Читать книгу Viktor - Levi Krongold - Страница 6
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ОглавлениеSie war aufgefallen.
Sicher, sie sollte kontrolliert werden, weil sie aufgefallen war. Eine psychische Anomalie, eine Störung, vielleicht eine Psychose. Ein atypisches Denkmuster. Nichts Ernstes wahrscheinlich, nur eine Routinekontrolle.
Ihre Akte, Suzanne Montenier, die ich neulich bei Dienstbeginn im Amt für Gesundheit und Soziales, Refera. »Medizinische Begutachtung und Rehabilitation«, auf meinem Schreibtisch entdeckte und die den Stapel auf der Ablage für unbearbeitete Fälle auf meiner Linken noch um einige Zentimeter erhöhte, trug allerdings den Vermerk. »Eilt, diskret!«, mit dem dafür üblichen blauen Aufkleber und der roten Diagonalen über der grauen Aktenfolie.
Merkwürdigerweise war sie offenbar auf meinem Schreibtisch von jemanden abgelegt worden und nicht über den zentralen Server eingetaktet, wie die anderen Akten. Denn am Tag zuvor war sie sicher noch nicht dabei gewesen. Außerdem unterschied sie sich schon farblich von den mattroten Folien der übrigen Akten.
Ich blätterte sie seufzend kurz durch, notierte routinemäßig das Eingangsdatum in der Bearbeitungsmaske im PC, der mir daraufhin das Abgabedatum des Berichtes diktierte.
8 Wochen, wie neuerdings üblich.
Aufgrund einer Beschwerde der übergeordneten Personenschutzbehörde waren nun aus der früher üblichen Bearbeitungszeit von 3 Monaten unlängst 8 Wochen geworden, bei gleichzeitiger Reduzierung des Personals. Dennoch betrug die Verfahrensdauer meist mehr als dreimal soviel, was auch irgendwie niemanden wirklich störte.
Nur, wenn mal wieder ein perfider Terroranschlag die Gazetten füllte, wie neulich, als die soundsovielte Bombe mehrere Opfer in einem der neuen Einkaufscenter zur Folge hatte und der oder die Täter nicht geortet werden konnten, weil sie sich mit einer neuen Technik vor den Sonden und Kameras unsichtbar gemacht hatten, dann wirbelte alles in den oberen Etagen der betreffenden Behörde durcheinander, rollten einige Köpfe untergebener Abteilungen, wurden neue Verfahrensweisen oktroyiert, Urlaubstage gestrichen, Versetzungen veranlasst und Bearbeitungsprogramme umgeschrieben, bis alles nach einiger Zeit wieder im alten Trott weiterlief.
So auch jetzt.
Ich strich über meine müden Augenlider, setzte mich seufzend zurück, schaute die absolvierten PC-Zeiten auf meinem Arbeitszeitkonto an, die mir sagten, dass ich mein Monatssoll noch nicht erfüllt hätte und beschloss, trotzdem einen Kaffee trinken zu gehen.
Die Cafeteria des Amtes für Personenüberwachung befindet sich im Eingangsbereich im Erdgeschoss. Sie ist der einzige Vorwand, wenn einem danach ist, für kurze Zeit einmal den PC-Arbeitsplatz zu verlassen und sich Bewegung zu verschaffen. Ansonsten ist wenig Grund geblieben, sich von seinem Computersessel zu erheben. Naja, manchmal fällt eine Aktenfolie vom Stapel und verschwindet unter dem Schreibtisch oder rutscht unter den Aktenschrank. Warum rutschen die Aktenfolien eigentlich immer wieder gerade in die verdammte Ritze unter diesem altertümlichen Schrank? Vielleicht liegt es am Material, diesen dokumentenechten, glatten, unzerstörbaren, reiß- und knautschfesten Folienchips? Immer wieder bin ich gezwungen, den letzten noch gerade mit der Fingerspitze erreichbaren unter der Stoßleiste vorlukenden Zipfel vorsichtig zu fassen und hervorzuziehen, um sie nicht versehentlich und auf alle Zeiten ganz unter den Aktenschrank zu schieben. Dann wünschte ich mir, dass alle Akten noch von der gleichen soliden Substanz wären, wie diejenigen im Schrank, die wohl schon einhundert Jahre darauf warten, endlich digitalisiert zu werden. Aber der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten.
Aus meinem Referat führen zwei altertümliche Aufzüge nach unten, von denen einer, der linke, immer noch nicht repariert und außer Betrieb ist. Er ist genauso alt wie die muffigen Flure der Abteilung und genauso heruntergekommen. Die Gelder für die Sanierung scheinen immer wieder in den anderen vorrangigen Abteilungen zu verschwinden. Auf diese Weise nimmt die hochmütige Missachtung, die unserer Abteilung durch die anderen Referate entgegengebracht wird über bröckelnden Putz und der durch Jahrzehnte ausgeblichenen Verputz der Wände greifbare Gestalt an. Wir gelten im Amt als Sonderlinge, da wir noch persönlichen Kontakt mit Klienten ode. »Kunden« pflegen, wie wir beschönigend sagen, anstatt uns in vornehmer digitaler Distanz zu ihnen zu halten. So gleicht das Gedränge, dass morgens bei Dienstbeginn und abends bei Dienstende vor dem rechten Aufzug entsteht, einem Spießrutenlauf, bei dem die Blicke der anderen Mitarbeiter um so deutlicher ausdrücken, was die Lippen sorgsam verschweigen.
Zur frühen Nachmittagszeit hingegen war der Aufzug meist leerer. So auch jetzt.
Ich versuchte, die beiden Mitarbeiterinnen aus der Abteilun. »Hygiene und Seuchen«, eine ärztliche Kollegin und deren Vorzimmertippse, die sich angeregt über einen Impfverweigerer unterhielten, höflich zu ignorieren, da ich von ihnen auf meinem Arm-Pad nicht angepingt worden war, was deren Bereitschaft zur Kommunikation signalisiert hätte. Ihrem geflüsterten Gespräch war jedoch zu entnehmen, dass der betreffend. »Kunde« zwangsweise zum Impftermin vorgeführt worden war und wohl viel Geschrei veranstaltet hatte. Eine nicht alltägliche Abwechslung im üblichen Büroalltagseinerlei.
Beim Verlassen des Aufzuges nickte ich der ärztlichen Kollegin verständnisvoll zu, was mir einen verwunderten, jedoch nicht unfreundlichen Blick eintrug.
Die Cafeteria war wie immer um diese Zeit fast leer. Drei oder vier Gestalten saßen vor den Monitoren oder warteten vor den Serviereinheiten auf die Ausfertigung ihrer Bestellung.
Ich ließ mich auf einen freien Sessel sinken, legte meinen Codering an das Terminal und wartete die üblichen vier Sekunden auf das Ende des unvermeidlichen Werbetextes, bei dem diesmal eine neue Kaffeesorte, aus garantiert gentechnisch optimierten Kaffeebohnen, mit de. »gewissen Geschmacks-plus« angepriesen wurde. Dann nickte ich der virtuellen Bedienung, deren Konterfei heute ein asiatisches Aussehen hatte, bejahend zu, als sie mich lächelnd fragte, ob es wieder dasselbe sein dürfte wie vor 2 Stunden.
Vor zwei Stunden? Solange hatte ich es schon durchgehalten? Entspannt ließ ich mich zurücksinken und die Simulation auf mich wirken, die die neuesten Fortschritte bei der Umsetzung der Beschlüsse des 85. Kongresses der Regierung seit der Übernahme der Geschäfte durch ChemChi ins Bild setzte, schaltete jedoch bald auf das Konzertprogramm um, auf der Suche nach Vivaldis Frühling, meinem Lieblingssatz, inszeniert durch FengLang mit dem synthetischen Symphonieorchester Schanghai.
Ich ließ mir gerade mit geschlossenen Augen den wohltuenden Duft des vanillierten Kaffeegetränks in die Nase steigen, als ich angeplingt wurde.
»Krongold, bitte begeben Sie sich umgehend mit der Akte Montenièr zu Herrn Dr. Dr. habil Eschner.« Ich zuckte zusammen. Bereits der Name dieses Herrn fühlt sich für mich an wie Zahnschmerzen der übelsten Sorte.
Er ist der Typ, den man ums Verrecken nicht los wird in seinem Leben. Schon in meiner Assistentenzeit in der Psychiatrischen Landesklinik, kurz vor meiner Facharztprüfung zum Psychiater, nervte dieser Hornochse alle Kollegen auf der Station mit seiner überragende. »Intelligenz«, die sich aus dem Nachplappern gerade gelesener Fachartikel und einem ansonsten völliges Dummschwätz zusammensetzte, aber enormen Eindruck bei den Professoren und Chefärzten der Stationen machte. Schon damals duckmäuserte er hinter den Vorgesetzten her, intrigierte nach Leibeskräften, bis er es zum Stellvertreter des Chefarztes geschafft hatte, nicht ohne alle, die ihm im Weg gewesen waren, kaltblütig abserviert zu haben. Ich war einer derjenigen, die seinem Wirken zum Opfer fielen, was zur Folge hatte, dass ich mich unversehens in dieser Behörde wiederfand, im hintersten Winkel des Gebäudes auf die Erlösung durch Berentung wartend. Was leider noch lange hin ist.
Als ich dann vor anderthalb Jahren aus der Tür meines Büros trat und beim Gang zur Cafeteria zufällig einen anderen Weg durch einen sanierten Gebäudetrakt nahm, traf mich fast der Schlag, als ich vor dem Zimmer des Amtsleiters beinahe mit ihm zusammenstieß. Er verließ gerade mit den für ihn üblichen arrogant hochgezogenen Augenbrauen das Chefzimmer, stolperte ärgerlich fast in mich hinein, stutzte und zog die Mundwinkel nach unten.
»Ah, Krongold, im Weg wie immer!« Ich blieb verdutzt stehen.
»Was machen Sie hier?«, entfuhr es mir verblüfft.
Er starrte mich an, wie eine lästige Fliege, die man gerne mit dem Daumen genüsslich zerdrücken möchte. »Arbeiten. Arbeiten mein Lieber. Eine für Sie ungewohnte Beschäftigung, nehme ich an.« Und ohne meine Reaktion abzuwarten, fuhr er fort. »Dadurch lieber Krongold bringt man es eben auch zu was. Sollten Sie vielleicht auch mal versuchen!« Damit wandte er sich ab und schwebte davon.
Ich traf ihn später noch häufiger. Er hatte es wohl innerhalb weniger Monate zum stellvertretenden Leiter des Amtes Gesundheit und Soziales geschafft, dem neben meinem Refera. »Medizinische Begutachtung und Rehabilitation« unter anderem auch das Referat Hygiene und Seuchen untergeordnet ist.
Jedesmal wenn ich ihm begegnete, hatte er gerad. »etwas ganz Wichtiges zu tun und leider gar keine Zeit für mich«. Einmal kam er gerade aus dem Refera. »Gefährdung und Sicherheit«, schwebte mit in die Luft gehobener Nase und einem dicken Ordner in der Hand gewichtig schreitend und sich nach allen Seiten absichernd, ob er denn auch bemerkt werde, an der Cafeteria und an mir vorbei, plingte mich an, nur um mir mitzuteilen, dass er gerade mi. »ganz oben« über mich gesprochen hätte. Natürlich nur mit den besten Empfehlungen. Man müsse ja denen von der Sicherheit nicht immer alles auf die Nase binden. Schließlich kenne man sich ja bereits seit Jahren und er würde auch gerne Kräfte unterstützen, die es selbst nicht nach oben geschafft hätten.
Ich versuchte, den Druck in der Magengegend zu ignorieren, der mich bei seinem Anblick immer wieder quält, und wunderte mich nur. Was hatte ich mit de. »Oberen« des Referat. »Gefährdung und Sicherheit« zu schaffen?
Dieses Referat ist ohnehin ein wenig merkwürdig. Seltsame Geschichten ranken sich um dessen Existenz. Niemand scheint so richtig durchzublicken, was dessen Aufgabengebiet eigentlich ist. Nicht einmal die Mitarbeiter des Referates sind namentlich im Adressverzeichnis des Amtes auf den Mail-Servern aufgeführt. Anstelle des Namens findet sich dort nur ein graues Feld. Weshalb sie im Amt auch al. »die Grauen« bezeichnet werden. Es wird immerhin gemunkelt, dass sie einen direkten Draht zu hohen Regierungskreisen haben sollen, und dass man sich lieber nicht mit diesen Leuten einlassen sollte.
Es soll vorgekommen sein, dass das Arbeitszeitkonto plötzlich auf null gestellt war oder die angehäuften Überstunden plötzlich gegen minus unendlich tendierten, wenn man einem von ihnen irgendwie auf die Füße getreten war, sagt man.
Seufzend erhob ich mich aus meinem Sessel, nachdem die Meldung, ich solle bei Eschner vorstellig werden, inzwischen ungeduldig blinkte und auf Kenntnisnahme bestand, ließ den Kaffee-Vanilla allein weiterduften und begab mich mürrisch an meinen Schreibtisch.
Dort fischte ich die Aktenfolie vom Stapel und hielt sie vor den Scanner.
Suzanne Montenièr, 26 Jahre, ledig, keine Kinder, Studentin der Bioinformatik und Historik, las ich da.
Dem zugehörigen Bild aus der zentralen Meldebehörde, inklusive Genmuster-Code und Fingerabdruck zufolge, insgesamt ein smartes Persönchen.
Diagnose. »Verdacht auf paranoide Schizophrenie, Wahnvorstellungen von Fremdbeeinflussung.« Studium geschmissen, Nachbarn mit ihren Vorstellungen, sie würde von fremden Mächten bestrahlt, belästigt, auffälliges Sozialverhalten und zunehmende soziale Isolierung. Das übliche. Schade eigentlich!
Ich blätterte die restliche Akte lustlos durch und fragte mich, warum da so ein Bohei drum gemacht wird? Derartige Fälle sind relativ häufig geworden und kommen direkt nach den Angsterkrankungen von Leuten, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie befürchten, an der nächsten U-Bahnstation oder im Kaufhaus von einer heimtückisch im Mülleimer hinterlegten Bombe irgendeiner Terrorgruppe zerrissen zu werden. Letztere Erkrankung entbehrte leider nicht einer gewissen Berechtigung, führte aber bei den meisten Menschen nur dazu, dass sie sich in der Öffentlichkeit vorsichtiger bewegten, nicht jedoch das Haus gar nicht mehr verließen.
Außerdem, wer musste außer Post- und Paktetzustellern noch groß das Haus verlassen? Wer dennoch raus ging, etwa um seinen Robohund Gassi zu führen, der hatte schließlich die Security-App, die mögliche Gefährdungsstellen auf dem geplanten Fußweg in Form kleiner Bombensymbole darstellte. Außerdem gab es inzwischen kaum eine größere Straßenkreuzung, keinen Eingangsvorplatz öffentlicher Gebäude, keine Bahnstation mehr ohne die üblichen Videokameras, die deutlich die Präsenz der Polizeigewalt demonstrierten. Und schließlich schleppte jeder irgend ein technisches Gerät mit sich herum, das die Bewegungsdaten kontinuierlich, offen oder versteckt, wie man munkelt, weitermeldete.
Dennoch passierten mitunter diese mysteriösen Anschläge, bei denen es einzelnen Terroristen immer wieder gelang, unerkannt zu verschwinden, nachdem sie unschuldige Passanten ins Jenseits gebombt hatten.
Manchmal bis zu zwei oder drei Anschläge im Monat mit gleichbleibender Tendenz. Auch dazu gab es die passende Terror-App.
Was ich bei diesen diversen Terror- und Gegenterrorgruppen bis heute nicht verstanden habe, war, warum sie es meist auf die Oma von nebenan, die Schulkinder einer Grundschule, die Besucher von Kaufhäusern oder Theaterveranstaltungen, also unschuldige, unbeteiligte Menschen abgesehen hatten, jedoch nie Parlamentarier oder Chefetagen von großen Konzernen ins Visier ihres Zorns nahmen, die, wenn überhaupt jemand, für das ganze gesellschaftliche Durcheinander eher verantwortlich waren.
Sei's drum.
Ich nahm mir die Akte nochmals vor, die ich schon lustlos auf de. »Akteneingang« zurückgeworfen hatte, und ließ mir die letzte, die gelbe Auftragsseite anzeigen, wo genauere Angaben zur Art der Kontaktaufnahme ausgeführt waren und der Untersuchungsauftrag präzisiert wurde.
Das Kreuzchen war vo. »Kontaktaufnahme vor Ort, da Einladung mehrmals erfolglos« gesetzt, gefolgt von mehreren Daten derartiger vergeblicher Einladungsversuche.
Ich frage mich immer wieder, weshalb es immer noch Handakten gibt, wo doch letztlich alles im PC bearbeitet werden muss? Aber derartige Fragen stellt man in einer Bundesbehörde besser nicht, um sich nicht die Aufstiegschancen zu vermasseln.
Vorgehensweise, Doppelpunkt, 4a, rot unterstrichen, mehrere dick gemalte Ausrufezeichen, Unterschrift, i.V. Dr. med., Dr. phil., habil. Eschner!
Ich schaute erschüttert nochmals auf die Unterschrift, aber es war kein Zweifel möglich, da stand Eschner! Vor meinen geistigen Ohren erschallte ein dämonisches, boshaftes nachhallendes Gelächter aus einem zahnlosen nach Schwefeldampf stinkenden Mund.
Ich spürte das dringende Bedürfnis, fünf Liter Wasser auf einmal zu trinken, um genug Saft in der Blase zu haben, um ihm an die Bürotür zu pinkeln, wenn ich nun zu ihm ging,.
Der Code: 4a bedeutet nämlich nichts anderes, als. »Nähere Anweisungen vom Abteilungsleiter entgegen nehmen, vertraulich.«
Dies hieß, aus meiner Bürotür zu treten, zu der feindlichen Tür des Dr. Dr. Eschner zu gehen und zu klopfen. Zu warten, weil durch die schalldichten Türen keine Antwort zu vernehmen ist, nochmals zu klopfen, wieder zu warten, dann die Türklinke vorsichtig herunter zu drücken, in devoter Haltung vorsichtig den Kopf zum Zimmer hinein zu stecken, um sich darauf gefasst zu machen, unwirsch nach draußen gewinkt zu werden, weil der feine Herr gerade etwas höchst Wichtiges zu erledigen hat, etwa sich die Fingernägel zu feilen, ein Telefongespräch mit jemand sehr, sehr Hohem zu erledigen oder sonst was.
Ich spürte, wie sich mein schlecht verheiltes chronisches Magenleiden wieder bei mir meldete.
Üblicherweise ist es so, dass man einen Klienten, den man zu begutachten hat, einfach einlädt, ins Amt zu kommen. Dieser erscheint entweder allein, wenn die seelische Erkrankung es zulässt, oder in Begleitung eines Angehörigen oder Betreuers, wenn die Erkrankung schwerer zu sein scheint.Sinn der Überprüfung ist es, das Ausmaß der seelischen Störung zu beurteilen und zu entscheiden, ob der- oder diejenige soweit keine Gefahr für die Allgemeinheit oder sich selbst darstellt, ob alle therapeutischen Maßnahmen ergriffen wurden, derer man heute mächtig ist, und ob eine vertiefte rehabilitative Maßnahme notwendig sein wird, um das gewünschte Ergebnis, nämlich die aktive Teilnahme an der digitalen Interaktion, dem sozialen Leben und dessen Verpflichtungen oder gar dem Berufsleben zu ermöglichen.
Nur in wenigen Ausnahmefällen bewegt man seinen Amtsarsch aus dem Sessel und sucht den Klienten in seinem Wohnumfeld auf. Dies tut niemand gerne, wird auch nicht besonders honoriert, kostet Zeit und Nerven, insbesondere wenn man sich in die Niederungen des unteren sozialen Milieus begeben muss. Noch seltener wird ein Klient gar mit polizeilichen Mitteln gesucht und vorgeführt, so dass ein Weg in die Verwahrungspsychiatrie notwendig wird. Dort geht es zumindest etwas manierlicher zu, jedenfalls für den Gutachter.
Seit der Einführung der allgemeinen Impfpflicht und insbesondere den zunehmenden Terroranschlägen wurden die Definitionen, ab wann jemand zu begutachten sei, etwas erweitert und das Berufsbild des medizinisch-psychiatrischen Gutachters zum ‚Sozialpsychiatrischen Gesundheitsberater‘ umdefiniert. Ein eigener Weiterbildungsberuf mit all dem üblichen Pipapo, wie Seminaren, Weiterbildungszeiten in akkreditierten Bereichen und Prüfungen. In dieser Mühle befand ich mich seit anderthalb Jahren.
Die Aufgaben umfassten nun zusätzlich das einfühlsame Zugehen auf Menschen, denen man nicht eindeutig eine anerkannte psychiatrische Erkrankung unterstellen konnte, sondern eine gewichtige oder vermutete Feststellung einer sozial schädlichen Gedankenwelt.
Dazu bedurfte es natürlich neuer Befragungsmethoden, damit die betreffenden Personen sich nicht stigmatisiert fühlten und sich lauthals protestierend an die Medien wendeten. Nicht, dass diese begierig darauf gewesen wären, derartige Protestschreiben abzudrucken, aber um die allgemeine Lage, die bereits durch die andauernde Terrorgefahr belastet war, nicht noch mehr zu eskalieren, kehrte man derartige Dinge lieber unter den Teppich.
Es wurde daher in den letzten Jahren zunehmend notwendig, Menschen aufzusuchen, die glaubten, sich wider besseres Wissen der notwendigen Massenimpfung gegen die seit einigen Jahren grassierende Zoga-Virusepidemie entziehen zu müssen, und deren geistigen Zustand festzustellen, wie auch Menschen, die sich aggressiv in Blogs oder Kommentaren im Netz zu Wort gemeldet hatten. Das machte wenig Spaß, da man als Gutachter ode. »Controller«, wie man verächtlich im Volksmund betitelt wird, weniger soziale Anerkennung erhielt, als vielmehr auf unverhohlene Ablehnung stieß und schlecht unterdrückte Aggressionen aushalten und seelisch wegstecken musste. Man musste sich also ein dickes Fell anschaffen.
Ganz anders verhielt es sich jedoch in diesem Fall, bei dieser Suzanne Montenièr. Hier lag offensichtlich ein deutliches Missverhältnis vor im Vorgehen zwischen der offensichtlichen psychiatrischen Erkrankung, die eine Wahnerkrankung nun einmal ist, und der Art und Weise, wie dieser Fall eingetaktet worden war.
Noch mysteriöser wurde es, als von ihm, kaum war ich wenige Minuten vor meinem PC, eine dringliche Anfrage mi. »höchster Priorität«, rotes Ausrufezeichen, per Netz kam, in der er sich tatsächlich herabließ, mich zu duzen.
»Lieber Kollege Levi, komm doch mal bitte kurz zu einer Besprechung der Sonderakte Montenièr zu mir rüber. Die Sache eilt etwas!«
Ich gebe zu, dass ich es langsam angehen ließ. Mit einem Mal entdeckte ich den Reiz alter, verstaubter Aktendeckel aus dem letzten Jahrhundert in meinem antiken Aktenschrank wieder. Auch schienen mir die Aktenordner in meinen Regalen ungebührend unordentlich aufgereiht zu sein. Dies korrigierte ich, indem ich die Fronten millimetergenau zueinander ausrichtete, bis ein einheitliches Bild der Oberflächen entstand. Auch fand ich hinter den Akten größere Staubschichten, die ich wegen fehlender Arbeitsmittel mittels eines Papiertaschentuches beseitigte. Ich habe viele Aktenschränke! Hier und da entdeckte ich sogar jahrelang verschollen geglaubte Vorgänge wieder oder welche, die von der alphabetischen Ordnung so sehr abwichen, dass sie erst zurücksortiert werden mussten.
Erst als die dritte Eilmeldung im PC mit eine. »Pling« ihre Anwesenheit bekannt gab, schlenderte ich langsam zu Eschners Büro rüber, klopfte flüchtig und trat sofort mit einem vor meinem Spiegel sorgfältig einstudierten kameradschaftlichen Lächeln ein.
»Was gibt's altes Haus?«
Immerhin hatte sic. »mein lieber Kollege Konrad Eschner«, nachdem ihm zuerst kurz die Gesichtszüge entgleist waren, als hätte ihm ein Schlaganfall das Kleinhirn ausgeschaltet, relativ schnell wieder im Griff und wies mir mit säuerlicher Miene einen Platz auf seinem Besucherstuhl zu.
Was er darauf folgend eröffnete, gab mir noch einige Stunden später reichlich Stoff zum Nachdenken. Erst einmal stellte er fest, dass es keinen geeigneteren Menschen im ganzen Amt gebe als mich, diese Begutachtung durchzuführen. Da hätten bei mir schon alle Alarmglocken klingeln sollen! Ich stand allerdings zu sehr unter Anspannung, als dass ich entspannt hätte nachdenken können.
Die Art und Weise, wie er mir Honig ums Maul strich, strafte er allerdings durch seinen das genaue Gegenteil ausdrückenden Gesichtsausdruck wiederum Lügen.
»Wie kommt denn diese Akte auf meinen Schreibtisch?«, fragte ich nach. »Sie ist offenbar nicht auf dem normalen Dienstweg bei mir abgelegt worden.«
Eschner lehnte sich gewichtig zurück, betrachtete eine Weile seine Fingernägel und erhob sich dann.
»Sie kommt eigentlich aus dem Referat Sicherheit«, hob er an. Auf meinen verwunderten Blick hin fügte er schnell hinzu. »Das bleibt natürlich alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich hoffe, dass ich auf deine Diskretion vertrauen kann?!«
»Diskretion, weshalb?«
»Die Dame steht unter Beobachtung und man fragte mich, wen ich für geeignet hielte, Kontakt mit ihr aufzunehmen.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Und da fielst du mir natürlich ein!«
»Aus alter Verbundenheit!«, setzte ich ironisch hinzu.
Er lächelte ein malignes Lächeln. »Aus alter Verbundenheit, selbstverständlich!«
Ich spürte, wie bei mir alle Wahnlämpchen anfingen zu leuchten.
Noch merkwürdiger erschien mir die Herangehensweise an den Fall. Es wurde Wert darauf gelegt, dass die Annäherung an die Klientin in mehreren Phasen verlaufen sollte. So eine Art zufälliges Zusammentreffen, das von mal zu mal vertieft werden sollte, damit die Dame nicht misstrauisch wurde.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich ihn verblüfft. »Es ist eine Schizophrene, da muss man doch nicht mit geheimdienstlicher Beflissenheit vorgehen!«
Er gab zu, dass ihn das auch ein wenig gewundert habe, allerdings habe er Andeutungen vo. »ganz oben« erhalten, dass nicht die Frau selber, sondern ihr Umfeld Probleme bereiten könnte.
Wer das sein soll. »ganz oben?«, fragte ich. »Ich verstehe nicht, was diese Andeutungen sollen? Was heißt das Umfeld könnte Probleme machen? Sind das Rocker, Terroristen, Radikale oder Pestkranke?«
Er verzog seine Miene derart gekünstelt in Richtung Mitgefühl, dass ich ihm hätte spontan auf die hochglanzpolierten Schuhe kotzen können.
»Wenn ich nicht an völlige Geheimhaltung gebunden wäre, würde ich dir liebend gerne Auskunft darüber geben, aber leider ....« Er vollendete den Satz nicht, sondern setze sich wieder bequem in seinen Chefsessel. »Zum dortigen Referat haben nur wenige Zutritt, musst du wissen.«
»So wie du!«, ergänzte ich, bemüht ruhig zu klingen.
Er unterdrückte ein selbstgefälliges Grinsen, lehnte sich verschwörerisch nach vorne und flüsterte mit gesenkter Stimme. »Also hör zu. Es scheint, dass einige Abteilungen sehr beunruhigt sind, weil die Klientin nicht nur schizophren sein soll, sondern sich auch auf eine eigenartige Art und Weise der Überwachung entzieht.«
»Überwachung?«, fragte ich verwundert nach.
»Naja, du weißt schon. Eigentlich sollte sie irgendwo wohnen. Offiziell tut sie das auch, aber dort ist sie nie anzutreffen. Daraufhin wurde man aufmerksam auf diese Person und begann sie zu überwachen, Terrorgefahr, du verstehst?«
»Eine Verrückte?«, gab ich ungläubig zurück.
»Warum nicht, meinst du, die Terroristen wären alle ganz klar im Oberstübchen?«, konterte er.
Das deckte sich auch mit meiner Einschätzung. »Und weiter?«, forschte ich.
»Es stellte sich heraus, dass auch die im öffentlichen Raum zulässigen Mittel und auch die weniger offiziellen Mittel, wie Arm-Pad-Überwachung, nicht dazu führten, lückenlos heraus zu bekommen, wo sich diese Person aufhält. Sie scheint sich immer wieder in Luft aufzulösen.«
»Echt?«, fragte ich erstaunt. Es war mir natürlich bereits klar, dass die inoffizielle Überwachung entgegen aller offiziellen Versionen breite Anwendung findet, insbesondere als ich durch einen Zufall herausbekam, dass jedes Handy zwei Leitungen gleichzeitig benutzen kann, eine offizielle Gesprächsleitung und eben eine weitere, die ohne Wissen des Teilnehmers funktioniert.
»Und?«, regte ich ihn zu einer weiteren Erklärung an, da er mich abwartend anschaute.
»Es scheint in ihrem Umfeld Leute zu geben, die eine Technik anwenden, die sie vor Überwachung wirksam schützt. Das ist natürlich für die Abwehr von potentiellen Gefährdern ein großes Problem.«
Das verstand ich.
»Aber was habe ich damit zu tun?«, versuchte ich, nun langsam Licht in die Angelegenheit zu bringen.
»Man war der Ansicht, es wäre am unauffälligsten den üblichen Routineweg zu gehen. Einen Gutachter erwartet man ja in solchen Fällen und daher erregt dieser bei einem eventuell gefährlichen Umfeld am wenigsten Verdacht.«
Mir wurde ein wenig mulmig. Was aber, wenn das möglicherweise gefährliche Umfeld nun auf die Idee kam, mich einfach wegzubomben?
»Dafür bin ich zu deinem Schutzpatron ernannt worden«, gab er grinsend von sich.
»Ich kann dir auch nur versichern,« nickte er. »dass ich dich so gut wie möglich mit Rat und Tat unterstützen werde, wenn du nicht zurechtkommen solltest.«
»Firma dankt!«, erwiderte ich frostig.
Im Rausgehen rief er mir noch nach. »Ich kann mich auf dich verlassen, ja? Denk dran, die Sache eilt!«
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an Einzelheiten bezüglich des Rückweges zu meinem Zimmer wirklich erinnern kann. Ich war damit beschäftigt, über die vielen Ungereimtheiten nachzudenken, als mein Arm-Pad angeplingt wurde. Raskovnik, einer meiner wenigen Bekannten im Amt, lud mich ein, kurz einmal in der Cafeteria vorbeizuschauen. Erfreut drehte ich auf dem Absatz um und erlaubte mir den kleinen Umweg durch das Erdgeschoss.
Raskovnik ist ein merkwürdiger Mitmensch. Er passt so gar nicht ins Amt. Offenbar ist er jedoch genauso hier gestrandet wie ich. Sein Vater soll ein hohes Tier bei der Uno gewesen sein. Das war, bevor die Eurasische Union zwischen Russland und China, Tuanti Sojus, kurz TUS, die militärische und wirtschaftliche Schwäche der USA nach deren strategischer Niederlage im Nahen Osten ausnutzte und die Hebel der Macht an sich riss. Zurück blieb eine ausgebombte, radioaktiv verseuchte und unbewohnbare vorderasiatische Region, mit der wirklich niemand mehr etwas anfangen kann und eine durch innere Konflikte auseinanderfallende Rest-USA, die Western Union, die im Weltgeschehen praktisch bedeutungslos geworden ist.
In diesem Verlauf wurde die UNO als nutzlos und zu kostspielig aufgelöst. Raskovnik's Vater floh offensichtlich in die TUS, wo er jedoch keine wesentliche Funktion mehr innehatte und sein Sohn, Vladic Raskovnik, versumpfte hier im Amt ohne Aussicht auf eine nennenswerte Karriere. Dennoch hatte er bei der besagten Abteilung für Gefährdung und Sicherheit eine unbedeutende, jedoch gesicherte Tätigkeit als Dolmetscher erstreiten können, auch wenn er unter ihrer Leitung nicht ganz glücklich zu sein schien.
Er wirkt ein wenig phlegmatisch, trotz des Stiernackens und seines fast quadratischen Körperbaus, was einem Ringer mehr entspräche als einem Sesselpfurzer. Allein die senkrechte Falte über seiner Nasenwurzel und sein verschlossenes, wortkarges Auftreten lassen den geschulten Psychiater die mühsam beherrschte Wut ahnen, die diese Seele peinigen muss. Dennoch, Raskovnik sprach gleich von Anfang an eine Seite in mir an, die ihm meine Zuneigung sicherte. Ihn traf ich häufiger in der Cafeteria. Auch wenn es nie zu einem tiefer gehenden Gespräch kam, so plingte er mich des Öfteren an, nur um mir ein paar belanglose Worte zu simsen.
Hinzu kam, dass auch Raskovnik als Mitarbeiter der Sicherheit ei. »Grauer« ist und dass er mir gegenüber im Laufe der Monate seinen Klarnamen erwähnte, was einen eklatanten Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen darstellt, zeigte mir, dass unsere Sympathien wechselseitig sein müssen. Kurz und gut, ich freute mich nach dem Gespräch mit Eschner vielleicht ein paar Hintergrundinformationen von ihm zu erhalten. Umso mehr wunderte es mich, dass er sich, wie ich mich erinnere, nur auf wenige Sätze beschränkte, nachdem ich ihm kurz die Zusammenhänge erläutert hatte.
»Levi, sei auf der Hut vor Eschner! Da scheint eine riesige Sauerei im Amt zu laufen. Ich versuche heraus zu bekommen, woher der Wind weht. Ich melde mich bei dir!« Damit verließ er die Cafeteria eilig, ohne sich noch einmal nach mir umzuschauen.
Ich verbrachte den Rest des Tages vergeblich damit, meinen Bearbeitungsrückstand bezüglich der offenen Fälle zu verringern. Schließlich gab ich es trotz blinkender Warnhinweise wegen der Bearbeitungsdauer längst überfälliger Akten und tiefrot im Minus verweilender PC- Zeiten auf und beschloss, für heute Schluss zu machen, zumal auch keine Termine zur persönlichen Begutachtung mehr eingetragen waren. Ich bestellte per App ein AuTaX, eine automatische Fahrkabine, die die Funktion früherer Taxis übernommen hat, zum Amt.
Nachdem ich am Ausgangsterminal meinen Daumenabdruck und meine Iris gescannt hatte und ich erfolgreich ausgeloggt war, umfing mich feuchtkühler Nachmittagsnebel. Das AuTaX wartete bereits in der Haltebucht, so dass ich es mit dem Chip am Fingerring aktivieren konnte.
Ich zögerte kurz, wählte dann aber nicht meine Wohnadresse, sondern das italienische Bistro im benachbarten Park am See und legte mich entspannt zurück, als das AuTaX lautlos seine Fahrt aufnahm. An mir floss der dichte Personenverkehr mit viel Lärm und Gestank vorbei, während ich auf meiner AuTaX-Spur problemlos das Chaos neben mir zurückließ.
Ich fragte mich, wann es wohl gelingen werde, das vor 20 Jahren begonnene AVS-System endlich zu realisieren. AVS ist die Abkürzung für ‚Automatisiertes Verkehrssystem‘. Die Idee war ja nicht schlecht, alle innerstädtischen Fahrzeuge automatisiert und vor allem elektrisiert und auf Mietbasis zu betreiben. Keine lästige Parkplatzsuche mehr, keine verstopften Straßen, keine Staus. Leider stehen zwischen einer Idee und deren Verwirklichung die Dämonen der Verwaltung und auch des Besitzstanddenkens. Nicht nur die Autoindustrie zeigte sich eher schwerfällig, denn es sollten ja letztendlich keine privaten Pkw mehr auf die Straße, sondern statt dessen automatisierte Fahrkabinen, die auf Anforderung das gewünschte Fahrziel ansteuern. Auch die Verkehrsbehörde hatte massive Bedenken und torpedierte das Projekt, wo sie konnte. Übrig blieb vorerst nur die AuTaX-Fahrspur für automatisierte Taxikabinen, die in allen größeren Straßen realisiert worden war, immerhin. So fließt denn der führerlose Taxiverkehr weitgehend ungestört neben intelligenten Autos, die dennoch ständig irgendwelche Unfälle verursachen, und dem herkömmlichen Personenverkehr dahin, mit dem Ergebnis größtmöglicher Ineffektivität. Ich verzichte gerne auf den Besitz eines prestigeträchtigen Pkws, wenn ich so für die Überbrückung einer normalen Fahrstrecke nur ein Drittel der sonst üblichen Zeit benötige. Ganz zu schweigen von den öffentlichen Verkehrsmitteln, die inzwischen zu reinen Sicherheitsrisiken geworden sind und nur noch vo. »Mobb« benutzt werden.
Als der Verkehr ruhiger wurde, in dem Maße wie ich mich dem westlichen Außenbezirk näherte, entspannte sich auch mein strapaziertes Gehirn etwas. Für mich gibt es immer noch nichts Erfreulicheres als in dem kleinen Bistro am See zu sitzen und meine Gedanken schweifen zu lassen. Heute am frühen Nachmittag war hier noch nicht viel los. Ich checkte mittels Chip ein und ließ mir vom Getränke-Bot einen altertümliche. »Cafe Latte« servieren, setzte mich bequem in den Liegesessel vor die Monitorwand und schaltete das sommerliche Seeambiente dazu, denn der reale See lag derzeit im vorwinterlichen Graubraun. Sogleich erblühten die kahlen Bäume in virtueller Blätterpracht, zwitscherten längst ausgestorbene Vogelarten und wehte ein angenehmer, nach frischem Grün riechender Duft heran.
Was für ein Tag!
Mit einem Seufzer setzte ich das Kaffeeglas ab und schaute mich nach den wenigen Anwesenden um. Einige saßen mit ihren Virtual-Reality-Brillen ruhig in ihren Sesseln, andere machten es wie ich und benutzten nur den Monitor. Der in die Sessellehne eingebaute Screen zeigte nur eine Person an, die gesprächsbereit gewesen wäre, aber ich beachtete diesen Hinweis nicht, sondern schaltete mich auf offline.
In Gedanken ließ ich die heutigen Ereignisse Revue passieren. Alles, aber auch alles war bislang an diesem Tag merkwürdig. Ich schien plötzlich in höchst beunruhigende Ereignisse verwickelt, die eine unangenehme Vorahnung in mir hinterlassen hatten, ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe in mir erzeugten, ohne dass ich hätte sagen können, wovor ich Angst bekommen hätte. Einerseits drängte es mich, den Fall Montenièr lieber zurückzugeben, andererseits spürte ich auch eine zunehmende Neugierde, geradezu eine Abenteuerlust, mich in dies Unternehmen zu stürzen. Denn abenteuerlich ließ es sich ja bereits an. Ich musste mit jemandem sprechen, nur leider war in meinem Privatleben auf fast allen Kanälen Sendepause. Meine Frau Iris hatte sich in ihren Beruf verabschiedet und dort eine neue Beziehung angefangen. Meine Tochter Clarissa schied ebenfalls aus, ich wollte sie nicht in die Probleme der Erwachsenenwelt hineinziehen. Sie saß derzeit zwischen allen Stühlen und zog es vor, tagsüber lieber in Ruhe ihr Telestudium zu absolvieren. Ohnehin wusste sie derzeit nicht, ob sie Fisch oder Fleisch sein sollte, da sowohl die Pubertät als auch die Trennung von meiner Frau sie in eine schwierige Situation gebracht hatten. Sie meldete sich so gut wie überhaupt nicht mehr bei mir, und wenn, dann nur um Forderungen an mich zu stellen. Das schmerzte.
Die Kyperbekanntschaften waren erwiesenermaßen genauso fleischlos wie unverbindlich, mein psychiatrischer Supervisor schied momentan aus, weil... weil... Er schied eben aus. Ein Psychobot tat es auch manchmal, wenn man die Erwartungen, die man an ein Gespräch mit einem Computerprogramm hatte, nicht zu hoch ansetzte. Ich schaltete die Musik ein, Vivaldi, das beruhigte mich sonst immer. Aber anstatt ruhiger zu werden, wurde ich immer nervöser, bis ich mich schließlich dabei ertappte, dass ich wie ein Maschinengewehr mit den Fingern auf das Terminal tackerte. Auf dem Screen öffnete sich ein Fenster, in dem das Gesicht einer hübschen Frau zu sehen war, die freundlich nach meinem Befinden fragte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, lächelte sie ein professionelles Lächeln. Leider weiß man nie, ob das Gesicht eine Computersimulation ist oder ein reales Abbild. Ich tat so, als wäre mir das im Moment egal. »Nicht dass ich wüsste, danke.«
»Sind Sie mit irgendetwas unzufrieden, Sie wirken angespannt?«
»Oh, wirklich?«
»Ja, wir dachten, vielleicht gefällt Ihnen unsere Simulation nicht.«
»Oh, doch, doch vielen Dank, sie ist wirklich gut. Wirklich gut. Danke.«
»Wie schön, wenn wir irgendetwas tun können, um Ihren Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Für nur 24 Quian können wir Ihnen zum Beispiel eine Wohlfühl-App anbieten, entstressen auf höchstem Niveau, oder eine Harmoniser-XXL-App, neuestes Update, für nur 34 Quians. Gegebenenfalls könnten sie auch eine Libidoseur-Applikation erhalten, im günstigen Jahresabonnement um zehn Prozent günstiger, die erste Rate wird erst nach einer unverbindlichen Probewoche abgebucht.«
»Oh, danke, ich weiß nicht so genau.«
Die Dame lächelte ein entzückendes Lächeln. »Na, dann melden Sie sich einfach, wenn Sie möchten. Einen weiterhin schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.«
Ich ließ mich ermattet zurücksinken und blickte auf das abstrakte Bildschirmmuster, welches auf dem Screen erschienen war und sich im Rhythmus von Vivaldi. »Vier Jahreszeiten« bewegte. Seltsamerweise wurde ich etwas ruhiger. Ich blickte wie im Traum auf die bizarren Figuren, die sich bildeten und wieder vergingen. Auch wenn sie zufällig entstanden, so waren sie doch auch faszinierend. Obwohl es keine ausgeprägte geistige Tätigkeit verlangte, sie anzusehen, brachten sie doch einige Free-bits ein, die ich zu einem kleinen Prozentsatz in mein Arbeitskonto einbuchen konnte und die zum Teil auch mein Payback-Quians-Konto vermehrten. Nach einer geraumen Weile, es war inzwischen schon dunkel geworden, beschloss ich, doch in die häuslichen Gefilde zurückzukehren. Ich schüttelte ein paarmal den Kopf, um die Müdigkeit loszuwerden, rieb mir kräftig über das Gesicht und bestellte ein Abendessen im Nutri-Shop nach Hause, danach ein AuTaX zum Café. Ich blickte nochmals auf den Bildschirm, der nun zwei potentielle Gesprächspartner anzeigte. Einer Frau im Alter meiner Exfrau simste ich eine Offerte für später und checkte mich aus. 50 Quians von meinem Konto für den hiesigen Aufenthalt waren nicht wenig, aber seis drum. Das Ausgangsterminal fragte diesmal nicht nach einem Trinkgeld, der Service gehe aufs Haus. Seit das Bargeld nun endgültig abgeschafft worden war, hätte zwar nur ein Druck auf die Trinkgeldtaste genügt, andererseits wüsste ich nicht, wem ich es in einem automatisierten Café hätte zuweisen sollen. Ich war eben noch ein wenig altmodisch in dieser Beziehung.
Auf dem Rückweg flimmerten die Lichter der abendlichen Stadt an mir vorbei. Überdimensionale Leuchtreklamen lenkten die Aufmerksamkeit von den Niederungen dieser Welt in eine virtuelle bessere Welt. Die Kabine nahm einige merkwürdige Umwege, wahrscheinlich weil ihr auf der berechneten Route Hindernisse gemeldet worden waren. Tatsächlich stauten sich auf der Hauptstraße die individuell gesteuerten Autos bereits, was zu dieser Tageszeit in Richtung Zentrum normal war. Einige hatten sich sogar auf die Fahrspur der Automatischen gewagt, was üblicherweise mit empfindlichen Geldbußen oder monatelangem Führerscheinentzug geahndet wird.
Der Himmel über der Stadt, der rötlich leuchtend die von den Wolken reflektierten Lichter zurückwarf, zeigte noch einige schwache Versuche der untergegangenen Sonne, sich mit einem letzten fernen Leuchten zu verabschieden. Jetzt waren wieder mehr Menschen auf den Straßen, obwohl dies eigentlich die riskanteste Zeit ist, das Haus zu verlassen und sich in die Öffentlichkeit zu wagen. Über 80 Prozent aller Anschläge werden nach Einbruch der Dämmerung verübt! Wir passierten die gelblich blinkenden Lichter eines Polizeifahrzeuges und eines wartenden Sanitätswagens. Aber da kein olivgrünes Fahrzeug des Terrorschutzes zu sehen war, handelte es sich wohl nur um einen Unfall. Ich zählte die Anzahl der Videokameras, die auf dem Weg zu entdecken waren, in Abwandlung eines alten Kinderspieles, bei dem wir früher die Autos einer bestimmten Automarke abgezählt hatten.
Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Ich frage mich, ob das Leben leichter geworden ist, seit die neue Regierungsform notwendig wurde? Ich weiß es nicht. Andererseits konnte es so auch nicht weitergehen. Die diversen demokratischen Parteien und Splitterparteien hatten sich im Parlament nicht zu einer konstruktiven Lösung zusammen tun können, sondern sich nur gegenseitig blockiert. Bis auf das gemeinsame Interesse, bei jeder Kleinigkeit die Steuern oder Staatsschulden zu erhöhen, gab es keine erkennbare Gemeinsamkeit. Jeder gut gemeinte Reformansatz wurde daher im Mahlwerk der eigennützigen Interessen bis zur Unkenntlichkeit deformiert, durch eine Heerschar eifriger Juristen und Bürokraten ins glatte Gegenteil gekehrt und schließlich als neue Zumutung der Bevölkerung auferlegt. Wen wundert es, wenn die Netzmedien überwiegend von Hassbotschaften dominiert wurden? Bis zur Wahlreform, die lediglich die Möglichkeit einer einzigen Regierungspartei zuließ, versank das Land im Chaos sich gegenseitig bekämpfender Parteien, revoltierender Bürgerinitiativen, litt unter Terroranschlägen verschiedenster Gruppierungen und Wirtschaftskriminalität, so dass es ein Glück war, als ein chinesischer Konzern seine Wirtschaftsmacht ausnutzend, das Ruder herumriss und die dortigen zentralistischen Strukturen auch bei uns einführte. Nicht, dass dies auf allgemeine Zustimmung gestoßen wäre, aber unleugbar ging es seitdem auch bei uns wieder langsam bergauf.
Aber war das Leben auch leichter geworden? Es war geordneter, das wohl. Die persönlichen Probleme blieben einem allerdings treu, wie ehedem.
Mein persönliches Problem bestand aus der Ereignislosigkeit, aus der ermüdenden Routine des Alltags und der privaten Perspektivlosigkeit. Meine Familie hatte wenigstens die Illusion der Notwendigkeit eines derartigen Zustandes erzeugt, aber seit der Trennung wurde dieses Gefühl zunehmend zur Last.
Vor dem Wohnblock, in dem ich mein neues Zuhause gefunden hatte, checkte ich mich aus der Kabine aus, die sofort zum nächsten Einsatz fuhr, sog die kühle Abendluft noch einmal kräftig ein und wollte mich gerade mittels Daumenabdrucks an der Pforte identifizieren, als mein Arm-Pad sich meldete. »Bitte Rückruf, dringend. Raskovnik«.
Ich stutzte. Raskovnik rief mich privat an? Woher hatte der meine Privatnummer? Soweit ich mich erinnern konnte, hatten wir nie unsere privaten Nummern ausgetauscht.
Ich tippte die Antworttaste. Der kleine Bildschirm flammte auf. »Entschuldige, dass ich dich in deiner Freizeit störe...«
»Woher hast du meine Nummer?«
»Ist die nicht im System hinterlegt...?«, fragte er zurück.
»Nicht das ich wüsste...«, überlegte ich.
»Hör mal, es gibt eine geringe Chance. Es wäre wichtig, dass u diese Montenièr schnellstmöglich aufsuchst. Sie weiß dir einiges zu berichten, was ich dir hier nicht am Pad mitteilen kann. Es gibt eine Chance, dass du sie heute Abend in der Nähe vom ,Fleur' antriffst. Ich habe ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass sie sich dort aufhält.«
»Weshalb?«
»Kann ich dir nicht sagen, gerade. Aber du weißt schon. Es könnte wichtig sein für dich!«
Merkwürdig!
»In welchem Bezirk liegt das ‚Fleur‘?«
»Im 14.«
»Willst du mich etwa in diesen Abgrund schicken?«
»Es ist nun mal dort, tut mir leid.«
Das gefiel mir gar nicht, da ich es nicht gewohnt war, aus meinem Bezirk herauszugehen.
»Aber ich habe keinen Dienst jetzt.«
»Ich weiß, ich weiß. Nur das Problem liegt darin, dass es sonst schwer werden wird, sie überhaupt irgendwo anzutreffen.«
»Ich hab gar keine Akte dabei.«
»Levi, es geht um dich. Vertrau mir! Es ist von größter Wichtigkeit. Vielleicht ergibt sich eine Kontaktmöglichkeit. Mach dir mal ein Bild vom Zustand dieser Frau.«
»Randaliert sie?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Hör mal, das schmeckt mir überhaupt nicht. Wenn die Sicherheit ohnehin weiß, wo sie ist, warum schickt sie dann nicht einen ihrer Leute hin.«!«
Er räusperte sich. »Ist sozusagen eine private Angelegenheit... verstehst du?«
»Wieso?«
»Ich erklär es dir später. Ich schicke dir nochmals ein Bild von ihr, damit du sie erkennst. Gehst du?«
Was war nur mit Raskovnik los? Irgendwie passte die Art, wie er mir dies mitteilte, nicht zu dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Ob er etwas wusste, was mit Eschner und dessen obskuren Rolle in dieser Sache zu tun hatte?
Offenbar konnte er nicht offen reden am Pad. Andererseits, überlegte ich, hatte ich ohnehin nichts mehr vor heute und vielleicht entwickelte sich ja daraus die Perspektive, die mir gegenwärtig so dringend fehlte.
»Okay. Aber nur kurz.«
»Gut! Das AuTaX ist informiert.«
Kurz danach öffnete sich ein Anhang, in dem das Bild der schizophrenen Klientin angezeigt wurde. Missmutig schaltete ich das Teil aus.
Was ging hier eigentlich vor und warum um alles in der Welt ließ ich mich auf diese merkwürdig. »Begutachtung« ein? Ich hatte einige Zeit im AuTaX darüber nachzugrübeln, insbesondere da dort Fahrziel und Einbuchung schon vorgenommen worden waren. Die Antwort lag wohl im Konterfei dieser Suzanne Montenièr. Sie war mir nämlich irgendwie sympathisch. Genaugenommen konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie an dieser Wahnerkrankung leiden sollte, zumindest wünschte ich es ihr nicht. Obwohl das biometrisch korrekt erstellte Foto eher wie ein Auszug aus einer Verbrecherkartei wirkte, beeindruckten mich in dem schlanken Gesicht die großen Augen und markanten Augenbrauen, die dem Gesichtsausdruck etwas Sanftes verliehen. Aber man soll sich nicht täuschen! Schizophrene sind nicht grundsätzlich dumm oder geistig minderbemittelt. Im Gegenteil. Ich habe in meiner Laufbahn als Psychiater viele äußerst intelligente, phantasievolle Patienten erlebt, die erst durch die lange Einwirkung von Medikamenten oder den chronischen Krankheitsverlauf geistig abgebaut hatten. Mit anderen Worten, ich war neugierig auf die Frau. Andererseits war die amtliche Herangehensweise an diesen Fall mehr als seltsam.
Bis zu dem Punkt, wo die Klientin vor Ort aufgesucht werden sollte, konnte ich noch routinemäßig mitgehen. Aber diese merkwürdige Annäherung, ohne dass die betreffende Person von ihrer Ausforschung erfahren sollte, schmeckte mir nicht. Ich bin zwar nicht scharf darauf, gleich mit eine. »Verpiss dich« abgefertigt zu werden, andererseits billige ich meinem Gegenüber noch so viel Menschenwürde zu, dass es wissen sollte, worum es geht.
Stellen wir uns nur einmal vor, Suzanne Montenièr könnte die Geheimleute wirklich zu einem Terroristennetzwerk führen, dann würde ich annehmen, dass die sich Tag und Nacht an ihre Fersen heften und schauen, wo sie sich aufhält. Aber statt dessen eine psychiatrische Begutachtung zu veranlassen erschien mir wenig zielführend. – Es sei denn, dass dies nur ein Vorwand für etwas anderes war – oder dass die Beobachtung durch mich genauso wirkungsvoll wäre, nur andere aus der Schusslinie brächte. An diesem Punkt begann eine gewisse Verärgerung in mir aufzukeimen. Ich beschloss, ihr, sollte ich ihr begegnen, gleich reinen Wein einzuschenken. Andererseits... Eschner eins auswischen, indem ich Schleimipunkte irgendwo ganz oben einsammelte, war auch nicht schlecht.
Der Platz vor de. »Fleur«, ein in die Jahre gekommenes kleines französisches Restaurant, war genauso runtergekommen wie alle anderen Gebäude auch. Ich befand mich im Botanikerviertel, einer Promeniermeile aus besseren Zeiten, ganz in der Nähe des Botanischen Gartens und des kleinen Kanals, der die Metropole im Norden teilt. Einige imposante restaurierte Jugendstilbrücken führen zur anderen Seite des Viertels. Dahinter liegt heute das ehemalige Studentenviertel, aufgrund der Nähe der Universität so benannt und der Tatsache, dass dort wegen der damals schon heruntergekommenen Bausubstanz billige Wohnungen zu haben waren. Inzwischen wohnten dort in enger Nachbarschaft mit imposanten Büroneubauten vor allem Sozialhilfeempfänger in städtischen Sozialwohnungen, die ihnen zugewiesen worden waren. Die ganze Gegend weist eine mindestens doppelte Dichte an Überwachungskameras aus, wie der restliche Teil der Stadt zusammengenommen. Allerdings gibt es auch hier die höchste Kriminalitätsrate der gesamten Stadt. Hier und da kreisen plötzlich Polizeidrohnen über den Plätzen, scannen alles mit Infrarotkameras, um kurz darauf blitzartig wieder zu verschwinden. Nicht gerade ein Ort, wo man gerne nachts alleine rumsteht, so wie ich jetzt. Ich hatte kaum eine Minute unschlüssig auf dem Platz gestanden, als schon eine dieser Drohnen über mir kreiste. Ich setzte mit meinem Arm-Pad meinen Code ab, worauf sie sich entfernte. Wie sollte ich Frau Montenièr hier finden? Ich schaute mich um, ob irgendwo eine ausgeflippte Person die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zog oder in einer Ecke oder am Fuß einer Brücke eine zusammengekauerte Gestalt hockte. Fehlanzeige. Zweimal verfolgte ich eine Person, die die Gesuchte hätte sein können, sich jedoch als Prostituierte herausstellte. Die hätte aber ebensowenig hier sein dürfen. Immerhin wies diese Tatsache darauf hin, dass die staatliche Überwachung der Plätze doch nicht so lückenlos sein konnte, wie allgemein angenommen. Eine Überlegung, die die ganze Angelegenheit in ein anderes Licht rückte. Vielleicht war gar nichts Geheimnisvolles am Verschwinden der Frau, sondern die Überwachung war nur einfach lückenhaft. Dieser Gedanke beruhigte mich insofern, als die Wahrscheinlichkeit, unliebsamen Kontakt mit einer Terrorgruppe zu bekommen, etwas geringer erschien. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Ich hatte die Nase voll, war frustriert und müde und hungrig, deshalb beschloss ich, in. »Fleur« zu gehen, um dort etwas zu mir zu nehmen.
Trotz des antiquierten Eindrucks, den das kleine Restaurant machte, öffnete sich die Tür erst, nachdem Chip und Iris gescannt waren. Drinnen umfing mich gedämpftes Lampenlicht, in dem einige wenige Holztische zu sehen waren, die in kleinen mit riesigen Tonvasen und künstlichen kalkweißen Mauern dekorierten Nischen untergebracht waren. Überall hingen Sträuße getrockneten Lavendels an den Wänden und von der Decke allerlei antikes landwirtschaftliches Gerät, welches zweckentfremdet dort angeschraubt war.
Es dauerte eine Weile bis ein runtergekommener Wirt mit Baskenmütze und schmierigem Hemd nach meinen Wünschen fragte.
»Was Kleines, bitte!«, forderte ich müde. Er stieß einen kurzen Lacher aus.
»Das findest du eher draußen!« Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er die Nutten auf dem Platz meinte. Ich lächelte verlegen.
»Ich möchte speisen, was Kleines.«
»Mon dieu, Sie befinden sich in einem französischen Restaurant, da ist alles klein, wissen Sie?«
Ich lächelte zurück. »Lassen Sie mich raten, nur die Preise sind groß?«
Er lachte kurz auf, wobei sich sein fast zahnloser Mund unter einem kleinen Schnäuzer öffnete, aus dem ein so derartig pestilenzartiger Tabakgeruch entströmte, dass ich kurz den Atem anhalten musste. Dann klopfte er mir herzhaft auf die Schulter, drehte sich um, um eine Karaffe mit einer roten Flüssigkeit auf einer Anrichte hinter sich zu ergreifen und mir wortlos auf den Tisch zu stellen.
Ich schaute ihn fragend an. »Was ist das?«
»Rotwein!«, gab er wie selbstverständlich zurück, wobei sein Blick einen stillen Triumpf ausdrückte, als er meine Überraschung bemerkte. Alkoholhaltige Getränke sind seit Langem nicht mehr legal zu bekommen!
Danach reichte er mir das Pad mit der Speisekarte. »Wenn ich etwas empfehlen dürfte, das Lamm muss noch weg«, lachte er, um danach wieder mit enthusiastischem Blick beide Hände an die Lippen zu führen. »Es ist süperb. Aber diese Trottel hier können das nicht richtig schätzen, deshalb hebe ich es für Gäste wie Sie auf.«
»Richtiges Fleisch?«, fragte ich überrascht.
Er verzog beleidigt das Gesicht. »Aber natürlich, was halten Sie von mir?«
Ich war erstaunt. Richtiges Fleisch hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.
»Sie sind nicht von hier?«, fragte er beiläufig.
»Nicht aus diesem Viertel.«
Er nickte. »Also das Lamm?«
Ich gab mich geschlagen, weil ich mich viel zu erschöpft fühlte, es noch in einem anderen Lokal zu versuchen.
Nachdem ich die Lippenstiftspuren an dem Glas auf meinem Tisch mittels einer Ecke des Tischtuches beseitigt hatte und mich bediente, stellte ich fest, dass der Wein ausgezeichnet schmeckte.
Es dauerte allerdings gut zwei komplette Baguettebrote, die der Wirt mir reichte, um mir die Wartezeit zu verkürzen und über 30 Minuten, bis er mit einer kleinen Steingutschale zurückkehrte, in der eine winzige Portion würzig duftenden Lammfleisches neben einigen winzigen Bratkartoffelwürfeln und Bohnen ‚übersichtlich‘ dekoriert war. Darüber lag ein Rosmarinzweig, dessen Ende in einer Knoblauch-Kräuter- Paste unterging.
Ich schaute ihn fassungslos an, als er diese in der Geste eines Fünfsterne-Chefkochs vor mir plazierte.
»Fehlt etwas?«, fragte er mit gespieltem Erstaunen.
Ich zögerte. »Die Lupe?«
Er brach in ein wieherndes Gelächter aus, schlug mir wiederum mehrfach auf die Schulter und entfernte sich dann kopfschüttelnd und laut lachend.
Wider Erwarten schmeckte das Lamm köstlich, ich möchte sogar sagen, es war wohl das beste, was ich jemals gegessen hatte. Dies und die Tatsache, dass der Wein ein Übriges dazugab, verbesserte meine Stimmung erheblich. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss ich, den Wirt ins Vertrauen zu ziehen und nach Frau Montenièr zu fragen. Vielleicht kannte er sie ja zufällig?
Als er mir das Terminal reichte, um abzurechnen und ich mich überschwänglich einschließlich eines reichlichen Trinkgeldes bedankte, zeigte ich ihm das Bild von Frau Montenièr.
»Kennen Sie diese Frau vielleicht? Ich sollte mich mit ihr hier treffen.«
Er stutzte einen Moment, schaute erst das Bild, dann mich an, während sich seine Miene schlagartig verdüsterte. Dann kratze er sich geräuschvoll am Hinterkopf, wobei er seine Baskenmütze bis nach vorne in die Stirn schob. »Ne, nie gesehen!«, antwortete er schroff. »Sind Sie 'nen Bulle?«
»Nein, ein Bekannter«, log ich. Er schaute mich grimmig an und schnaubte scharf durch die Nase aus. »Ein Bekannter«, echote er, dann rief er in Richtung Küche. »Claude, hilf dem Herrn doch mal in den Mantel, der Herr möchte gehen!«
Verblüfft schaute ich zur Küchentür hinüber, aus der ein Bulle von einem Koch trat. Dessen Kittel war noch schmutziger als der Fußboden, doch sein kantiges Gesicht ließ erkennen, dass er sich nicht nur als Hilfskoch betätigte, sondern mindestens eine langjährige Karriere als Boxchampion hinter sich haben musste.
Auf ein Kopfnicken in meine Richtung durch den Chef des Hauses setzte sich dieser wortlos in meine Richtung in Bewegung.
»Entschuldigen Sie, vielleicht ist das ein Missverständnis?«, versuchte ich es.
»Hau ab!«, brummte der Riese.
»Aber, ich bitte Sie...«, weiter kam ich nicht, dann gingen bei mir die Lichter aus.
Ich wachte einige Zeit später durchnässt vom Regen mit teuflisch schmerzendem Kopf auf dem Straßenpflaster einer Seitenstraße liegend auf.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich erheben konnte, weil mir schwindelte und höllisch übel war.
Als ich es schließlich geschafft hatte, mich an einer Hauswand aufzurichten, musste ich mich übergeben. Benommen blieb ich stehen, mich mit dem Arm an der Wand abstützend, bis ich wieder einigermaßen klar sehen konnte. Ich muss hier weg! Wo sind diese verdammten Polizeidrohnen, wenn man sie braucht? Benommen torkelte ich einige Schritte weit. Ich musste ein AuTaX rufen! Allerdings stellte ich fest, dass mein Arm-Pad und mein Touch-Phone fehlten und auch mein Chip verschwunden war.
Wie sollte ich jetzt mit jemandem Kontakt aufnehmen? Verzweifelt hielt ich mich an einer Laterne fest, um nicht wieder umzufallen.
Verdammte Scheiße!
Was danach kam, ist nur noch bruchstückhaft in meiner Erinnerung. Irgendwann fragte ein Frauengesicht. »Was ist mit ihm?«
»Komm da weg, Suzanne, komm da weg«, hörte ich wie aus weiter Ferne eine schroffe Männerstimme befehlen. Dann vernahm ich ein Dröhnen, später meinte ich, blinkende Lichter wahrzunehmen, bis ich schließlich in einem mäßig verdunkelten Raum aufwachte.
Dieser stellte sich als Krankenzimmer in einer Überwachungseinheit heraus. Ein Infusionsschlauch schien zu meinem linken Handgelenk zu führen, ich konnte ihn allerdings nur aus einem Auge sehen, dass linke war monströs zugeschwollen. Neben meinem Bett flimmerte ein Monitor, der jedoch stumm geschaltet war und irgendeine Soap Opera im Programm hatte.
Wenig später kam eine uniformierte Frau von der Sicherheit in Begleitung eines Krankenpflegers und erkundigte sich nach meinen Identitätsausweisen und meinem Befinden, in dieser Reihenfolge. Ich stellte fest, dass mir das Sprechen schwerfiel, deswegen sagte ich nur. »Raskovnik, bitte benachrichtigen Sie Raskovnik von der Abteilung III der Personenschutzbehörde.«
Es dauerte eine geraume Weile, während der ich mich bemühte, wieder Anschluss an die Geschehnisse zu bekommen, um meine jetzige Lage richtig einzuschätzen. Das Erste, woran ich mich erinnerte, war ein zahnloser Mund, dem ekelerregender Tabakgeruch entströmte und an ein schrilles Gelächter, in das sich eine weibliche Stimme mischte, die immerz. »Was ist mit ihm?«, ausrief. Ich konnte mich nur nicht besinnen, in welchem Zusammenhang diese Erinnerungsfetzen standen. Wenig später allerdings, nachdem sich die SecurityDame in Begleitung eines Mediziners vor meinem Krankenbett einfand, wurde ich auf unangenehme Weise an die Zusammenhänge erinnert.
»Ich bin Dr. Ramso, Herr Kollege Krongold, können Sie mich verstehen?«, ließ er sich neben mir vernehmen.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, versuchte ich mühsam zu artikulieren. Er lachte. »Das war in der Tat etwas mühsam. Wissen Sie, dass Sie kurz davor standen, in einer Arrestzelle zu landen?«
Ich verneinte, denn mein Unterkiefergelenk schmerzte zu sehr, um es mit unnötigen Worten zu foltern.
»Erst durch den Iris- und Daumenscan konnten wir Ihre Identität ermitteln. Wo sind denn ihre Identitätsnachweise geblieben? Sind Sie ausgeraubt worden?«
»Scheint so«, flüsterte ich.
»Sie haben offenbar ganz schön was abbekommen«, fuhr er fröhlich fort. »aber keine Angst, es ist zum Glück nichts gebrochen. Wir erwarten keine bleibenden Schäden. Allerdings haben sie einige unschöne blaue Flecken im Gesicht.«
Ich betastete meinen Kopf, an dem ich nun ein dickes Mullpflaster über dem linken Auge feststellen konnte. Je mehr ich wieder zu mir kam, desto mehr schmerzende Stellen stellte ich stöhnend überall am Körper fest.
»Möchten Sie ein Schmerzmittel haben?«, fragte er nach.
Als ich nickte, ordnete er etwas dem im Hintergrund wartenden Krankenpfleger an, der sich daraufhin rasch entfernte.
»Gut, Herr Kollege, ich lasse Sie jetzt mit der netten Dame von der Sicherheit alleine, die hat noch einige Fragen an Sie, nicht wahr?«
Die Dame von der Sicherheit, eine Polizistin in Zivil, stellte sich als Frau Meyerring vor. Sie hatte einen unangenehm nach saurem Schweiß riechenden Körpergeruch, was wohl auch von ihrem erheblichen Übergewicht herrührte. Das maskenhaft geschminkte Gesicht mit den nach oben ausgezogenen tätowierten Augenbrauen und dem Permanent Make-up der Augenlider und der schmalen Lippen passten insgesamt zum negativen Eindruck, den sie auf mich machte.
»Herr, ähem, Krongold, richtig?«
Ich nickte.
»Ich muss Ihnen einige Fragen stellen.«
Diesmal verzichtete ich auf das Nicken. Sie fuhr allerdings auch bereits mit der Fragerei fort.
»Sie haben uns gebeten, einen gewissen Raskovnik in Ihrem Amt zu benachrichtigen?«
Wieder nickte ich brav.
»Nun«, hüstelte sie und sah mich streng an. »Ein solcher Herr ist dort nicht bekannt.«
Hä? Ich glaubte mich verhört zu haben.
»Tut mir leid. Er ist im Personalverzeichnis ihrer Dienststelle nicht aufgeführt.«
»Nicht meine Abteilung, Referat Gefährdung und Sicherheit«, korrigierte ich sie.
»Ja, ja, das haben wir schon verstanden, nein, auch dort ist er nicht aufgeführt.«
»Ich bitte Sie, ich treffe ihn jeden Tag in der Cafeteria!«, entgegnete ich entrüstet, was ich sofort bereute, da es in meinem Kopf unangenehm zu brummen begann.
»Tut mir leid, aber könnten Sie den Namen falsch ausgesprochen haben?«
»Raskovnik, nein absolut nicht! Ich habe sogar eine Nachricht in der Eingangsbox, warten Sie!« Ich war gerade im Begriff mein Handgelenks-Pad zu aktivieren, als mir einfiel, dass es nicht da war. In diesem Zusammenhang fielen mir plötzlichen wieder mein Auftrag und andere Dinge ein, das französische Restaurant, der Wirt und irgend so ein bulliger Boxer, der mich wohl ins Jenseits befördern wollte.
Erschöpft ließ ich mich wieder zurück sinken. »Könnte ich bitte eine Schmerztablette bekommen?«
Die Securitydame klingelte nach dem Pfleger, der wohl schon vor der Tür gestanden haben musste, dem Tempo nach zu urteilen, mit dem er gleich ins Zimmer stürmte.
Ich dachte über ihre Worte nach, während ich den Becher mit Wasser leerte, den er mir hinhielt, um die Tablette zu schlukken. Natürlich, durchzuckte es mich. »Er ist ein ‚Grauer‘!«
»Ein bitte was?«
»Ein Grauer, er ist nicht offiziell aufgeführt. Ein Geheimdienstler!«
Der Art, wie sie versuchte, ihre Augenbrauen hochzuziehen, was wegen einer Botoxliftung offenbar nur unvollständig gelingen mochte, entnahm ich, dass sie mir nicht glaubte.
Sie räusperte sich vernehmlich. »Wir werden das nachprüfen. Was wollten Sie denn nachts in diesem Viertel, Herr Krongold?«
Die Art, wie sie meinen Namen aussprach, als habe sie auf etwas Saures gebissen missfiel mir eindeutig. Dennoch beschloss ich, es mit einer wahrheitsgemäßen Antwort zu versuchen.
»Ich wollte etwas essen!«
»Nachdem Sie sich bereits etwas aus dem Nutri-Shop nach Hause bestellt hatten?«
»Woher...?«
»Wir haben Nachforschungen angestellt!«, antwortete sie triumphierend, als habe sie gerade einen berufsmäßigen Lügner überführt und erwartete deshalb eine Beförderung.
»Sie glauben mir nicht?«
»Sagen wir es einmal so, vielleicht fällt Ihnen noch eine bessere Antwort ein!«
Ich wurde langsam ungeduldig, was sich unangenehm auf meine Kopfschmerzen auswirkte.
Erschöpft ließ ich mich in mein Kopfkissen zurücksinken.
»Ich arbeite an einem Fall und habe versucht eine Klientin dort ausfindig zu machen«, versuchte ich es nochmals mit der Wahrheit.
»Eine Klientin? Dort? Nachts? Nach Dienstschluss?«, fragte sie, jedes Wort wie einen Pfeil auf mich abschießend.
»Ja!«, antwortete ich pampig.
»Finden Sie das nicht auch ein bisschen ... seltsam?«
Zugegeben, wenn ich es mir recht überlege, fand ich es auch ungewöhnlich, wenn nicht sogar eigentlich völlig meschugge. Wie hatte ich mich nur auf einen derartigen Quatsch einlassen können?
»Raskovnik hat mich darum gebeten ...«, versuchte ich eine Rechtfertigung, merkte aber, kaum dass ich die Worte ausgesprochen hatte, dass ich einen kapitalen strategischen Fehler gemacht hatte.
»Raskovnik? Ja? Der, wie sagten Sie noch, ‚Graue‘?« Sie sah mich mit demselben schrägen Blick an, den man geflissentlich aufsetzt, wenn man am Verstand seines Gegenübers ernsthaft zweifelt, dies jedoch aus taktischen Gründen nicht offen aussprechen möchte.
Wie um diesen Blick noch verbal zu unterstreichen setzte sie noch nach. »Raskovnik, den es in Ihrem Amt nicht zu geben scheint.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sie sind Psychiater, nicht wahr?«, fuhr sie gnadenlos fort.
»Wie Sie wissen.«
»Sie sind mit der Untersuchung der geistigen Zurechnungsfähigkeit von Menschen beschäftigt, die eine Gefahr für die Allgemeinheit sein könnten, nicht wahr?«
Ich zog es vor, nicht zu reagieren, sondern starrte statt dessen trotzig auf den Monitor an der Wand.
»Wann war denn ihr letzter Gesundheits-Check up, ihre letzte Personaluntersuchung?«
»Was soll das heißen?«, fuhr ich hoch.
»Wann?«, wiederholte sie und ihr Blick bekam etwas Lauerndes.
»Soweit ich mich erinnere vor einem Jahr ...«, versuchte ich mich zu erinnern.
»Vor 13 Monaten«, korrigierte sie mich.
»Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie dann?«
»Ich stelle hier die Fragen!«, herrschte sie mich an.
»Wou«, entgegnete ich. »ich liebe dominante Frauen!«
»Die Scherze werden Ihnen gleich vergehen, Herr Krongold! Wann war ihre letzte Impfung gegen das Zoga Virus?«
»Sagen Sie es mir?«
»Es hätte vor zwei Monaten sein sollen. Warum sind Sie nicht hingegangen?«
Ehrlich gesagt, mochte ich dieses Impfgedöns nicht besonders. Es regte sich, aller medizinischen Einsicht zum Trotz, bei mir immer Widerstand, wenn etwas zwangsweise durchgeführt wurde. Natürlich kannte ich die Statistiken zu Genüge. Eine hundertprozentige Sicherheit, nicht an diesem heimtückischen Virus zu erkranken, gab es nicht, aber eine Durchimpfung der Bevölkerung um die 80 Prozent garantierte zumindest, dass Epidemien, wie die vor einigen Jahren in Südamerika, wenn es auch nur der brasilianische Dschungel war, nicht mehr vorkommen würden.
Damals waren mehr als zwei Millionen Menschen von der Seuche befallen, litten an diesen Symptomen, die ein Absterben der Hirnsubstanz zur Ursache hatten, sowie völliger geistiger Verblödung, schließlich Ausfall aller vegetativen Zentren im Körper und grauenhafter qualvoller Tod infolge stetigen Verfalls des Nervensystems. Damals wurde befürchtet, dass die Seuche sich explosionsartig über die ganze Welt ausbreiten würde, was nur dadurch verhindert werden konnte, dass man die gesamte brasilianische Bevölkerung durch den glücklicherweise eilig erzeugten Impfstoff immunisierte und entsprechende Impfzentren an Bahnhöfen und Flughäfen einrichtete. Ein Riesengeschäft für den Pharmakonzern.
Seither herrschte staatlich angeordneter Impfzwang in fast allen Ländern der Erde. Bürger aus Ländern, die nicht mitmachen konnten, erhielten keine Reiseerlaubnis oder wurden teils mittels drakonischer Strafen zur Impfung gezwungen. Obwohl die Datenlage über die Ausbreitung der Seuche, die punktuell immer wieder an verschiedenen Punkten auftrat, mehr als dürftig war, galten die Impfgegner als staatsgefährdend und wurden mit Entzug der Bürgerrechte bestraft. So konnte Kritik erst gar nicht in größerem Maße entstehen. Dummerweise hielt die Impfung lediglich maximal zwei Jahre und musste dann aufgefrischt werden.
Ich selbst hatte zwar in meinem Studium und meiner späteren Klinikzeit noch nie einen am Zoga-Virus Erkrankten gesehen, konnte aber alle Aspekte der Erkrankung theoretisch runterbeten. Und die Symptome waren alles andere als angenehm. Ich hätte also bereits der ersten Aufforderung zur Auffrischimpfung nachkommen sollen, hatte es aber bewusst oder unbewusst ‚vergessen‘, bis heute.
»Sie wissen, dass Ihnen dies nicht nur den Job kosten könnte?«
»Ich werde es nachholen«, seufzte ich ergeben.
»Worauf Sie sich verlassen können!«, zischte sie. »Was wollten Sie also wirklich in dem Viertel?«
Mir war klar, dass ich mit der Wahrheit nicht weiterkam. Aber welche Ausrede fiel mir ein, die die Dicke zufrieden stellen konnte?
Statt dessen sprach sie weiter. »Ich sag Ihnen, was Sie dort wollten! Sie wollten mit einem terroristischen Netzwerk Kontakt aufnehmen..!«
»Ich bitte Sie, das ist absurd!« Meine Empörung war echt.
»Wie erklären Sie es dann, dass mit dem Guthaben Ihres Kontos offenbar Waffen und Munition angeschafft wurden!«
»Wie bitte?«, fuhr ich hoch, was mein Kopf mir trotz der Schmerztablette sehr übel nahm.
»Wir haben den Weg Ihrer Quians durch das Netz verfolgt, obwohl versucht wurde, es durch vielfältige Umbuchungen über Deckadressen zu waschen. Es landete, Sie dürfen raten wo..!«
Ich war viel zu schockiert, um antworten zu können.
»Im Sudan, bei einer Rebellengruppe.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«, stotterte ich fassungslos.
Sie war aufgesprungen und schrie mich an. »Es ist mein verdammter Ernst! Und wenn Sie Bürschchen mir weiter solche Märchen auftischen wollen, dann werden Sie mich kennenlernen!«
Damit entschwand sie aus dem Raum und der Knall der zufliegenden Tür schoss mir fast ein Loch ins Hirn.
Ich kann nicht behaupten, dass mich diese Szene kalt gelassen hätte. Eine dumpfe Vorahnung von den übelsten Komplikationen keimte in mir auf, die sich später nur zu sehr bestätigen sollten. Vorerst tanzte vor meinen inneren Augen nur ein überdimensionale. »0 Quians« einen wilden Tango auf meinem geistigen Display. Wenn sich tatsächlich jemand meiner Chips bedient hatte, um Geld von meinem Konto abzuheben, dann musste er seltsamerweise auch den Übermittlungsschlüssel außer Kraft gesetzt haben, was bei der heutigen Technologie, die auf der Quantensicherung und einem Gen-Code beruht, eigentlich komplett unmöglich wäre. Und dass ich selbst in einem umnachteten Zustand Geld an Rebellengruppen im Sudan überwiesen haben sollte, war komplett ausgeschlossen. In was für eine Schweinerei war ich da hineingeraten? Aber es sollte noch dicker kommen, viel dicker!
Später, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit die Zimmerdecke angestarrt hatte, meldete sich der Screen mit einer Videonachricht. Eine Krankenschwester kündigte den Impftermin an, ich solle mich bereit halten. In der Zwischenzeit sollte ich die Kontaktdaten von meinem Rechtsanwalt herausfinden, um eine juristische Vertretung für meinen Fall zu beauftragen. Fü. »meinen Fall«? Jetzt war ich von einem medizinischen Fall schon zu einem juristischen Fall upgegradet worden? Das war wohl ein schlechter Scherz!
War es nicht.
Es half auch nicht, dass ich an die Vernunft meines Gegenübers in Form eines weiteren und wohl ranghöheren Sicherheitsbeamten, der mich noch vor der angedrohten Nachimpfung aufsuchte, appellierte. So meine Argumentation: Wieso sollte ich mich einer sudanesischen Rebellentruppe anvertraut haben und mich als Belohnung anschließend verprügeln lassen?
Er antwortete mit einer traurig ernsten Miene, die jedoch nicht mir galt, sondern offenbar Bestandteil seines Gesichtes war, ‚Das sei zwar alles sehr unschön, er müsse nun einmal von den Fakten ausgehen und die sprächen eindeutig gegen mich‘.
Welche Fakten bitte?
Erstens, so zählte er an seinen Fingern auf, sei ich unmotiviert nach meiner beruflichen Tätigkeit angeblich zufällig in diese berüchtigte Gegend gekommen, um angeblich zu speisen, obwohl ich nachweislich bereits Essen für den Abend geordert hatte. Noch dazu, weil, zweitens, ein angeblicher Geheimdienstmitarbeiter, der nachweislich nicht existierte, mich dazu aufgefordert habe. Drittens sei mit dem Geld, und zwar nicht nur dem Guthaben auf meinem Konto, sondern bis zur Ausschöpfung des gesamten Überziehungsrahmens, über verschleierte Umwege Geld an Rebellen zwecks deren Bewaffnung geflossen. Und das eindeutig mit meinem Gen-Code und unter Verwendung des modernsten Sicherheitsschlüssels, so dass eine unbeabsichtigte oder durch Dritte verbrecherisch durchgeführte Transaktion undenkbar sei. Viertens weise meine Impfverweigerung darauf hin, dass ich das Gemeinwohl nicht sehr ernst nehme und möglicherweise sogar sabotieren wolle. Das seien die Fakten. Warum und weshalb es zu den anschließenden Verletzungen bei mir gekommen sei, sei trotz meiner engagierten Aussage, die überprüft werde, in den Bereich der Spekulation einzuordnen und leider ohne jeglichen Belang.
Angesichts dieser erdrückenden Beweislage zog ich es beinahe vor, die Waffen zu strecken. Es fiel mir schwer, ihm nicht eine gewisse Logik in seiner Sichtweise zu bescheinigen.
»Halt, Moment mal! Warum fragen Sie nicht unseren Dienststellenleiter, der wird ihnen wohl alles erläutern können!«, hoffte ich ihn überzeugen zu können.
»Das haben wir bereits veranlasst, obwohl derzeit nur sein Vertreter Herr Dr. Eschner zu erreichen ist. Er gab an, dass er sich ihr Verhalten auch nicht erklären könne und einen Mitarbeiter namens Raskovnik kenne er auch nicht.«
An dieser Stelle fiel mir der Unterkiefer runter. Dieser Kotzbrocken! Dieser Widerling, dieser, dieser...! Erschöpft ließ ich mich auf mein Kissen zurücksinken. De. »Oberwachtmeister« verabschiedete sich traurig, nachdem er mir mitgeteilt hatte, ich müsse verstehen, dass ich zur Zeit unter Haft stehe und das Krankenzimmer nicht verlassen dürfe, bis ein Richter über mein weiteres Schicksal entschieden habe.
Er notierte eifrig den Namen meines Anwaltes in sein Pad und verließ das Zimmer, nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen, mit dem man üblicherweise nur seinen todkranken Dackel beerdigt.
In meinem Kopf spielten die Gedanken ‚Fang mich‘. Man sollte doch besser auf sein Bauchgefühl hören. Das hatte mich eindeutig vor dem ganzen Fall gewarnt! Ich dachte über meine momentanen Möglichkeiten nach und konnte sie ohne große statistische Überlegungen überschlagsmäßig als null bezeichnen. Das Bild von Frau Montenièr fiel mir wieder ein bzw. ihre Augen. Genau diese Augen waren es wohl, die mich in das ganze Schlamassel gerissen hatten, neben meinen übermäßigen Gefühlen der Rachsucht gegenüber Dr. Dr. habil Arschloch Eschner.
Buddha hat wohl doch recht gehabt vor über zweieinhalbtausend Jahren, dass nur die Beherrschung der Leidenschaften und üblen menschlichen Neigungen ins Land der Glückseligkeit führt. Da klopfte ganz zaghaft die leise Stimme einer Erinnerung an mein gestauchtes Hirn. »Geh da weg, Suzanne!«, tönte ein feines Stimmchen in meinem Ohr. Wie hieß die Montenièr noch mit Vornamen?
Suzanne?
Suzanne!
Sollte das ein Zufall sein?
Ein Gedanke begann von verschiedenen Enden meiner Hirnwindungen ein eigenartiges Netz zu spinnen, dessen Fäden ich noch nicht genau sortieren konnte. Leider unterbrach das Geräusch einer sich öffnenden Tür die Suche nach einem Sinn gerade in dem Moment, als ich das Gefühl hatte, kurz vor einer Erleuchtung zu stehen.
Herein kam die Kollegin aus der Seuchenabteilung unseres Amtes mit dem Injektionsapparat in der Hand und beide riefen wir synchron die Worte. »Sie hier?« aus.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie verblüfft und bemüht, nicht allzu entsetzt auszusehen.
»Ich bin Terrorist, Impfverweigerer und Häftling...«, grinste ich sie bösartig an. Ihre Gesichtszüge gefroren einen Moment, als sie versuchte, die Situation zu erfassen. Humor war wohl nicht ihre Stärke. Allerdings war der meine auch mehr von Verzweiflung geprägt als von echter Freude.
»Und Sie?«
Ihre Hand zitterte leicht, doch sie versuchte ihre Anspannung tapfer zu verbergen.
»Ich, ich habe Notdienst heute.«
Ach ja, die armen Kollegen von der Seuchenabteilung mussten ja tatsächlich ärztlichen Notdienst schieben. Das hieß allerdings, dass jetzt sowohl nach Dienstschluss als auch Wochenende sein musste. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich weder die genaue Uhrzeit noch den Wochentag wusste, den die Welt außerhalb dieses Zimmers beging. Immerhin zeigte mein wiedererwachtes Interesse an Ort und Zeit meinem geschulten Geist an, dass ich langsam aus der Agonie aufzutauchen begann und wieder am aktuellen Leben Anteil nehmen wollte. Sie trat zögerlich an mich heran, als fürchte sie, gleich Opfer eines tödlichen Überfalls meinerseits werden zu können.
»War nur ein Scherz, Frau Kollegin. Ich hab einfach den Impftermin verschwitzt. Zu viel unerledigte Akten, wissen Sie?«, beruhigte ich sie. Das mit den unerledigten Akten schien sie zu kennen, denn ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht.
»Ach so, und ich dachte schon...«
»Nein, nein, aber ehrlich gesagt, genau das wirft man mir hier vor.«
Sie zögerte wieder, etwas unsicher geworden.
»Haben Sie denn die Impfcharge schon individualisiert?«, fragte ich sie, um sie ein wenig abzulenken.
»Oh, ja, natürlich, sonst wäre sie ja nutzlos.«
Die Zeiten der ungezielten Massenimpfungen waren ein für allemal vorbei, als sich endlich herausstellte, dass die bis daher vertuschten Impfzwischenfälle meist an einer ungünstigen Genkombination beim Impfling mit dem Impfstoff lagen. Das Immunsystem reagiert nämlich sehr individuell auf den Impfschaden, der durch eine Impfung immer gesetzt wird. Bei ungünstigem Zusammenwirken bestimmter Gen-Typen mit dem abgetöteten Impferreger kommt es eben mitunter zu individuellen Überreaktionen mit einer Schädigung des Impflings, teilweise mit tödlichen oder auch lebenslangen Nebenwirkungen. Daher wurde der Zoga-Impfstoff mittels Gen-Check individualisiert, bevor er verabreicht wurde. Das heißt, bestimmte Komponenten wurden weggelassen oder verändert. Die Zahl der schwersten Nebenwirkungen konnte auf diese Weise deutlich reduziert werden und die Industrie war nicht mehr genötigt, ungünstige Impfreaktionen zu verheimlichen. Anhand des Gen-Codes, der auf jedem Chip hinterlegt war, war dieses Verfahren inzwischen reine Routine.
»Woher haben Sie denn meinen Gen-Code, mein Chip ist mir leider entwendet worden?«, fragte ich daher vorsichtshalber. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, dies wurde bereits aufgrund Ihrer Daten vorgenommen. Dr. Eschner hat ihn persönlich freigegeben.«
Ich zuckte zusammen. »Eschner?«
Sie nickte ganz selbstverständlich. »Natürlich, er ist doch der Abteilungsleiter. Der Impfstoff steht doch unter Verschluss.«
»Ach, ja?«
»Natürlich, er muss doch individualisiert werden.«
»Aber haben Sie das auch überprüft?«, fragte ich sie. Diese Frage löst in ihr eine Kette bürokratischer Überlegungen aus. Ihre langjährige Erfahrung sagte ihr wohl, dass sie jeden Schritt der Impfung peinlich genau im Protokoll hinterlegen und kontrollieren musste. Sollte ihr ein Versehen unterlaufen, konnte dass für ihre eigene Karriere unangenehme Folgen haben. Deshalb achteten alle Mitarbeiter des Amtes darauf, zumindest die Krankenakte formal in Ordnung zu halten, was nichts anderes heißt, als die notwendigen Eintragungen vor oder nach einem peinlichen Zwischenfall vorzunehmen. Für den Richter zählte nur das, was auf dem Papier stand, in positiver wie negativer Auslegung.
»Ich habe es abgezeichnet«, antwortete sie ein wenig zu schnell.
»Frau Kollegin, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie Sie wissen, arbeiten wir im selben Metier. Haben Sie es auch überprüft?«
Aus der Rötung, die ihr Gesicht annahm, entnahm ich, dass dies wohl nicht der Fall war.
»Natürlich, aber Ihnen zuliebe mache ich es gerne nochmal!«, versuchte sie ihr Gewissen zu bereinigen.
»Ja, tun Sie das bitte«, forderte ich sie auf. Da ich ihr seelisches Gleichgewicht nun schon einmal erschüttert hatte, wagte ich mich zum zweiten Schritt vor.
»Sagen Sie mal, Frau Kollegin, Sie kennen doch auch den Kollegen von der Sicherheit, der immer in der Cafeteria sitzt, dieser leicht phlegmatische, wissen Sie, wen ich meine?«
Sie schaute mich einen Moment fragend an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich gehe eigentlich nie dorthin.«
»Einen Raskovnik?«, versuchte ich es weiter. »Er ist von der Sicherheitsabteilung.«
Sie überlegte. »Meinen Sie vielleicht Herrn Svatousek? Marek Svatousek? Der kam neulich mit Eschner zu uns runter. Er wirkte irgendwie auch so zurückhaltend. Er hat kein Wort von sich gegeben, nur immer so merkwürdig geschaut.«
»Nein, ich meine Raskovnik, Vladic Raskovnik!«
»Nein, nie gehört, tut mir leid.«
Ich legte mich in mein Bett zurück und starrte sie fassungslos an.
»Nie gehört?«, fragte ich nach.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sie sich. »Sie sind plötzlich so blass geworden.«
»Ach, wissen Sie, ich habe gestern einen üblen Überfall erlebt, deshalb liege ich jetzt auch hier.«
»Gestern? Sie liegen doch schon drei Tage hier, soweit ich weiß«, sagte sie erstaunt.
»Drei Tage? Welcher Tag ist denn heute?«
»Sonntag, wissen Sie das denn nicht?«
Irgendwie hatte ich wohl jetzt die Reste ihres ärztlichen Mitgefühls geweckt. »Na, Sie scheinen ja ordentlich was abbekommen zu haben?«
»Scheint so!«, antwortete ich und fasste mir unwillkürlich an die verbundene Stirn.
»Ich werde noch mal den Impfstoff überprüfen. Ihnen zuliebe!«, beruhigte sie mich. Während sie die Chargenummer und den Gencode auf der Impfampulle mit den Angaben im Screen verglich, versuchte ich, das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen. Wie war das möglich, dass sich Vladic plötzlich in Luft aufgelöst zu haben schien?
Erleichtert, wie mir schien, meldete sie die völlige Übereinstimmung beider Nummern.
»Darf ich?«, fragte sie höflich, bevor sie die Impfpistole an meinen Arm ansetzte.
»Nur zu, ich hab ja nichts dagegen, ich hab es nur verschwitzt.« Es zischte kurz und ein dumpfer Schmerz zeigte an, dass die Mikrokapsel mit dem Depotimpfstoff unter der Haut appliziert worden war. »Den Arm jetzt zwei Stunden nicht stark belasten, keinen Sport und keine berauschenden Getränke...«, begann sie ihren Routinetext abzuspulen. Kicherte dann jedoch selbst ein wenig, als sie sich des Widersinns dieser Bemerkungen bewusst wurde.
»Versprochen!«, gab ich müde lächelnd zurück und schaute ihr sinnend nach, als sie sich schnell verabschiedete.
Ich war völlig geplättet, und das lag nicht nur an der Immunreaktion, die der Impfstoff in den ersten Minuten seiner Inkorporation auslöst, ein grippeähnliches Gefühl mit Gliederschmerzen und allgemeiner Mattigkeit.
Daher wunderte es mich auch nicht, als ein routinemäßig herbei beorderter, übellaunig gestimmter Richter in Zivil mir mitteilte, dass ich vorerst in Haft bliebe, deshalb mit den üblichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zurechtkommen müsse, als da wären digitale Fußfessel, Einschränkung des persönlichen Kontos, Meldepflicht bei Beauftragung eines AuTaX und Aufhebung des kryptographischen Schutzes meiner Netzaktivitäten bzw. ohnehin Einschränkung des Zuganges und so weiter blablabla.
Ich unterzeichnete digital, die juristische Aufklärung verinnerlicht zu haben und mit drakonischen Strafen einverstanden zu sein, sollte ich mich eines Verstoßes gegen die Auflagen schuldig machen.
Und es wunderte mich auch nicht weiter, als am nächsten Tag der von mir angegebene Rechtsanwalt ohne rechtes Engagement nochmals die vorliegenden Beschuldigungen und meine Aussagen dazu zu Protokoll nahm, mir hoch und heilig versprach, sein Bestes zu tun, um mich aus der misslichen Lage zu befreien und etwas verstimmt das Krankenzimmer wieder verließ, als ich ihm andeuten musste, dass in diesem Fall meine Rechtsschutzversicherung wohl nicht eintreten würde, was sie eigentlich nie tut, wenn es sich um Fälle handelt, die üblicherweise vorkamen und eigentlich der Sinn solcher Versicherungen sein sollten. Auch besserte sich seine Stimmung nicht gerade, als ich ihm eröffnen musste, dass ich, wie die Dinge so standen, derzeit als zahlungsunfähig angesehen werden musste.
Meine eigene Stimmung verbesserte sich dadurch jedoch auch nicht. Denn eigentlich fühlte ich mich nackt und in einem Maß aus dem Sozialleben gerissen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.
Immerhin wies ein Sozialarbeiter, der in diesen Fällen hinzugezogen werden muss und den ungewöhnlich altmodischen Namen Erwin trug. »Hallo ich bin Erwin, wir können uns duzen!«, darauf hin, dass die PC-Punkte, die ich sammelte, wenn ich fleißig online sei, auf mein persönliches Konto übertragen werden könnten. Besonders, fügte er verschwörerisch hinzu. »Wenn du die Werbeblocks nicht vorzeitig wegklickst, sammelst du sowas von Punkte, ganz im Vertrauen. Brauchst ja nicht die ganze Zeit hinzuschauen.«
Der Typ ging mir eindeutig auf die Nerven, zumal es ihm nicht einging, dass ich nicht vom ihm geduzt werden wollte und somit der letzte Rest meiner Würde vor die Hunde ging.
»Die Gesichtserkennung?«, gab ich zu bedenken. »Was ist mit der Gesichtserkennung, die kontrolliert, ob du in den Bildschirm schaust oder woanders hin guckst?«
Da hatte er mir unter dem Siegel der Vertraulichkeit zu verstehen gegeben, dass man einfach ein zweites Programm in einem parallelen Frame aufmachen muss, in dem das läuft, das man eigentlich sehen möchte, das würde dann nicht stören.
Ich dankte ihm herzlich, weil ich ihn loswerden wollte.
Sei. »Ich werde dich alle zwei Tage aufsuchen, damit wir die Auflagen erfüllen, allerdings meist über den Screen. Wir können dann alles weitere besprechen!«, löste bei mir Mordlust aus.
»Ich freu mich drauf!«, log ich, insbesondere weil ich seinen Tipp mit den zwei Fenstern gedachte bei ihm direkt selbst auszuprobieren. So verabschiedeten wir uns vordergründig herzlich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Die Verabschiedung aus meinem Krankenhausgefängnis verlief hingegen unerwartet unspektakulär. Nach bereits zwei weiteren Tagen fühlte ich mich soweit wiederhergestellt, dass mein Kreislauf sogar die stehende Position einigermaßen aushalten konnte. In Ermangelung eines Chips und eines Arm-Pads hatte ich beides in Form eines vorläufigen Applets au. »Knastbasis« erhalten, sprich mit eingeschränkten Funktionen.
Der Sozialstaat ist bis heute insoweit intakt, dass er noch nicht rechtskräftig verurteilten Verdächtigen ein Mindestmaß an sozialem Komfort zugesteht, insbesondere wenn es sich um bisher unbescholtene Bürger mit höherem sozialen Status wie mich handelt. Insofern war die Haft erträglich, konnte sie doch weitgehend von zuhause erledigt werden. Ich hatte jedoch auch den Verdacht, dass meine erfreuliche Bewegungsfreiheit, die man mir trotz des Terrorverdachtes zugestand, nicht ganz uneigennützig sein könnte, weil man vielleicht hoffte, ich könnte die Sicherheitskräfte eventuell zu wichtigen Kontakten führen, die ich bislang nur heimtückischerweise erfolgreich verschwiegen hätte.
Nur Erwin war nicht abzuschütteln. Er verfolgte mich wirklich auf Schritt und Tritt, wenn auch nur virtuell. Seine unrasierte Visage gratulierte mir zur Haftentlassung ebenso wie beim Verlassen des Sicherheitstraktes. Er war der Ansprechpartner, als ich ein AuTaX nach Hause bestellen wollte, er oder sein ebenso unrasiert wirkendes virtuelles Abbild gab die Freigabe bei der Eingabe der Zielkoordinaten des Gefährts, sendete das Okay bei der Abbuchung der Transaktionsgebühr für den Fahrpreis, protokollierte den Eingangscode in mein Appartement und loggte sich auch beim Gebrauch des Netzcomputers mit ein. Mit einem Wort, er war nach kurzer Zeit für mich ein noch größeres Übel als Dr. Dr. habil. Arschloch Eschner. Er wurde zu einer ernsten seelischen Bedrohung für meinen ohnehin bereits angeknacksten seelischen Zustand. Ich begann mich nach dem Tag meiner Gerichtsverhandlung zu sehnen und mir sogar ernsthaft meine Verurteilung zu wünschen. Paradiesisch stellte ich mir die Einsamkeit meiner dunklen Einzelzelle vor. Allerdings war ich mir durchaus bewusst, dass dies ein Zerrbild der Wirklichkeit war, denn bei meinen beruflichen Besuchen in derartigen Hafteinrichtungen erlebte ich, dass von Romantik dort keine Spur zu finden war. Im Gegenteil wurden die Häftlinge, soweit sie psychisch dazu noch in der Lage waren, zu den stupidesten Tätigkeiten gezwungen, die der Reintegration in die Gesellschaft dienen sollten, meist aber in die Abgeschiedenheit des Wahnsinns mündeten.
Schon wenige Stunden nach meinem Wiedereintritt in den häuslichen Orbit erwartete mich auf meinem Mail-Server die Mitteilung, dass ich bis auf Weiteres von meinen beruflichen Tätigkeiten entbunden sei und ich sogar das Verbot zur Kenntnis nehmen müsse, dass ich das Amt bis zur Aufklärung meiner Angelegenheit nicht aufsuchen dürfe.
»Kenntnisnahme dieser Mitteilung durch Daumenabdruck und Irisscan bescheinigen!« Ich kann zwar nicht sagen, dass ich dies zuerst als einen tragischen Schicksalsschlag empfunden hätte, die Kränkung, die dies beinhaltete, nagte jedoch einige Tage an mir. Mit einem Mal wurde mir die Fragilität meiner bürgerlichen Existenz bewusst. Nur durch die tägliche Routine vom Selbstmord abgehalten, schlug jetzt die Tatenlosigkeit, zu der ich verurteilt war, umso härter auf mein Gemüt. Niemand, mit dem ich hätte mein Leid teilen können außer einem Psychoprogramm. Keine Person mit natürlicher Körperwärme in der Umgebung, mit der ich hätte zumindest streiten können. Nur die eigenen inneren Feinde, unausgelebte Dialoge mit den verhasstesten Personen, die nach kurzer Zeit begannen, ein munteres Eigenleben zu führen. Erschwerend kam hinzu, dass die Schuldenlast mir zunehmend Sorgen über meine Zukunft bereitete, auch wenn sie unverschuldet durch Ausrauben meines Kontos entstanden war. Der Überziehungskredit lag bleischwer auf dem Limit. So sind die Zahlen auf meinem Konto, auch wenn sie einen geringen taktilen Reiz haben, doch ein wichtiger Anker meines Selbstbewusstseins und meines Stolzes, ja integraler Bestandteil meiner gesellschaftlichen Rolle und Wertigkeit. Nach wenigen Tagen begann ich auf den Monitor zu stieren wie ein enthirnter Affe in der Hoffnung, einige PC-Payback-Quians anzusammeln und so teilweise in echtes Geld zu verwandeln, um meine Schuldenlast dadurch zu minimieren. Der soundsovielte Anruf bei meinem Rechtsverdreher, wann endlich mit einem Fortgang der Anklage gerechnet werden konnte, verhallte unbeantwortet, bis ich schließlich die leicht genervte Reaktion bekam, auch wenn ich persönlich zweimal täglich ins Anwaltsbüro käme, könne der Fortgang der Ermittlungen gegen mich nicht anwaltlich beschleunigt werden. Er riet mir, einfach abzuwarten. Außerdem müsse die Kostenfrage noch geklärt werden. Es folgten zwei Tage, an denen ich nicht einmal das Licht anschaltete, sondern es vorzog, bewegungslos in der Dämmerung zu sitzen, zumal auch die Fenstermonitore ausgeschaltet blieben. Ich wollte weder virtuelles Wellenrauschen, fröhliche Frühlingslandschaften noch andere irgendwie stimulierende Visionen der Wirklichkeit vorgespiegelt bekommen, ich wollte mich nur einfach bedauern können und mich so richtig mies fühlen.
Dann begann mit einem Mal mein Körper zu schmerzen. Erst war es ein feiner, ziehender Schmerz in einigen Muskeln der Arme und Beine, oder des Nackens und des Brustkorbs. In Ermangelung anderer Stimuli vertiefte ich mich in diesen Schmerz, bis er meine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch genommen hatte. Ich kam zu der Überzeugung, ein schweres Rheumaleiden sei zum Ausbruch gekommen. Jedes Gelenk, welches ich bewegte, erzeugte einen scharfen ziehenden Schmerz, der nur langsam wieder abklang. In meinem Kopf bewegten sich dann stundenlang nur wenige unsinnige Worte hin und her, wie auf einer Schiffsschaukel. »Geh da weg Suzanne!« Immer wieder dieser Satz, bis ich völlig erschöpft einschlief. Ich wusste nicht mehr, ob es Tag und Nacht war, wann ich zuletzt etwas gegessen oder getrunken hatte, als mich mein Arm-Pad unsanft aus meiner Lethargie weckte. Erwin war diesmal persönlich auf dem Screen zu sehen.
»Hallo Levi, wie geht es?«
Ich starrte die verhasste Visage an und konnte mir gerade noch verkneifen, ein ‚Leck mich‘ auszusprechen. »Ich bin krank!«, jammerte ich statt dessen.
»Können wir helfen, wir haben uns schon über deine Inaktivität gewundert.«
»Ich glaube, ich werde sterben«, jammerte ich weiter.
»Du hast eine Isolationskrise, Levi, das ist ganz normal in deiner Situation.«
»Das ist beruhigend.« Ja, das war es wirklich.
Irgendwo in meinem Inneren erwachte plötzlich der Mediziner wieder, der bestätigte, dass dieser bescheuerte Erwin tatsächlich recht haben könnte. Depressionen gehen recht häufig mit unerklärlichen körperlichen Schmerzzuständen einher. Und ich war knatschdepressiv, fürwahr.
»Wir haben einen Ferncheck deiner Vitalfunktionen vorgenommen. Du leidest etwas an Wassermangel, aber sonst scheint alles okay zu sein.«
»Danke Doktor«, murmelte ich.
»Hör zu Levi, ich bin nicht dein Feind, ich bin Sozialarbeiter und es ist nicht meine Aufgabe, dich zu foltern, sondern dich zu betreuen. Für die Auflagen, die man dir auferlegt hat, bin ich nicht verantwortlich...«
»Sprich mich nicht immer mit ‚du‘ an!«, schrie ich auf einmal los und schlug mit der flachen Hand auf den Monitor. Erwin blieb einige Sekunden stumm. Selbst auf dem kleinen Monitor war zu erkennen, dass er etwas aus der Fassung geraten war. Dann kam ein zögerliches, fast fragendes. »Okay?!«
Ich machte eine erschöpfte Pause. Es war ja auch schließlich egal. Alles war egal. »Ach, scheiß drauf!«, ließ ich mich vernehmen.
»Nein, nein, ist schon okay. Wir können es so machen«, stimmt er zu. »Ich sage, Herr Krongold und Sie. Ist völlig okay.«
Plötzlich stiegen meine Sympathiewerte für ihn ein wenig an.
»Aber ich bestehe darauf, dass Sie mich Erwin nennen.«
»Warum?«
Er grinste schmal. »Erwin ist mein Pseudonym, darum.«
Ich schluckte, was völlig überflüssig war, da sich meine Kehle völlig ausgetrocknet und rau anfühlte. Ich hatte mich wiederum zum Affen gemacht.
»Also, Herr Krongold, wir sehen, dass Sie Unterstützung benötigen.«
»Wir?«
»Natürlich, ich bin Mitarbeiter eines Teams und mit der Analyse Ihrer Daten beauftragt, neben Ihrer Betreuung.«
Scheiße.
»Ich soll Sie fragen, ob Sie zu Ihren Verbindungen mit dem fraglichen Personenkreis noch Angaben machen möchten? Wohlgemerkt, ich soll Sie fragen!«
Daher wehte also der Wind! Zuerst wollte man mich durch Isolierung mürbe machen, um dann um so leichter noch Informationen aus mir rauszuquetschen. Eine feine Gesellschaft.
»Dann sagen Sie ihrem Team, dass ich bereits alles gesagt habe, mich völlig unschuldig fühle, weder mit Terroristen oder sonst noch mit anderen -isten zu tun habe und die Herrschaften mich am Arsch lecken können!«
»Ist es recht, wenn ich den letzten Teil Ihrer Aussage weglassen?«, meinte er fein säuerlich.
»Tun Sie, was Sie wollen«, knurrte ich.
Es folgte eine kleine Pause, während der er wohl in seinen Monitor starrte und ich ebenso bemüht war, nicht auf das Pad zu schauen.
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
»Nur zu«, knurrte ich.
»Ich schicke Ihnen eine Relaxations-App auf den Heimmonitor und Sie lassen mal ein wenig locker?«
Als ich nicht sogleich antwortete, fügte er etwas leiser hinzu. . »Gibt einige Bonuspunkte bei der Beurteilung Ihres Verhaltens während der Haft.«
»Danke«, gab ich nun etwas weniger giftig zurück. Im Grunde genommen war meine Haltung ziemlich pubertär, entschied ich. Ich sollte mich zusammennehmen.
»Sorry! Ich werde sie mir anschauen«, fügte ich etwas versöhnlicher hinzu.
»Fein. Das freut mich. Wirklich.« Er schaltete ab. Vielleicht war er ja doch nicht so ein übler Kerl.
Eine Weile ließ ich noch die Dunkelheit in mir nachwirken. Immerhin hatte diese Auseinandersetzung meine Lebensgeister wieder etwas geweckt. Ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht völlig versumpfen wollte. Initiative ergreifen. Ich schaltete den Monitor im Wohnraum wieder ein, auf dem die Nachricht aufblinkte, dass eine neue Applikation auf den Download wartete. Ich gab das okay, ging zum Kühlschrank und entnahm dort mit dem Chip einen isotonischen Drink aus dem Vorratsfach. Der Kühlschrank meldete, dass der Vorrat auf eine verbleibende Einheit geschrumpft war und bat darum, eine Neubestellung absetzen zu dürfen. Bei Abnahme des praktischen Einführungsangebots zusammen mit einem neu eingeführten Erfrischungsgetränk könne mir auf die Erstbestellung ein 10%iger Rabatt gewährt werden. Bei Gefallen wäre auch zum einmaligen Werbepreis das Jahresabonnement für 30 Dosen im Monat zum Vorzugspreis. »Zahle 11 bekomme 12 Monate«, möglich. Da ich davon ausging, dass der Staat dies bezahlen würde, drückte ich ausnahmsweise di. »Jetzt kaufen«-Taste. Leider klappte sofort danach eine Meldebox auf, die mir anzeigte, dass diese Order im Moment nicht möglich sei. Brummend schleppte ich mich auf meinen Liegesessel und startete die App.
Es erwartete mich eine kitschige tropische Strandlandschaft, mit Meeresrauschen, nur selten unterbrochen von einigen wohlgemeinten Motivationssätzen und Entspannungsformeln. »Bitte schauen Sie ganz ruhig und entspannt auf den Monitor und denken Sie einfach einmal an nichts. Lassen Sie alle Sorgen los. Lassen Sie alle Gedanken ziehen, wie die Wolken am Himmel.« Der Monitor zeigte träge dahinziehende Schönwetterwolken über endlosem türkisblauem Meer. »Lassen Sie die Muskulatur ihres Kiefers und der Wangen locker, atmen Sie tief ein.« Merkwürdigerweise begann ich mich nach und nach trotz der mich langweiligenden Autosuggestionen langsam etwas besser zu fühlen. Als Erstes verschwanden allmählich die merkwürdigen Muskelschmerzen, was ich eigentlich erst bemerkte, als ich mir eine zweite Dose Iso-Drink genehmigen wollte und das Aufstehen aus der Liege ohne den erwarteten reißenden Gelenkschmerz vonstattenging. Unsicher testete ich alle Bewegungen, die ich eine Stunde vorher noch sorgfältig vermieden hatte. Es blieb dabei, der Schmerz zog sich freiwillig aus den Tiefen meines Bewusstseins zurück. Erfreut nahm ich einen neuen Anlauf. Die App zeigte inzwischen eine blühende Almwiese, so eine, die es heute nirgendwo anders mehr gibt als in alten Kinderbüchern oder Dokumentarfilmen von vor hundert Jahren. Aber der Psychiater C. G. Jung hatte wohl recht, dass derartige Bilder als gemeinsame Archetypen im menschlichen Bewusstsein tief verankert sind. Eine angenehm seidige Frauenstimme flüsterte mir zu, ich solle doch das Leben genießen und einfach nur da sein. Suzanne.
»Entspannen, konsumieren.« Einatmen, ausatmen.
Suzanne.
»Den Atem kommen lassen, sich führen lassen«. Einatmen, ausatmen.
Suzanne, Suzanne.
Plötzlich fuhr ich wie vom Blitz getroffen ruckartig auf. Natürlich, das war es! Ich hatte die Montenièr schon getroffen, oder vielmehr sie mich. Ich war plötzlich davon überzeugt, die Zusammenhänge zu verstehen, die ich irgendwie bereits geahnt hatte. Die Montenièr hatte mich in der Gasse liegend gesehen und jemanden gefragt, was mit mir sei. Auch die merkwürdige Reaktion des schmierigen Wirtes im Fleur machte plötzlich Sinn. Er kannte die Montenièr, aber wollte dies aus irgendeinem Grunde nicht zugeben! Nicht nur das. Ich hatte mit meiner Frage den Falschen erwischt, mich zu weit vorgetraut. War zu neugierig geworden und hatte dies mit einer kräftigen Tracht Prügel bezahlt. Aber wenn er sie gedeckt hatte, warum? Sollte sie versteckt bleiben? Und wenn, weshalb? Was sollte dort verborgen werden? Hatte ich in ein Terroristennest gestochen? Mein Hirn begann auf Hochtouren zu arbeiten und gleichzeitig fühlte ich neue Lebensenergie durch mich fluten. Meine Neugierde erwachte. Da war aber noch mehr! Diese angenehme Frauenstimme, sie hatte fast dieselbe Stimmlage, die Montenièr. Ich versuchte, mich wieder zu entspannen. Ruhig bleiben. Nachdenken. Es gab da viel zu viele Unbekannte in der Gleichung. Was war mit Raskovnik? Wer wollte mich in diese Falle schicken und warum? Ich musste vorsichtig sein. Ich würde es langsam angehen müssen. Aber eins wusste ich damals, ich würde sie suchen, die Montenièr!