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Kapitel 1

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Violetts Lider regten sich langsam, als sie spürte, wie sich wärmende Sonnenstrahlen, die durch die spärlichen Vorhänge des Wohnzimmers drangen, auf ihr Gesicht legten. Es war, als wolle die Sonne Violett behutsam und sanft aus ihrem Schlaf wecken. Violetts Augen öffneten sich nun vollends und sahen sich dann im Zimmer um, als gäbe es im Raum etwas Besonderes zu entdecken. Die Sonne mochte im Augenblick Violett entgegenscheinen, doch ob sie auch ihr Herz würde erwärmen können, war mehr als fraglich. Denn dieses musste einen unglaublichen Schmerz ertragen. Einen, der kaum in Worte zu fassen war. Emotionaler Schmerz ist genauso kompromisslos wie schlimme Erinnerungen. Sie klopfen an keine Türen, damit man ihnen Einlass gewährt, sondern bemächtigen sich des Opfers gänzlich unerwartet. Violett seufzte nun tief und strich sich eine der vielen goldbraunen Locken aus der Stirn, die momentan widerspenstig über dieser lagen. Violett blickte weiter durch den Raum, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und das hatte seinen Grund.

Die Wohnung hatte aus Violetts Sicht viel von ihrer Behaglichkeit eingebüßt und schien ihr mit einem Mal entfremdet, da der Mensch, den sie am meisten geliebt hatte, sie nicht länger mit ihr teilte und die Räume nicht mehr mit seinem Wesen belebte. Violett hatte am Vortag völlig unerwartet und auf tragische Weise ihre Mutter Laura verloren. Ihre langen, weit ausgreifenden Schritte in den alten Pantoffeln würden nie mehr auf dem Parkettboden widerklingen und Lauras Stimme in der Wohnung nie wieder zu hören sein. Violett war sich darüber im Klaren, dass es nun an ihr lag, ein neues Leben zu beginnen. Das gestrige furchtbare Ereignis, das für sie erschlagend und betäubend zugleich gewesen war, forderte dieses Opfer mit aller Deutlichkeit: eine Trennung vom Alten und den Beginn von etwas Neuem. Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Wirklichkeit.

Violetts Mund fühlte sich auch nach ein paar Stunden Schlaf noch trocken und ihre Kehle wie zugeschnürt an. Ihr war, als hätten sie gestern mehrere Blitze gleichzeitig getroffen. Ihr Herz, so glaubte sie, schlug nur noch zur Hälfte. Sie empfand eine Leere, die ungeheuer schmerzte.

Violett hatte bei all den Emotionen, die von ihr Besitz ergriffen, Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Sie lag auf der knarrenden alten Couch des Wohnzimmers und fasste sich an den Kopf, um ihre Schläfen ein wenig zu massieren, da sich in ihrem Schädel ein unangenehmes Dröhnen gemeldet hatte, das sie durch die sanften Bewegungen zu vertreiben versuchte. Auch die angenehme Müdigkeit, die sie sonst immer dazu verleitet hatte, noch ein wenig vor sich hin zu dösen, war einem flauen Gefühl im Magen gewichen. Doch sie wollte sich nicht unterkriegen lassen, denn sie war eine Frau mit starkem Willen und Charakter.

Violett wusste, dass ihre Mutter Laura nicht gewollt hätte, dass sie sich innerlich von ihrem Leben verabschiedete, nur weil das Schicksal es vorgesehen hatte, dass sie nicht länger zusammen sein konnten. Sie hatte vielmehr das Gefühl, eine Mission erfüllen zu müssen, die ihrer Mutter zeitlebens nicht geglückt war. Dahinter verbarg sich ein Familiengeheimnis, das seit Ewigkeiten wie eine tiefschwarze, schwere Gewitterwolke über ihrer Haustür zu schweben schien, die selbst die Kraft des Glücks, das Violett in ihrem Leben bisher erfahren hatte, nicht zu vertreiben wusste. Es gelang ihr nicht, dass sich die Wolke in der Atmosphäre in Wohlgefallen auflöste, gerade so, als würde der Wohnblock, in dem sie in einer kleinen Wohnung lebte, konstant von einem mysteriösen Schatten umgeben, den sie nun in Licht verwandeln wollte, indem sie all ihre Energie bündelte.

Violett musste endlich Antworten finden, weil sie nicht länger im Land der Ungewissheit zu leben gedachte, das ihre Mutter kreiert und in dem sie selbst notgedrungen ausgeharrt hatte. Eine Welt, die einer Scheinwelt glich und von großer Geldknappheit und wenig materiellem Wohlstand geprägt gewesen war. Allerdings schien dies nur eine Fassade gewesen zu sein, Requisiten eines Potemkinschen Dorfes – als wäre es eine inszenierte Armut, die einem sehr verletzten Menschen als Schutzwall diente. Laura hatte so nicht nur ihre Tochter, sondern auch viele Fragen hinterlassen, die nach Antworten verlangten.

Doch zunächst, das war Violett klar, musste die Bestattung organisiert werden. Dass ihre Mutter eine Urnenbeisetzung wünschte, wusste Violett aus einem Gespräch, das sie an einem Abend vor etlichen Monaten zwischen Tür und Angel geführt hatten. Laura meinte, dass sie einmal genauso abtreten wolle, wie sie gelebt hatte: unauffällig.

Auf die Unterstützung ihres Freundes Brian konnte Violett leider nicht zählen. Er wohnte zwar in Schottland, sodass sie ihn nach einigen Stunden Zugfahrt problemlos in seinem Wohnort erreichen könnte, aber er musste, seinem Jurastudium zuliebe, zu einer von seiner Universität organisierten Reise nach Rom aufbrechen. Da dort bekanntlich der Ursprung der Rechtsprechung zu finden war, erhofften sich die Professoren wohl, dass ihre Studenten in Italiens Hauptstadt den Atem der »Justitia« spüren würden.

Violett war also ganz auf sich gestellt. Aber das Wort »mutterseelenallein« strich sie augenblicklich aus ihrem Wortschatz. Sie wollte sich unter keinen Umständen selbst bemitleiden. Doch natürlich wäre es ihr tausendmal leichter gefallen, sich an Brians Seite ihren neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.

Während sie sich wie in Trance auf die andere Seite der Couch wälzte, erinnerte sie sich schmerzlich daran, dass ihre Mutter Laura außer einer Urnenbeisetzung auch noch ausdrücklich den Wunsch geäußert hatte, auf eine Trauerfeier zu verzichten. Sie meinte, es gäbe sowieso keine Menschen, die sich von ihr verabschieden wollten, denn schließlich sei mit niemandem aus Westshire, dem Dorf, in dem sie lebten, eine Freundschaft entstanden. Westshire lag etwas versteckt – unweit der Küste. Violett fing bewusst an, gedanklich in den Ereignissen der Vergangenheit zu forschen. Sie hatte noch keiner Menschenseele hier in Westshire den Gedanken anvertraut, den sie schon Ewigkeiten mit sich herumtrug: Laura musste ein besonderer Kummer gequält haben. Diesen Eindruck hatte Violett schon in frühen Kindertagen gewonnen. Es war mehr als ein Verdacht. Es schien Gewissheit zu sein. Ein Kummer, der in Lauras Vergangenheit lag und wie Blei auf ihrer Seele gelastet haben musste. Er wog augenscheinlich so schwer, dass Laura mit allen Mitteln verhindern wollte, dass seine wahre Ursache je auch nur durch ein Wort an die Oberfläche gelangte.

Laura hatte grundsätzlich nie über ihre Gefühle gesprochen, als sei dies die Maxime ihres Daseins gewesen. Ihr Gesicht, das oft so starr wie Marmor wirkte, war ihr größter Schutz und gleichzeitig auch ihr stärkstes Instrument.

Laura hatte durch ihr Verhalten ihrer Tochter schon früh Rätsel aufgegeben. Diese Rätsel schienen von Jahr zu Jahr unlösbarer zu werden. Violett fragte sich oft, ob es einem erwachsenen Menschen selbst bei aller innerlichen Disziplin nicht möglich sein musste, die eigene Gefühlswelt doch zumindest der eigenen Tochter darzulegen, sobald sie das nötige Alter erreicht hatte, um diese zu verstehen. Sie war doch Lauras einziges Kind. Laura hatte außer ihr keine andere Bezugsperson. Doch Laura hatte, seit Violett denken konnte, ihre Festung der Gefühle stets unbeirrt verteidigt.

Ihr seelisches Innenleben verbarg Violetts Mutter aber natürlich nicht nur vor ihrer Tochter. Auch gegenüber den Einwohnern ihres Wohnortes setzte sie eine Miene auf, die verbittert und keineswegs einladend oder herzlich wirkte und auf niemanden in Westshire eine anziehende Wirkung ausübte. Doch Laura erreichte durch ihr kühles Auftreten im Grunde ihr Ziel. Keine Menschenseele kam auf die Idee, sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Das Gespräch ging nie über die übliche Grußformel hinaus, wenn sich Lauras Wege mit denen der Einwohner kreuzte. Für echte Briten war dies eine außergewöhnliche Leistung.

Violetts Gedankenkarussell begann, sich weiterzudrehen. In ihr stieg eine Erinnerung auf, die vielleicht so aussagekräftig war wie keine zweite. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder eines besonderen Abends Anfang Oktober, als sie gerade fünf Jahre alt war. Denn an diesem Abend teilte Laura mit ihrer Tochter zum einzigen Mal eine Erinnerung, die für Violett der Schlüssel zur Lösung des Rätsels ihres Lebens werden könnte. Violett versuchte krampfhaft, sich an jedes Detail zu erinnern.

Der raue Herbst hatte die Insel gepackt. Ein starker Wind wirbelte die letzten Blätter von den Bäumen, die sich bisher noch nicht seiner Macht gebeugt hatten, und verabschiedete mit viel Geheul und Getöse den Spätsommer, der sehr mild gewesen und mit für Großbritannien selten langen Sonnenstunden bedacht worden war. Doch nun wurde, für jedermann hörbar, die neue Jahreszeit eingeläutet. Die alten Rollläden an den Wohnhäusern klapperten bedenklich. Der Wind pfiff mit einer solchen Stärke durch die Straßen, dass jeder froh war, zu dieser Stunde nicht mehr unterwegs sein zu müssen. Nur ein großer Romantiker hätte dem Lärm etwas abgewinnen und behaupten können, der Wind spiele seine eigene Melodie.

So manchen Insulaner schauderte es in seinem gemütlichen Bett. Zu dem Naturschauspiel gesellten sich auch noch Blitze, die sekündlich einzuschlagen schienen. Die Themse wurde aufgewühlt und wirkte so unruhig wie sonst nur das Meer an der Küste und schien von einer mystischen Kraft bestimmt zu sein. Einzig die Meteorologen verfolgten das Geschehen an jenem Abend wohl eher mit interessierten als mit ängstlichen Augen. Sie wollten schließlich wissen, ob die Vorhersagen zutrafen, die sie in all den Zeitungen und über die Nachrichten verbreitet hatten.

Zwar lebte Laura, seit sie Violett zur Welt gebracht hatte, viele Kilometer von der Hauptstadt, die das Epizentrum des Unwetters zu sein schien, entfernt, aber an diesem Abend blieb kein Flecken auf der Insel davon verschont. So blickte Laura besorgt aus dem Fenster und auf ihre kleine Violett, die sich mit aller Kraft an ihre Bettdecke klammerte, als könne sie der draußen tobende starke Wind ihren winzigen Händen entreißen. Die angespannte Stimmung, die für eine Kinderseele nicht gerade leicht zu verkraften war, schien sich jedoch unerwartet zu wandeln, weil Laura es selbst tat. In einem Augenblick, der nicht lange währte, aber dennoch …

Lauras sonst so gut versiegelte Lippen, denen bisher noch kein Sterbenswörtchen über ihre Vergangenheit vor Violetts Geburt entschlüpft war, öffneten sich in dem Moment zum ersten Mal. Es war, als lüfte sich für einen kurzen Moment ein Schleier, der eine andere Welt zeigte, die nur Laura selbst zu kennen schien. Er ließ einen flüchtigen Blick auf ein anderes Leben zu, das wohl nicht mehr viel mit Lauras jetzigem gemein hatte.

Als Laura sah, wie sehr sich ihre Tochter fürchtete, wollte sie Violett beruhigen und ihr die Angst nehmen. Sie setzte sich zu ihr auf die Bettkante, die im Lichtkegel einer alten Tischlampe lag. Die restlichen Winkel des Raumes wurden nur durch die wiederkehrenden Blitze am Himmel beleuchtet. Laura beugte sich zu Violett vor, um ihr über den Kopf zu streicheln. Kaum war sie ihrer Tochter durch deren goldbraun-gelocktes Haar gefahren, was diese mit einem seligen Seufzer zur Kenntnis nahm, richtete Laura sich wieder auf und gab ganz unerwartet etwas von einem Menschen preis, den sie einmal sehr geliebt haben musste. Dabei ließ ihre Tonlage zunächst darauf schließen, dass ihre Worte einer reinen Erzählung entstammten, die ihr Leben nicht berührte und in der sie überhaupt keine Rolle spielte. Auch wenn ganz sicher das Gegenteil der Fall war. Ganz so, als lese sie ihrer Tochter aus einem Buch vor.

»Es gab einmal einen Menschen, der sich sehr über dich gefreut hätte, wenn er dich nur einmal zu Gesicht bekommen hätte. Er besaß nicht das Geld, mit dem er dich hätte ernähren können, aber sicher wäre seine Liebe dafür schon ausreichend gewesen.« Das waren zunächst Worte, die die kleine Violett nicht verstand. Die Stimme ihrer Mutter klang plötzlich sehr weit entfernt.

Sie fuhr fort: »Dein Vater war ein außergewöhnlicher Mann.«

Violett war überrascht, zum ersten Mal etwas über ihren Vater zu erfahren, und vergaß das Gewitter vor ihrer Haustür ganz und gar. Sie horchte merklich auf.

»Wie heißt er?«, schoss es wie einer der draußen niedergehenden Blitze aus ihrem kleinen Kindermund.

Laura schloss kurz die Augen, als wollte sie sich sein Gesicht ins Gedächtnis rufen. Ihr eigenes veränderte sich dabei unübersehbar. Ein glückerfülltes Lächeln zeichnete sich darauf ab. Ein Lächeln, das Violett so noch nie zuvor an ihrer Mutter gesehen hatte. Für das kleine Geschöpf war es schön und fremd zugleich. Laura antwortete in einer Tonlage, die schon um einiges gegenwärtiger klang.

»Dein Vater hieß Cedric. Wie Frances Hodgson Burnetts ›Der kleine Lord‹. Ein Buch, das du sicher einmal später in der Schule lesen wirst.« Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr: »Man hätte in den Adern deines Vaters wirklich blaues Blut vermuten können. Für mich war er das, was man früher unter einem Edelmann verstand. Doch leider war er dies nicht in den Augen von …« Sie stockte kurz. Ihr Gesicht nahm wieder die ursprüngliche Spannung an. Eine Träne kämpfte sich schüchtern aus Lauras rechtem Augenwinkel hervor. Geweint hatte Laura in Violetts Beisein bis dahin noch nie.

Laura rang sichtlich um Fassung und sagte: »Ich war damals als Einzige fähig, einen Adligen in alter und abgenutzter Kleidung zu erkennen. Denn mir war klar, dass diese vermeintlich so feinen Herrschaften nicht nur auf dem Papier und in den Villen Englands zu finden sind. Aber die Gesellschaft war wohl noch nicht reif …«

Dann schloss Laura noch einmal die Augen. Doch diesmal sah man ihr an, dass sie eine Erinnerung genoss, offensichtlich die schönste, die sie besaß. Denn sie wirkte trotz der geschlossenen Augen wie ein seliger und glücklicher Mensch. Sogar ein sehr glücklicher.

So schenkten sowohl Laura als auch Violett dem Unwetter keine Beachtung mehr, das draußen nach wie vor, durch das Fenster sichtbar, tobte und schwarze Wolken an den Himmel malte. Violett fühlte sich getröstet und Laura um eine wunderbare Emotion reicher. Sie hatte nicht nur Violett, sondern auch sich die Angst genommen. Doch dann fiel der Schleier ihres so gut gehüteten Geheimnisses wieder. Seitdem hatte er sich nie mehr gelüftet.

Violett blieb in der Retrospektive und suchte in ihrem Gedächtnis weiter nach Anhaltspunkten. Sie wusste, dass dieser Moment an einem stürmischen Oktoberabend das einzige und letzte Mal gewesen war, dass Laura sie an ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft teilhaben ließ. Violett konnte sich natürlich nur ein schemenhaftes Bild von ihrem Vater machen, doch wusste sie schon als kleines Kind instinktiv, dass ihr das vorerst reichen musste.

Violett dachte an ihre damalige Gefühlswelt.

In ihr war von Jahr zu Jahr immer häufiger der unsagbar große Wunsch aufgekeimt und wie wilder Wein eine innerliche Mauer hochgekrochen, endlich mehr über ihren Vater und ihre Wurzeln zu erfahren, doch wusste sie diese Sehnsucht lange zu unterdrücken. Eine bemerkenswerte Leistung für einen so jungen Menschen. Darauf war Violett nun aber keineswegs mehr stolz. Sie blieb gedanklich weiter in der Vergangenheit, denn bei der Lösung des Rätsels schienen ihr die Fakten aus dieser Zeit genauso wichtig wie jene aus der Gegenwart.

Die Dinge nahmen für sie als Kind trotz allem einen recht normalen Lauf. Laura verdiente ihren Unterhalt als Schneiderin in einem kleinen Geschäft, das sie günstig gepachtet hatte, um den geringen Unterhalt, den sie und Violett brauchten, aufzubringen. Kaum hatte sie den Laden abgeschlossen, lief sie auf direktem Weg nach Hause, es sei denn, es standen wichtige Einkäufe an. Denn ihre freie Zeit wollte Laura einzig und allein Violett widmen. Als kleines Mädchen hatte Violett es schnell als ganz gewöhnlich angesehen, der ständige Mittelpunkt im Leben ihrer Mutter zu sein. Denn sobald Laura die Wohnung betreten hatte, hatten sie an ihrem kleinen Tisch im Wohnzimmer stets guten alten englischen Tee, meist Earl Grey, getrunken. Bei dieser Erinnerung huschte Violett ein seliges Lächeln übers Gesicht. Während dieser gemütlichen Stunden hatte sie entweder von ihren Hausaufgaben, von Treffen mit Freunden oder ganz allgemein von ihren Sorgen und Nöten berichtet. Dabei konnte Violett immer beobachten, dass sich in den Stunden, die sie zusammen verbrachten, der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wandelte. Sie wirkte um viele Jahre jünger, als würde sie all ihre Sorgen vergessen, welche es auch immer sein mochten. So kannte sie leider keiner der Einwohner von Westshire. Laura hoffte sicher, durch ihre Tochter den Ballast der Vergangenheit irgendwann fallen lassen zu können.

In Violetts Gegenwart war sie von einem Lächeln beseelt, das man sonst nie an ihr entdecken konnte. Eines, das Violett zum ersten Mal, wenn auch etwas stärker ausgeprägt, während des großen Herbstgewitters in ihrem sechsten Lebensjahr an ihr wahrgenommen hatte. Auf diese Weise kamen Violett bei Lauras gelöstem Lächeln in den kommenden Jahren immer wieder die Bilder des Oktoberabends in Erinnerung und die Fragen, die daraus erwachsen waren. So steckte für Violett selbst in Lauras entspanntem Lächeln stets auch etwas Wehmut.

Als Violett an ihrem neunten Geburtstag die Kerzen auf ihrer Torte ausblies, hatte sie nur einen einzigen Wunsch: Sie wollte ihre Familie kennenlernen. Sie wünschte sich sehnlichst, zu erfahren, wo ihr Zuhause war. So stark wie nie zuvor verspürte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter weitere Fragen zu stellen. Doch letztlich kam sie zunächst zu dem Schluss, dass sie ihre Mutter nicht unglücklich machen wollte. Sie schien doch stets der einzige Sonnenschein in ihrem Leben zu sein. Nur wenige Male während der Pubertät brach Violett das ungeschriebene Gesetz ihrer Mutter, nach etwas zu fragen, was in deren Vergangenheit lag. In einem anderen Leben und einer fernen Welt.

Doch eine Antwort blieb Laura Violett immer schuldig. Laura bewies ein besonderes Durchhaltevermögen.

Violett fuhr innerlich zusammen und machte sich, einen Tag nach Lauras Tod, wieder schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf die so wichtigen Antworten gepocht, nein, bestanden hatte. Aber wie hätte sie es anstellen sollen? Ihre Mutter so lange schütteln, bis ihr die Antworten buchstäblich aus dem Mund fielen? Nun musste Violett also die Spuren lesen, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und das waren nicht viele.

Violett war sich sicher, dass sie beide glücklicher geworden wären, wenn es damals diese Antworten gegeben hätte. Sie versuchte, sich all die Worte, die Lauras Mund während des Gewitters entglitten waren, erneut in Erinnerung zu rufen und sich darauf einen Reim zu machen. Was genau hatte ihre Mutter doch gleich wieder gesagt? Violett schüttelte sich, weil in ihr schmerzhafte Emotionen aufstiegen. Aber sie musste sich jetzt konzentrieren.

Ein Edelmann, der in den Augen der anderen keiner war … Sie überlegte fieberhaft. Waren diese anderen vielleicht Menschen gewesen, die Laura nahegestanden hatten? Womöglich ihre eigenen Eltern? Das schien Violett durchaus logisch. Doch besser fühlte sie sich dadurch nicht. Denn nach Lauras Bekunden – das hatte sie auch jedermann im Dorf erzählt, der hartnäckig versucht hatte, ihren Panzer zu durchbrechen – waren ihre Familienmitglieder auf einer Safari in Afrika allesamt ums Leben gekommen. Das hatte sich Violett jedoch nie so richtig vorstellen können. Selbst die große Fantasie eines Kindes kannte Grenzen. Waren etwa all ihre Angehörigen von Löwen gefressen worden oder mit dem Reisebus gegen einen mächtigen Baum gefahren? Dennoch hatte sie diese Aussage Laura gegenüber nur einmal, während eines Streits – der letzte, den sie führen sollten –, in Zweifel gezogen.

Lange hatte Violett nicht gewollt, dass ihre Mutter dachte, sie halte sie für eine Lügnerin. Außerdem erinnerte sie sich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust daran, dass jede Frage nach ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft Laura noch verschlossener und fast apathisch werden ließ. Nicht nur Laura selbst, auch die Wände ihrer Wohnung schienen in diesen Momenten zu beben. Meist entstand dann ein langes Schweigen, und Laura lieferte Violett somit einer niederdrückenden Stille aus. Deshalb fand sich Violett als Kind zunächst auch schnell mit ihrem Schicksal ab, dass sie nie etwas über ihre Familie erfahren würde. Für andere wäre es wohl mehr als schwierig gewesen, aufzuwachsen mit dem Wissen, dass es ein großes und unausgesprochenes Geheimnis im eigenen Leben und dem der Mutter gab, doch Violett wurde trotzdem ein lebensbejahender Mensch, der keineswegs scheu oder verängstigt war. Sie hatte sich all die Jahre hindurch meist mit der Ansicht getröstet, dass das Geheimnis ihrer Mutter mit einem Dachboden gleichzusetzen war, auf dem sich bekanntermaßen Geheimnisse verbergen konnten. Bedauerlicherweise fehlte zu diesem der Aufstieg, und somit war er unerreichbar. Die Frage, welches Geheimnis auf ihm ruhte, wurde meistens verdrängt. Bis es zu diesem heftigen Streit zwischen Violett und ihrer Mutter kam, der die alte Frage wieder aufwarf, was Laura ihrer Tochter zeitlebens verheimlicht hatte. Dieser Streit war für beide Seiten kurz darauf wieder vorbei, da man die andere liebte und sich verzieh, aber innerlich hatte er für Violett nur weitere Fäden durch das unlösbare Geheimnis gezogen und ein noch undurchsichtigeres Strickmuster entstehen lassen.

Die Liste der Unklarheiten war so lang, dass sie Violett innerlich erdrückte. Es fühlte sich an wie schleichendes Gift. Aber sie würde schon das passende Gegenmittel dafür finden, da war sie sich sicher.

Ihr Blick wanderte durch die Wohnung, die noch im Halbdunkel lag, und die sie bis gestern noch gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnt hatte. Sie befand sich in einem eher desolaten Zustand, und das war noch eine milde Beschreibung. Doch Laura hatte sich einfach strikt geweigert, ihre Dreizimmerwohnung zu modernisieren, selbst als ihre Geschäfte gut gelaufen waren und Geld dafür da gewesen wäre. Sie wurde ihrem Charakter und Wesen entsprechend wortkarg und einsilbig, wenn Violett als kleines Kind wissen wollte, aus welchem Grund sie immer noch in einer Wohnung lebten, die mit alten Sanitäranlagen und einer Heizung ausgestattet war, die selbst im tiefsten Winter nur eine lauwarme Temperatur verströmte, und sie auf Möbeln saßen, die alle so aussahen, als hätte es sie schon gegeben, als Georg VI. regierte und Queen Elisabeth noch nicht den Thron bestiegen hatte. Es gab nur zwei Ausnahmen und Anlässe, für die Laura ihren Geldbeutel zückte: Violetts Geburtstag und Weihnachten. Aber Violett bekam zu ihrem Geburtstag auch nur Wünsche erfüllt, wenn es sich um Spielsachen oder andere Gegenstände handelte, die ihr Freude bereiten sollten, und nicht, wenn diese der besseren Ausstattung der Wohnung oder der Änderung ihrer Lebensverhältnisse gedient hätten. Violett hatte deshalb schnell den Eindruck gewonnen, ihre Mutter wolle sich in ihrer inszenierten Armut vor irgendeinem Ereignis aus ihrer Vergangenheit verstecken.

Bei dem stetig wiederkehrenden Gedanken an den stürmischen Oktoberabend lag dies für Violett natürlich auf der Hand. Sie verzog schuldbewusst das Gesicht und stoppte ihre Reise der Erinnerungen.

Sie beruhigte sich etwas. Sie würde Lauras Geheimnis schon noch lüften. Sie musste es einfach.

Violett überlegte, welche Indizien es in ihrer Wohnung geben konnte, die irgendetwas über Lauras Vergangenheit verraten. Wahrscheinlich hatte Laura sie wissentlich entfernt. Aber waren vielleicht hinter einem Schrank oder unter ihrem Bett Briefe versteckt, die etwas über ihre Geschichte erzählen konnten? Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Violett Lauras Schlafzimmer aus reinem Respekt nicht betreten. Zumal es Laura heilig gewesen war. Wie ein Rückzugswinkel ihrer Seele. Violett dachte an die Fotoalben, die in dem Schrank neben der antiken Kommode steckten, doch diese würden sich nicht als sonderlich hilfreich erweisen. Denn darin waren nur Aufnahmen zu finden, die sie selbst zeigten.

Laura hatte stets darauf bestanden, wenn überhaupt, nur mit ihrer Tochter fotografiert zu werden, als sei sie selbst den Film im Fotoapparat nicht wert. Aber vielleicht fühlte sie sich auf einem Foto ohne Violett auch einfach nur verloren. Violett setzte ihren Streifzug der Erinnerungen unbewusst fort. Wohl auch, weil es leichter war, als direkt zur Tat zu schreiten.

Da Laura allen in Westshire konsequent die kalte Schulter zeigte, interessierte sich bald niemand mehr für das so ominöse Geheimnis ihrer Herkunft. Es passierten schließlich genug andere Dinge im Dorf. Man betrat Lauras Laden, weil sie gute Arbeit leistete, war aber jedes Mal froh, diesen bald darauf wieder verlassen zu können. Lauras Kunden bezeichneten ihr Geschäft scherzhaft gerne als getarnte Eisdiele und spielten damit unverhohlen auf die Kälte an, die dort durch Lauras frostige und distanzierte Art vorherrschte. Ihre glasklaren blauen Augen unterstrichen diesen Eindruck zusätzlich.

Violett dagegen schätzte man in Westshire sehr, weil sie schon von klein auf all das war, was Laura nie zu sein vermochte: offenherzig und mit einer besonderen kindlichen Neugier ausgestattet. Viele meinten, sie hätte wohl ausschließlich die Gene ihres Vaters abbekommen, der ein netter Mann gewesen sein musste. Der einzige Klatsch, der Laura sicher nicht besonders störte. Wie dieser Mann, der natürlich ein großes Fragezeichen blieb, sich je in Laura hatte verlieben können, wusste keiner in Westshire zu sagen.

Da Violett natürlich merkte, dass ihre Mutter keine sozialen Kontakte in der Stadt pflegte, hatte sie geglaubt, sich besonders anstrengen zu müssen, um sie glücklich zu machen. Sie gab sich in der Schule deswegen besonders viel Mühe und hörte den Lehrern selbst in ungeliebten Fächern wie Mathematik und Physik aufmerksam zu. Doch selbst wenn sie ihrer Mutter ausnahmsweise einmal eine schlechte Klausur präsentieren musste, bemerkte diese nur mit einem Lächeln, am Tag der Klausur habe sie wohl das »Vergesslichkeitsgespenst« aufgesucht. Trotzdem war Violett weiterhin bemüht, gute Noten nach Hause zu bringen, was ihr auch meistens gelang. Sie lernte außerdem schon früh, Verantwortung zu übernehmen, wurde während ihrer Schulzeit viermal zur Klassensprecherin gewählt und bekam bei ihrem Schulabschluss schließlich eines der besten Abgangszeugnisse überreicht. Violett wollte sich, nur wenige Wochen nach dem Schulabgang, nach einem geeigneten Studienplatz umsehen. Sie hatte nicht vor, sich bei ihrer Suche auf England zu beschränken.

Ihr Freund Brian war bereits Student gewesen, als sie ihm zufällig an seiner Universität St. Sebastian in Schottland begegnet war, die sie näher inspizieren wollte. Auf den Fluren der Hochschule hatten sich ihre Blicke getroffen und Amor hatte wohl das Übrige getan. Das war vor knapp einem Jahr gewesen. Ihre Liebe war also noch ziemlich frisch.

Beide hatten sich bis kurz vor Lauras Tod fast ausschließlich in Edinburgh in Brians doch recht luxuriöser Bleibe getroffen. Brian hatte es nicht nötig, in einem Studentenwohnheim zu leben, da seine Familie – als bestehe eine erbliche Veranlagung – beinahe ausschließlich aus Juristen bestand. Sehr renommierten noch dazu. Violett sah es mit einem Augenzwinkern als Erbkrankheit von Brians Familie an. Sie zog ihn nicht selten damit auf, wobei Brian ihre Bemerkung in der Regel alles andere als lustig fand. Doch beide verband eine Leidenschaft, die sie einander schnell nähergebracht hatte und die Violett zu ihrem Studienfach machen wollte: die Meeresbiologie. Violett liebte das Meer, das an der Küste Englands noch so ursprünglich und rau wirkte. Es gab dort nur wenige Strände, sodass man das Meer häufig nur von einem Kliff oder einer Felssteinküste aus beobachten konnte. Die wenigen Strände blieben, zumindest von den Einheimischen, verhältnismäßig unberührt, und Touristen verirrten sich auch nur äußerst selten dorthin. Brighton bildete da natürlich eine Ausnahme.

Violett hatte schon von Kindesbeinen an gerne nach Muscheln Ausschau gehalten und sie vom Boden aufgelesen. Sie fragte sich immer, woher sie wohl kamen und wie alt ihr Gehäuse war. Auch andere Gegenstände, die das Meer anschwemmte, nahm sie genauestens unter die Lupe und in Augenschein. Violett besaß eine wirklich ansteckende und besondere kindliche Neugier. Obwohl Brian, wie er Violett einmal offenbarte, als kleiner Junge ganz ähnlich empfunden hatte, wagte er es später aus familiären Gründen nie, den Weg zu wählen, den sich Violett erträumte. Sein Vater Steven hielt den Hang seines Sohnes für ein Hirngespinst und die Meeresbiologie für eine überflüssige Wissenschaft. Nur ein Jurastudium könne ihm einmal den Wohlstand sichern, den er von zu Hause gewohnt sei, repetierte er Brian gegenüber fortlaufend.

Bei Violetts Besuchen am Meer war, als sie noch in den Kinderschuhen steckte, auch immer ihre Mutter zugegen gewesen. Violetts Interesse an der Meereskunde hatte Laura erfreut zur Kenntnis genommen. Doch diese Freude währte nur bis zu Violetts Schulabgang. Denn als Violett erfuhr, dass man das Fach an der altehrwürdigen Universität Londons belegen konnte, hatte sich Laura ihrer Tochter plötzlich in einem bislang unbekannten Licht gezeigt. Laura war ungehalten, richtig aufbrausend geworden. Ein seltener Gefühlsausbruch, der an ein Phänomen grenzte. Die sanften Gesichtszüge, mit denen sie ihrer Tochter sonst gegenübertrat, waren verschwunden und einer sehr angespannten Physiognomie gewichen. Laura hatte mit gereizter Stimme gemeint, dass es doch auch noch andere Universitäten im Land gäbe. London müsse es zwangsläufig nicht sein, und außerdem könne sie doch wie Brian in Schottland studieren. Dass sie ihn als Beispiel anführte, sagte viel aus. Denn Brian schien für sie in ihrem Haus stets nur ein geduldeter Gast zu sein. Man hätte sogar meinen können, dass Laura ihm nur die Tür öffnete, weil es die unglücklichen Umstände nun einmal so wollten, dass er Violetts Freund war. Schon rein wegen Lauras Antipathie gegenüber Brian hatte Violett oft den Zug nach Schottland nehmen müssen.

Doch Violett merkte ziemlich schnell, dass es ihrer Mutter überhaupt nicht recht wäre, wenn sie zum Studieren fortging oder das Haus verließ. Das wunderte sie sehr, denn sie hatte gedacht, es würde ihre Mutter freuen, wenn sie ihren Traum von der Meeresbiologie wahr machen und in die Forschung gehen würde. Sie spürte deutlich, dass Laura sie nicht ziehen lassen wollte, obwohl diese nie müde geworden war, zu betonen, sie wolle Violett nur glücklich und strahlend sehen. In Violett hatte dies einen großen innerlichen Konflikt ausgelöst. Sie wusste natürlich, dass sie Lauras einziges Kind war, aber war über all die Jahre aufseiten von Laura eine solche Abhängigkeit entstanden, dass sie nicht das Haus verlassen durfte? War es denn ihre Schuld, dass ihre Mutter ihren Lebensmittelpunkt auf sie gelegt hatte, seit sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte? War es ihre Schuld, dass es keine Kontakte zu den Dorfbewohnern gab, da ihre Mutter all jenen, die sie einst zur Teestunde einladen wollten, einen Korb gegeben und diejenigen, die es wiederholt gewagt hatten, mit vernichtenden Blicken abgestraft hatte? Dass nur ihre Schulfreunde Zutritt zur Wohnung bekommen hatten? Violett wusste ja, dass es nicht an deren renovierungsbedürftigem Charakter lag, dass Laura weder mit den Nachbarn noch mit den restlichen Seelen des Dorfes verkehrte. Anschaffungen wurden aus Prinzip nicht getätigt. Laura musste eine panische Angst davor gehabt haben, dass ihr die Einwohner etwas entlocken könnten, was sie freiwillig nie preisgeben wollte. Aber waren all diese Punkte Argumente, wenn es um ihr eigenes Glück ging? Laura liebte ihre Tochter sehr und hätte sich, wenn die Umstände anders gewesen wären, deren Lebenstraum gewiss nie in den Weg gestellt. Doch die Situation war und blieb paradox.

Zunächst war die Zeit auf dem Kalenderblatt ganz unschuldig verstrichen. Zeit, die Violett für ihre Lebenspläne hätte nutzen können. Aber es schien sich nichts zu ändern.

Laura war für alle in der Gegend eben weiterhin nur eine Person gewesen, die gut mit Nadel und Faden umgehen konnte. Ihre Kunden hatten sowieso schon lange den Eindruck gewonnen, dass ihr der Beruf als Näherin nur als Fassade diente, um den eigentlichen Menschen, der sich dahinter verbergen mochte, zu verstecken. Aber das interessierte längst niemanden mehr.

Obwohl Laura ihre Arbeit immer zur vollen Zufriedenheit ihrer Kundschaft erledigte, schien sie darauf kein bisschen stolz zu sein. Ein Gefühl von Berufung oder Freude war ihrem Gesicht nie abzulesen gewesen. Nur für Violett konnte sie ein Gefühl von Stolz empfinden.

Doch schließlich war auch diese verdächtig ruhige Zeit einmal ihrem Ende zugegangen, zumal Violett bewusst gewesen war, dass mit jedem Kalenderblatt, das fiel, ihre Chance, sich in London für Meeresbiologie einzuschreiben, um ein weiteres Stück schwand. Sie hatte es mit Lauras Einverständnis tun wollen, doch in ihrem Inneren war ihr natürlich klar gewesen, dass ihre Mutter ihr dafür nie ihr Einverständnis geben würde. Wenn sie sich immatrikuliert hätte, glaubte sie ihre Mutter zu verraten, und wenn sie es nicht tat, sich selbst.

Somit war es zu den ersten unglücklichen Streitgesprächen bei Tisch gekommen, obwohl Violett bei diesen Unterredungen im Grunde nur als Wortführerin agierte. Violett hatte Laura dann stets an das Sparbuch erinnert, das für sie bei einer Bank angelegt worden war, und auch daran, dass – außer für die üblichen Rechnungen, Weihnachten und ihren Geburtstag – schließlich nie Geld ausgegeben worden war. An Geld für ihr Studium konnte es daher nicht fehlen! Violett führte dieses Argument nur an, um sich besser zu fühlen, denn sie glaubte den Grund für Lauras Haltung ja zu kennen. Aber jetzt war es nun einmal um ihr Leben gegangen – und nicht um Lauras!

Der Blick ihrer Mutter hatte im Verlauf dieser Auseinandersetzungen – Violetts Erinnerung nach waren es insgesamt vier gewesen – einen stoischen Ausdruck angenommen, der den Eindruck erweckte, dass sie nie wieder ein Wort von sich geben würde und sich in diesem Moment ganz von ihrer Umwelt verabschiedete.

Violett hatte dennoch weiterhin das Recht reklamiert, ihren Träumen nachjagen zu dürfen.

Dass sie an einem denkwürdigen Abend – nur wenige Tage vor Lauras Tod – schließlich ganz die Beherrschung verlor, verursachte ihr jetzt starke Gewissensbisse. Doch sie hatte unter einem enormen Zeitdruck gestanden, da die Zeit, sich für das kommende Semester an irgendeiner Universität einzuschreiben, fast schon verstrichen war. Violett sah sich überhaupt nicht mehr in der Lage, auf die Bedürfnisse ihrer Mutter Rücksicht zu nehmen. Sie hatte an diesem Abend sprechen müssen, egal, wie schlimm ihre Worte in Lauras Ohren widerhallen mochten. In einem Ton, den sie ihrer Mutter gegenüber nie zuvor angeschlagen hatte, bestand Violett darauf, dass Laura endlich mit der Wahrheit herausrücken sollte. Sie sei schließlich ihre einzige Tochter und nunmehr erwachsen. Mit einer Stimme, die an Volumen gewonnen hatte, fragte Violett ihre Mutter, was ihr Verhalten, das ihr schon als kleines Kind Rätsel aufgegeben hatte, zu bedeuten habe und warum sie Züge eines irrationalen Sparzwangs aufweise. Diente er ihr als imaginäre Mauer, die sie von den Erinnerungen der Vergangenheit und ihrem einstigen Leben trennte? Violett wollte von Laura wissen, ob sie Angst davor hatte, dass die ihr offensichtlich so verhassten Familienmitglieder plötzlich überraschend vor ihrer Haustür stehen könnten. Am Ende sprach Violett das aus, was sie lange zurückgehalten hatte, um ihre Mutter nicht zu verletzen. Die Wörter sprudelten aus reiner Not und Verzweiflung ihr geradezu aus dem Mund. Violett sagte Laura mit einer bebenden Stimme, die aus dem Grund der Seele zu kommen schien, dass sie noch an das Ammenmärchen mit der Safari geglaubt habe. Violett war in diesem Moment so sehr in Rage, dass sie selbst davon überrascht wurde. Mit großer Wut fügte Violett hinzu, dass sie als ihre Tochter auch ein Anrecht auf die Wahrheit hätte. Sie fuhr fort, dass sie aus dem Märchenalter heraus sei, und betonte abermals, dass sie, Violett, als erwachsene Frau vor ihr stünde. Violett sagte mit durchdringender Stimme, sie wolle keine weiteren Lügen mehr hören. Sie sagte sogar zynisch zu ihrer Mutter, dass sie nicht die Kreativität und Fantasie ihrer Tochter weiter schulen solle, indem sie ihr beispielsweise weiszumachen versuche, ihre Familie sei an einer Erbkrankheit gestorben, die wie durch ein Wunder die eigene Generation übersprungen hätte, oder gar behaupten wolle, alle Familienangehörigen seien einem tödlichen Virus zum Opfer gefallen, den sie sich im Ausland eingefangen hätten.

Violetts Fragen »Was haben sie dir angetan? Was ist mit meinem Vater passiert?« waren wie aus der Pistole geschossen gekommen. Für Laura mussten sie sich wie echte Schüsse angefühlt haben, aber sie schaffte es trotzdem, die Haltung der großen Geheimnishüterin aufrechtzuerhalten. Wie eine eiserne Lady. Violett hatte sich in diesem Moment hilflos und ihren eigenen Gefühlen ausgeliefert gefühlt. Mit wem stritt sie eigentlich? Mit der Wand?

Sie hatte Laura schließlich nicht nach dem Versteck des Heiligen Grals gefragt, sondern nach der Wahrheit. Violett hatte sich langsam selbst nicht mehr gekannt. Ihr Körper sandte während ihres letzten Streits ständig Warnsignale aus. Sie hatte das Gefühl gehabt, innerlich zerrissen zu werden. All die Not der vergangenen Jahre war aus ihr herausgebrochen. Sie suchte Halt gesucht, den Laura ihr aber nicht hatte geben können. Nein, Laura war doch schuld daran gewesen, dass sie in eine tiefe Schlucht hinunterblickte. Wenngleich Laura die Not ihrer Tochter sicher deutlich gespürt, sie ihr regelrecht angesehen hatte, konnte sie auch in diesem entscheidenden Moment nicht über ihren Schatten zu springen und Violett endlich die Wahrheit zu sagen. Eine verpasste Chance, die nie wiederkommen würde. Das wussten beide zu diesem Zeitpunkt aber natürlich noch nicht. Lauras Geheimnis hatte am Ende über ihre Tochter gesiegt. Violett sah sich dazu gezwungen, ihren größten Lebenstraum aufzugeben: das Studium.

Dann kam für Violett der Tag , an dem sie glaubte, tausend Blitze würden in ihr Haus einschlagen und ein Unwetter von nie gekannter Stärke ihre Wohnung heimsuchen, das einem Vergleich mit jenem im Oktober viele Jahre zuvor nicht standgehalten hätte. Es war ein Donnerstag. Dunkle, schwere Wolken, die sich eng zusammengeschlossen hatten, gaben dem Himmel eine finstere graue Farbe. Ganz Westshire schien durch die dicke Wolkendecke von der Sonne abgeschirmt und in ein düsteres Licht getaucht zu sein. Es war, als verschlucke das Grau des Himmels alle Farben im Dorf. Man hätte den Eindruck gewinnen können, eine graue Linse läge über allem. Trotz häufiger Regentage war die Wetterlage trüber als sonst; Melancholie machte sich breit.

Violetts Mutter war wie immer früh zur Arbeit aufgebrochen, und Violett hatte sich nur wenige Stunden später für ihre Schicht im Café, in dem sie arbeitete, zurechtgemacht. Doch als Violett spät am Abend zurückkehrte, wunderte sie sich sehr, dass Laura noch nicht da war. Nach Geschäftsschluss blieb sie gewöhnlich nie im Laden, um Knöpfe anzunähen oder Kleidungsstücke zu kürzen. Arbeiten, die während der Ladenöffnungszeiten nicht mehr erledigt werden konnten, nahm sie stets mit nach Hause, sodass man hätte glauben können, sie sei die Inhaberin einer Kleiderkiste.

Gegen zwanzig Uhr an diesem Donnerstag war Violett unruhig und überlegte gerade, ob sie wieder ins Dorf zum Laden ihrer Mutter gehen sollte, als es an der Tür klingelte. Violett war zunächst erleichtert gewesen und zur Tür gestürmt, um sie mit viel Schwung aufzureißen. Sie erwartete, ihre Mutter vor sich stehen zu sehen. Doch sie hatte nicht in das Gesicht ihrer Mutter geblickt, sondern in das des Dorfpfarrers Mr. O’Connell, der in Begleitung einer Frau mittleren Alters war, die Violett als Kundin ihrer Mutter wiedererkannte. Violetts Kehle war wie zugeschnürt. Sie traute sich kaum, zu atmen. Schnell stiegen Tränen in ihre Augen. Es musste etwas Schlimmes passiert sein! Sie bekam zunächst kein Wort heraus und fühlte sich nicht einmal in der Lage, den Pfarrer und die Kundin ihrer Mutter in die Wohnung zu bitten.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Pfarrer freundlich. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.

Violett hätte am liebsten »Nein« gesagt und gehofft, sich in einem Traum zu befinden. Doch stattdessen nickte sie nur kurz mit dem Kopf. Der Pfarrer sah sich, nachdem er seine Schuhe auf dem borstigen Abtreter vor der Tür abgestreift und die Wohnung betreten hatte, flüchtig um. Man hätte fast glauben können, dass es ihm unangenehm war, sich genauer umzuschauen. Er tat sich schwer, seine Überraschung über den Zustand der kargen Wohnung zu verbergen, und hätte wohl eines der Zehn Gebote brechen müssen, wenn er behauptet hätte, es sehe hier sehr schön aus. Auch die Kundin sah sich merklich verblüfft um, doch gleich darauf war ihr Gesichtsausdruck wieder ernst geworden.

Violett hätte sich gewünscht, dass die beiden für die Kirchenkollekte sammelten und dafür von Tür zu Tür zogen, doch ihr war klar gewesen, dass dies nur ein großer Wunsch ihres Herzens war, der sich nicht erfüllen würde, nein, nicht erfüllen konnte. Die Vorboten dafür, welche Art von Nachricht die beiden ihr überbringen würden, waren nicht zu übersehen. Violett hatte ihnen mit einer kurzen Handbewegung zwei der drei alten Stühle zugewiesen, die stets bedrohlich zu knirschen begannen, sobald ein übergewichtiger Mensch auf ihnen Platz nahm. Als sie zu dritt um den Tisch herum saßen, fühlte sich Violett in ihrer Wohnung wie eine Gefangene. Die kahlen Wände, die sie umgaben, schienen sich bedrohlich auf sie zuzubewegen. Violett hatte den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Haus sofort zu verlassen und ihren Lieblingsstrand aufzusuchen. Sie wollte fliehen. Doch wer konnte schon vor der Wahrheit davonlaufen? Vor einer, die das eigene Leben für immer verändern würde? Der Pfarrer hatte gemerkt, dass Violett bereits jetzt ganz blass um die Nase war und sie sich denken konnte, dass es kein Zufall war, dass er da war.

»Ms. Maycen, es tut mir leid, dass der Grund, warum wir Sie heute aufsuchen, von sehr trauriger Natur ist. Ich wollte Ihnen Beistand leisten. Das ist meine Aufgabe als Seelsorger, und die nehme ich sehr ernst. Ihre Mutter, Mrs. Laura Maycen, hat heute nach Auskunft des hier ansässigen Arztes Dr. Saunders einen Herzinfarkt erlitten, der leider binnen Sekunden zu ihrem Tod führte. Die Frau, die Sie neben mir sitzen sehen, ist Mrs. Peters. Sie war im Laden, als Ihre Mutter den Infarkt erlitt. Obwohl sie sofort die Nummer des Notarztes wählte, als sie sah, wie sich Ihre Mutter ans Herz griff und zusammenbrach, konnte dieser nach seinem Eintreffen nur noch ihren Tod feststellen. Obwohl ich Sie und Ihre Mutter nie in der Kirche oder auf dem Friedhof gesehen habe, bedauere ich es sehr, dass der Grund unseres Aufeinandertreffens nun dieser ist. Bitte verstehen Sie Ihr Fehlen bei den Gottesdiensten nicht als Vorwurf. Ich erwähne es nur, weil wir uns bisher nur sporadisch beim Bäcker oder im kleinen Lebensmittelgeschäft im Ort begegnet sind.«

Die Frau neben ihm hatte daraufhin das Wort ergriffen. Sie druckste erst ein wenig herum und holte mehrmals tief Luft, ehe sie zum Reden ansetzte. »Wir Leute hier im Ort kennen Ihre Mutter zwar nur mit Nadel und Faden in der Hand. Dennoch nehmen wir alle Anteil an ihrem Schicksal.« Sie lächelte Violett etwas gezwungen, aber doch freundlich zu.

Der Pfarrer räusperte sich kurz. »Wir wollen Ihnen aber auch nicht vorenthalten – selbst wenn es zunächst etwas pietätlos und obsolet erscheint –, dass es Probleme beim Ausstellen des Totenscheins Ihrer Mutter gab. Ihre Mutter hatte keine Papiere bei sich. Nun wird nach ihrer Geburtsurkunde geforscht. Dann erst kann dieser Schritt vollzogen werden. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie in den nächsten Monaten und natürlich auch darüber hinaus Hilfe benötigen sollten.«

Die Frau fragte sichtlich interessiert und zugleich peinlich berührt: »Ich will nicht neugierig erscheinen, aber Ihre Mutter hat nie von sich erzählt. Wo ist sie denn zur Welt gekommen?«

Violett fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer. Sie empfand eine nie gekannte Erschöpfung. Bei dieser Frage spürte sie Hammerschläge in ihrem Kopf. Nicht einmal Tränen kamen, dafür saß der Schock zu tief. Sie nahm eine für sie untypische abwesende Haltung ein, bevor sie schließlich mit einer Stimme, die zu brechen drohte, mühsam hervorbrachte: »Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie eine Hausgeburt war und in Liverpool zur Welt gekommen ist.« Das war eine Lüge, aber was hätte sie sonst machen sollen? Violett hatte London ganz bewusst nicht erwähnt. Ihren eigentlichen Verdacht. Ihre Lippen öffneten sich erneut, um Worte zu formen, die jedoch einfach nicht herauskamen.

Danach herrschte für ein paar Sekunden ein betroffenes Schweigen. Nicht einmal der Pfarrer schien in dem Moment zu wissen, was er Violett am besten sagen sollte, um den Schmerz zu mindern, den er ihr trotz ihrer starren Haltung natürlich deutlich ansehen konnte. Zu dem Schmerz, den Violett bei der Gewissheit empfand, dass sie ihre Mutter nie wieder durch die Wohnungstür treten sehen würde, hatte sich zum ersten Mal ein Gefühl gesellt, das sie innerlich zu zerreißen drohte: das der größten Verzweiflung ihres Lebens. In dem Moment traten aus ihren Augenwinkeln die ersten Tränen, die langsam über ihre Wangen zu fließen begannen.

Violett war in diesem Augenblick klar geworden, dass sich bestätigen würde, was sie zeitlebens befürchtet hatte: Sie hatte ihre eigene Mutter nicht gekannt. Laura war leider über all die Jahre so gesprächig geblieben wie eine Holzpuppe. Violett wusste rein gar nichts. Sie kannte nur den vermeintlichen Vornamen ihres verstorbenen Vaters. Bei Tisch oder vor dem Zubettgehen waren immer nur ihre eigenen Bedürfnisse diskutiert worden. Wie furchtbar! Ein Armutszeugnis!

Sie hatte doch bei ihrem letzten Streitgespräch alles erfahren wollen. Erfolglos. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie weit sie den Pfarrer über ihre missliche Lage ins Vertrauen ziehen sollte, schließlich kannten sie sich kaum. Was hätte er ihr gesagt? Dass sie eine schlechte Tochter gewesen war, weil sie es nicht geschafft hatte, ihre Mutter dazu zu bewegen, über all das zu reden, was tief in ihr verborgen gewesen war? Sie aus der Reserve und ihrem Schneckenhaus zu locken, das viele als undurchdringlichen Panzer angesehen hatten? Und nun? Nun würde sie vielleicht einiges über Laura auf eine für sie unangenehme Art und Weise erfahren müssen. Durch Leute, die sie gekannt hatten und vielleicht ihre Traueranzeige in der Londoner »Times« entdecken würden. Dritte. Doch dann war Violett eingefallen – und sie hätte sich vor lauter Dummheit am liebsten selbst auf die Stirn geschlagen –, dass dies auch eine große Chance bedeuten konnte. Es könnte Licht in das Dunkel ihrer Familiengeschichte bringen. Aber ob sich wirklich Bekannte melden würden? Laura hatte sie schließlich ihr ganzes Leben lang erfolgreich ignoriert. Wenn doch nur ihre Familienmitglieder ein Zeichen von sich geben würden. Sie mussten einfach noch am Leben sein. Da war Violett sich sicher. Mit großer Wahrscheinlichkeit in London. Sie würde endlich erfahren, woher sie kam. Bei diesem Gedanken hatte Violett die erste positive Emotion verspürt, die sie angesichts von Lauras Tods in der Lage war, zu empfinden.

Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter fähig gewesen war, London so zu umgehen wie die Katze einen Hund. Ihre Heimat musste also London sein. Violett dachte an einen Schulausflug, der sie in die Hauptstadt geführt hatte. Sie war von der Mutter einer Freundin abgeholt worden, da Laura angeblich schon am Morgen, noch bevor der Schulbus aufgebrochen war, von so schrecklichen Kopfschmerzen gequält worden war, dass sie sich ihrer Aussage nach in keinen Zug oder Bus hatte setzen können. Beschwerden, über die sie zuvor nie geklagt hatte.

Violett fühlte ein großes Loch in ihrem Magen, das nicht vom Hunger herrührte, denn sie hatte vor Beendigung ihrer Schicht auf Rechnung des Cafés noch ein paar Brötchen essen dürfen.

Violetts Blick heftete sich auf etwas, das weder der Pfarrer noch die Frau sehen konnten. Es waren die kleinen weißen zerkratzten Türen des Wandschranks. Darin verborgen lag der Tee, den sie immer in Lauras Beisein genossen hatte: der gute Earl Grey. Violett schluchzte wie ein kleines Kind und fühlte sich einem Gefühlsausbruch nahe. Den Pfarrer und die Frau nahm sie kaum noch wahr. Vor ihren Augen verschwamm alles.

Der Ausbruch ihrer Emotionen war nur schwer zu unterdrücken, sodass Violett an den Pfarrer und die Frau gerichtet lediglich herausbrachte: »Bitte gehen Sie jetzt. Danke für Ihr Kommen, aber ich muss jetzt alleine sein.«

Dieser Aufforderung folgten die beiden mit einem kurzen verständnisvollen Nicken. Kaum waren die Tür ins Schloss gefallen und die Überbringer der Hiobsbotschaft im Treppenhaus verschwunden, hatte Violett angefangen zu weinen, zu schluchzen und zu stöhnen. Das Gefühlsgemisch in ihrem Bauch brach wie ein Damm, dessen Schleusen sich wohl nicht so schnell wieder schließen würden. Mehrere Schuldgefühle schienen gleichzeitig an Violetts Tür zu klopfen. Sie hatte laut herausgeschrien, was ihr durch den Kopf schoss. Ihre Gedanken waren wie Gewehrschüsse.

»Was bin ich für eine Tochter? Ein Mensch, den ich geliebt habe, ist gegangen, ohne dass ich ihn gekannt habe! Ich habe versagt! Ich bin einfach eine furchtbare Kreatur!«

Doch dann hatte sie tief Luft geholt und hinzugefügt: »Aber ich habe aus allem gelernt.«

Sie gab sich gefühlt für Stunden ihren Emotionen hin. Die Nachbarn nebenan erlebten wohl ein besonderes Geräuschkonzert. Doch das kümmerte Violett nicht. Warum auch? Sie war der Meinung, dass sie jeden Grund hatte, sich verzweifelt und am Boden zerstört zu fühlen.

Doch als irgendwann keine Schluchzer und keine Tränen mehr kamen, bewegte sie sich beinahe taumelnd, als hätte sie sich in einer Bar zu viele Pints gegönnt, zunächst auf das alte Fenster zu und schloss die spärlichen Vorhänge und wankte dann hin zu der alten Couch. Auf eigenartige Weise hatte sie das Gefühl, auf diesem alten Möbelstück ihrer Mutter noch einmal nahe sein und ihre Gegenwart spüren zu können. Die Couch hatte wie gewöhnlich geknarrt, als sie sich auf sie sinken ließ. Eigentlich hatte sie schlafen wollen, doch kaum lag sie auf der Couch, konfrontierte sie ihre Mutter in Gedanken noch einmal mit all den Fragen, die sie ihr hätte stellen müssen, noch bevor sie für immer gegangen war. Am Ende war es ihre eigene Stimme, die Violett in den Schlaf driften ließ. Dann war sie von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt worden und eingeschlafen.

Lang lebe die Lüge!

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