Читать книгу Worin besteht mein Glaube - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 8
2 Fortsetzung. Von kirchlichen Lehren unbeeinflusste Würdigung der Bergpredigt zeigt als Grundlehre derselben das Gebot: »Widerstrebe nicht dem Übel!«
ОглавлениеNachdem ich begriffen, dass die Worte: widerstrebe nicht dem Übel, sagen wollen: widerstrebe nicht dem Übel, ward plötzlich meine bisherige Vorstellung von dem Sinne der Lehre Christi eine ganz andere und ich erschrak vor jenem, nicht gerade Nichtverstehen, aber doch ganz eigentümlichen Auffassung der Lehre, in der ich mich bisher befunden. Ich wusste, wir alle wissen, dass der Sinn der christlichen Lehre in der Liebe zu den Menschen besteht Die Worte: biete den Backen, liebe deine Feinde, sind der Ausdruck des innern Wesens des Christentums. Ich wusste das von Kindheit an; weshalb aber fasste ich diese einfachen Worte nicht einfach auf, sondern forschte in ihnen nach einer andern Bedeutung? Widerstrebe nicht dem Übel will heissen: widerstrebe niemals dem Bösen, d. h. tue nie einem anderen Gewalt an, d. h. begehe nie eine Handlung, die der Liebe entgegengesetzt wäre. Und wenn du dabei gekränkt wirst, so ertrage die Kränkung und tue dennoch nichts Gewaltsames gegen jenen. Er hat es so einfach und deutlich gesagt, wie es deutlicher nicht gesagt werden kann. Wie konnte denn ich, der ich glaube oder zu glauben mich bemühe, dass der solches gesagt – Gott sei; wie konnte denn ich sagen, dass es unmöglich sei aus eigenen Kräften danach zu handeln? Mein Herr wird mir sagen: geh', schlage Holz! und ich werde antworten: ich kann das aus eigenen Kräften nicht tun. Indem ich dies ausspreche, sage ich eines von beiden: entweder, dass ich den Worten meines Herrn keinen Glauben schenke oder dass ich nicht tun will, was mein Herr von mir fordert. Über das Gebot Gottes, das er uns zur Befolgung gegeben, von welchem er gesagt: »wer so tut und lehret, wird gross heissen im Himmelreich« u. s. w., von welchem er gesagt, dass nur die, so es erfüllen, das ewige Leben haben werden, über das Gebot, das er selbst befolgt und so klar und einfach ausgesprochen, dass an dessen Bedeutung kein Zweifel aufkommen kann – über dieses Gebot hatte ich, der ich nie versucht es zu befolgen, gesagt: dessen Erfüllung ist mir aus eigener Kraft unmöglich und es bedarf einer übernatürlichen Hilfe.
Gott ist zur Erde niedergestiegen um die Menschen zu erlösen. Die Erlösung besteht darin, dass die zweite Person der Dreieinigkeit, Gottes Sohn, für die Menschen gelitten, ihre Sünden vor Gott dem Vater abgebüsst und ihnen eine Kirche gegeben hat, in der jene Seligkeit ruht, die den Gläubigen zu teil wird; aber, ausser alledem, hat dieser Sohn Gottes den Menschen auch die Lehre und das Beispiel eines Lebens gegeben, das zur Rettung führt. Wie konnte ich denn sagen, die Lebensregel, die er so einfach und klar für alle ausgesprochen, sei so schwer zu befolgen, ja unmöglich zu erfüllen ohne übernatürliche Hilfe? – Er hat nicht nur das nicht gesagt, er hat ganz entschieden ausgesprochen: befolget das bestimmt und wer solches tut, der kommt ins Himmelreich. Und er hat nie geäussert, dass die Erfüllung schwer sei, er hat im Gegenteil gesagt: »mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht«. Johannes, sein Evangelist, hat gesagt: »seine Gebote sind nicht schwer«. Wie konnte ich denn sagen, dass das, was Gott zu vollführen befohlen, das, dessen Erfüllung er so genau bestimmt und wovon er gesagt, es sei leicht zu erfüllen, das, was er selbst als Mensch erfüllt und was seine ersten Jünger befolgt haben; wie konnte ich denn sagen, dass es so schwer sei, solches zu erfüllen, dass es sogar ohne übernatürliche Hilfe unmöglich sei? Wenn ein Mensch alle Kräfte seines Geistes anwenden würde um ein gegebenes Gesetz zu vernichten, was könnte dieser Mensch Wirksameres zur Vernichtung jenes Gesetzes sagen als das, dass dies Gesetz seinem Wesen nach unausführbar sei und dass die Ansicht des Gesetzgebers selbst über sein Gesetz die sei, dass dies Gesetz nicht erfüllt werden könne und dass zu dessen Erfüllung eine übernatürliche Hilfe erforderlich sei? – Dieses selbe aber dachte ich in Bezug auf das Gesetz: widerstrebet nicht dem Übel. Und ich begann mich zu entsinnen, wie und wann mir der sonderbare Gedanke gekommen, dass Christi Gebot zwar göttlich, dass es aber unmöglich sei es zu befolgen. Und nachdem ich meine Vergangenheit durchforscht, erkannte ich, dass dieser Gedanke nie in seiner ganzen Nacktheit vor mir erstanden sei (er hätte mich abgestossen), sondern dass ich, unbemerkt von mir selbst, ihn seit meiner frühesten Kindheit eingesogen und dass mein ganzes nachheriges Leben diese sonderbare Verirrung in mir nur bestärkt hatte. Von Kindheit an lehrte man mich, dass Christus und seine Lehre göttlich seien: zu gleicher Zeit aber lehrte man mich jene Einrichtungen achten, die durch Gewalt mich vor dem Bösen schützten; man lehrte mich diese Einrichtungen heilig halten. Man lehrte mich dem Bösen widerstreben und flösste mir die Meinung ein, es sei erniedrigend und beschämend sich dem Bösen zu unterwerfen und dadurch zu leiden; lobenswert aber sei es ihm zu widerstreben. Man lehrte mich zu richten und zu verdammen. Danach lehrte man mich den Krieg, d. h. man lehrte mich dem Bösen durch Tötung entgegenwirken, und das Kriegsheer, dessen Glied ich war, nannte man ein christlich-gesinntes und seine Tätigkeit wurde durch christlichen Segen geheiligt Ausserdem lehrte man mich von Kindheit an bis zu meinem Mannesalter das achten, was dem Gesetze Christi geradezu entgegen ist. Dem Beleidiger wehren, mit Gewalt persönliche Kränkung, sowie Kränkung der Familie oder des Volkes rächen; dies alles wurde nicht nur nicht verworfen, sondern es wurde nur im Gegenteil eingeprägt, dass alles das gut und durchaus nicht gegen Christi Gesetz sei.
Alles was mich umgab: die Ruhe, die Sicherheit meiner Person und meiner Familie, mein Eigentum, alles beruhte auf dem Gesetz, das Christus verworfen, dem Gesetze: Zahn um Zahn.
Die Kirchenlehrer lehrten, dass Christi Lehre eine göttliche, dass aber deren Erfüllung der menschlichen Schwäche wegen unmöglich sei, und dass nur die Gnade Christi zu deren Erfüllung verhelfen könne. Die weltlichen Lehrer und die ganze Einrichtung des Lebens bekannten schon geradezu die Unausführbarkeit, die Schwärmerei der Lehre Christi und lehrten mit Wort und Tat das, was dieser Lehre entgegen war. – Dieses Anerkennen der Unausführbarkeit der Lehre Gottes hatte sich derart, nach und nach, unbemerkt, in mich eingesogen und war mir zur Gewohnheit geworden und stimmte so vollständig mit meinen Begierden überein, dass ich früher nie den Widerspruch bemerkte, in dem ich mich befand. Ich sah nicht, dass es unmöglich sei zu einer und derselben Zeit sich zu Christus zu bekennen, dessen Grundlehre das Nichtwiderstreben dem Übel ist, und dabei ruhig und bewusst auf die Einrichtungen des Eigentums, der Gerichte, des Staates, des Kriegsheeres hinzuarbeiten – ein Leben herzustellen, das Christi Lehre entgegengesetzt ist, und zugleich zu diesem Christus zu beten, dass sein Gesetz vom Nichtwiderstreben dem Übel und von der Vergebung unter uns erfüllt werde. Mir kam noch nicht der Gedanke, der mir jetzt so klar ist, dass es viel einfacher wäre das Leben nach dem Gesetze Christi einzurichten und dagegen zu beten, es möchten Gerichte, Todesstrafen und Kriege bestehen, wenn sie für unser Wohl so unumgänglich notwendig seien.
Und ich ward inne, woher meine Verirrung entstanden. Sie entstand aus meinem Bekennen Christi in Werten und dem Verleugnen seiner in der Tat.
Der Grundsatz des Nichtwiderstrebens dem Übel ist ein Grundsatz, der die gesamte Lehre zu einem Ganzen verbindet, aber nur dann, wenn er kein bloßer Ausspruch, sondern eine zwingende Regel, ein Gesetz ist. Dieser Grundsatz ist wirklich der Schlüssel, der alles erschliesst, aber nur dann, wenn er in das Innere des Schlosses eindringt. Das Bekennen dieses Grundsatzes als eines Ausspruchs, dessen Erfüllung ohne übermenschliche Hilfe nicht möglich sei, ist eine Vernichtung der ganzen Lehre. – Wie kann eine Lehre, aus der die alles verbindende Grundidee ausgeschlossen wird, den Menschen anders als unmöglich erscheinen? Den Ungläubigen erscheint sie geradezu töricht und muss ihnen also scheinen.
Eine Maschine aufstellen, den Dampfkessel anheizen, sie in Gang setzen ohne den Treibriemen anzubringen: das ist es, was man mit Christi Lehre getan, als man anfing zu lehren, dass man ein guter Christ sein könne ohne das Gesetz über das Nichtwiderstreben dem Übel zu erfüllen.
Ich habe unlängst mit einem jüdischen Rabbiner das 5. Kapitel Matthäi gelesen. Fast bei jedem Satz sagte der Rabbiner: dies steht in der Bibel, dies steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel und im Talmud sehr ähnliche Aussprüche, wie wir sie in der Bergpredigt besitzen.
Als wir jedoch zu dem Verse gelangten: widerstrebet nicht dem Übel, sagte er nicht: auch das steht im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: »Und die Christen erfüllen dies? bieten sie den andern Backen?« – Ich konnte nichts darauf erwidern, umso mehr als ich wusste, dass die Christen um dieselbe Zeit nicht nur ihren Backen nicht darboten, sondern die Juden auf beide Backen schlugen. Es war mir aber interessant zu wissen ob etwas Ähnliches sich in der Bibel oder im Talmud befinde, und ich fragte ihn danach. – Er sagte: »Nein, das steht nicht drin; sagt mir aber, ob die Christen dieses Gesetz erfüllen?« – Mit dieser Frage sagte er mir, dass das Bestehen einer Regel im christlichen Gesetze, die nicht nur von niemand befolgt, sondern von den Christen selbst als unausführbar anerkannt wird, ein Eingestehen der Unvernunft und Nutzlosigkeit dieser Regel ist. Und ich konnte ihm nichts darauf erwidern.
Nachdem ich jetzt den wahren Sinn des Gesetzes verstanden, sehe ich klar jenen sonderbaren Widerspruch, in dem ich mich mit mir selbst befand, indem ich Christus als Gott und seine Lehre als eine göttliche anerkannte und dennoch mein Leben ganz im Gegensatz zu dieser Lehre eingerichtet hatte. Was blieb anderes zu tun übrig, als seine Lehre für unausführbar zu erklären? In Worten erkannte ich die Heiligkeit der Lehre Christi an, in der Tat aber bekannte ich eine durchaus nicht christliche Lehre; ich erkannte Grundsätze an und unterwarf mich Einrichtungen, die mein Leben von allen Seiten umringten und durchaus unchristlich waren.
In dem ganzen alten Testament heisst es, dass alles Unglück des jüdischen Volks dadurch entstanden sei, dass das Volk an falsche Götter und nicht an den wahren Gott geglaubt. Samuel beschuldigt das Volk im ersten Buch, Kap. 8 und 12, dass es zu allen seinen früheren Abtrünnigkeiten gegen Gott noch eine neue hinzugefügt: an Stelle Gottes, der sein König gewesen, habe es den Menschen zum Könige erkoren, der, seiner Meinung nach, es erretten werde. »Und gebet nicht dem Eitlen nach – spricht Samuel zum Volk 12, 21 – denn es nützet nicht und kann euch nicht erretten, weil es ein (tohu) eitel Ding ist.« Um nicht mit eurem König unterzugehen, haltet euch an Gott allein.
Dieser Glaube an das »Eitle«, das »tohu«, an leere Götzenbilder, war es, der mir die Wahrheit verhüllte. Auf dem Wege zur Wahrheit, ihr Licht vor mir verbergend, stand vor mir das »tohu«, von dem mich loszusagen ich nicht die Kraft hatte.
In diesen Tagen ging ich durch die Borowitzky-Pforte; in derselben sass ein Greis, ein bis an die Ohren in Lumpen gehüllter, verkrüppelter Bettler. Ich zog meine Börse um ihm ein Almosen zu geben. In diesem Augenblicke kam vom Berge, aus dem Kreml, ein flotter, junger, rotwangiger Bursche gelaufen, ein Grenadier im Krons-Schafspelz. Als der Bettler den Soldaten gewahrte, sprang er erschreckt auf und lief hinkend hinunter zum Alexandergarten. Der Grenadier wollte ihm anfangs nacheilen, holte ihn jedoch nicht sofort ein, blieb stehen und ergoss sich in Scheltworten über den Bettler, weil dieser gegen das Verbot in der Pforte gesessen. Ich erwartete den Grenadier in der Pforte. Als er in meine Nähe kam, fragte ich ihn, ob er lesen könne? – Jawohl; weshalb? – Hast du das Evangelium gelesen? – Jawohl. – Hast du auch gelesen: »und wer den Hungrigen sättigt« – ich sagte die Stelle her. Er kannte sie und hörte mich an. Und ich sah, dass er stutzte. Zwei Vorübergehende blieben horchend stehen. Dem Grenadier tat es augenscheinlich weh zu fühlen, dass er, gewissenhaft seine Pflicht erfüllend, indem er das Volk von einem Orte jagte, von dem es fortzujagen befohlen war – plötzlich sich im Unrecht sah. Er war verwirrt und suchte augenscheinlich nach einer Ausrede. Plötzlich leuchteten seine klugen schwarzen Augen auf; er wandte sich zur Seite, als wolle er gehen. – »Und das Kriegsreglement, hast du's gelesen?« fragte er mich. – Ich verneinte es. – »Dann sprich auch nicht«, sagte der Grenadier, den Kopf selbstbewusst aufwerfend, hüllte sich in seinen Schafspelz und ging mit kühnen Sehritten auf seinen Platz zurück.
Dies war der einzige Mensch in meinem ganzen Leben, der streng logisch jene ewige Frage gelöst, die bei den Einrichtungen unseres Gemeinwohls mir stets vor Augen stand und die jedem Menschen vorschwebt, der sich einen Christen nennt.