prahlen. Aber es wundert uns nur darum, weil der Kreis dieser Leute ein beschränkter ist und, was die Hauptsache ist, weil wir selbst uns außerhalb dieses Kreises befinden.

Aber findet nicht dieselbe Erscheinung bei den Reichen statt, die mit ihrem Reichtum, das heißt Raub, prahlen, bei den Kriegsführern, die mit ihren Siegen, das heißt Mordtaten, bei den Machthabern, die mit ihrer Macht, das heißt Gewalttätigkeit, prahlen? Wir sehen bei diesen Leuten die zum Zwecke einer Entschuldigung ihrer Position vorgenommene Entstellung der Anschauung vom Leben, vom Guten und vom Bösen, wir sehen diese Entstellung nur darum nicht, weil der Kreis von Leuten mit solchen entarteten Anschauungen ein größerer ist, und weil wir selbst zu diesem Kreise gehören.

(Auferstehung)

Ein guter Mensch, der seine Fehler nicht eingesteht und sich stets rechtfertigen will, kann ein Ungeheuer werden.

(Tagebücher)

Nichts erweicht das Herz so sehr wie das Bewusstsein der eigenen Schuld, und nichts verhärtet es so sehr, wie der Unfehlbarkeitsdünkel.

(Tagebücher)

Je schuldiger man vor seinem eigenen, wiewohl verborgenen Gewissen ist, desto lieber und ganz unwillkürlich sucht man die Schuld bei anderen, und besonders bei denen, gegen die man sich vergangen hat.

(Tagebücher)

Eines der dringendsten Bedürfnisse des Menschen, das so dringlich wie Essen, Trinken, Wollust, ja noch dringlicher als diese ist, ein Bedürfnis, dessen Existenz wir häufig vergessen, ist das Bedürfnis, seine Person hervorzutun, zu wissen, das habe ich getan. Sehr viele Handlungen, die an sich unerklärlich wären, sind durch dieses Bedürfnis verständlich. Man darf es bei der Erziehung und beim Verkehr mit Menschen nicht vergessen. Vor allem muß man sich bemühen, daß dieses Bedürfnis Tätigkeit erzeugt und nicht Prahlerei.

(Tagebücher)

Man muß sehr auf der Hut sein, um die Eitelkeit und die Liebe zum Lob in sich nicht großwerden zu lassen. Wenn der Feind einen Menschen verderben wollte, gelänge es ihm fast leichter durch Lobeserhebungen als durch Verleitung zum Trunke. Es entwickelt sich beim Lob eine krankhafte Empfindlichkeit, die zu haltloser Schwäche führt und die beim Tadel in Erbitterung und Mutlosigkeit ausartet. Hauptsächlich vermehrt sich die Kränklichkeit und Verwundbarkeit.

(Tagebücher)

Der Franzose hat Selbstvertrauen, weil er sich persönlich als Geist und Körper für unwiderstehlich bezaubernd hält, sowohl für Männer als für Damen. Der Engländer hat Stolz und Selbstvertrauen darum, weil er ein Bürger des besteingerichteten Reichs der Welt ist und darum als Engländer immer weiß, was er zu tun hat und überzeugt ist, daß alles, was er als Engländer tut, unzweifelhaft gut sei. Der Italiener hat Selbstvertrauen, weil er von lebhaftem Temperament ist und leicht sich und andere vergißt. Der Russe hat Selbstvertrauen eben deshalb, weil er nichts weiß und nichts wissen will, weil er nicht glaubt, daß man irgend etwas sicher wissen könne. Der Deutsche besitzt ein stärkeres und widerlicheres Selbstvertrauen als alle anderen, weil er sich einbildet, er wisse die Wahrheit, hält die Wissenschaft, die er sich selbst erdacht hat, aber für absolute Wahrheit.

(Krieg und Frieden)

Wenn ich an mein Knabenalter zurückdenke (…), verstehe ich vollkommen die Möglichkeit des schrecklichsten Verbrechens ohne einen Zweck, ohne den Wunsch zu schaden, nur so aus Neugier, aus dem unbewußten Verlangen, etwas zu tun. Es gibt Augenblicke, in welchen die Zukunft dem Menschen in so düsterem Lichte erscheint, daß er sich fürchtet, seinen geistigen Blick auf sie zu richten, daß er die Tätigkeit des Verstandes in sich anhält und sich selbst zu überzeugen sucht, daß das Zukünftige nicht sein wird und das Vergangene nicht war. Zu solchen Augenblicken, wenn der Gedanke die willenlose Stimmung nicht im voraus beurteilt, und wenn als einzige Triebfeder des Lebens die Sinneninstinkte übrig bleiben, begreife ich, daß ein unerfahrenes Kind, das besonders zu diesem Gemütszustände veranlagt ist, ohne Zögern und ohne Furcht mit einem Lächeln der Neugier an das eigene Haus Feuer legt und einen Brand anfacht, an das Haus, in dem seine Brüder, sein Vater, seine Mutter, die es alle zärtlich liebt, schlafen. Unter dem Einfluß einer ebensolchen, zeitweiligen Geistesabwesenheit – man möchte sagen Zerstreutheit – schwingt der siebzehnjährige Bauernbursche beim Anblick der Schneide des eben geschliffenen Beiles neben der Bank, auf welcher mit dem Gesicht nach unten sein alter Vater schläft, plötzlich das Beil und sieht mit stumpfer Neugier zu, wie das Blut aus dem zerschnittenen Hals unter die Bank rinnt; unter dem Einfluß dieser selben Gedankenlosigkeit und instinktiven Neugier empfindet der Mensch eine Art von Genuß darin, sich an den äußersten Rand eines Abhanges zu stellen und zu denken: wie, wenn ich mich da hinunterstürze? Oder eine geladene Pistole an seine Stirn zu halten und zu denken: wie, wenn ich den Hahn losdrücke? Oder eine angesehene Persönlichkeit, für welche die ganze Gesellschaft kriechende Verehrung hegt, anzusehen und dabei zu denken: wie, wenn ich jetzt hingehe, ihn an der Nase fasse und sage: ›Nun mein Lieber, komm einmal mit‹?

(Knabenalter)

Es ist oft zu beobachten, daß in bezug auf Schlauheit ein dummer Mensch klügere leitet.

(Krieg und Frieden)

Für die besten, freundschaftlichsten und einfachsten Beziehungen sind Lob und Schmeichelei ebenso unentbehrlich wie die Schmiere für das Wagenrad.

(Krieg und Frieden)

Er war einer jener Theoretiker, welche ihre Theorie so sehr lieben, daß sie das Ziel derselben darüber vergessen – ihre Anwendung auf die Praxis. Aus Liebe zur Theorie verabscheute er auch jede Praxis und wollte nichts davon wissen.

(Krieg und Frieden)

Über Recht und Unrecht zu entscheiden, ist dem Menschen nicht gegeben. Der Mensch hat immer geirrt und wird immer irren und in keiner Beziehung mehr als in der Beziehung auf das, was er für Recht und Unrecht hält.

(Krieg und Frieden)

Keiner ist besser als der andere

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