Читать книгу Das Geheimnis der 5 Arme - Lewis Cowley - Страница 5
KAPITEL 2: ÜBERRASCHENDER ANGRIFF
ОглавлениеEtwas später war Katrin in Ihrer Wohnung angelangt. Zuerst haute sie sich auf die Couch und atmete tief durch. Nachdem mehrere Männer ständig versucht hatten, sie anzubaggern, wollte sie nur noch abschalten. Mussten denn diese Pappagalli sie immer wieder anmachen, nur, weil kein Mann an ihrer Seite saß oder sie einen Minirock trug? Doch auch Gabi war nicht verschont geblieben, aber die sah das etwas lockerer, denn durch ihre Art hatte sie die Playboys verscheucht.
Inzwischen war es Abend geworden. Draußen aber war es noch hell. Langsam setzte sich Katrin auf die Couch und schien nachdenklich. Die Worte von Gabi hatten in ihr etwas aufgewühlt, an das sie nie geglaubt hätte.
Nicht nur Gabi hatte ihren Bruder Jörg erwähnt, mit dem sie seit 10 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ein belangloser Streit hatte die Geschwister entzweit. Jetzt wurde Katrin stutzig: Doch wo sollte sie denn anfangen? Was war der Kern des Streits, der bereits 10 Jahre zurücklag?
Katrin dachte darüber nach und jetzt fiel ihr ein: Monika, Jörg´s Frau, war der eigentliche Auslöser. Jörg hatte sie bereits in der Schule kennen gelernt. Weil er danach für seine Schwester kaum noch Zeit hatte, war sie auf Monika immer eifersüchtig gewesen. Hatten Gabi und ihr Chef doch recht? Sollte sie wirklich mit ihrem Bruder Kontakt aufnehmen?
Katrin konnte sich noch genau erinnern, wie Jörg seine Frau kennen gelernt hatte. Eigentlich war Moni ganz nett. Sie wirkte nur etwas langweilig, doch das schien Jörg nicht zu stören. Schließlich war er auch keine Stimmungskanone.
Die Minuten verstrichen langsam. Katrin lehnte sich zurück, dann sank sie auf die Couch, seufzte tief, schloss die Augen und erinnerte sich an eine Szene aus der Schule.
Es war die Schule, auf der sie und ihr Bruder gingen. Sie war damals Zeugin, wie Jörg seine Frau zum ersten Mal begegnete. Es war gerade Pause, alle Kinder tollten durch den Hof. Auch die Geschwister befanden sich dort.
Übrigens mochten damals zwei Jahre vergangen sein, seit Jörg seine Schwester mit einer Schatzkarte hereingelegt hatte. Sie beobachtete, wie Jörg durch den Pausenhof marschierte.
Der Junge ging auf eine Betonbank zu und aß. Er hatte übrigens seit längerer Zeit ein Mädchen beobachtet, das immer allein auf dem Schulhof war, doch er hatte noch nicht mit ihr gesprochen. Auch heute stand das Mädchen, das in seinem Alter sein mochte, allein auf dem Schulhof. Das mochte einerseits kein Wunder sein, andererseits aber doch:
Sie war zwar sehr hübsch, doch ihre brünetten und glatten Haare, die völlig unprofessionell geschnitten wirkten, minderten den Anblick. Doch ihre wunderschönen bernsteinfarbenen Augen, die etwas traurig wirkten, zeigten etwas in Jörg, das er bei anderen Schülern und Schülerinnen noch nicht gesehen hatte. Ob er es wagen sollte, mit ihr zu reden? Für den Jungen, der im Gegensatz zu seiner Schwester kein Temperament und etwas Kontaktschwierigkeiten hatte, war das keine leichte Entscheidung. Doch wie es so schön heißt: Wer nicht wagt, der nichts gewinnt.
Dennoch hatte sich Jörg wochenlang zurückgehalten. Aber nicht, weil er schüchtern war. Weit entfernt: Er war neugierig. Immer, wenn er sie auf dem Schulhof sah, schaute er sie an.
Seiner Schwester schien das aufgefallen zu sein. Belustigt verfolgte sie, wie er das fremde Mädchen betrachtete. Nun spazierte sie auf ihren Bruder zu.
„Sie ist in der Klasse 8 d bei Frau Brunner.“ krähte sie ohne Umschweife los.
Sofort war das Mädchen verschwunden.
Mit einem tödlichen Blick schaute Jörg seine Schwester an.
„Was sollte das denn werden?“ fragte er mit einem unterkühlten, aber gefährlichen Ton. „Jetzt machst du alles kaputt mit deiner Art.“
„Na und?“ lachte Katrin. „Gib doch zu, dass du in sie verknallt bist. Sonst würdest du sie nie so anglotzen.“
Schon kam es von ihrem Bruder zurück:
„Erstens: Ich bin nicht verliebt. Zweitens: Ich kenne kein Mädchen. Drittens: Ich halte meine Augen offen. Viertens: Ich habe nicht geglotzt, sondern bin neugierig. Fünftens…“ er brach ab.
Katrin horchte auf.
„Du bist doch verknallt.“ rief sie.
„Wenn du das nicht gleich zurücknimmst, soll dich ein Alligator fressen.“ kam es von ihrem Bruder zurück. „Oder noch besser eine Anakonda. Da spürst du bei lebendigem Leib, wie dein Körper zersetzt wird.“
Katrin lachte. Der Schulgong ertönte und die Geschwister mussten zu ihren Klassen zurück. Dabei entdeckte Jörg, dass das dunkelhaarige Mädchen im linken Flügel an der Westseite des Schulhauses verschwand.
Wann das Mädchen Schulschluss hatte, wusste er nicht, doch er nahm sich vor, sie weiter zu beobachten.
Wochen waren inzwischen vergangen. Täglich sah Jörg sie auf dem Schulhof. Bisher hatte er nur herausbekommen, in welche Klasse sie ging, und die war am Westflügel. Allerdings hatte er einen Triumph in der Hand. Sein Schulfreund Paul Ternes ging in dieselbe Klasse, wie das Mädchen. Ob er ihn fragen sollte? Oder ob er das Mädchen einfach ansprechen sollte? Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie an Jungen interessiert wäre, oder war sie nur schüchtern? In den 70er Jahren war es für Mädchen nicht üblich, Jungs anzusprechen. Jörg beschloss, einiges über sie herauszufinden.
Eines Tages sprach er Paul an. Die beiden hatten sich durch einen Zufall kennen gelernt. Seit Monaten war der Junge, der wie sein Vater Polizist werden wollte, mit Jörg befreundet. Außerdem hatte Jörg noch einen Jungen in seiner Klasse, der ebenfalls Polizist werden wollte. Er hieß Michael Hiller. Auch mit ihm war Paul befreundet.
Eines Tages waren die drei Jungs zusammen, als Michael sagte:
„Ich glaube nicht, dass sie sich für dich interessiert. Sie geht allen Jungs aus dem Weg.“
„Kann es sein, dass sie mit Jungen schon schlechte Erfahrungen gemacht hat?“ fragte Jörg.
„Das kann ich nicht sagen.“ sagte Michael.
„Du, Paul, erzähl doch was über sie.“ drängte Jörg. „Vielleicht schaffe ich es irgendwie, glaube ich.“
„Ich weiß einiges über sie.“ gestand Paul. „Ihr Vater hat vor einem Jahr seinen Job als Postbeamter verloren und ist seitdem arbeitslos. Obwohl er ständig eine neue Arbeit sucht, bekommt er nichts.“
„Und sie muss auch darunter leiden.“ stellte Jörg fest. „Aber warum findet ihr Vater keine neue Arbeit?“
„Er ist schon fast 50.“ erklärte Michael.
„Du scheinst die Familie gut zu kennen.“ erkannte Jörg.
„Ich habe sie einmal besucht.“ erklärte Michael. „Es ist schon schlimm, wie es um sie steht. Aber vielleicht kannst du ihr helfen.“ Dabei schaute er auf das dunkelhaarige Mädchen.
„Wie heißt sie denn eigentlich?“ fragte Jörg.
„Monika.“ sagte Paul. „Monika Breitenbach.“
Jörg blickte erst nach unten, dann sagte er:
„Wir sehen uns.“
„Ich hol noch einige Informationen für dich.“ versprach Michael.
„Danke, Mike.“ Jörg drückte ihm herzlich die Hand und fuhr fort:
„Machs gut.“
„Bis dann.“ sagte Paul.
Eines Tages war es soweit, Jörg saß in der Pause auf der Betonbank, als Paul auftauchte. Jörg begrüßte ihn.
„Hallo, Paul. Weißt du etwas Neues über sie?“
„Ich habe bemerkt, dass sie dich dauernd anschaut.“ erklärte Paul. „Nur, wenn du sie anschaust, schaut sie weg.“
„Und warum?“ fragte Jörg.
„Ich glaube, sie ist wahnsinnig schüchtern und wird wegen ihren altmodischen Kleidung gehänselt.“ vermutete sein Schulfreund. „Niemand will mit ihr reden.“
„Hat sie denn keine Freundinnen?“ wollte Jörg wissen.
„Nein, soviel ich weiß, nicht.“ antwortete Paul. „Aber mir ist aufgefallen, dass sie dich häufig beobachtet.“
„Ich glaube eigentlich nicht, dass sie mich meint.“ erkannte Jörg. „Eher hat sie Appetit auf Gewürzschnitten.“
„Es ist möglich, dass du recht hast.“ meinte Paul. „Aber wenn ich dir einen gutgemeinten Ratschlag geben darf: Probier´s doch einfach aus. Man sieht sich.“
„Bis dann.“
Ein Handschlag, dann haute Paul ab.
Jörg aß eine Gewürzschnitte. Das waren damals braunfarbige, kuchenartige und rechteckige Leckerbissen, die in den 70er Jahren weit verbreitet waren.
Ob Paul rechte hatte? War das Mädchen wirklich an Jörg interessiert? Das wollte der Junge herausfinden.
Nun tauchte das Mädchen wieder auf. Auch heute war sie allein. Kein Wunder: Paul hatte recht. Sie wirkte recht still und ihr verblasstes Kleid mit den vielen Blumen entsprach damals sicher nicht gerade der neuesten Mode. Außerdem hatte er entdeckt, dass sie selten etwas zu essen dabeihatte, zumal er durch Paul und Michael herausgefunden hatte, dass ihre Eltern sehr arm waren, so dass sie sich kaum das Nötigste leisten konnten.
Jetzt sah sie, wie Jörg auf der Betonbank am hinteren Gebüsch saß. Langsam kam sie näher und schaute ihn an.
Jörg bemerkte sie zunächst nicht, bis er einen Schatten entdeckte. Sofort blickte er auf. Das Mädchen stand vor ihm.
Jörg lächelte freundlich, doch das Mädchen zuckte verschreckt zusammen. Zuerst wollte sie weglaufen, doch der ebenso freundliche wie ruhige Blick von Jörg fesselte sie.
„Hallo.“ grüßte er ruhig.
Das Mädchen sagte nichts. Jörg wusste bereits, warum. Paul hatte ihm gesagt:
„Ich glaube, sie ist wahnsinnig schüchtern.“
Wortlos schauten sie sich an. Wenige Sekunden vergingen, als Jörg das Mädchen ansprach:
„Magst du was essen?“
Dabei hielt er ihr eine Gewürzschnitte hin.
Sie sagte nichts, sondern nickte leicht.
Zögernd streckte das Mädchen seine Hand aus. Sie schwieg, doch der Blick in ihren Augen sagte mehr als tausend Worte. Anstatt sich zu bedanken, fragte sie:
„Wie nennt man sowas?“
„Das ist eine Gewürzschnitte.“ erklärte Jörg. „Ich ess´ sie wahnsinnig gern.“
Schon hatte das Mädchen ein Stück probiert, dann den Rest gierig verschlungen. Jörg hatte also Recht: Sie hatte wirklich großen Hunger.
Danach schaute sie ihn mit einem Blick an, den Jörg erriet. Sie wollte noch eins.
Doch Jörg hatte nur noch zwei Stück. Eines gab er ihr. Auch dieses hatte sie schnell vertilgt.
„Du darfst dich ruhig zu mir setzen, wenn du willst.“
Das Mädchen schaute ihn an. Jörg sah ihr an, dass sie sich etwas unbehagen fühlte.
„Na komm schon.“ forderte er sie auf. Dabei achtete er darauf, dass seine Stimme ihr keine Angst machte.
Das Mädchen folgte seiner Bitte und setzte sich langsam zu ihm. Katrin, die immer noch hinter der Schulhofsäule stand, hatte alles genau verfolgt, doch sie wollte nicht eingreifen. Schließlich sollte ihr Bruder seine eigenen Wege gehen. Damals stand noch kein Hass zwischen ihnen.
Jetzt lächelte Katrin. Allerdings war sie erst 11 Jahre alt und verstand nicht genau, was zwischen ihrem Bruder und dem fremden Mädchen vorging.
Nun saßen Jörg und das Mädchen nebeneinander und Katrin beobachtete belustigt das Miteinander der beiden.
„Äh, wie heißt du denn?“ fragte das Mädchen.
„Jörg.“ stellte er sich vor. „Und du?“
„Monika.“ kam es zurück.
„Monika, die Einsame.“ erkannte er. „Ein wunderschöner Name. Fast so schön wie du.“
Monika lächelte, als sie das gehört hatte. Was sie damals noch nicht wusste: Jörg befasste sich mit der Herkunft von Namen.
Katrin hatte sich diese Szene belustigt angesehen, doch sie konnte nichts hören, da sie zu weit weg war und der Lärm der anderen Schüler das Gespräch Ihres Bruders mit dem Mädchen weit übertönte. Allerdings konnte sie auch nicht feststellen, was sich zwischen den beiden abspielte. Vertraut wirkten die beiden nicht, dazu verhielten sie sich zu sachlich. Außerdem hatte er bislang noch kein Interesse an Mädchen gezeigt. Schließlich war er erst 14.
Jörg, der seine Schwester dennoch am Pfeiler des vorderen Tors entdeckt hatte, ahnte bereits, was ihn zuhause erwarten würde, denn er kannte seine Schwester nur zu gut. Schon als erstes würde sie damit prahlen, war sie am Schulhof gesehen hatte. Leider schaffte er es nicht mehr, sie zu ermahnen, denn die Pause war bereits zu Ende und die einzelnen Klassen mussten in die Räume zurück.
Der Junge war nicht wenig in Verlegenheit. Zumal er das Pech hatte, dass seine Schwester eine Schulstunde vor ihm Schluss hatte. Wenn Mutter bereits von ihrem Teilzeitjob im Supermarkt zuhause war, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Außerdem wollte er sich noch mit seinem Freund Mike treffen, der später Polizist werden wollte. Dessen Vater, ein bürokratischer Polizeibeamter, hatte ihm versprochen, eine Art Tag der offenen Tür zu veranstalten, um Kindern und Jugendlichen einen Einblick in den Polizeialltag zu geben. Der Polizeipräsident war begeistert von der Idee, so dass diese bald in ganz Deutschland erweitert wurde.
Jörg´s Eltern wussten das und ebenso, dass er erst spät nach Hause kommen würde. Doch sie machten sich weniger Sorgen um den Sohn, als um Katrin, denn die Geschwister waren nicht nur äußerlich völlig verschieden. Jörg war schon als Kind sehr selbständig, ruhig, sachlich und konnte gut auf sich aufpassen. Katrin dagegen war ein unsicheres Mädchen, eher hilflos, naiv und außerdem sehr temperamentvoll.
Auch in der Schule waren beide völlig verschieden. Jörg interessierte sich sehr für Musik, Mathematik und Physik. Katrin war eher für Chemie.
Nachdem Jörg vom Besuch seines Freundes zurückkam, ahnte er bereits, was ihn erwarten würde. Seine schwatzhafte Schwester hatte sicher schon dafür gesorgt. Die Mutter Barbara arbeitete seit Katrin´s Einschulung vormittags in einem Supermarkt. Allerdings nicht, weil sie Geld brauchte, denn ihr Mann Klaus arbeitete in einer Bank und verdiente für damalige Verhältnisse sehr gut. Nach Katrin´s Einschulung war es ihr zuhause zu langweilig geworden. Da ihre alten Freundinnen vormittags keine Zeit hatten, da sie, aus welchen Gründen auch immer, selbst arbeiteten, traf sie nur selten jemanden, denn wenn Klaus und die Kinder zuhause waren, war kaum Zeit für andere Dinge.
Obwohl die Geschwister völlig verschieden waren, ihre Eltern liebten sie gleichermaßen. Allerdings mit dem Unterschied, dass nur Jörg Taschengeld bekam und früher Pfandflaschen sammelte. Er sparte viel, doch er gab es auch aus. Allerdings wusste er für seine Zukunft zu sorgen. Katrin dagegen hatte nie gelernt, mit Geld umzugehen. Das mochte wohl auch ein Auslöser gewesen sein, warum der Streit mit ihrem Bruder anfing.
Kaum war er zuhause angekommen, wurde er bereits von seiner Mutter erwartet. Man sah ihr die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn wirklich an. Jörg war voll nach ihr geraten. Die gleichen dunklen Haare, die gleichen braunen Augen. Auch die Nase hatte er von ihr geerbt.
Ohne abzuwarten, fragte sie ihn:
„Stimmt das, dass du verliebt bist?“
Jörg schaute sie verdutzt an. Obwohl er ahnte, wen seine Mutter meinte, spielte er den Ahnungslosen. Das konnte er ganz gut, zumal er tatsächlich nicht verliebt war, da er seine Mitschülerin erst heute kennen gelernt hatte.
„Wieso?“ gab er verdutzt zurück. „In wen soll ich denn verliebt sein?“
„Na, die aus deiner Schule, mit der du in der Pause zusammen warst.“ erklärte seine Mutter.
„Katrin kann echt nicht ihre blöde Fresse halten.“ erboste sich Jörg. „Außerdem sollte sie dringend zum Augenarzt und zum Psychiater gehen. Die kann doch nicht einfach so einen Quatsch reden, ohne die Hintergründe zu kennen.“
„Also stimmt es?“ bohrte seine Mutter weiter.
„Eigentlich nicht.“ meinte er. „Außerdem haben wir heute erst zum ersten Mal geredet. Ob sich daraus etwas ergibt, weiß ich nicht. Wir haben nur geredet, sonst nichts.“
Barbara sagte nichts mehr dazu. Schließlich kannte sie ihren Sohn, der zwar äußerlich nach ihr, aber charakterlich nach seinem Vater kam.
Es dauerte nur wenige Minuten, da öffnete sich die Tür. Der Vater Klaus trat ein. Als Banker musste man damals einen Anzug tragen. Zwar ist das auch heute noch der Fall, ist aber nicht mehr vorgeschrieben.
Sofort sah man die blondroten Haare, die er seiner Tochter vererbt hatte. Barbara begrüßte ihn.
„Hallo, Wutsch.“
So nannte Barbara ihren Mann, weil er immer hin- und herwutschte. Immer auf der Jagd nach Erfolg. Jörg schmunzelte und dachte nach. Sollte er eines Tages seiner Traumfrau begegnen, würde er ein Kosewort benutzen, das wesentlich kostbarer war. Dass allerdings gerade das Mädchen, das er heute kennen gelernt hatte, diese Frau sein würde, ahnte er damals noch lange nicht. Katrin, die alles von ihrem Zimmer aus verfolgte, grinste hämisch.
Klaus wusste bisher noch nichts über die Bekanntschaft seines Sohnes mit dem fremden Mädchen, und Jörg wusste, dass er auch nichts zu erzählen brauchte, denn er wusste, dass seine Schwester von selbst dafür sorgen würde.
„Du Vati, Jörg ist total...“
Weiter kam sie nicht, denn sie wurde bereits von der Mutter unterbrochen.
„Erzähl jetzt keine Ammenmärchen.“ sagte sie. „Ob sich etwas ergibt oder nicht, weiß noch niemand.“
„Wieso, was ist denn los?“ fragte Klaus.
Seine Frau berichtete, während Jörg wortlos zuhörte. Er kannte seine Eltern und wusste, dass Widerspruch völlig zwecklos war. Allerdings wusste er auch, dass sein Vater ihm eher Rückendeckung geben würde, als seine Mutter.
Klaus hatte alles gehört und erwiderte:
„Hast wohl einen Freund gefunden.“
Das war typisch für den unterkühlten Vater. Seine Bemerkungen waren neutral, geschlechtslos und sachlich. Deshalb sagte er auch nicht „Freundin“, sondern „Freund“. Katrin war darauf eifersüchtig und verfolgte ein Gespräch, das zwischen Vater und Sohn stattfand. Doch Jörg dachte gar nicht daran, irgendwelche Details zu enthüllen, die er selbst noch nicht kannte.
„Ob sie ein Freund werden könnte, weiß ich noch nicht.“ gestand der Junge. „Wir haben doch heute zum ersten Mal geredet. Da weiß ich noch nichts.“
Katrin schlich sich zurück zu ihrem Zimmer. Doch kaum war sie an der Tür angekommen, da hörte sie die zornige Stimme ihres Bruders:
„Das wirst du bereuen, du blöde Petze!“
Jetzt schreckte Katrin auf. Sie befand sich jetzt nicht im alten Zuhause, sondern in ihrer heutigen Wohnung. Schnell sah sie sich um. Irgendetwas hatte sie geweckt, doch es war kein Geräusch zu hören. Langsam schlich sie zum Fenster, aber es war nichts zu sehen.
Katrin glaubte zunächst, dass der Traum sie geweckt haben könnte. Einige Sekunden stand sie am Fenster, doch abgesehen vom weit entfernten Verkehrslärm und verschiedenen Vogelstimmen war nichts zu hören.
Wieder dachte sie über vergangene Zeiten nach. Damals waren sie noch Kinder gewesen, Katrin und Jörg spielten Fangermännchen. Beide lachten und Katrin schrie:
„Du kriegst mich nicht!“
Doch ihr Bruder bekam sie immer wieder. Danach schrie sie:
„Ach, wie gemein du bist.“
Wieder riss etwas sie aus den Gedanken. Da war doch wieder dieses Geräusch. Ob da ein Tier die Hauswand hochkletterte? Das konnte doch nicht sein.
Aber dann vernahm sie wieder dieses Geräusch. Sofort stürmte sie darauf zu, doch als sie nach draußen blickte, war nichts zu sehen. Immerhin wohnte sie in der dritten Etage, da konnte einfach keiner hochklettern, es sei denn, er hätte einen mobilen Lift.
Es hatte tatsächlich so geklungen, als ob jemand am Fenster gewesen wäre. Eigentlich befremdet, eine Taube hätte sich da nicht setzen können, denn die aufgebrachten Spikes, die zur Taubenabwehr eingerichtet waren, ließen es nicht zu. Da sich aber jetzt nichts mehr rührte, machte sich Katrin darum auch keine Gedanken mehr.
Sie gähnte und sagte:
„Ein Königreich für ein Bett.“
Wieder fielen ihr die Augen zu und sie erinnerte sich an das Schulfest. Dieses stand gerade bevor und der Rektor Lichtl hatte viele Vorbereitungen getroffen. Für jede Aufgabe war jemand da, nur, wer den DJ machen sollte, war noch nicht klar. Das sollte voraussichtlich ausgelost werden. Bis dann Katrin den Rektor ansprach.
„Warum nehmen Sie nicht einfach meinen Bruder Jörg?“ fragte sie. „Der legt doch immer im Freizeitforum auf. Der kann das bestimmt machen. Außerdem hat er gute Platten, die er mitbringen kann.“
„Ist er wirklich so gut?“ fragte Lichtl.
„Und ob.“ sagte Katrin mit sicherer Stimme. „Außerdem kennt er die Plattenspieler schon, weil er im Freizeitforum die gleichen hat. Der kann das machen. Entscheiden Sie sich, morgen ist das Fest.“
Schon am nächsten Tag begann das Fest nach dem Mittagsunterricht. Doch schon gestern war die Entscheidung fest. Jörg sollte auflegen.
Es war eine große Party. Über 500 Schüler und Schülerinnen nahmen teil. Auch alle Lehrkräfte waren dabei beteiligt. Und tatsächlich: An den Plattentellern stand der damals 15-jährige Jörg. Einen Evergreen nach dem anderen legte er auf. Aber auch neue Sachen waren darunter. Alle jubelten und sprangen umher. Immer wieder kündigte Jörg den nächsten Song an.
Wieder erwachte Katrin. Sie war noch gar nicht im Schlafzimmer, als sie am Fenster wieder das Geräusch vernahm. Sie folgte mit den Augen dem Geräusch und nun erkannte sie eine Hand, die sich am Fenstersims hochzog.
Bevor sie das Fenster schließen konnte, sprang die Hand durch das Moskitonetz in ihr Wohnzimmer.
Katrin griff nach dem Telefon, als sie es sah: Es war nur ein Arm. Kein Körper. Kein Mensch. Voller Angst ließ sie den Hörer fallen und versuchte, aus der Wohnung zu flüchten. Doch weit war sie nicht gekommen, weil der Arm ihr den Weg abschnitt.
Katrin schrie auf. Lauernd näherte sich ihr der Arm, bis sie plötzlich einen zweiten Arm bemerkte, der von links kam. Sie rannte nach unten und lief aus dem Haus. Doch jetzt war ihr der Weg abgeschnitten, denn ins Haus konnte sie nicht mehr. Vor dem Eingang lag ein dritter Arm. Nun tauchten auch noch zwei von links und rechts auf.
„Was ist das?“ fragte sie sich.
Inzwischen waren die Arme nur noch einen Meter von ihr entfernt, als sich ein Wagen näherte und scheinbar vor dem Haus gegenüber parken wollte. Katrin versuchte, um Hilfe rufen, da waren die Arme spurlos verschwunden.
Katrin lief weiter und schaute auf die Straße. Der Wagen war wieder weg. Offensichtlich hatte er nur gewendet. Andere Nachbarn waren nicht zu sehen und es herrschte Totenstille. Zunächst wagte sich Katrin nicht ins Haus, aber dann ging sie langsam doch zurück.
Vorsichtig, jeden Schritt überlegend, schlich sie nach oben und wartete einige Minuten, bis sie sich wieder in die Wohnung wagte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie soviel Angst gehabt. Sie erinnerte sich an damals, als sie noch ein Kind war und ihren großen Bruder Jörg ständig damit genervt hatte, dass unter ihrem Bett ein schwarzer Mann liegen würde. Jörg hatte sie immer ausgelacht und nach einem großen Streit vor 10 Jahren war der Kontakt zwischen den Geschwistern abgebrochen. Bis jetzt.
Katrin wusste, dass ihr niemand glauben würde. Selbst, wenn es so gewesen wäre, an wen hätte sie sich wenden sollen? Ihr Vater war nach Italien gereist und Jörg lebte schon lange mit seiner Frau Monika zusammen, die er, wie bereits erwähnt, schon aus der Schule kannte. Obwohl sie wusste, was damals in der Jungendzeit zwischen ihnen vorgefallen war, ahnte sie, dass nur Jörg ihr glauben würde.
Langsam schlich sie ins Haus, doch von den rätselhaften Armen war keine Spur mehr zu sehen. Fast geräuschlos nahm sie den Hörer des Telefons ab.
Doch ehe sie die Tasten am Hörer drücken konnte, wurde ihr dieser aus der Hand geschlagen. Ein Arm war wieder da und versperrte ihr den Weg zum Ausgang. Katrin sah sich um. Nein. Aus dem Fenster springen konnte sie nicht. Immerhin wohnte sie im dritten Stock. Und an der Wand entlang klettern konnte sie auch nicht, weil die Wände so glatt waren, dass es nur eine Fliege schaffen könnte. Blieb nur noch die Kammer, denn die hatte einen Hinterausgang, der zum Hausflur führte.
Langsam bewegte sie sich zum Abstellraum. Von dort aus, hoffte sie, könnte sie flüchten. Doch gerade, als sie die Tür öffnen wollte, sprang schon der Arm in den Weg, schlug die Tür wieder zu und blieb bedrohlich zuckend am Boden, so als wollte er ihr auflauern. Doch was hatte er vor?
Katrin hatte keine Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen, denn der Arm saß ihr wieder im Weg. Der Ausgang war blockiert und das Fenster wäre der sichere Tod gewesen.
Jetzt hatte sie eine Idee: Im Schlafzimmer war der Baseballschläger von ihrem Freund Thomas. Der trainierte nämlich jeden Mittwoch auf dem Sportplatz mit seiner Clique. Langsam schlich sich Katrin zurück und schon hatte sie den Schläger in den Händen.
Sofort schwang sie ihn gegen den Arm, der sich auf sie stürzte. Ein Schlag auf die Hand und schon war der Arm aus der Wohnung verschwunden.
Zitternd brach Katrin zusammen. Sie schleppte sich noch in einen Wohnzimmersessel und ließ sich niederplumpsen. Dabei atmete sie so schwer, dass es fast so aussah, als ob sie einen Herzinfarkt bekommen würde. Bald darauf stand sie wieder auf und wollte die Polizei anrufen, doch bevor sie die letzte Nummer getippt hatte, legte sie wieder auf. Die Polizei hätte ihr das Erlebnis nie abgekauft. Aber an wen sollte sie sich sonst wenden? Von den Nachbarn war keiner da, Gabi würde alles nur für einen schlechten Scherz halten. Ihre Freundinnen, zu denen auch Stefanie Keller gehörte, würden auch nicht anders reagieren und andere Freunde hatte sie nicht, denn durch ihre bissige Art hatte sie sich jeden Menschen verscherzt. Dennoch hatte sie Erfolg bei Männern, diese aber nie genutzt. Immer wieder erfuhr sie solche Attacken, dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, in figurbetonter Kleidung aufzutreten. Auch heute trug sie das weiße Top und den blauen Minirock, doch die sonst so stolzierende Katrin wirkte jetzt wie ein Häufchen Elend.
Aber wem sollte sie sich anvertrauen? Eine Frage, auf die sie zunächst keine Antwort fand. Niemand würde ihr glauben.
Langsam stand sie auf und schaute aus dem Fenster. Die Arme waren genauso geheimnisvoll verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Keine Spur war zu sehen.
Katrin schlich sich leise zur Haustür. Kein Geräusch war zu hören. Zögernd öffnete sie die Tür, doch es war nichts zu sehen. Katrin zitterte immer noch, doch es schien, als sei die Gefahr vorbei.
Sie schloss die Tür, stolperte schnell zum Telefon und nahm den Hörer ab. Sie wählte die Notrufnummer, doch dann legte sie sofort wieder auf.
‚Es muss doch jemanden geben, der mir glaubt.´ dachte sie sich. Dabei machte sie eine Gebärde, als hätte sie sich auf etwas besonnen. Sie riss die Schublade des kleinen Kommodenschrankes auf, auf dem das Telefon stand und holte ein kleines altes Telefonbüchlein hervor, aber sie zitterte so sehr, dass sie es nicht schaffte, die Seiten richtig umzublättern. Doch der Arm tauchte nicht mehr auf, oder er schien irgendwo auf sie zu warten.
Offenbar hatte sie einen Namen im Kopf, doch zunächst suchte sie ziellos im Büchlein, aber dann hatte sie die Seite „J“ gefunden.
„Na komm schon!“ stieß sie erregt hervor. Unter dem Buchstaben J glitten ihre Finger zu einem Namen. „Jörg“, stand da, rechts davon eine Telefonnummer.
„Hoffentlich stimmt die noch.“ flüsterte sie und tippte mit zitternden Händen die Nummer ein.