Читать книгу Worin besteht mein Glaube - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 9

3 Zwang der Gesamtheit gegen den Einzelnen zur Teilnahme an Krieg und Gericht

Оглавление

Man sagt mit Unrecht, dass die christliche Lehre nur die Erlösung des einzelnen im Auge habe und sich nicht auf allgemeine Fragen und Staatsangelegenheiten beziehe. Dies ist nur eine kühne und unbegründete Behauptung einer ganz augenscheinlichen Unwahrheit, die bei dem ersten ernsten Nachdenken darüber zunichte wird. Gut, sagte ich zu mir: ich werde nicht widerstreben dem Übel, ich werde, als einzelner Mensch, meinen Backen hinhalten; es kommt aber der Feind, oder die Völker werden verfolgt und ich werde berufen am Kampfe gegen die Bösen teilzunehmen, um sie zu töten. Und ich muss unvermeidlich die Frage lösen: worin besteht der Dienst Gottes und worin der Dienst des »tohu«? – Soll ich mich am Kriege beteiligen oder nicht? – Ich bin Bauer; man wählt mich zum Ältesten, zum Richter, zum Geschworenen; man zwingt mich zu schwören, zu richten, zu strafen – was soll ich tun? Wieder habe ich zu wählen zwischen dem Gesetze Gottes und dem Gesetze der Menschen. – Ich bin Mönch, lebe im Kloster; die Bauern haben unsern Heuschlag genommen; man schickt mich um am Kampfe gegen die Bösen teilzunehmen – um das Gericht gegen die Bauern anzurufen. Wieder habe ich zu wählen. Kein einziger Mensch kann der Entscheidung dieser Frage entgehen. Ich spreche schon gar nicht von unserem Stande, dessen ganze Tätigkeit fast nur im Widerstreben den Bösen besteht: Militär- und Gerichtspersonen, Administratoren; aber es gibt auch nicht den einfachsten Privatmann, dem nicht die Entscheidung zwischen dem Dienste Gottes und der Erfüllung seiner Gebote und dem Dienste des »tohu«, d. i. den Staatseinrichtungen bevorstände. Mein persönliches Leben ist mit dem allgemeinen Staatsleben verflochten und dieses fordert von mir eine nichtchristliche Tätigkeit, die dem Gebote Christi ganz entgegengesetzt ist. Jetzt, bei der allgemeinen Wehrpflicht und der Beteiligung aller am Gerichte als Geschworene, tritt dieses Dilemma mit auffallender Schärfe einem jeden entgegen. Jeder Mensch muss tödliche Waffen zur Hand nehmen, eine Flinte, ein Messer, und wenn auch nicht töten, so muss er doch die Flinte laden und das Messer schärfen, d. h. er soll zum Töten bereit sein. Jeder Bürger soll im Gerichte erscheinen und sich am Richten und Strafen beteiligen, d. h. jeder soll sich von der Lehre Christi des Nichtwiderstrebens dem Übel lossagen, und das nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat.

Die Frage des Grenadiers: das Evangelium oder das Kriegsreglement? das Gesetz Gottes oder das Gesetz der Menschen? steht jetzt und stand zu Samuelis Zeiten vor der Menschheit. Sie stand auch vor Christus und vor seinen Jüngern. Sie steht auch vor denen, die jetzt Christen sein wollen, und stand auch vor mir.

Das Gesetz Gottes mit seiner Lehre von der Liebe, der Demut, der Selbstaufopferung hatte stets auch früher mein Herz gerührt und mich angezogen. Jedoch von allen Seiten, in der Geschichte, in den vergangenen sowohl wie in den gegenwärtig mich umgebenden Ereignissen und in meinem eignen Leben sah ich ein meinem Herzen, meinem Gewissen, meiner Vernunft widersprechendes Gesetz, das aber meinen tierischen Instinkten schmeichelte. Ich fühlte, dass wenn ich Christi Gesetz folgen würde, ich allein dastände und es mir schlecht ergehen könne: ich könnte verfolgt und betrübt werden – das, was Christus gesagt hat. Wenn ich aber dem menschlichen Gesetze folgte, würde ich ruhig und gesichert sein und aller Scharfsinn des menschlichen Geistes stände mir zu Gebote um mein Gewissen zu beruhigen. Ich würde lachen und mich freuen – dasselbe, was Christus sagt. Ich fühlte das alles und deshalb vermied ich es mich in die Bedeutung des Gesetzes Christi zu vertiefen und bemühte mich vielmehr es so aufzufassen, dass es mich nicht verhindern sollte mein tierisches Leben weiter zu führen. In solchem Sinne jedoch konnte es nicht aufgefasst werden, und deshalb verstand ich es gar nicht.

In diesem Nichtverstehen ging ich bis zu einer mir jetzt unbegreiflichen Verfinsterung. Als Beispiel dafür will ich meine frühere Auffassung der Worte: richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet (Matth. 7, 1), anführen. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt (Luk. 6, 37). Das Bestehen der Gerichte, an denen ich teilnahm und die mein Eigentum und meine persönliche Sicherheit schützten, erschien mir als etwas so zweifellos Heiliges, Gottes Gesetze nicht Beeinträchtigendes, dass mir nie der Gedanke kam, dieser Satz könne etwas anderes bedeuten als das, dass man seinen Nächsten nicht mit Worten verdammen solle. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass Christus diese Worte auf die Gerichte beziehen könne: auf das Landgericht, das Kriminalgericht, das Kreis- und Friedensgericht und auf die verschiedenen Senate und Departements. Erst nachdem ich die Worte: widerstrebet nicht dem Übel, im geraden Sinne begriffen hatte, erst dann entstand in mir die Frage darüber, wie Christus sich zu allen diesen Gerichten und Departements verhalten möge. Und einsehend, dass er sie verwerfen müsse, fragte ich mich: sollten jene Worte nicht nur heissen: richtet euren Nächsten nicht in Worten, sondern auch: verurteilet ihn nicht durch die Tat, richtet euren Nächsten nicht nach euren menschlichen Gesetzen, durch eure Gerichte –?

Im Evangelium Luk. Kap. 6 Vers 37–49 stehen diese Worte unmittelbar nach der Lehre über das Nichtwiderstreben dem Übel und über das Vergelten des Bösen mit Gutem. Unmittelbar nach den Worten: seid barmherzig, gleichwie euer Vater im Himmel, – heisst es: richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet; verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt. Heisst das nicht, ausser der Verdammung des Nächsten, dass wir keine Gerichte bilden und nicht durch solche unseren Nächsten verurteilen sollen? – fragte ich mich jetzt. Und ich brauchte mir nur diese Frage zu stellen, damit mein Herz und meine Vernunft mir sofort eine bejahende Antwort erteilten.

Ich weiss wie eine solche Auffassung dieser Worte anfangs betroffen macht. Auch auf mich machte sie diesen Eindruck. Um zu zeigen wie weit entfernt ich von einer solchen Auffassung war, will ich eine beschämende Torheit eingestehen. Lange nachher – nachdem ich bereits gläubig geworden und das Evangelium als ein göttliches Buch las, sprach ich bei Begegnungen mit meinen Freunden, Prokuroren, Richtern, scherzend: und ihr richtet noch immer und es ist doch gesagt: richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet Ich war so überzeugt, dass diese Worte nichts anderes bedeuten könnten, als das Verbot des Verleumdens, dass ich mir gar nicht bewusst war welch' eine Heiligtumspötterei ich beging, indem ich solches sagte. Ich war so weit gekommen, dass ich, in der Überzeugung, diese klaren Worte hätten eine andere als ihre wahre Bedeutung sie scherzend in dieser ihrer wahren Bedeutung aussprach.

Ich will ausführlich erzählen, wie in mir jeder Zweifel vernichtet ward darüber, dass diese Worte nicht anders aufgefasst werden könnten, als in dem Sinne, dass Christus die Errichtung aller menschlichen Gerichte verbiete, und dass er mit diesen Worten nichts anderes habe sagen können.

Das, was mich wunderte, nachdem ich das Gesetz über das Nichtwiderstreben dem Übel in seiner geraden Bedeutung aufgefasst, war, dass die menschlichen Gerichte nicht nur mit demselben nicht übereinstimmen, sondern ihm gerade entgegengesetzt sind, gleichwie sie mit der ganzen Lehre im Widerspruch stehen, und dass deshalb Christus, wenn er an diese Gerichte gedacht hätte, sie hätte verwerfen müssen.

Christus sagt: widerstrebet nicht dem Übel. Der Zweck der Gerichte ist: das Widerstreben dem Übel. Christus schreibt vor, man solle Böses mit Gutem vergelten. Die Gerichte vergelten Böses mit Bösem. Christus sagt, man solle keinen Unterschied machen zwischen Bösen und Guten. Die Gerichte haben keine andere Bestimmung, als den Unterschied zwischen Bösen und Guten aufzustellen. Christus sagt, man solle allen vergeben; vergeben, nicht einmal, nicht siebenmal, sondern vergeben ohne Ende; die Feinde lieben, Gutes tun denen, die uns hassen. – Die Gerichte vergeben nicht, sondern sie strafen; sie tun nicht Gutes, sondern Böses denen, die sie Feinde der Gesellschaft nennen. So dass es dem Sinne nach sich herausstellte, dass Christus die Gerichte hätte verbieten müssen. Vielleicht aber, dachte ich, hatte Christus nichts mit den weltlichen Gerichten zu tun und dachte nicht an sie. Ich sehe jedoch, dass dies nicht anzunehmen ist: Christus ist von dem Tage seiner Geburt an bis zu seinem Tode mit den Gerichten zusammengestossen: des Herodes, der Hohenpriester, des Synedrions. Und ich sehe in der Tat, dass Christus oft von den Gerichten geradezu als von einem Übel spricht. Seinen Jüngern sagt er, sie würden gerichtet werden, und sagt ihnen, wie sie sich bei dem Gerichte zu verhalten haben. Von sich selbst sagt er, man würde Gericht über ihn halten, und zeigt selbst, wie man sich zu den menschlichen Gerichten zu verhalten habe. Also dachte Christus an jene menschlichen Gerichte, die ihn und seine Jünger verurteilen sollten und die Millionen von Menschen verurteilten und stets verurteilen. Christus sah dies Übel und wies gerade darauf hin. Bei der Vollziehung des gerichtlichen Ausspruchs an der Ehebrecherin verwirft er geradezu das Gericht und zeigt, dass der Mensch nicht richten könne, weil er selbst schuldig sei. Und denselben Gedanken spricht er wiederholt aus, indem er sagt, dass man mit dem Balken im eigenen Auge nicht den Splitter im Auge des andern sehen dürfe – dass der Blinde den Blinden nicht sehen könne. Er erklärt sogar was aus einer solchen Verirrung entstehen würde: der Schüler würde werden wie der Meister.

Es könnte jedoch sein, dass Christus, indem er solches in Bezug auf die Verurteilung der Ehebrecherin ausspricht und durch das Gleichnis mit dem Splitter auf die allgemeine menschliche Schwachheit hinweist, dennoch es nicht verbietet sich an die menschliche Gerechtigkeitspflege zu wenden, um Schutz gegen die Bösen zu suchen; ich sehe jedoch, dass eine solche Annahme durchaus unhaltbar ist.

In der Bergpredigt wendet sich Christus an alle und spricht: und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lasse auch den Mantel. Folglich verbietet er allen das Rechten.

Vielleicht aber spricht Christus bloß von der persönlichen Beziehung jedes einzelnen zum Gerichte, ohne die Gerechtigkeitspflege selbst zu verwerfen, und lässt in der christlichen Gemeinde Leute zu, die andere in eigens dazu gegründeten Verfassungen richten? Ich sehe jedoch, dass auch dies nicht anzunehmen ist. Christus befiehlt in seinem Gebete allen Menschen ohne Ausnahme den andern zu vergeben, auf dass auch ihnen ihre Schuld vergeben werde. Und er wiederholt diesen Gedanken viele Male.

Folglich muss jeder Mensch im Gebete und bevor er eine Gabe bringt, allen vergeben. – Wie kann also ein Mensch, der seinem Glauben nach allen stets vergeben muss, andere richten und verdammen? Und daraus erkenne ich, dass, Christi Lehre nach, es keinen christlichen strafenden Richter geben kann.

Vielleicht aber erkennt man aus dem Zusammenhang, in welchem die Worte: richtet nicht und verdammet nicht, mit andern Worten stehen, dass Christus, wenn er an dieser Stelle sagt: richtet nicht, nicht an die menschlichen Gerichte gedacht hat? Dies ist jedoch auch nicht der Fall, im Gegenteil, es ist dem Zusammenhang der Rede nach klar, dass Christus, wenn er sagt: richtet nicht, gerade von den Gerichten und Verfassungen spricht. Nach Matth. und Luk., bevor er ausspricht: richtet nicht und verdammet nicht, sagt er: widerstrebet nicht dem Übel, ertraget das Böse, tut Gutes allen. Und vor diesen Worten wiederholt er, nach Matth., die Worte des jüdischen Kriminalgesetzes: Aug' um Auge, Zahn um Zahn. Und nachdem er sich also auf das Kriminalgesetz berufen, sagt er: Ihr aber tuet nicht so, sondern widerstrebet nicht dem Übel, und dann erst sagt er: richtet nicht. Christus spricht also gerade vom menschlichen Kriminalgesetz und gerade dieses ist es, das er mit den Worten: richtet nicht, verwirft.

Ausserdem sagt er, nach Lukas, nicht nur: richtet nicht, sondern: richtet nicht und verdammet nicht. Die Hinzufügung dieses Worts, das beinahe denselben Sinn hat, muss doch etwas bedeuten. Die Hinzufügung dieses Wortes kann nur einen Zweck haben: die Erläuterung des Sinnes, in dem jenes erste Wort zu verstehen ist.

Wenn er hätte sagen wollen: richtet nicht euren Nächsten, dann hätte er letzteres Wort hinzugefügt Er aber fügt ein Wort hinzu, welches heisst: verdammet nicht. Und nach diesem spricht er: so werdet ihr nicht verdammt werden; vergebet allen, so wird auch euch vergeben werden.

Vielleicht aber hat Christus dennoch nicht an die Gerichte gedacht, indem er das sagte, und ich finde meinen eigenen Gedanken in seinen Worten, die eine ganz andere Bedeutung haben? –

Ich forsche danach, wie die ersten Jünger Christi, die Apostel, auf die menschlichen Gerichte sahen, ob sie dieselben anerkannt und gutgeheissen haben?

Im Kap. 4, 11–12, spricht der Apostel Jakobus: Afterredet nicht unter einander, lieben Brüder. Wer seinem Bruder afterredet und urteilet seinen Bruder, der afterredet dem Gesetz und urteilet das Gesetz. Urteilest du aber das Gesetz, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. – Es ist ein einiger Gesetzgeber, der kann selig machen und verdammen. Wer bist du, der du einen anderen urteilest?

Das Wort, das mit dem Worte afterreden wiedergegeben ist, heisst καταλαλέω. Ohne im Lexikon nachzuschlagen kann man sehen, dass dieses Wort beschuldigen bedeutet. Und das bedeutet es auch, wovon jeder sich überzeugen kann, indem er im Wörterbuch nachschlägt. Es ist übersetzt: wer seinem Bruder afterredet, der afterredet dem Gesetz. Und unwillkürlich entsteht die Frage: weshalb? – Wenn ich noch so sehr meinem Bruder afterrede, so afterrede ich doch nicht dem Gesetz; wenn ich aber meinen Bruder durch das Gericht beschuldige und richte, so ist es augenscheinlich, dass ich dadurch das Gesetz Christi beschuldige, καταλαλέω ich erachte Christi Gesetz für unzulänglich und beschuldige und richte das Gesetz. Dann ist es klar, dass ich sein Gesetz nicht erfülle und mich selbst zum Richter aufwerfe. Der Richter aber, sagt der Apostel, ist derjenige, der erretten kann. Wie kann denn ich, der ich nicht im Stande bin zu erretten, Richter sein und strafen?

Diese ganze Stelle spricht vom menschlichen Gerichte und verwirft es. Die ganze Epistel ist von diesem Gedanken durchdrungen. In derselben Epistel Jakobi (Kap. 2, 1–13) heisst es: 1. Lieben Brüder, haltet nicht dafür, dass der Glaube an Jesum Christum, unsern Herrn der Herrlichkeit, Ansehen der Person leide. 2. Denn so in eure Versammlung käme ein Mann mit einem goldenen Ringe und mit einem herrlichen Kleide, es käme aber auch ein Armer in einem unsauberen Kleide; 3. Und ihr sähet auf den, der das herrliche Kleid trägt, und sprächet zu ihm: setze du dich her aufs beste; und sprächet zu dem Armen: stehe du dort oder setze dich her zu meinen Füssen; 4. Und bedenket es nicht recht, sondern ihr werdet Richter, und machet bösen Unterschied. 5. Höret zu, meine lieben Brüder, hat nicht Gott erwählet die Armen auf dieser Welt, die am Glauben reich sind und Erben des Reichs, welches er verheissen hat denen, die ihn lieb haben? 6. Ihr aber habt dem Armen Unehre getan. Sind nicht die Reichen die, die Gewalt an euch üben und ziehen euch vor Gericht? 7. Verlästern sie nicht den guten Namen, davon ihr genannt seid? 8. So ihr das königliche Gesetz vollendet nach der Schrift: liebe deinen Nächsten als dich selbst, so tut ihr wohl. (Lev. 19, 18.) 9. So ihr aber die Person ansehet, tut ihr Sünde und werdet gestraft vom Gesetz, als die Übertreter. 10. Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an Einem, der ist es ganz schuldig. 11. Denn der da gesagt hat: du sollst nicht ehebrechen, der hat auch gesagt: du sollst nicht töten. So du nun nicht ehebrichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. (Levit. 28, 17–25). 12. Also redet und also tut, als die da sollen durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden. 13. Es wird aber ein unbarmherziges Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; und die Barmherzigkeit rühmet sich wider das Gericht. (Die letzten Worte: die Barmherzigkeit rühmet sich wider das Gericht, sind oft auch folgendermaßen übersetzt worden: die Barmherzigkeit wird im Gerichte verkündigt, und wurden in dem Sinne angeführt, dass ein christliches Gericht bestehen könne, dass es aber barmherzig sein müsse.)

Jakobus ermahnt die Brüder keinerlei Unterschied zwischen den Menschen zu machen. Wenn ihr einen Unterschied macht, so διακρίνετε, so werdet ihr Richter und machet bösen Unterschied. Ihr habt entschieden, der Arme sei schlechter als der Reiche. Der Reiche aber ist im Gegenteil der Schlechtere. »Sind nicht die Reichen die, die Gewalt an euch üben und ziehen euch vor Gericht?« So ihr nach dem Gesetze der Nächstenliebe, nach dem Gesetze der Barmherzigkeit lebt (welches Jakobus zum Unterschiede von dem andern das »königliche« nennt), so tut ihr wohl. So ihr aber die Person ansehet und Unterschiede macht, so werdet ihr zu Verbrechern an dem Gesetze der Barmherzigkeit. Und im Hinblick wahrscheinlich auf das Beispiel der Ehebrecherin, die zu Christus gebracht ward, auf dass sie nach dem Gesetze gesteinigt werde, oder auf das Verbrechen des Ehebruchs überhaupt, sagt Jakobus, dass derjenige der die Ehebrecherin mit dem Tode strafen würde, sich des Totschlages schuldig machen und das ewige Gesetz übertreten würde. Denn dieses ewige Gesetz verbietet den Ehebruch und verbietet den Totschlag. Er sagt: und also redet und also tut als die da sollen durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden. Denn es gibt keine Barmherzigkeit für den, der nicht selbst barmherzig ist und deshalb hebt die Barmherzigkeit das Gericht auf.

Wie könnte das noch klarer, noch bestimmter ausgedrückt werden; jeder Unterschied zwischen den Menschen, jedes Richten dessen, dass dieser gut und jener schlecht sei, wird verboten; es wird gerade auf das menschliche Gericht hingewiesen, welches unzweifelhaft schlecht ist, es wird gezeigt, dass dieses Gericht selbst verbrecherisch sei, indem es Verbrechen strafe, und dass folglich das Gericht von selbst zunichte werde durch das Gesetz Gottes – die Barmherzigkeit.

Ich lese die Epistel des Apostels Paulus, der durch die Gerichte gelitten, und gleich im 1. Kap. an die Römer lese ich seine Ermahnung an die Römer über alle ihre Laster und Verirrungen; darunter auch über ihre Gerichte: 32. Die Gottes Gerechtigkeit wissen (dass, die solches tun, des Todes würdig sind) tun sie es nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.

Kap. 2, 1–11. 1. Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du bist, der da richtet; denn worin du einen andern richtest, verdammest du dich selbst; sintemal du eben dasselbige tust, das du richtest. 2. Denn wir wissen, dass Gottes Urteil ist recht über die, so solches tun. 3. Denkest du aber, o Mensch, der du richtest die, so solches tun, und tust auch dasselbige, dass du dem Urteil Gottes entrinnen werdest? 4. Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmütigkeit? Weisst du nicht, dass dich Gottes Güte zur Busse leitet?

Der Apostel Paulus sagt: sie kennen das gerechte Gericht Gottes und handeln selber ungerecht und lehren die anderen desgleichen tun, und deshalb kann man den Menschen, der da richtet, nicht rechtfertigen.

Solche Beziehungen zu den Gerichten finde ich in den Episteln der Apostel; in ihrem Leben jedoch, wie wir alle wissen, erschienen ihnen die menschlichen Gerichte als jenes Böse und jenes Übel, das man mit Festigkeit und mit Ergebenheit in Gottes Willen ertragen müsse.

Wenn man in seinen Gedanken die Vorstellung von der Lage der ersten Christen inmitten der Heiden wachruft, wird jeder leicht begreifen, dass es den Christen nicht in den Sinn kommen konnte die Gerichte der durch menschliche Gesetze Verfolgten zu verbieten. Nur gelegentlich konnten sie dieses Übel berühren, indem sie dessen Grundlage verwarfen, wie sie es auch noch tun.

Ich wende mich an die Kirchenlehrer der ersten Jahrhunderte und sehe, dass sie alle stets ihre Lehre, die sich von allen anderen Lehren unterschied, dadurch feststellen, dass sie keinen zu etwas zwangen, keinen richteten (Athenagoras, Origenes), keinen töteten, sondern nur die Martern ertrugen, die ihnen von den menschlichen Gerichten auferlegt wurden. Alle Märtyrer haben dasselbe durch die Tat bekannt.

Ich sehe, dass die ganze Christenheit bis Konstantin nie anders auf die Gerichte gesehen hat, als auf ein Übel, das man geduldig ertragen müsse, dass es aber keinem einzigen Christen aus jener Zeit in den Sinn kommen konnte, ein Christ könne sich am Gerichte beteiligen.

Ich sehe, dass Christi Worte: richtet nicht und verdammet nicht, von seinen ersten Jüngern ebenso aufgefasst worden sind, wie ich sie jetzt, in ihrer geraden Bedeutung auffasste: richtet nicht in den Gerichten – nehmet nicht teil an Gerichten.

Alles bestätigte unzweifelhaft meine Überzeugung, dass die Worte »richtet nicht und verdammet nicht« heissen sollen: richtet nicht in Gerichten; die Erklärung jedoch, dass sie bedeuten sollen: verleumdet nicht euren Nächsten, ist eine so allgemein angenommene und die Gerichte gedeihen mit solcher Kühnheit und solchem Selbstbewusstsein in allen christlichen Staaten, sich sogar auf die Kirche stützend, dass ich lange an der Richtigkeit meiner Auffassung zweifelte. Wenn alle Menschen so urteilen und dennoch christliche Gerichte einsetzen konnten, so mussten sie doch irgend eine Begründung dafür haben, und da muss etwas sein, was du nicht verstehst – sagte ich zu mir. Es muss Gründe geben, nach denen diese Worte in dem Sinne der Verleumdung aufgefasst werden, und es muss Gründe geben, auf die sich die Errichtung der christlichen Gerichte stützt.

Und ich wandte mich an die Erklärungen der Kirche. In allen diesen Erklärungen fand ich, vom 5. Jahrhundert an, dass es angenommen ist diese Worte in dem Sinne der Verdammung des Nächsten in Worten aufzufassen, d. h. als Verleumdung. Und da es angenommen ist diese Worte nur als Verdammung seines Nächsten in Worten zu verstehen, so entsteht die Schwierigkeit: wie soll man nicht verdammen? Es ist nicht möglich das Böse nicht zu verdammen. Und deshalb drehen sich alle Erklärungen um das, was man verdammen und um das, was man nicht verdammen soll. Es heisst, die Diener der Kirche können das nicht als Verbot des Richtens auffassen, da selbst die Apostel gerichtet haben (Johannes Ev., Chrysostomus und Theophylax). Es heisst, dass Christus mit diesen Worten wahrscheinlich auf die Juden hindeuten wollte, die ihren Nächsten der geringen Sünden beschuldigten und selbst grosse Sünden begingen.

Nirgends aber ist die Rede von menschlichen Einrichtungen, von Gerichten oder von den Beziehungen dieser Gerichte zu dem Verbote des Richtens. Verbietet Christus diese Gerichte oder gestattet er sie? – Auf diese natürliche Frage gibt es keine Antwort, als wäre es bereits zu augenscheinlich, dass, sobald ein Christ einen Platz im Gerichte eingenommen, er nicht nur seinen Nächsten nicht verdammen, sondern ihn auch nicht richten dürfe.

Ich wende mich an griechische, katholische, protestantische Schriftsteller, an die Schriftsteller der Tübinger und historischen Schule. Von allen, selbst von den am freiesten denkenden Erläuterern werden diese Worte als Verbot des Verleumdens aufgefasst. Weshalb aber werden diese Worte, im Gegensatz zu der ganzen Lehre Christi, in so engem Sinne aufgefasst, dass das Verbot des Richtens das Verbot der Gerichte ausschliesst? Warum wird angenommen, dass Christus, indem er das Verdammen des Nächsten, das einem unwillkürlich entschlüpft, als eine schlechte Tat verbietet, ein eben solches Verdammen, das bewusst und mit Gewalttätigkeit gegen den Beschuldigten ausgeführt wird, nicht als eine schlechte Tat ansieht und es nicht verbietet? Darauf gibt es keine Antwort und nicht die geringste Andeutung darüber, dass man unter diesem Verdammen auch dasjenige Verdammen verstehen könne, welches in den Gerichten stattfindet und worunter Millionen von Menschen zu leiden haben. Mehr als das – um dieser Worte willen: richtet nicht und verdammet nicht, wird dieses grausamste Verfahren der gerichtlichen Verdammung sorgfältig umgangen und sogar entschuldigt. Die Ausleger, Theologen, sprechen davon, dass Gerichte in christlichen Staaten bestehen müssen und dass sie dem Gesetze Christi nicht entgegen sind.

Als ich dies bemerkte, zweifelte ich bereits an der Aufrichtigkeit dieser Auslegungen und machte mich an die Übersetzung selbst der Worte »richtet« und »verdammet«; ich tat also das, womit ich hätte beginnen sollen.

Im Original sind dies die Worte κρίνω und καταδικάζω. Die falsche Übersetzung des Wortes καταλαλέω in der Epistel Jakobi, wo es durch das Wort afterreden wiedergegeben ist, bestätigte meinen Zweifel an der Richtigkeit des Ausdrucks. Ich forsche danach, wie im Evangelium die Worte κρίνω und καταδικάζω in verschiedenen Sprachen übersetzt sind, und finde, dass in der Vulgata das Wort verdammen durch condemnare wiedergegeben ist, ebenso heisst es im Französischen und im Slavischen heisst es ossuchdaite. Bei Luther steht das Wort »verdammen«, weiches einen andern Sinn hat.

Die Verschiedenheit dieser Übersetzungen verstärkt noch meine Zweifel und ich steile mir die Frage: was bedeutet und was kann das griechische Wort κρίνω und das Wort καταδικάζω bedeuten, das der Evangelist Lukas gebraucht, der, nach dem Urteile der Kenner, ein ziemlich gutes Griechisch geschrieben hat. Wie würde jemand, der nichts von der Lehre des Evangeliums und dessen Erläuterungen weiss und der nur dies eine Wort vor sich hätte, dieses Wort übersetzen?

Ich forsche im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass das Wort κρίνω viele verschiedene Bedeutungen hat und darunter die ausserordentlich gebräuchliche Bedeutung gerichtlich verurteilen, töten sogar, nie aber die Bedeutung verleumden. Im Lexikon des neuen Testaments nachschlagend, finde ich, dass dieses Wort im neuen Testament oft in dem Sinne gerichtlich verurteilen gebraucht wird. Zuweilen hat es die Bedeutung auslosen, nie aber die Bedeutung verleumden. Und so sehe ich, dass das Wort κρίνω verschieden übersetzt werden kann, dass aber eine Übersetzung, die ihm die Bedeutung verleumden beilegt, die entfernteste und unerwartetste ist. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω, das sich an das Wort κρίνω anschliesst, welches so viele Bedeutungen hat, augenscheinlich um die Bedeutung festzustellen, in welcher das erste Wort vom Schreibenden gebraucht wird. Ich forsche nach dem Worte καταδικάζω im allgemeinen Wörterbuch und finde, dass dieses Wort nie eine andere Bedeutung hat, als die: gerichtlich zu Strafe verurteilen oder töten. Ich forsche im Wörterbuch des neuen Testaments und finde, dass dies Wort im neuen Testament viermal angewendet ist und jedesmal in dem Sinne verurteilen, töten. Ich forsche in den Kontexten und finde, dass dieses Wort in der Epistel Jakobi Kap. 5, 6 angewendet ist, wo es heisst: ihr habt verurteilet den Gerechten und getötet. Das Wort verurteilen, dasselbe Wort καταδικάζω ist auf Christus angewandt, den man gerichtet hat. – Anders, in einem anderen Sinne, wird dies Wort nie, weder im neuen Testament noch in irgend einer griechischen Sprache gebraucht.

Was war denn das? So weit war ich zum Narren geworden? – Mir, so gut wie jedem von uns, der in unserer Gesellschaft lebte, musste, sobald wir über das Schicksal der Menschen nachdachten, grauen vor jenen Qualen und jenem Bösen, das die menschlichen Kriminalgerichte in das Leben des Menschen bringen: Böses für die Gerichteten und Böses für die Richtenden – von den Hinrichtungen des Tschingis-Chan und der französischen Revolution bis zu den Todesstrafen unserer Tage.

Keinem Menschen von Gemüt ist jener Eindruck des Grauens und des Zweifels am Guten fremd geblieben beim Erzählen allein – ich spreche schon gar nicht vom Anblick der Strafen, die ein Mensch an einem andern Menschen vollzieht: das Spießrutenlaufen bis zum Tode, die Guillotine, der Galgen.

Im Evangelium, von dem wir jegliches Wort heilig halten, heisst es offen und klar: ihr hattet ein Kriminalgesetz: Zahn um Zahn; ich aber gebe euch ein neues Gesetz: widerstrebet nicht dem Übel; erfüllet alle dies Gebot: vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern tut stets und allen Gutes und vergebet allen.

Und weiter heisst es geradezu: richtet nicht. Und auf dass ein Missverständnis über die Bedeutung dieser Worte unmöglich sei, ist hinzugefügt: verurteilet nicht durch die Gerichte zu Strafen.

Mein Herz sagt klar und vernehmlich: strafet nicht; je mehr ihr strafet, umso mehr Böses geschieht. Die Vernunft sagt: strafet nicht; durch Böses kann man nicht Böses verhüten. Gottes Wort, an das ich glaube, sagt dasselbe. Und ich lese die ganze Lehre, lese diese Worte: richtet nicht und ihr werdet nicht gerichtet werden; verdammet nicht und ihr werdet nicht verdammt werden; vergebt und euch wird vergeben werden; ich bekenne, dass es Gottes Worte sind, und sage, dass sie bedeuten, man solle nicht klatschen und verleumden, und fahre fort die Gerichte für christliche Institutionen zu halten und mich selbst als Richter und Christen anzusehen. – Und ich erschrak vor dem groben Irrtum, in dem ich mich befand.

Worin besteht mein Glaube

Подняться наверх