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Vorspiel

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Sara und Lucas, der beste Freund ihres Mannes, saßen auf dem Plastikrücksitz eines Taxis auf dem Weg zu Saras Lieblingsbucht.

Ihre Melancholie von gestern war verschwunden, und sie war aufgeregt. In ihren Gedanken verspürte sie eine bunte Vorfreude, die ihr vorkam, wie die winzigen Blätter, die aus Kressesamen wuchsen.

Als sie ankamen, bezahlte Sara das Taxi, weil sie schneller nach ihrer Geldbörse gegriffen hatte, und Lucas streckte ihr hastig 50 Pesos entgegen, um sie einzuladen, aber sie nahm sie nicht an.

Sie stiegen aus.

Das Taxi fuhr davon. Kaum hatten ihre von Badeschuhen halb geschützten Füße den heißen Sand berührt und sie den Geruch von Algen, Salzwasser und Sonnenöl eingeatmet, kam ein junger Mann auf sie zugeeilt, der eine knappe Badehose und ein ausgeleiertes weißes T-Shirt trug.

Es war der Bootsmann.

„Hello, my name is Alfredo“, stellte er sich vor, mit amerikanischerem Akzent als jeder Amerikaner. Vermutlich dachte er wie viele Mexikaner, dass Sara Amerikanerin sei. „Very nice to meet you. Where are the others?“

Die Bootsfahrt – ursprünglich eine Überraschung von Saras Mann Max für seinen Besuch – war für acht Personen gebucht worden.

„Den anderen geht es heute nicht so gut“, erklärte Lucas auf Spanisch. Seine Frau Petra, Max und die Kinder hatten sich beim Fischessen gestern Abend den Magen verdorben. Nur Sara hatte keinen Hunger gehabt, und Lucas war bei einer Lesung seines gerade erschienenen Romans gewesen. „Aber sie finden es angeblich lustig, gemeinsam krank zu sein.“

Alfredo zuckte mit den Schultern. „Na gut“, antwortete er. „Bezahlt ist bezahlt.“ Dann wandte er sich Sara zu. „And where are you from?“

„Mexiko“, antwortete Lucas für sie, wobei er ihr zuzwinkerte. Er wusste, wie sehr Sara dieses Land liebte.

„Europe“, gestand Sara, weil sich Alfredo mit der Lüge offensichtlich nicht zufriedengab.

Jetzt nickte er und ging los. Beide folgten ihm schweigend zu dem kleinen weißen Boot, das auf den Wellen tanzte.

Sie zogen ihre Badeschuhe aus und stiegen vorsichtig ein.

Dann fuhren sie los. Fort von der Bucht, begleitet von einem leichten Wind und der trägen Melodie von Alfredos fortwährenden Erklärungen: Hier war ein teures Hotel, da eine berühmte, spärlich bekleidete Schönheit am Strand, dort wurde ein Meditationszentrum gebaut. Er zeigte auf eine Marienstatue der Vírgen de Guadalupe mit ihrem dunklen Gesicht und Sternenmantel, die in einer Felsennische thronte. Alfredo bekreuzigte sich ehrfürchtig und murmelte hastig ein Gebet. Bald redete er eifrig weiter, von einem besonders noblen Hotel in Weiß.

Sara hörte kaum zu. Neben ihr schäumte der Pazifik, weiß-grau und mit fröhlicher Eindringlichkeit, als wollten sich die kleinen Wellen heimlich ins Boot und auf ihren Körper stürzen. Einige Fische durchdrangen das sonnenerleuchtete Blau. Das Boot zischte an Felsen vorbei, an einem Haus, das verfallen und einsam auf einem Berg stand, mit Blick auf das Meer.

Lucas sah sie an und lächelte. Er trug ein weißes, leicht zerknittertes, kurzärmeliges T-Shirt, aus dem seine muskulösen Arme ragten, und schwarze Badeshorts.

Sara erwiderte sein Lächeln. „Ich habe deinen neuen Roman gelesen. Ich fand ihn unglaublich faszinierend – aber warum mussten alle sterben? Ich habe zwei Stunden geheult.“

„Das tut mir leid!“, verkündete Lucas, bevor er verschmitzt hinzufügte: „Auch wenn ich in Wirklichkeit wollte, dass meine Leser weinen. Damit sie etwas gegen das Unrecht tun wollen, das geschieht. Dich persönlich wollte ich aber auf keinen Fall zum Weinen bringen.“

Sara lachte kurz auf.

„Und ich habe deine Gedichte gelesen!“, sagte Lucas.

„Wer ist gestorben?“, fragte Alfredo hastig, bevor sie zu dem wesentlich weniger interessanten Thema Frauengedichte übergehen würden.

„Alle Migranten aus Zentralamerika in seinem Roman“, antwortete Sara für ihn. „Die auf dem Weg durch Mexiko in die USA sind.“

„Ach die“, erwiderte Alfredo enttäuscht. „Die Migranten überfluten unser Land! Als ob wir mit unseren ständigen Hinrichtungen hier nicht schon genug Probleme hätten.“

Sara und Lucas sahen sich komplizenhaft an, obwohl Sara sonst bei diesem Thema oft die Tränen kamen. Denn viele der Migranten waren unterwegs unmenschlichen Gefahren ausgesetzt, fielen manchmal von dem rasenden Güterzug, auch das „Biest“ genannt, auf dem sie, aus Mangel an Geld, reisen mussten, wurden beraubt, vergewaltigt und nicht selten ermordet. „Danke, dass du meine Gedichte gelesen hast. Ich wusste gar nicht, dass du Deutsch kannst.“

„Nur ein bisschen. Dank des Goetheinstituts in Mexico City. Deine Gedichte haben mir sehr gut gefallen, selbst wenn ich nicht alles verstanden habe.“

Sara spürte den salzigen Wind auf ihren Wangen und auf ihrer Stirn. Sie hatte noch nie länger als ein paar Minuten mit Lucas allein verbracht.

„Es tut mir gut, das zu hören.“ Aus einem Impuls heraus gestand sie ihm: „Ich kann im Moment nämlich nicht mehr schreiben.“

„Natürlich kannst du das!“, versicherte ihr Lucas. Seine Augen leuchteten.

„Leider nicht“, widersprach Sara beinahe fröhlich. „Nichts Sinnvolles zumindest.“

Etwas verkrampfte sich in ihr. Zwei Farben flimmerten vor ihrem inneren Auge. Rot und Braun. Ihr Magen schien sich wie gestern – als sie keinen Appetit auf Fisch hatte – zusammenzuziehen. „Aber es macht natürlich nichts“, murmelte sie schnell. „Es gibt viel schlimmere Probleme auf dieser Welt. Das ist mir völlig bewusst. Leider war das Schreiben immer meine Art – wie soll ich es ausdrücken, – lebendig zu sein.“

Lucas beobachtete sie interessiert. „Sara, wenn ich dich sehe“, erklärte er vorsichtig, „dann sehe ich Licht. Ich weiß, dass es Schlimmeres gibt, aber alle unsere Probleme sind wichtig, wenn sie uns wehtun, meinst du nicht? Vielleicht bist du in einem Wandlungsprozess und kannst im Moment nicht schreiben, aber die Kraft dazu, dieses Leuchten in Gedichte zu verwandeln, hast du bestimmt nicht verloren.“

„Du siehst Licht?“, fragte sie erstaunt.

„Licht“, bestätigte Lucas. Er schien nun verlegen zu sein und nickte nur kurz. „Ich habe auch sehr an mir gezweifelt. An mir und an meinem Weg. Aber dann habe ich …“

„Dir hat Petra geholfen, oder?“, unterbrach ihn Sara. Sie kannte Lucas zwar persönlich kaum, aber dafür seine Geschichte.

„Petra? Womit denn?“

„Mit der Todesübung?“

„Ah“, Lucas fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Die Todesübung, ja. Die meinte ich nun aber nicht. Ich habe irgendwann begriffen, dass Selbstzweifel Zeitverschwendung sind. Ich weiß nicht, ob das in allen Bereichen so ist, aber bestimmt in vielen. Nehmen wir einmal dein Schreiben. Liebst du es?“

Saras Augen öffneten sich weit. „Natürlich“, erwiderte sie leise.

„Dann schreib, denn es ist dein Licht. Und wenn es gerade nicht geht, dann bist du vielleicht auf einem inneren Weg, um das Licht zu verstärken. In dir und in der Welt.“

Saras Augen füllten sich mit Tränen. „Bist du immer so weise?“

Er lachte auf und sah sie liebevoll an.

„Ich bin nur vom Meer und der Sonne inspiriert. Frag Petra. Normalerweise bin ich die Anti-Weisheit in Person. Der Mann, der außer ein bisschen Schreiben nichts kann.“

Es war heiß. Um sie herum war nur noch das Meer zu sehen. Das Palmen gesäumte Ufer lag in weiter Ferne.

„Wollt ihr jetzt schnorcheln?“, fragte Alfredo.

Sara und Lucas blickten sich an, beide gehüllt in einen Zauber plötzlicher Nähe.

„Ja“, antworteten sie beide gleichzeitig. „Gerne.“

Alfredo nickte und nuschelte etwas, bevor er mit unerwarteter Schnelligkeit losfuhr. Das Boot parallel zum Horizont, stachen sie durch das Meer, wieder schweigend, während sie spürten, wie der warme Wind über ihr Gesicht und durch ihre Haare strich.

Kurz vor einer kleinen Bucht mit feinem Sandstrand, stoppte Alfredo das Boot.

„Das ist der Strand der Liebenden“, erklärte er grinsend. „Hier kommen oft frisch verheiratete Paare her. Oder solche, die schon zu lange verheiratet sind.“

Lucas senkte den Blick. Sara wurde rot.

„Zu welchen gehört ihr?“, fragte Alfredo und lachte laut über seinen vermutlich eingeübten, oft wiederholten Scherz.

Sie antworteten nicht.

Lucas richtete sich auf und begann, sein weißes T-Shirt auszuziehen. Sara starrte ihn verstohlen an, den kräftigen Oberkörper mit hellbraun glänzender Haut. „Wo sind die Schnorchel?“, fragte er Alfredo.

Zu Saras Überraschung hielt ihm der Bootsmann sogleich alles beflissen hin: zwei Plastikschnorchel, zwei Taucherbrillen – eine in Grün, die andere in Schwarz – und zwei Paar schwarz-graue Plastikflossen.

Lucas wirkte plötzlich aufgeregt wie ein kleiner Junge. „Bist du fertig?“

„Ja“, flüsterte Sara und begann, sich ihr schwarzes Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie bemerkte, dass Lucas sie betont nicht und Alfredo sie eifrig beobachtete.

Alfredo wünschte ihnen, erneut grinsend, „Viel Spaß“, und sie sprangen zu den Fischen und Korallen ins Wasser.

Der Felsen der Bucht warf einen dichten Schatten über das Meer. Dennoch konnte Sara vielfarbige Fische erkennen, die wild und bedächtig um sie glitten, manche hellrot mit tiefschwarzen Punkten, andere mit schwarz-weißem Zebramuster. Ein länglicher, silbrig glänzender Fisch schwamm vorbei.

Sie drangen durchs Wasser, Lucas und sie.

Die Unterwasserwelt verzauberte Sara sowie Lucas’ Worte, die weiter in ihr nachhallten. Natürlich liebte sie das Schreiben. Was für eine Frage! Sie wollte damit … das Leben in Worten feiern! Das Bunte und Zauberhafte benennen, das sie in den Ritzen der Dunkelheit und hier auf dem Meeresgrund fand.

Aber durfte man das?

Ein Bild tauchte in ihr auf, von einem weiteren Drogenopfer, dem Mann, der gestern tot aufgefunden worden war. Er war der Grund gewesen, weshalb sie den Fisch nicht gegessen hatte. Plötzlich sah sie ihn zerstückelt in einer Kiste liegen, warum wusste sie nicht. Sara hörte in ihrem Inneren vertraute Stimmen – als kämen sie von ihrer Mutter, ihrem Vater, anderen Verwandten – die um diesen Toten trauerten. Ein Mensch, der sein Leben sinnlos verloren hatte.

Saras Körper verkrampfte sich. Was war nun geschehen? Das Meer schien sie zu bedrohen und gleichzeitig zu flüstern, von Wachstum und Neuanfang.

Eine schwarze Plastikflosse erschien neben ihr im Blau.

Sie zuckte zusammen und tauchte erschrocken auf.

Alfredo hatte sie vom Boot aus hineingesteckt.

„Die Zeit ist um“, erklärte er.

So schnell?

„Gracias“, antwortete Sara und tauchte noch einmal ins Wasser hinein.

Sie sah Lucas von Weitem in einem tief ins Wasser eingefallenen Sonnenstrahl leuchten.

Sara schwamm auf ihn zu. Sie war schon nahe bei ihm, als er sie bemerkte. Sie hatte ihn gar nicht gefragt, wie er sich fühlte, wie es ihm in seinem Leben ging.

Er sah sie an. Fragend. Hoffnungsvoll. Liebevoll.

„Wir müssen zurück“, murmelte sie hinter der Taucherbrille, verwirrt von seinem Blick, dem Flüstern im Meer.

Aber er verstand sie natürlich nicht. Erst als sie nach oben deutete, begriff Lucas, und sie glitten nebeneinander durch das Wasser hinauf zum Boot.

„Lucas“, sagte Sara, als sie dort ankamen. „Entschuldige. Ich habe dich vorhin gar nicht gefragt, wie es dir so geht in deinem Leben. Und allgemein!“

Er blickte sie erstaunt, aber dankbar an.

„Mir geht es gut. Meistens. Ich liebe mein Schreiben. Nur manchmal fällt mir der Rest ein wenig schwer.“

Seine Augen funkelten fröhlich, und Sara lachte auf. Auch wenn sie ab jetzt schwiegen, setzten sie sich wie Komplizen, die beide mit dem Dasein kämpften, ins Boot.

Alfredo hatte es jetzt offensichtlich eilig. Er beschleunigte das Tempo und steuerte bald wieder auf das Ufer zu.

Etwas war geschehen. Etwas hatte sich zwischen Sara und Lucas ereignet. Er hatte etwas in ihr ausgelöst, ihr etwas geschenkt. Sie verspürte eine Leichtigkeit unter der Haut. Als wäre alles, was in ihr steckte – in ihren Gedanken und in ihrem Körper – insgeheim richtig und gut.

Doch während sie sich dem Strand näherten, machte Sara sich bewusst, welche Rollen sie innehatten. Lucas war der Freund ihres Mannes, sie die Frau von Max. Selbst die Poren auf ihrer immer noch beinahe nackten Haut schienen sich zusammenzuziehen, vielleicht, weil sie in dem kühler werdenden Wind fror, vielleicht, um den Körper des anderen auszusperren.

Als sie aus dem Boot ausstiegen, mit nackten Füßen im Wasser, lächelte Lucas noch einmal, und sie fuhren zu den anderen zurück, die in den Bungalows geblieben waren. Der Gedanke an ihn blieb beständig in ihr.

Lebensfreude

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