Читать книгу Der Sommereremit - Liesbeth Listig - Страница 4
Einsiedelei
ОглавлениеEs war einer dieser seltenen Hochsommertage, an denen sich weder auf der Landseite hinter dem Deich, noch auf der Seeseite hinter dem Deich ein Lüftchen regte. Dazu sollte der geneigte Leser wissen, dass für die Küstenbewohner jede Stelle hinter dem Deich liegt. Es regte sich hier, selbst mit dem Einsetzen der Flut, heute kein Windhauch. Die Vormittagssonne brannte von einem strahlend blauen Himmel und die nicht unangenehme Wärme und die völlige Ruhe lagen bleiern über dem Küstenstreifen. Kein Laut durchdrang diese Stille. Jede Bewegung, die er sich zugestand erschien überflüssig, ja wie ein Sakrileg, das unweigerlich diese Ruhe zerstören würde.
Auf der selbstgezimmerten Bank saß Rigo und hing bewegungslos seinen Gedanken nach. Das einzige Geräusch, was nach den vielen, ruhigen Minuten, welche ihm wie Stunden vorkamen, an sein Ohr gelangte, war der Gesang einer Lerche, die hoch oben im Azurblau der flimmernden Luft flatternd an einer Stelle stand. Der kleine Vogel zauberte ein Lächeln auf das zeitlos wirkende Gesicht.
Rigo Walder war ein sonnengegerbter, naturverbundener Mensch, dessen Alter nur schwer einzuschätzen war. Von seiner Statur her eher schmächtig, hatte er jedoch eine ausgeprägte Muskulatur vorzuweisen, die er mit allerlei Naturprodukten, welche empfindliche Nasen mit Grausen unter anderem als Fischöl und Tran identifizieren würden, intensiv zu pflegen verstand. Unter dem zerzausten, von der Sonneneinstrahlung erblondeten Haar und der zerfurchten, braun gebrannten Stirn waren zwei stets unruhige, blaue, schalkhaft dreinblickende Augen zu finden, welche auch meistens einen freundlichen, zugewandten Kontakt versprachen. Sein Bekleidungsstil war nicht weiter erwähnenswert. Dieser bezog sich ausschließlich auf Rigos naturverbundenes Leben. Deshalb war er zwar praktisch, aber nicht sehr ansehnlich. Für Menschen die Rigo nicht näher kannten waren es skurrile Lumpen, getragen von einem skurrilen Penner, Waldschrat, Bekloppten oder bestenfalls Nichtsesshaften. Aber weit gefehlt, Rigo Walder war schon lange sesshaft geworden.
Als einziger Spross einer deutsch-lettischen Familie war er im zweiten Weltkrieg als Kommandant eines Unterseebootes für das Deutsche Reich unterwegs gewesen. Als sein Boot dann nach einem Angriff manövrierunfähig in der Nordsee dümpelte, ereilte ihn sein Schicksal. Als er, ein weißes Laken in der Rechten, aus der Luke des Bootsturmes stieg und über die Reling schaute, traf ihn eine englische Gewehrkugel am Kopf und riss ihm einen glücklicherweise kleinen Teil der Schädeldecke weg. Aber diese, dem Leben nicht sehr zuträgliche Verwundung bekam Kommandant Walder bewusst nicht mehr mit. Der weiße Lappen glitt ihm aus der Hand und er ging bewusstlos und kopfüber von Bord.
Seine Schwimmweste rettete ihn vor dem Ertrinken und so wurde er mit der Flut an Land getrieben. Von all diesem und den folgenden Torturen bekam Rigo nichts mit. Auch nicht, dass wohlwollende „Strandräuber“ ihn mit auf ihren Hof nahmen und, dass diese ihn zur weiteren Versorgung in ein Lazarett brachten, wo ihm nach mehreren Operationen eine Stahlplatte die zerschossene Schädeldecke ersetzte. Auch das Ende des Krieges und den Verlust aller seiner fragwürdigen Ideale verträumte Rigo Walder unter gravierenden Dosen von Morphium. Seine Rehabilitation verlebte er später in einem englischen Gefangenenlager; irgendwo im Norden des untergegangenen Reiches. Aber da er weder Papiere noch Uniform bei sich hatte und mit lettischem Akzent vorgab, aufgrund seiner Verletzung keine Erinnerung mehr an sein Vorleben zu haben, entließ man den unnützen Esser frühzeitig in eine ungewisse Freiheit.
Monatelang irrte Rigo Walder damals durch das vom Krieg gebeutelte Norddeutschland. Immer war er auf der Suche nach etwas Essbarem und einer Unterkunft. Als Hilfsarbeiter, Tagelöhner und sogar als Dieb fristete er sein Dasein, aber niemals als Räuber oder gar Mörder. Ein solches Vorgehen war Rigo fremd und entsprach auch unter den widrigsten Bedingungen nicht seinem Charakter. Alsbald fand er dann Unterschlupf bei einem Marschbauern, der ihn als Erntehelfer einsetzte. Nach der Ernte wusste der Bauer nichts mit ihm anzufangen. Er duldete es aber, dass Rigo in dem alten Schafstall, der direkt hinter dem Deich beim Sommerkog lag, sein Lager aufschlug. Das war weitab von allen Gehöften und dem nächsten Ort. Dort störte er niemanden. Wer weiß, wozu man diesen fleißigen Letten noch einmal brauchen konnte, mag der Bauer sich gedacht haben.
Nun, nachdem viele Jahre ins Land gegangen waren, lebte Rigo immer noch in dem zerfallenen Stall. Den Bauern gab es längst nicht mehr. Rigo saß vor seinem Domizil in der Sonne und dachte an diese vergangenen Zeiten zurück. Es hatte viel zu lange gedauert, bis er nicht mehr auf Bettelei und Tagelöhnerei angewiesen war. Aber irgendwann, als die junge Republik, welche er zu tolerieren gelernt hatte, sich etablierte, bekam er eine Kriegsversehrtenrente. Hiervon hätte er auch in einer Stadt ein gutes Leben führen können. Rigo zog es aber vor, seinen Lebensstil beizubehalten. Das Leben von und mit der Natur versprach ihm ein wenig Glück.
So brauchte er weiterhin wenig finanzielle Mittel und sein Vermögen stieg über die Jahre zu einem erkläglichen Reichtum an. Kein Außenstehender sah in Rigo Walder einen reichen Mann. Hinzu kam seine geschäftliche Tätigkeit. Außerhalb der Badesaison machte Rigo oft tagelange Wanderungen am Deich oder durch das Watt. Dann sammelte er Treibgut, welches er in dem fast zusammengebrochenen hinteren Teil seines Stalles stapelte. Muscheln, alte Netze, Schiffslaternen und Wrackteile, selbstgegerbte Robbenfelle, von denen man nicht wissen wollte, mit welchen Naturprodukten die Gerbung erfolgt war, waren dort unter viel anderem Kram zu finden. Bei schlechtem Wetter war Rigo dann emsig dabei, aus diesem Trödel mehr oder weniger schöne Souvenirs für die Urlauber zu fertigen. Die Sachen stellte er dann an schönen Tagen wie diesem vor seiner Tür auf dem Hof auf und verkaufte das ein oder andere Stück an vorbeikommende Touristen.
Es kam aber nicht allzu häufig vor, dass außer ein paar Radfahrern auch Fußgänger oder gar Autos vorbei kamen. Der Stall lag weit ab von der nächsten Ortschaft und dem nächsten Badestrand, und mancher Besucher scheute sich auch, dem merkwürdigen Menschen nahe zu kommen. Nur die Neugier und das schaudernde Erbarmen, das Rigos Anblick bei manch einem Menschen hervorrief, veranlasste einzelne dazu, näher zu kommen und eventuell etwas zu kaufen. Das alles störte Rigo nicht. Er freute sich über jedes Gespräch, war er doch nicht auf den Verkauf angewiesen. Aber es freute ihn dennoch, dass der „Grüne Plan“ der Regierung ihm in den sechziger Jahren eine Asphaltstraße vor seinem Domizil beschert hatte, und auch alle anderen Feldwege der Gegend asphaltiert und somit gut mit seinem alten Fahrrad befahrbar waren. Auch einige Urlauber folgten nun häufiger den Wegen hinter dem Deich, und manch einem war ein freundliches Wort oder ein Kauf zu entlocken.
Umgeben von seinen Erzeugnissen saß Rigo gedankenverloren in der Sonne als ein junger Fußgänger in sein Blickfeld geriet. Ein junger Mann in kurzen Hosen, der nicht über die Straße, sondern den Sommerdeich auf die Verkaufsstelle zusteuerte. Rigo war hocherfreut, von einem potenziellen Käufer aus seinen nun immer trüber werdenden Erinnerungen gerissen zu werden. Tatsächlich kam dieser Mensch ohne Scheu schnurstracks auf ihn zu und begrüßte ihn wie man den Krämer von nebenan begrüßen würde. Umgehend zeigte Rigo geschäftig seine Waren und hatte zu jedem Gegenstand eine Geschichte zu erzählen.
Er erzählte von verschiedenen Schiffen, die bei Unwetter oder bereits in den Wirren des Krieges weit draußen in die Sände geraten und nicht mehr freigekommen waren. Dann war Rigo bei gutem Wetter und günstiger Tide hinaus ins Watt gewandert und hatte von einem dieser nicht ungefährlichen Ausflüge unter anderem Kram ein Ankerlicht mitgebracht, welches er von einem Havaristen abgebaut hatte. Dieses war noch komplett erhalten und Rigo hatte es mit Kupferfarbe noch ansehnlicher gemacht. Das Glas war nicht wie bei Positionslaternen rot oder grün, sondern klar und strahlte wie ein Leuchtturm, wenn er das Petroleumlicht darin entzündete.
Des Weiteren erklärte er seinem Besucher appetitlich, wie er zu den Robben und Schafsfellen gekommen war. Wie er den verendeten, tot aufgefundenen Tieren das Fell abgezogen hatte und wie lange es dauerte, bis der Gerbgeruch sich verflüchtigt hatte. Die Geheimnisse des Gerbvorganges gab er jedoch nicht Preis, da sein Besucher bereits etwas angewidert das Gesicht verzog. Verwöhnte Urlauber dachte Rigo und ging zu den nächsten Kuriositäten über.
So hatte er eine uralte, von der Erde geschwärzte Schiffsplanke mit allerlei Muscheln und Seesternen gespickt und lackiert. Mit verschwörerischer Mine und mit immer noch leicht anklingendem, lettischen Akzent, erklärte er dann, dieses Holz stamme aus der nicht weit entfernten Ausgrabungsstelle, wo ein uraltes Wikingerbot im Marschboden, der früher Watt gewesen war, gefunden wurde. Ein hübsches Souvenir. Aber sein Kunde hatte hierfür nicht und auch nicht für die geschnitzten und bunt bemalten Leuchttürme ein Auge. Er wollte nur das Ankerlicht. So ging es nach vielem hin und her der Preisverhandlung für hundertzwanzig Mark an den neuen, überaus zufriedenen Besitzer. Und dieser hinterließ einen noch zufriedeneren Rigo Walder.
Nachdem der Besucher sich verabschiedet hatte, war der Tag so weit fortgeschritten, dass die größte Mittagshitze überstanden und es Zeit für eine spartanische Mahlzeit war. Rigo begab sich in den einzig bewohnbaren Raum des baufälligen Gebäudes, in dem sich sowohl seine Schlafgelegenheit als auch die Küche befand. Seine Schlafstätte bestand aus einer alten Matratze, die auf dem blanken Boden lag. Darüber hing, wohl aus nostalgischen Gründen, ein gerahmtes, verblassendes Führerbild, welches Rigos verlorene Jugend widerspiegelte, jedoch bereits seit vielen Jahren seine Bedeutung für ihn verloren hatte. Es hing dort, wie es auch ein röhrender Hirsch oder Putten mit Sinnsprüchen getan hätten, sinnlos und hässlich an der Wand. Aber irgendwie konnte Rigo es nicht wegwerfen. Wie er auch alle anderen Sachen nicht einfach wegtun konnte. Eventuell konnte es in kalten Nächten noch nützlich sein, nicht mehr um das Herz zu erwärmen, aber eventuell den Körper. Die Feuerstelle war ja nicht weit. So hing das Bild und hing und hing…
Rigo heizte die kleine Herdstelle an und bereitete sich in seiner Blechtasse einen Kaffee, indem er das grob gemahlene Kaffepulver mit kaltem Wasser zum Kochen brachte. Auf ähnliche Weise entstand im Alu-Kochgeschirr ein Nudelsüppchen, welches er mit altem Brot und etwas guter Butter genussvoll zu sich nahm. Nachdem der Kaffee auf Trinktemperatur abgekühlt war, genoss Rigo auch dieses Gebräu bedächtig bis zur Neige. Das heißt, mit dem Kaffeesatz, welcher ja für den Magen bekömmlich sein soll.
In einer halben Stunde würde die Bank im Badeort ihre Siesta beendet haben und wieder in die Nachmittagsprechstunde starten. Das wollte Rigo nicht versäumen. Einmal in der Woche begab er sich aus dem selbstgewählten Eremitendasein hinaus und unter Menschen. Aber nur, um zu erkunden, ob sein Geld gut verwahrt würde, und um etwas einzuzahlen, wollte er die Bank aufsuchen. Auf dem Rückweg dann noch rasch das Nötigste einkaufen, nach der ausgelegten Grundangel sehen, dann wieder nach Hause und nach der Hektik die nötige Ruhe tanken.
Alle draußen aufgestellten Schätze wurden nun schnell in der abschließbaren Wohnstube verstaut. Danach wurde der Drahtesel aus seinem Unterstand geholt. Dieser machte seinem Namen alle Ehre. Das uralte Vehikel hatte Rigo vor Jahren irgendwo „weggefunden“ und notdürftig fahrtüchtig gemacht. Nun trat er in die abgewetzten Pedale. Bei jedem Tritt war ein „I“ und dann ein „A“ zu hören. Ich sollte das gute Fahrzeug mal wieder mit einem fettigen Fischlappen bearbeiten, dachte Rigo noch und machte unter viel I A Tempo.
Der flotte Fahrer fuhr hinter dem Seedeich entlang, vor dem sich der Sommerkoog mit den üppigen Salzwiesen ausbreitete. Dieser war erst vor wenigen Jahren eingedeicht und vorerst mit einem niedrigeren Deich versehen worden, der bei den Herbst- und Winterstürmen häufig überspült wurde. Im Sommer konnten sich jedoch bereits Schafe an den Salzgraspflanzen und bunten Blumen der Salzwiesen laben. Es war ein leichter Sommerwind aufgekommen, der die schweißtreibende Tour erträglich machte.
Rigo fuhr direkt auf „Calais Kneipe“ zu, bog dann scharf rechts in Richtung Heringseck ab und hatte nun die Wahl, zum Badeort hinter dem Deich weiter zu radeln oder die direkte Straße über Land zu nehmen. Die Gemeinde Wesslingdeich hatte auch diesen früheren Feldweg asphaltieren lassen, obwohl zwei entgegenkommende Autos nicht ohne Weiteres aneinander vorbeikamen. Eines musste immer auf die Bankette und somit in die bedrohliche Nähe des metertiefen Entwässerungsgrabens.
Auf dieser Strecke waren aber nicht sehr viele Touristen zu erwarten, wie sie wahrscheinlich hinterm Deich anzutreffen gewesen wären. Auch waren auf der schnurgeraden Strecke, die sich hervorragend für den Volkssport des Bosselns eignete, derzeit keine Bosselbrüder zu sehen. An manchen Tagen wurde häufig die Bosselkugel in Richtung von „Calais Kneipe“ getrieben. Aber das war sicher nur purer Zufall. Folglich wählte Rigo diesen Weg, um rechtzeitig in den Badeort und zur Bank zu gelangen.
I A I A, sang das Fahrrad. Ich sollte es auf jeden Fall nun doch bald schmieren, damit ich nicht so sehr auffalle, dachte Rigo. Vorbei am Wehl beim Rosenhof radelte er. In diesem kleinen See, welcher wie viele andere in der Gegend von einem alten Deichdurchbruch übrig geblieben war, als das Meer an alle Türen klopfte und die eingespülten Wehle hinterließ, hatte Rigo gestern seine Grundangel ausgelegt. Kontrollieren konnte er sie erst, wenn der Bauer vom Feld zurück war und beim Essen saß. Bei der Fischwilderei sollte er sich nicht erwischen lassen. Außerdem wollte er nicht mit lebenden Aalen in der Bank erscheinen. Das gehörte sich nicht als seriöser Geschäftsmann.
Also weiter. Vorbei an der mit windschiefen Bäumen, den Windflüchtern, bestückten Auffahrt zum Sternhof. Und vorbei an den hier seltenen, hohen Tannen, die den Vorgarten säumten. Immer in Richtung der Bank radelte Rigo. Dann, nachdem er über eine halbe Stunde auf dem kreischenden Esel unterwegs war, noch um mehrere Ecken und hinein in die Fußgängerzone des Kurbades.
Sein freundlichstes Gesicht setzte Rigo auf als er in die Kurzone einfuhr. Alle Menschen sahen ihn an und sahen ihm nach als er freundlich grüßend, unter viel I A durch die bereitwillig Platz machende Menge fuhr. Besonders freundlich grüßte Rigo seinen Kunden vom Mittag, der ihn verblüfft anschaute und trotz des „geringen“ Wiedererkennungswerts sofort wusste, wer dort sein Fahrrad quälte.
Vor der Bank angekommen, parkte Rigo sein Fortbewegungsmittel vorschriftsmäßig im Fahrradständer, jedoch ohne es anzuschließen. Wer sollte es auch stehlen? Der Drahtesel sah wirklich nicht einladend aus. Er wirkte eher so, als würde er jedem in den Hintern beißen, der versuchen würde, sein Gesäß auf den Sattel zu bringen. In der Bank wurde Rigo freundlich und zuvorkommend begrüßt und mit einer Tasse Kaffee bewirtet, welche er wie immer an und mit Genuss zu sich nahm. Man kannte ihn, sein Vermögen und seine gewinnende, freundliche Art.
Nachdem Rigo die Gewinne der letzten Woche zu einem großen Teil auf seinem Konto eingezahlt hatte, verließ er die gastliche Stätte, um weiteren wichtigen Geschäften nachzugehen. Erst radelte er zum Amt, um seinen neuen Pass, den er vor sechs Wochen beantragt hatte, abzuholen. Kurz vor Dienstschluss staunte der ermüdete Amtmann nicht schlecht. Er kannte Rigo noch nicht und fragte sich, was dieser verwilderte Landstreicher wohl mit einem Reisepass anfangen wollte. Aber er beherrschte seine Neugier. Immerhin hatte Herr Walder genügend finanzielle Mittel, um den Verwaltungsakt zu bezahlen. Sein ganzes Leben hatte Rigo auf ausreichende Papiere, die ihn als deutschen Staatsbürger auswiesen Wert gelegt. Nur in der Gefangenschaft hatte er seine Herkunft und seinen Status verleugnen müssen.
So nun noch schnell in den Supermarkt und alles für die kommende Woche besorgen. Dann bloß raus aus dem Trubel des Badeortes, dachte Rigo. Gedacht, getan. Rigo kaufte ausreichend von dem, was er für seine Grundnahrungsmittel hielt: Nudeln, Kartoffeln, Kaffee, gute Butter etc. Dann entschwand er wieder unter lautem I A durch die leicht schockierte Urlaubermenge.
Zwischenzeitlich war die Zeit gekommen, zu der Bauer Lasswig auf seinem Hof zum Abendessen weilen sollte. Lasswig war nur Pächter, da das Gehöft durch Erbschaft an den alten Mohl vom Sternhof gefallen war und dieser ihm den Hof nebst Ländereien verpachtet hatte. Der alte Mohl selbst war zu krank, um noch selbst als Bauer zu wirtschaften, und dessen einziger Sohn war als Entwicklungshelfer in Afrika. Auch seine drei Töchter hatten anderes vor.
Rigo schob sein lautes Rad leise am Rosenhof vorbei und legte es nebst seinen Einkäufen vorsichtig an den Grabenrand, wo es für Vorbeikommende kaum zu sehen war. Dann holte er einen Jutesack aus der Tasche und watete durch den dichten Schilfgürtel des Wehles bis zu der Stelle, wo er die Schnur seiner Grundangel befestigt hatte. Nun zog er die Schnur, an der sich zehn Haken mit ehemals zehn Wattwürmern befanden, langsam heraus. An fünf der Haken kamen Raubaale zum Vorschein, die wohl fast einen Meter maßen. Alle fünf verschwanden in seinem Jutesack, welchen er dann sorgsam zuband. Der sechste Aal war noch zu klein und hätte nicht mal für die Pfanne gereicht. Da Rigo sich nicht als „Kindermörder“ betätigen wollte, ließ er ihn wieder frei und der Aal verschwand umgehend im Schilfgürtel. Vorsichtig, den gefüllten, herum wuselnden Sack in der Hand, watete Rigo wieder in Richtung Fahrrad. Er nahm seine Sachen auf und wollte mit fröhlichem I A in Richtung Schafstall verschwinden als er hinter sich lautstark ein „Petri Heil!“ angeboten bekam. Sein Nackenhaar stellte sich auf und mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf drehte er sich langsam zu dem glückwünschenden Rufer um.
Vor ihm stand mit breitem Grinsen auf den Lippen Henning Williams, der Sohn des Bürgermeisters der kleinen Gemeinde. Henning war ein großer, blonder Hüne mit Muskeln, die einem Pferd alle Ehre gemacht hätten, und einer V-förmigen Figur. Vor ein paar Tagen noch hatte Rigo ihn beobachtet, als er einen festgefahrenen Traktor aus dem festgesaugten Marschboden gehoben hatte. Rücklings stand er dabei am linken Hinterrad und drückte mit beiden Händen, den Radkranz packend, das Vehikel nach oben, bis der Marschboden es schmatzend aus der Umklammerung entließ. Aber Henning war ein freundlicher Mensch, vor dem sich niemand zu fürchten brauchte.
„Lass dich nicht vom Bauern oder von meinem Vater beim Fischwildern erwischen“, meint Henning. „Wenn du unbedingt Aale haben willst, dann helfe dem alten Mohl. Der will morgen seine eigenen Wehle abfischen und hat mich schon gebeten, zu helfen. Der kann sicher noch zwei weitere Hände zum Netzziehen gebrauchen. Treffen wir uns um 10.00 Uhr nach dem Frühstück auf dem Sternhof?“ Rigo sagte gern zu und war sehr erleichtert, dass nur Henning ihn erwischt hatte. Sie verabschiedeten sich freundlich und Rigo Walder entschwand auf seinem Zweirad gen heimatlichen Schafstall.
In seinem Zuhause angekommen, wurden die Einkäufe verstaut, die Gefangenen geschlachtet und als sie aufhörten herum zu schlängeln, fädelte Rigo sie durch Kopf und Maul stechend auf die Metallteile eines alten Regenschirmes, die er für den kommenden Räuchervorgang zweckentfremdet hatte. Einen halben Sack mit Buchenspänen, welche er im letzten Jahr in der Tischlerei in der Kreisstadt günstig erworben hatte, holte er aus den Analen seiner Behausung hervor und das alte Ölfass wurde angeheizt. Das Fass hatte er schon vor Jahren am Strand gefunden und den Deckel und Boden entfernt. Ein paar alte Mauersteine aus dem zusammengefallenen hinteren Teil seines Domiziles waren zum unterbrochenen Kreis gestapelt und das Ölfass darauf gesetzt worden.
Die Schirmspanten mit den bedauernswerten aber wohlschmeckenden Opfern seiner Freveltat wurden oben eingehängt und, als die Späne den ersten Rauch entwickelten, ein feuchter Jutesack darüber gedeckt damit der Rauch sein volles Aroma entwickeln konnte. Rigo saß versonnen, immer mal eine Handvoll Späne nachlegend, davor und genoss den Sommerabend.
Ein fetter Aal frisch aus dem Rauch mit einem Stück Graubrot dazu waren zwei Stunden später sein wohlverdientes Abendmahl. Rigo wusste genau, was er sich mit diesem leckeren Vergnügen antat. Und prompt kamen seine Leber und seine Galle des Nachts überein, ihn mit allerlei Krämpfen zu beglücken. Morgens nach einem starken Kaffee und reichlich Stoffwechsel war dieser Alptraum aber schnell vergessen und das Wohlbefinden seines meist sonnigen Gemütes wiederhergestellt. Also, auf zur Arbeit zum Sternhof.
Dort angekommen waren bereits „alle Hände an Deck“. Mehrere Urlauberinnen und Urlauber welche, auf dem zur Pension umgearbeiteten Sternhof Quartier genommen hatten, standen als Helfer bereit. Henning, der alte Mohl und sogar der junge Mohl, der zu Besuch gekommen war, waren bereit, den Fischzug zu beginnen. Das Schleppnetz und diverse Jutesäcke geschultert, ging es im Gänsemarsch los. Erst am Schuppen mit dem Hühnerstall vorbei, das unvermeidliche Räucherölfass, welches selbstverständlich auch auf dem Sternhof zu finden war, rechts liegen lassend, ging es schnurstracks hinein in ein Weizenfeld.
Durch dieses Weizenfeld führte ein Trampelpfad zu den beiden in Angriff genommenen Wehlen. Die Weizengerten stachen allen Leichtbekleideten in Arme und Beine, aber diese konnten froh sein, dass dieses Jahr Weizen und nicht Raps ausgesät war. Dieser hätte ärgere Verletzungen hinterlassen. Der größere, langgestreckte Wehl gehörte nur zur Hälfte zum Grundbesitz des alten Mohl und musste, um die Schleppleine des Netzes auf die andere Seite zu befördern, durchschwommen werden. Um die Leine, ohne nass zu werden, dorthin zu befördern, hätte man mit dieser um das gesamte untere Ende des Wehles gehen müssen und der dichte Schilfgürtel hätte irgendwann die Leine fest im Griff gehabt, also musste jemand hinüber schwimmen.
Eine Urlauberin, deren „psychische Andersartigkeit“ sie sowieso begeistert in jeden Tümpel springen ließ, war gern bereit, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Und so gelangte die Schleppleine unbeschadet ans andere Ufer, wo bereits die „Schlepper“ warteten. Das Netz wurde in der Mitte des Wehles platziert und, überspannte nun den Grund in voller Breite, um kaum Platz zum Entweichen der Beute zu lassen. Dann zogen alle Damen und Herren es bis zum Ende des Wehles und holten es ein, bis das trichterförmige Ende, welches mit reichlich Aalen gefüllt war, in Sicht kam.
Mehrere Männer hielten den Jutesack auf und das darüber gehaltene Netzende wurde geöffnet. Die Aale verschwanden im Sack und – gleich wieder im Wehl. Verdutzt und etwas konsterniert kommentierte der alte Mohl diesen Missgriff mit den Worten: „Oh, in düssen Büddel is ja gor keen Moors in.“ (Oh, in diesem Beutel ist ja gar kein Popo drinnen.)
Lachen und Fluchen aller Orten, aber Aale sind auch mit keiner größeren Intelligenz gesegnet und so wurde der Fischzug noch mehrere Male wiederholt und penibel darauf geachtet, dass nicht wieder ein Schlauch statt eines Beutels zum Einsatz käme. Viele Aale hatten wohl zweimal das zweifelhafte Vergnügen, ins Netz zu gehen.
Nachdem auch der kleinere der Wehle seine fettesten Fische preisgegeben hatte und alle Beteiligten abgearbeitet, zufrieden und voll gespickt mit Bremsenstichen durch das Getreide heimwärts trotteten, war für dieses Jahr Ruhe in den Fischgründen eingekehrt. Nur ein paar einsame Angler, die sich von Pferdebremsen nicht entmutigen ließen, versuchten weiterhin ihr Glück.
Aber die Arbeit war noch nicht vollbracht. Während die Urlauber platt wie die Flundern auf und in ihren Betten lagen, gingen Henning und Rigo daran, die Aale zu schlachten und zum Räuchern vorzubereiten. Der alte Mohl und seine Frau Käthe, welche neben der Pension auch eine Dackelzucht betrieb, betrachteten das Werk, als dann rund achtzig Aale auf Stangen gespießt an dem großen Lattenregal auf dem Hof hingen. Auch ein Wurf Dackel, der Schäferhund Rex sowie einige wiedererwachte Urlauber lungerten um die fette Beute herum.
Aber das Gelage um die Räuchertonne herum sollte erst am Abend beginnen. Bis dahin wurden von allen weiterhin die „schönsten Tage des Jahres“ genossen. Rigo wollte mit der abends angesetzten Räucherparty nichts zu tun haben. Die unweigerlich folgende Verbrüderung der dann stark alkoholisierten, schaurigen Gang war ihm zutiefst zuwider und er verabschiedete sich höflich mit der Bitte, ihm einige Aale zu reservieren, die er in den nächsten Tagen abholen wolle.
Der Räucherabend verlief wie von Rigo befürchtet. Neben diversen Aalen, welche frisch aus dem Rauch und fetttriefend am besten mundeten, ging die eine oder andere Kornflasche herum um, das Fett an der Leber vorbei zu schmuggeln. Je Aal eine Daumenbreite aus der Kornflasche waren angesagt und alle hielten sich daran. „Alte Kate“ hieß der destillierte Weizen und irgendein Witzbold hatte mit Kugelschreiber daraus „Alte Käthe“ gemacht und die alte Käthe hielt kräftig mit.
Auf dem Sternhof sahen viele nur noch Sterne und einige, deren Mägen den fetten Aal und den Korn nicht zu würdigen wussten, hatten sich springbrunnenmäßig in Sauer gelegt. Rigo hörte vom lachenden Henning die Aalgeschichte und ließ lieber noch einen Tag ins Land gehen, bevor er sich von Käthe Mohl seinen Arbeitsobolus abholte, zumal er noch seine Fischwilderei zum Verspeisen kühl gelagert hatte.
Die Tage gingen ins Land und bevor die Gutwetterperiode zum Ende kam, hatte Rigo noch etwas Besonderes vor. Die Tide lag günstig, sodass er bereits am frühen Morgen mit dem ablaufenden Wasser ins Watt gehen konnte. Dies war wichtig, da Rigo vorhatte, der Sandbank Blausand weit draußen im Wattenmeer einen Besuch abzustatten. Ein nicht ungefährliches Vorhaben, weil das Erreichen dieser Sandbank über zehn Kilometer Fußmarsch beanspruchte, was in einer Tide nicht zu schaffen war. Die Flut würde ihn auf dem Rückweg unweigerlich einholen und er würde ertrinken, wie es bereits vielen Unwissenden vorher vergönnt war. Rigo würde die Nacht in der dortigen Rettungsbarke verbringen müssen, die einen Schutzraum vorweisen konnte.
Rigo Walder kannte in dieser Gegend jeden Priel. Er kannte tatsächlich jeden dieser mal flachen und mal tiefen Wasserläufe in den Sänden, die die Ebbe zurückließ, und die bei auflaufendem Wasser schon manchem unkundigen Wattwanderer den Rückweg abgeschnitten hatten. Rigo wusste sogar, wenn die Priele sich im Laufe eines Jahres verlagert und ihre Verläufe geändert hatten. Gleichwohl bedurfte das Vorhaben einer umfangreichen Vorbereitung. Denn es war selbstverständlich verboten, eine solche Gefahr auf sich zu nehmen. In früheren Zeiten waren ortsansässige und ortskundige Bauern häufig zur Sandbank gewandert. Der blaue Schlick, dem die Sandbank ihren Namen verdankte, enthielt reichlich Bernstein, nach dem man nicht allzu tief zu graben hatte. Aber der aufkommende Naturschutzgedanke machte allem ein Ende.
Auch Rigo war vom Naturschutz begeistert, hatte aber aufgrund der Erfahrungen einiger Auslandsreisen seine Euphorie gebremst und seine Meinung angepasst, sodass er sein derzeitiges, illegales Vorhaben ohne Gewissensbisse angehen konnte. Rigo suchte seine Sachen zusammen und packte abends noch seinen Rucksack. Nur den Kompass nicht vergessen. Wenn Nebel aufkommen würde, wäre er sonst im Watt verloren. Er würde im Kreis laufen, bis die Flut dem Herumirren ein Ende bereitete. Vier Liter Wasser in Plastikflaschen packte Rigo ein. Wenn er dort etwas länger bleiben müsste, wollte er nicht die Notrationen in der Barke in Anspruch nehmen. Und natürlich etwas zu Essen, selbst fabrizierten, wohlriechenden Sonnenschutz, Taschenmesser und Feuerzeug. Halt, noch Verbandszeug, für den Fall, dass er in eine Muschel treten und sich verletzen würde. Gummistiefel und Spaten wurden noch auf den Rucksack geschnallt und fertig war das Überlebenspäckchen.
Der Morgen kam und Rigo war schnell auf den Beinen, kochte Kaffee und frühstückte ausgiebig. Dann machte er sich auf den Weg. Spätsommerlicher Morgentau in den Salzwiesen auf der Seeseite hinter dem Deich kündigte den Herbst an. Bald wäre ein solches Vorhaben in diesem Jahr nicht mehr möglich gewesen. Dort wo das Siel durch den Deich brach und die Salzwiesen eine Abbruchkante bildeten, betrat Rigo den Wattboden der immer noch recht feucht war, da die Ebbe noch nicht sehr lange eingesetzt hatte. Das Wasser war noch emsig dabei abzulaufen und es gluckste und plätscherte um ihn herum. In weiter Ferne, gerade den Horizont überragend war verschwommen die Barke des blauen Sandes zu erkennen. Rigo fasste sie ins Auge und marschierte los. Er lief barfuß, da er wusste, dass in dieser Ecke nur wenige Muscheln zu zertreten waren und weil die Gummistiefel sicher im wässrigen Schlick des ablaufenden Wassers stecken geblieben wären.
Rigo blickte voraus und gewahrte in der Ferne zwei Gestalten, die etwa eine Meile voraus in einem Priel wateten. Er war nicht allein. Mit der Zeit wurden die beiden Menschlein deutlicher und auch sie hatten Rigo nun entdeckt. Beide winkten vergnügt, als er näherkam. Er kannte das Pärchen, das da bis zu den Hüften im Priel stand. Es waren der Knecht und die Magd vom Rosenhof, die Wohl schon vor ihm den Marsch ins noch feuchte Watt angetreten hatten. „Was macht ihr denn da im Wasser?“ rief Rigo ihnen zu. Die beiden waren mit Keschern, einem großen Sieb und mehreren Beuteln bewaffnet. „Wir fangen uns Krabben und machen Butt petten fürs Mittagessen.“ Sie schoben die feinmaschigen Kescher über den Grund des Prieles und hatten bereits reichlich Krabben in den Beuteln verstaut, die baldmöglichst gekocht werden mussten, um nicht zu verderben. Das Butt petten war eine Kunst für sich. Trat man im Priel auf eine Scholle, musste man auf dem sich bewegenden, zappeligen Plattfisch stehen bleiben. Dieses war wegen der Schrecksekunde nicht einfach. Manch Fisch entkam, aber wenn man standhaft blieb und nach unten langte, hatte man die gute Mahlzeit in Händen. Der Schollenbeutel der beiden war auch nicht mehr leer und so wateten sie aus dem Priel heraus, um den Heimweg anzutreten.
„Du hast den Spaten dabei?“ meinte der Knecht. „So weit draußen Wattwürmer ausgraben? Lass dich nicht auf dem blauen Sand erwischen und viel Erfolg.“ Die drei plauderten noch ein paar Minuten miteinander und zogen dann ihrer Wege. Rigo durchquerte mehrere Priele. Den einen musste er fast durchschwimmen und den Rucksack auf dem Kopf balancieren. Auf der anderen Seite war eine Muschelbank und Rigo war froh, dass er die Gummistiefel dabei hatte. Also die Füße kurz gewaschen und vom Schlick befreit und dann mit den bloßen Füßen in die Stiefel, um das einschneidende Hindernis zu überwinden. Dahinter war das Watt bereits fast trocken. Rigo zog die Stiefel wieder aus und genoss die kostenlose Fußsohlenmassage, die ihm das von den Wellen geriffelte Watt zukommen ließ.
Die Barke des blauen Sandes erschien kaum näher als vor einigen Stunden, aber wenn Rigo zurückblickte war die Deichlinie fast am Horizont verschwunden. Es musste bald Ebbe sein und wenn dann die Tide kenterte, würde das Wasser wieder auflaufen. Leichter Wind, der wohl das baldige Ende der Gutwetterperiode ankündigte, kam auf. Rigo beeilte sich und nun kam die Barke rasch näher.
Er hatte es geschafft. Die eiserne Leiter war ein willkommener Halt in der Einsamkeit des weiten Wattenmeeres. Rigo erklomm die wohl fünfzehn Meter bis zu der mit Riegeln gesicherten Tür des Rettungsraumes, öffnete diese und warf seinen Rucksack hinein. Dann kletterte er selbst hinein und sperrte die ihm nicht wohlgesonnene Umwelt vorerst aus, um sich von dem Marsch zu erholen und etwas zu Essen und vor allem zu trinken. Nach einer Weile zog es ihn hinaus, um endlich seiner ersehnten Arbeit nachzugehen. Die Socken und die Stiefel angezogen, damit er mit dem Spaten arbeiten konnte, und dann auf zur Schatzsuche. An der blauschimmernden, schlickigen Kante des Sandes setzte er seinen Spaten an. Große und kleine Stücke des ersehnten Bernsteines verschwanden in seinem Beutel und um ihn herum holte sich die See langsam das vermeintliche Land zurück. Die Flut war da und mit ihr ein auffrischender Wind, der sich anschickte ein erster Herbststurm zu werden.
Sorgenvoll, aber mit vollem Beutel schaute Rigo in die Runde. Sollte er sein Vorhaben doch zu spät im Jahr angegangen sein? Rigo machte, dass er in sein Notquartier kam und sperrte hinter sich die Tür zu und das Wetter aus. Im Schein der Notbeleuchtung breitete Rigo seine Beute zur Begutachtung aus. Neben den vielen kleineren Stücken, die feingeschliffen später Schmuckstücke bestücken würden, hatte er auch seltene, weißliche Bernsteine und einige große, goldschimmernde mit Einschlüssen, welche nicht nur als Schmucksteine einen Wert hatten, sondern auch naturhistorisch die Wissenschaft weiterbringen könnten. Aus einem Bernstein heraus schaute ihn ein garstig aussehendes Insekt an, welches vor Millionen Jahren im Hartz kleben geblieben und überdeckt worden war.
Versonnen sah Rigo das Insekt an und es war als wenn das tote Tier zurückstarrte. Der Wind draußen heulte und in Rigo regte sich etwas, was ihn in schöner Regelmäßigkeit zum Jahresende hin überfiel, Schwermut. Schwermut, die in Fernweh und Weglauftendenzen endete. Aber das Naheliegende, das Überleben, war nun erst einmal wichtiger. Eigentlich wollte Rigo nach acht Stunden wieder aufbrechen, aber die Flut würde aufgrund des Nordweststurmes nicht weit genug zurückgehen. Er würde eine weitere Tide ausharren müssen. Rigo teilte sich seine Vorräte vorsichtshalber für drei Tage ein. Dann verrichtete er aus der offenen Tür heraus seine Notdurft und war froh, dass diese zur windabgewandten Lee-Seite hin eingebaut war.
Rigo legte sich auf das Notbett, deckte sich mit den Notwolldecken zu und fiel in einen unruhigen Schlaf. Er träumte erst vom Reisen, aber dann von allem, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass er es über die Jahre doch entbehrte. In mehreren Traumabschnitten wärmten ihn seine unbewussten Gedanken so sehr, dass seine Restbekleidung und sogar die Wolldecke der Notunterkunft feucht wurden.
Am Morgen tobte der Sturm weiterhin unvermindert und die Flut war wie zu erwarten nicht ausreichend zurückgegangen, um den Heimweg anzutreten. Also die nächtliche Traumsauerei beheben, weiter dösen, ab und zu etwas trinken, essen und abwarten. Die nächste Möglichkeit zum Abmarsch würde mitten in der Nacht liegen. Es ging auf Vollmond zu und bei ausreichender Sicht und weniger Wind könnte der Rückweg offen sein. Rigo stellte sich seinen inneren Wecker. Er war darauf trainiert, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Dann verdöste er den Tag und schaute ab und zu durch das Bullauge seiner Unterkunft, um nach dem Wetter zu sehen.
Wieder überfiel ihn das Fernweh und er träumte erneut von vergangenen und künftig möglichen Reisen. Die Träume endeten wieder in einem unruhigen, aber dieses Mal trockenem Schlaf. Als er mitten in der Nacht erwachte, blickte er klarer in die Zukunft und auch klarer in die Nacht. Der Sturm hatte sich gelegt und diese völlige Flaute wirkte unheimlich. Es war dunstig und ein annähernd gefüllter Vollmond lugte durch die Wolken. Es würde sicher Nebel aufkommen, dachte Rigo. Aber eine bessere Möglichkeit, die gastliche Stätte zu verlassen, würde sich wahrscheinlich nicht bieten. Also rasch klar Schiff machen. Alle Notfallsachen wieder an ihren Platz legen und Abmarsch. Der Rucksack war leichter geworden. Wo er sich vorher mit Trinkwasser geschleppt hatte, steckte nun der leichte Beutel mit dem Bernstein.
Bei halbwegs klarer Sicht und Mondschein war Rigo aufgebrochen, nun aber kam der Nebel auf. Die Suppe war so dick, dass er ohne seinen Kompass sicher rettungslos verloren gewesen wäre. So aber konnte er selbst bei Dunkelheit die fluoreszierende Kompassnadel einnorden und genau bestimmen, in welche Richtung zu marschieren war. Es war anstrengend den Blick ständig auf das Gerät zu richten, aber es war unbedingt notwendig, um nicht im Kreis zu laufen. Die nächste Flut würde einen solchen Fehler nicht verzeihen. So marschierte Rigo stundenlang vor sich hin, durchwatete die ihm bekannten Priele, überquerte in Gummistiefeln die Muschelbänke und fand den Weg nach Hause.
Der Deich tauchte so plötzlich vor ihm auf, dass er sich erschreckte, zumal auch der Marsch durch das nächtliche Watt psychisch bereits seine Spuren hinterlassen und ihm manchen Grusel vorgegaukelt hatte. Nur um einen Kilometer hatte Rigo die Stelle, von der er aufgebrochen war, verfehlt und so wanderte er, glücklich wieder in halbwegs zivilisierten Gegenden zu sein, auf dem Seedeich bis zum Siel im Sommerdeich und verschwand im heimatlichen Stall, um unter den unzivilisierten Insignien einer vergangenen Macht reichlich Schlaf zu suchen.
Am folgenden Tag sah sich Rigo seine Beute noch einmal genau an und entschied die kleineren Bernsteine in der kommenden Saison selbst zu verkaufen. Das garstige Insekt wollte er aber fachkundig bearbeiten und fassen lassen. Was interessierte ihn die Wissenschaft und die eventuelle Bedeutung dieses Viehs. Es wäre ein schönes, gruseliges Geschenk für jemanden, den er kannte und schätzte.
Also ölte er nun endlich seinen Esel, bis dieser nur noch vereinzelt ein „I“ von sich gab und fuhr in den Ort zum Juwelier. Dieser alt eingesessene Geschäftsmann kannte Rigo natürlich vom Sehen und den Erzählungen der Touristen, er erschrak aber als er den verwahrlost wirkenden Menschen in seinem noblen Geschäft vorfand. Nachdem Rigo jedoch sein Anliegen vorgetragen hatte und das Geschäft bar abwickeln wollte zeigte der Juwelier sich professionell und diskutierte mit Rigo gefasst über die Fassung des Steines. Der Juwelier wollte, sich sogleich ans Werk machen und Rigo sollte in zwei Tagen wiederkommen, um dieses zu begutachten. Per Handschlag besiegelten sie das Geschäft. Beide waren sehr zufrieden, und der Juwelier wusch sich ausgiebig die Hände, um den leichten Fischduft zu vertreiben.