Читать книгу Lang lebe die Lüge! - Liliana Dahlberg - Страница 6

Kapitel 2

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Violett landete mit ihren Gedanken wieder in der Gegenwart. Nach diesem Bad in Erinnerungen hatte sie erst recht Mühe, sich von der Couch zu erheben. Sie glaubte, ihren Oberkörper nicht mit ihren Armen hochstemmen und abstützen zu können. Vorerst hätte sie im Grunde auch liegen bleiben und darauf warten können, dass das alte Telefon klingelte und irgendjemand anrief, um ihr sein Beileid auszusprechen. Doch sie wusste, dass sie sich ihrem neuen Leben stellen musste. Es gab keine Ausreden mehr. Weiter zu grübeln war auch keine Lösung.

Violett starrte kurz auf das Telefon, als erwarte sie von ihm eine Regung. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sich außer Brian sowieso niemand melden konnte, denn Laura hatte stets darauf bestanden, dass ihre Nummer nicht im Telefonbuch erschien. Ihren Kunden hatte sie lediglich die Nummer ihres Anschlusses in der Schneiderei überlassen. Im Grunde konnten sich nur Beileidskarten in ihren Briefkasten verirren, den Laura aus reinen Vernunftgründen nicht entfernt hatte. Gleichzeitig flammte in Violett erneut die Hoffnung auf, dass sie eine Nachricht von Lauras Familie erhalten würde. Da dies jedoch mehr als unwahrscheinlich war, beschloss sie, sich diesem Wunschtraum nicht länger hinzugeben.

Über die Anteilnahme der Dorfbewohner würde Violett sich in der Tat freuen, obwohl sie vermutete, dass hinter den Karten nicht allzu viel aufrechtes Beileid stecken würde. Was sollten Lauras Kunden auch schreiben? »Wir werden Ihre Mutter vermissen, sie hat immer hervorragende Arbeit geleistet, endlich sitzen die Knöpfe meines Sakkos wieder perfekt.« Oder: »Schade, dass sie nicht mehr da ist. Sie hat meine Abendkleider perfekt gekürzt, jetzt kann ich meine langen Beine besser zur Schau stellen.« Am Ende kam Violett zu dem Schluss, dass geheucheltes Beileid immer noch besser war als gar keines. Außerdem war zumindest sie im Ort sehr beliebt. Mochte Großbritannien auch eine Insel sein, Violett war keine.

Ihre Kontaktfreude hatte ihr unbewusst schon immer als wichtiger Gegenpol zu ihrer Mutter gedient. Allein dieser Charakterzug hatte es ihr schließlich ermöglicht, zu einem ausgeglichenen Menschen heranzuwachsen. Denn wer wollte schon von der eigenen Mutter über alle Maßen verehrt werden, ohne in Kontakt zu den restlichen Erdbewohnern zu treten? Violett blickte, nachdem sie all ihre Kräfte mobilisiert und sich beinahe kriechend von der Couch erhoben hatte, an sich herunter. Sie trug noch immer das Outfit ihres Brötchengebers. Die Uniform einer einfachen Bedienung: eine lange schwarze Hose und eine blütenweiße Bluse mit drei Knöpfen. Am liebsten wollte sich Violett der Bluse sofort entledigen, sie sich gar vom Leib reißen. Denn die Farbe Weiß symbolisierte ja bekanntlich Unschuld. Unschuldig fühlte sie sich aber nicht. Überhaupt nicht. Immerhin war doch sie die Schuldige, wenn sie als Tochter einer Mutter, die gestern an einem Herzinfarkt gestorben war, ebenso ahnungslos durch die Gegend lief wie alle übrigen Dorfbewohner, was das so gut gehütete Geheimnis ihrer Mutter anbelangte. Diese Schuldgefühle quälten sie weiterhin, auch wenn sie eine Chance sah, zumindest einen Großteil ihrer Familiengeschichte nachzuholen. Sie dachte erneut über die möglichen Umstände des Todes ihrer Mutter nach. Wie war es überhaupt zu dem Herzinfarkt gekommen? All die Fragen, die sie schon gestern nur schwer wieder losgelassen hatten, geisterten von Neuem durch ihren hübschen Kopf.

Was war der Auslöser für den Herzstillstand gewesen? Der Schmerz, den Laura in einer Vergangenheit erlebt, der sie über all die Jahre verfolgt und den sie bis zu ihrem Tod geleugnet hatte? Oder der Verlust von Violetts Vater, den sie nie verwunden hatte?

Resigniert stellte Violett fest, dass sich ihre Mutter ihres Wissens nie auf die Suche nach seinem Grab begeben hatte. Warum? Wusste sie nicht, wo es lag? Sie hatte ihn doch so sehr geliebt.

Die Tatsache, dass es das Herz gewesen war, das im Körper ihrer Mutter nicht mehr schlagen konnte oder wollte, bereitete Violett Magenkrämpfe. Sie merkte, dass sie sich erneut in einer Art Gedankenstarre befand, aus der sie sich lösen musste.

Ein Tee würde ihren Magen sicher beruhigen. Gleichzeitig wollte sie unbedingt etwas mit einem hohen Koffeingehalt trinken, um den Tag überhaupt in Angriff nehmen geschweige denn überstehen zu können. Ehe Violett sich auf den Wandschrank zubewegte, in dem der Kaffee stand, trat sie entschieden auf das Fenster zu und riss die alten Vorhänge zur Seite. Sofort lag der Raum in blendendem Licht und wurde bis in den letzten Winkel mit Sonne geflutet. Violetts Augen schlossen sich kurz und öffneten sich dann langsam wieder, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Violett schritt dann bestimmt auf den Wandschrank zu, aus dem sie den Kaffee holte, den sie am liebsten so hochdosiert in die Kaffeemaschine geben wollte, sodass sie den Rest des Tages in einer Art Wachzustand verbringen würde. Sie musste vieles erledigen und durfte deshalb keine Schwäche zeigen. Zumindest heute nicht. Sie hatte nämlich nicht vor, zusammenzubrechen, wenn sie die Urnenbeisetzung mit Mr. Wilder besprach, den sie am Nachmittag aufsuchen wollte. Ihm gehörte das einzige Bestattungsunternehmen in der Nähe. Violett fand, dass er für seinen Beruf eigentlich ein viel zu fröhlicher Mensch war. Er war klein, kugelrund und stets bester Laune. Wenn man ihn auf der Straße traf, bekam man glatt das Gefühl, als würde ihm sein Beruf ein fortwährendes Lächeln ins Gesicht zaubern. Denn ein Familienleben hatte er nicht. Im Geschäft setzte er zwar oft eine Trauermiene auf, doch man hatte dabei stets den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, sein für ihn typisches seliges Lächeln zu unterdrücken.

Nun setzte Violett die Kaffeemaschine in Gang. Ein neues Modell. Brian hatte sie – für Laura völlig unerwartet – bei seinem ersten Besuch mitgebracht. Dieses Geschenk hatte Laura schon aus reiner Höflichkeit kaum ablehnen können, auch wenn sie Brian die Maschine wohl nur allzu gerne um die Ohren gehauen hätte. Brian hatte Violetts Nöte in der prähistorischen Welt ihrer vier Wände lindern wollen. Denn Violett hatte ihm natürlich vom morbiden Charakter der Wohnung erzählt.

Nachdem Violett die Kaffeepads eingesetzt und den dafür vorgesehenen Behälter der Maschine mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sich auf einen der drei Stühle am Tisch, der das Zentrum ihres Wohnzimmers bildete. Sie trommelte gerade mit den Fingerspitzen auf der Tischoberfläche herum, als sie die Kaffeemaschine durch einen Piepton wissen ließ, dass sie das Wunder der Kaffeezubereitung vollbracht hatte. Violett wäre es fast lieber gewesen, es hätte ein bisschen länger gedauert. So musste sie sich schon wieder erheben. Sie schlurfte zur Maschine hinüber, wo sie, nun doch sehr dankbar, die gefüllte Tasse entgegennahm. Sie trank ihren Kaffee sonst zwar nicht schwarz, aber heute wollte sie eine Ausnahme machen. Dass er noch recht heiß war, störte sie ebenso wenig. Mit solchen kleinen Details wollte sie sich heute nicht aufhalten. Die Welt drehte sich für sie jetzt sowieso in eine andere Richtung. Sie hatte keine andere Wahl, als sich mitzudrehen. Sie lief in ihr kleines Zimmer, in dem ein Schrank stand, der all ihre Kleider beherbergte. Sie zog die schwarze Hose aus und legte sie fein säuberlich auf einen Stapel im Schrank. Da sie nicht ihr Eigentum war, wollte sie keine Falten riskieren, auch wenn dies im Moment eigentlich vollkommen zweitrangig war. Sie entschied sich für eine graue Hose und eine dunkelblaue Bluse, deren Farbe sie ein wenig an das Blau des von ihr so geliebten Meeres erinnerte. Ein kleiner Trost. Schließlich kam sie zu dem Entschluss, nichts weiter zu frühstücken.

Sie schloss kurz die Augen und sah vor ihrem inneren Auge das Meer mit seinen majestätischen Schaumkronen. Nur zu gerne wollte sie die Brise spüren, die von Jodsalz geprägt war und bei günstiger Windrichtung an Land getragen wurde. Sie überlegte kurz, an die Küste zu fahren. Es gab einen Bus, der in ihrer unmittelbaren Nähe hielt. Dann aber befand sie, dass sie das Meer erst aufsuchen sollte, nachdem sie einen Teil ihrer Aufgaben erledigt hatte, da sie sich nicht sicher war, ob sie sich überhaupt wieder von ihm würde losreißen können, sobald sie es erst einmal gesehen hatte.

Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz vor elf.

Das bedeutete, dass der Pfarrer noch nicht in der Mittagspause war, die er nicht gerade vorbildlich in einer kleinen Bar am Rande der Stadt zu verbringen pflegte. Er mochte Wasser predigen, dem Wein war er trotzdem sehr zugetan. Aber wer sollte es ihm verübeln? Denn auch ein Diener des Herrn, wie er sich selbst nannte, wollte die Seele von Zeit zu Zeit baumeln lassen. Seine Gottesdienste waren deswegen so beliebt, weil er es verstand, sowohl Anglikaner als auch Katholiken gleichermaßen anzusprechen. Violett glaubte, ihn schon allein deswegen bald aufsuchen zu müssen, weil er ihr gestern seine Hilfe angeboten hatte und sie ihn nicht kränken wollte. Außerdem brauchte sie tatsächlich ein offenes Ohr. Brian steckte schließlich auf Erkundungsreise und hatte sie schon vor Antritt seines Fluges nach Rom wissen lassen, dass er sein Handy ausschalten würde. Er wusste, dass Professor Conners, bei dem er seinen Abschluss machen würde, ein Mann der alten Schule war. Handyklingeltöne hatten seiner Meinung nach in einer so ehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stätte wie Rom nichts zu suchen.

Violett fand, dass ihre Bluse und ihre Hose züchtig genug waren, um ein Gotteshaus zu betreten. Außer zur Mittagszeit und nachts traf man den Pfarrer immer in der Kirche an, wie ihr die Leute in der Cafeteria berichtet hatten. Direkt neben dem alten Backsteingebäude stand laut den Erzählungen ein kleines Häuschen, das sich der Pfarrer sehr gemütlich eingerichtet hatte. Das ewige Glockengebimmel nebenan nahm er dafür angeblich billigend in Kauf.

Violett warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie kämmte sich ihr goldbraungelocktes schulterlanges Haar und war sich sicher, dem Pfarrer mit der Trauermiene, die der Spiegel reflektierte, problemlos gegenübertreten zu können. Sie war ohnehin davon überzeugt, dass ihr in nächster Zeit ein Lächeln nur schwer über die Lippen kommen würde. Selbst dann nicht, wenn sie ihre Lieblingsfolgen von Mr. Bean anschauen würde, die sie als Kind am Wochenende im Schlafanzug und mit einem Teller Brownies immer genossen hatte. Einen Fernseher und einen Videorekorder hatte ihr Laura glücklicherweise nie abgeschlagen.

Violett verwarf diesen doch sehr nichtig erscheinenden Gedanken und blickte aus dem Fenster. Draußen zeigte sich das Wetter weiterhin von seiner besten Seite. Im Gegensatz zum Vortag schien die Sonne hoch am Himmel, und man glaubte, die weißen Schäfchenwolken am Himmel an einer Hand abzählen zu können. Na schön, dachte sich Violett, vielleicht will mir Petrus ja nur Mut machen. Sie zog ihre High Heels an, denn sie gehörte der überzeugten Sex-and-the-City-Generation an. Ihre alten Halbschuhe hatte sie wenige Tage zuvor genüsslich weggeworfen. Entgegen der Einstellung ihrer Mutter sah sie keinen Grund dafür, in der Steinzeit zu leben. Trotzdem durchfuhr ein Messerstich ihr Herz, als sie die schicken Riemchen um ihre Fußgelenke legte. Musste sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Es war doch kein Verrat, wenn … Mit einem kurzen Kopfschütteln lief sie zum Schlüsselbrett, griff nach dem Haustürschlüssel und marschierte entschlossen aus der Tür. Ein schlechtes Gewissen plagte sie sowieso, doch ihre schönen High Heels sollten nicht darunter leiden.

Violetts Schritte verloren bereits an Sicherheit, als sie die Straße vor ihrer Haustür betrat. Sie fühlte eine starke innere Anspannung. Wie sollte sie sich ihren Mitmenschen zeigen? So, wie sie war? Innerlich von Zweifeln und Vorwürfen zerfressen? Sie spürte in ihren Schuhen plötzlich nicht mehr denselben Halt wie noch einige Tage zuvor, als sie eine Schuhverkäuferin an der Hauptschlagader von Westshire, der Fußgängerzone, glücklich gemacht hatte. Entlang der Fußgängerzone befanden sich einige Geschäfte. Violetts Mund wurde trocken, als sie an die Schneiderei ihrer Mutter dachte, die im Vergleich zu den anderen Geschäften zwar etwas außerhalb lag, aber dennoch gut zu finden war. In einem kleinen Dorf wie Westshire war sowieso alles nur wenige Schritte entfernt. Unvermittelt breitete sich in Violett neben der Trauer, die sie empfand, eine Empfindung aus, die sie schon als Kind ausgezeichnet hatte: Neugier.

Ob der Pfarrer etwas über die Herkunft ihrer Mutter erfahren hatte? Sie wunderte sich, dass in der Handtasche ihrer Mutter, die der Pfarrer sicherlich zur Verwahrung an sich genommen hatte, nicht ihre Ausweispapiere gewesen waren. Laura musste doch ihren Pass bei sich getragen haben. Denn die Papiere befanden sich, zumindest ihrem Wissen nach, auch nicht in der Wohnung. Violetts Schritte wurden wieder schneller. Um diese Uhrzeit herrschte auf den Straßen noch nicht allzu viel Betrieb. Als sie die Fußgängerzone erreichte, liefen ihr lediglich ein paar Leute über den Weg, die sie zwar kannte, mit denen sie über einen Gruß aber nie hinausgekommen war. Sie erkannte Mrs. Bridges, eine Rentnerin, die ihre Zeit am liebsten im Blumengeschäft zubrachte und die Existenz des Lädchens und deren Inhaberin, Mrs. Donaldson, sicherte. Violett überlegte, dass sie all die Blumen sicherlich nicht nur für ihren Garten oder die Verschönerung ihrer Wohnung verwendete. Gewiss schmückte sie mit ihnen auch das Grab ihres Mannes Alexander, der vor zehn Jahren gestorben war. Als sie Violetts Blick traf, lief Mrs. Bridges, so schnell es in ihrem Alter eben möglich war, auf sie zu.

»Oh, Violett!«, rief sie ihr mit einer für sie ungewöhnlich schrillen Stimme entgegen, »ich habe es noch gestern von meiner Nachbarin erfahren. Sie sagte mir, dass Sie Ihre Mutter auf tragische Weise verloren haben.«

Violett hätte es gefreut, wenn sie wenigstens bei ihrer Beileidsbekundung den Vor- oder Nachnamen ihrer Mutter erwähnt hätte. So empfand sie es doch als sehr unpersönlich.

»Ach, Violett, es ist wirklich schrecklich. Sie hatte doch noch so viele Jahre vor sich. Aber Kopf hoch, mein Kind! Ihre Mutter wird vor Gottes Angesicht sicherlich den Frieden gefunden haben, den sie sich gewünscht …« Mrs. Bridges verstummte schuldbewusst.

Violett stand der Mund offen. Wollte Mrs. Bridges etwa gerade andeuten, ihre Mutter hätte sich den Tod herbeigesehnt? Ihre Mutter hatte schließlich nicht an einer schlimmen und kräftezehrenden Krankheit gelitten, die ihr das Leben unerträglich gemacht hätte.

Mrs. Bridges wurde sich ihrer Worte bewusst, als sie Violetts entgeistertes Gesicht sah. »Ach, entschuldigen Sie. Ich bin nur so überwältigt davon, dass sie von uns gegangen ist. Ich dachte nur, dass Ihre Mutter vielleicht an einer schlimmen Herzerkrankung gelitten hätte, die ihr …«

»In gewisser Weise haben Sie recht, Mrs. Bridges«, meinte Violett mit zusammengepressten Zähnen. Dann entfernte sie sich grußlos.

Nun fühlte sie sich wieder um einiges schlechter. Zum Glück traf sie wenig später eine Kundin ihrer Mutter, die sich an den Ehrenkodex einer Mitleidsbekundung hielt. Violett war daraufhin zwar wieder etwas wohler, wenngleich sie sich wünschte, auf dem Weg zur Kirche keiner weiteren Menschenseele zu begegnen, damit sie ihre Gedanken besser sortieren konnte. Sie dachte erneut an den Totenschein, der nicht ausgestellt werden konnte. Ob die Nachforschungen erfolgreich gewesen waren? Laura musste schließlich irgendwo im Land geboren worden sein. Immerhin wurde bei jeder Geburt eine Eintragung in ein Register vorgenommen und ein entsprechendes Dokument erstellt, das Lauras Existenz nicht verschweigen konnte.

Sie erreichte nach zehn Minuten Fußmarsch den leicht erhöht liegenden kleinen Friedhof, in dessen Mitte die Dorfkirche stand. Sie blickte kurz hinauf zur Turmspitze, die wie immer stolz in den Himmel ragte. Mit einem klammen Gefühl betrat sie den gepflasterten Weg zur Kirche, wobei sie glaubte, den Boden unter ihren Füßen nicht mehr zu spüren. Automatisch lenkte sie ihr Körper in das Innere der Kirche. Sie betrat sie zum ersten Mal. Sie war weder religiös erzogen worden noch hatte sie bisher der Hochzeit oder Beerdigung eines Freundes oder Bekannten beigewohnt. Doch als sie das Gotteshaus betrat und ihre Füße sie bis vor zum Altar trugen, gab es in ihr doch einen inneren Widerhall. Den Pfarrer konnte sie zunächst nicht entdecken. War er etwa schon zu seiner Mittagspause aufgebrochen? Doch als sie sich gerade etwas genauer umsehen wollte, hörte sie seine Stimme, die von einem erhöhten Punkt zu ihr herabkam. Sie drehte sich um und sah Mr. O’Connell auf der Kanzel stehen, wo er gerade mit einem alt aussehenden Tuch Staub und Fingerspuren seiner Bibellesungen wegwischte.

»Hallo Ms. Maycen. Ich komme sofort zu Ihnen. Sie müssen entschuldigen. Aber auch der Herr verlangt etwas Ordnung und wünscht sich, dass sein Haus in Schuss bleibt. Sie verstehen?« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, soweit Violett es aus der Entfernung beurteilen konnte.

Er stieg eilig die Treppe zu ihr herunter. Im Gegensatz zu gestern lächelte er die junge Frau freundlich an, was Violett freute und ihr guttat. Denn ihr war es lieber, auf diese Weise getröstet und aufgebaut zu werden. Als er schließlich vor ihr stand, merkte er, dass sich Violett fast ein bisschen scheu in der Kirche umsah.

»Keine Angst«, scherzte er, »das Haus bricht nicht über Ihnen zusammen, nur weil Sie es zum ersten Mal betreten.« Ermunternd sah er ihr in die Augen.

Violett wollte sich eigentlich nicht lange in dem Inventar seiner Wirkungsstätte verlieren, doch sie war sprachlos, als sie die wunderschöne goldene Orgel entdeckte, die sich rechts vom Kirchenschiff befand.

»Wir haben es schön hier, nicht wahr?«, meinte er instinktiv und hatte damit Violetts Gedanken erraten.

»Ich wusste gar nicht, dass es hier so schön ist. Auch das Kirchenfenster ist eindrucksvoll«, entgegnete Violett leicht hypnotisiert.

»In ihm spiegeln sich meiner Ansicht nach die Farben des Lebens wider. Es sind nicht wenige, die sich von ihnen getröstet fühlen«, fuhr der Pfarrer fort, der sich offenbar über Violetts Interesse freute.

Dann hielt Violett inne. Im Grunde wollte sie nicht länger Zeit verlieren. Es gab zu viele Fragen, die auf eine Antwort drängten.

»Mr. O’Connell, Sie haben angeboten, mich in meiner Trauerarbeit zu unterstützen. Ich muss aber erst einmal so einiges selbst verstehen, um damit beginnen zu können. Es ist nämlich so …« Violett stockte.

»Ich glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich bin meinerseits recht verwundert über eine Begebenheit, von der ich Ihnen berichten muss. Mein Kind, gehen wir doch lieber hinüber in mein Pfarrhaus. Dort ist es gemütlicher, sodass Ihnen das Reden sicherlich leichter fallen wird. Ich halte es auch für den geeigneteren Ort. Folgen Sie mir. Sie wissen sicher, dass es sozusagen hier vor der Tür liegt. Man muss nur eine kleine Weggabelung nach links nehmen, und schon ist man da.«

Gemeinsam verließen sie die Kirche. Violett war froh, in der sicherlich sehr entspannten Atmosphäre des Pfarrhauses in Ruhe über alles sprechen zu können. Sie traten auf den Vorplatz mit dem Friedhof, dessen niedrige Mauern von Heckenrosen umrahmt wurden. Violett fand, dass sie sinnbildlich für das Leben standen, die Blüte für das Schöne im Leben und die Dornen für das Schmerzhafte. Als sie den Gehsteig erreichten, lief der Pfarrer mit einem freudigen Lächeln voraus. Sie fand es auf gewisse Weise belustigend, dass Mr. O’Connell den Fremdenführer spielte, obgleich man ja nur die nächste Biegung links nehmen musste, um auf sein Heiligstes, das kleine Pfarrhäuschen, zu treffen. Es wirkte sehr romantisch, denn es hatte einen freundlichen gelben Anstrich, und an seinen Wänden kroch wilder Wein empor. Das Dach des Häuschens war mit karminroten Ziegeln gedeckt, die aber schon von einer dicken Moosschicht bedeckt waren, da es sich an einige stolze Tannen schmiegte, die ihre Zapfen in Mr. O’Connells Garten so verteilt hatten, dass er an einen Streuselkuchen erinnerte. Auf dem wenige Hektar großen Land schien die Zeit ein bisschen stillzustehen, zumal auch das Gras in dicken Büscheln frech aus der Erde lugte, denen Mr. O’Connell augenscheinlich schon lange nicht mehr mit einem Rasenmäher zu Leibe gerückt war. Man erzählte sich im Dorf, dass der Pfarrer ein richtiger Romantiker sei und mit moderner Technik auf Kriegsfuß stehe. Dementsprechend befand Violett, dass Mr. O’Connell einen Garten besaß, der gut zu ihm passte.

Ihr Blick fiel auf den schönsten Baum seines Anwesens, einen großen Ahornbaum, der Mr. O’Connell – darauf ließ eine kleine behagliche Bank schließen – in den Sommermonaten Schatten spendete. Sie nahm amüsiert zur Kenntnis, dass auf der Bank einige Bücher lagen, obwohl die Temperaturen eigentlich niemanden mehr dazu verleiten dürften, eine Lektüre im Freien vorzunehmen. Aber vielleicht beherbergte die kleine Bank diese schon seit dem vergangenen Sommer. Sozusagen als Zeugnis von Mr. O’Connells dort verbrachten Lesestunden. Violett hätte nur zu gerne einen Blick auf einen der Buchtitel geworfen. Dann nahm sie den Ahornbaum noch einmal kurz näher in Augenschein, denn seine vom Herbst gefärbten Blätter machten den Garten zu einem fröhlichen Farbenspiel.

Nun führte Mr. O’Connell sie direkt auf seine Haustür zu; der Weg führte über einige ins hohe Gras eingelassene alte Pflastersteine. Er öffnete die Tür ohne Schlüssel, was darauf schließen ließ, dass er in der Tat ein besonders tiefes Gottvertrauen besaß. Augenblicke später fand sich Violett in einer urigen Stube wieder. Rechts neben einem verwinkelten Fenster war eine alte Kuckucksuhr angebracht, und an den Wänden hingen lauter Bilder, die Naturmotive zeigten. Auffällig daran war, dass auf jedem Bild eine Trauerweide zu finden war. Doch gemalt worden waren sie, ihrem Stil nach zu urteilen, von jeweils unterschiedlichen Künstlern. Mr. O’Connell bemerkte nicht ohne Stolz, wie Violett sein Reich in Augenschein nahm. Man hätte fast meinen können, seine Brust würde dabei ein bisschen anschwellen.

»Ich habe es schön hier, nicht wahr?«, fragte er mit einem freundlichen Lächeln und machte eine ausschweifende Handbewegung.

Violett war sich sicher, dass er eine rhetorische Frage gestellt hatte. Aber wichtiger als die Einrichtung seines Heims war Violett nun doch das, was er ihr zu berichten hatte. Endlich das Gespräch zu führen, das ihr auf der Seele lag.

Der Pfarrer wies ihr einen der vier Stühle zu, die um einen breiten Eichenholztisch angeordnet waren, der wiederum nicht fein verarbeitet war, sondern eher grob und ursprünglich wirkte. Obwohl im Raum auch ein großer Lehnsessel stand, setzte sich Mr. O’Connell natürlich zu Violett an den Tisch, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde Lauras Tod aus einem sehr entspannten Blickwinkel betrachten. Denn im Grunde war er sogar sehr an Violetts und damit auch an Lauras Schicksal interessiert. Auf dem alten Tisch lag eine Decke, die Englands berühmteste Glocke, Big Ben, zeigte. Dass der Pfarrer keine Tischdecke mit einem kirchlichen Motiv, beispielsweise Westminster Abbey, gewählt hatte, überraschte Violett ein wenig.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, bemerkte der Pfarrer: »Ich habe mir dieses Motiv bewusst ausgesucht, da Zeit meiner Meinung nach unser wichtigstes Gut ist. Sie entscheidet über unser Leben und kennt die Antworten auf die Fragen, die wir uns immer erst im Nachhinein geben können. Wir sind nur fähig, sie durch unsere Taten zu beeinflussen. Den Rest müssen wir Gott und dem tiefen Vertrauen in unsere eigene Person überlassen. Zeit bleibt in unseren Breitengraden diejenige Größe, die sich über die Jahrhunderte nicht verändert hat. Sie ist der Fix- und Angelpunkt seit der Einführung des gregorianischen …« Der Pfarrer stockte; er hatte wohl gemerkt, dass er abgeschweift war.

Violett vermutete, dass er ihr einen unbeschwerten Einstieg in ein äußerst schwieriges Gespräch ermöglichen wollte. Dies war natürlich kein leichtes Unterfangen.

»Es tut mir leid, wenn Sie glauben, ich säße nur hier, um Ihnen meine Beweggründe für die Wahl meiner Habseligkeiten nahezubringen. Es geht bei Ihrem und damit auch meinem Anliegen natürlich um etwas viel Bedeutenderes.« Seine Stimme nahm einen anderen, weitaus ernsteren Klang an. »Es mag eigenartig erscheinen, aber selten hat der Tod einer Einwohnerin von Westshire so viele Rätsel aufgegeben«, begann er mit sichtlicher Mühe. Nicht wenige hätte eine solche Aussage wahrscheinlich aufhorchen lassen oder gar erschüttert. Violett jedoch nahm sie mit Fassung auf. Dass sich hinter der Person ihrer Mutter ein großes Geheimnis verbarg, wusste sie aus eigener Erfahrung schließlich nur zu gut.

»Das liegt sicher nicht an der Todesursache«, meinte Violett mit einer Unbeschwertheit in der Stimme, die es dem Pfarrer leichter machen sollte, weiterzureden.

Ihre eigenen Emotionen versuchte sie, wie in einer Glaskugel so gut wie möglich unter Verschluss zu halten, und übte sich damit in Lauras größter Disziplin. Sie wollte ohne Tränen und völlig nüchtern etwas Neues erfahren, das sie in ihrer ganz eigenen Mission unterstützen würde.

Der Pfarrer wirkte angesichts ihrer Gelassenheit zunächst etwas überrascht, fuhr dann aber fort: »Ich werde mir gerade darüber bewusst, dass Sie, wie alle hier in Westshire berichten, in der Tat ein sehr aufgewecktes und kluges Mädchen sind. Aber ich will mich nicht mit Komplimenten aufhalten, wo ich doch deutlich spüre, dass Sie zur Detektivin Ihrer eigenen Familiengeschichte werden wollen und sollen. Denn Ihre Mutter …« Der Pfarrer war trotz Violetts zur Schau getragener Gelassenheit nicht sicher, wie er das formulieren sollte, was er Violett nun mitteilen musste. Doch nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, nahm er einen neuen Anlauf und sagte so beherrscht wie möglich: »Ihre Mutter war auf dem Papier nie eine Maycen.«

Violett zuckte zusammen, denn diese Nachricht erschütterte sie in ihren Grundfesten. Trug sie etwa einen Familiennamen, der das Fantasieprodukt ihrer Mutter war? War Laura eine Hochstaplerin gewesen? In ihrem eigenen Pass stand doch …

»Miss«, der Pfarrer schien mit einem Mal unsicher zu sein, mit welchem Namen er Violett ansprechen sollte, »es sieht ganz so aus, als wäre Ihre Mutter auf unerklärliche Weise an einen Pass gekommen, der nicht ihren korrekten Namen wiedergibt. Das gibt auch den Behörden hier vor Ort große Rätsel auf. – Sie stehen damit vor dem Problem, dass sie nicht wissen, nach welcher Geburtsurkunde sie suchen sollen. Es mag hier auf der Insel zwar viele Maycens geben, aber mit keinem von ihnen war Laura blutsverwandt. All ihre Familienmitglieder müssen bereits verstorben sein, sodass eine Blutsverwandtschaft nur noch auf sehr teurem Wege nachzuweisen wäre, was außerdem einen unglaublichen Arbeitsaufwand nach sich ziehen würde, den die Behörden unbedingt umgehen wollen und zu meinem Missfallen sicher auch umgehen werden. Denn kein Brite wünscht – so hat es ein Beamter mir gegenüber formuliert –, dass Steuergelder für Recherchen nach dem wahren Familienhintergrund einer Person ausgeben werden, die nicht von öffentlichem Interesse ist. Die Beamten fühlten sich in diesem Punkt nach einem Blick auf die Vita Ihrer Mutter bestätigt. Doch aus welchem Grund Laura so handelte wie geschehen, lässt natürlich viele Fragen zurück. Außer Ihnen und meiner Wenigkeit will sich aber offensichtlich niemand mit diesem Thema befassen.«

»Sie wollen mir helfen?«, fragte Violett. Ihr traten Tränen in die Augen, deren Glanz sich im Sonnenschein reflektierte, der durch eines der kleinen Fenster fiel. Es war nur allzu verständlich, dass sie nun nicht länger zu einem gelassenen Auftreten fähig war. Wie hätte sie angesichts dieser Nachricht auch Unbefangenheit demonstrieren können? Sie trug nicht einmal einen gesetzlich korrekten Nachnamen. Wer wäre da an ihrer Stelle nicht verzweifelt? Musste man sie nun als Ms. X oder Ms. Y. ansprechen? Dann schöpfte sie für einen Moment Hoffnung.

»Mr. O’Connell«, begann sie mit zittriger und tränenerstickter Stimme, »ist es nicht möglich, dass ich den Nachnamen meines Vaters trage?«

»Die Behörden haben zunächst natürlich auch in diese Richtung geforscht. Ihre Mutter scheint, wenn überhaupt, nur eine symbolische Ehe eingegangen zu sein, denn es gibt kein Schriftstück, das ein von ihr und einem Mann geschlossenes Bündnis bezeugt.«

»Darf ich Ihnen noch etwas anvertrauen?«

Der Pfarrer lächelte leicht amüsiert, als sei dies eine völlig überflüssige Frage. Sprachen sein Beruf und sein Auftreten ihr gegenüber nicht für sich?

»Reden Sie nur, ich habe Ohren, die viel hören und einiges aushalten können«, meinte er. »Dass ich, egal, welche Information Sie mir auch geben mögen, zum Schweigen verpflichtet bin, ist Ihnen ja bekannt. Schon bevor ich mich der Religion und dem Herrn verschrieben habe, habe ich die Geheimnisse vieler Klassenkameraden mit mir herumgetragen. Die hätte keiner aus mir herausgeholt. Selbst dann nicht, wenn man mich mit Lakritze und Lollis auf dem Schulhof bestochen hätte. Da die Sorgen und Nöte meiner Klassenkameraden bei mir schon immer gut aufgehoben waren, besaß ich wohl bereits früh eine nicht zu verachtende Prädestination für meine Stellung, wobei dieses Wort für mich kaum eine Bedeutung hat. Denn für mich ist sie vielmehr eine Aufgabe und Berufung.«

Violett nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie weitersprach: »Meine Mutter war für mich schon früh eine Art Gralshüterin. Nur einmal – ich war gerade fünf Jahre alt – hatte ich die Chance, den vermeintlichen Vornamen meines Vaters zu erfahren. Ich hoffe, dass zumindest dieser kein Fantasieprodukt meiner Mutter war.«

»Das würde ich mir ebenfalls wünschen. Verraten Sie ihn mir?«

»Cedric«, stieß Violett angestrengt hervor.

»Das könnte tatsächlich ein Anhaltspunkt sein«, meinte der Pfarrer und legte seine Stirn in Falten. »Da bisher keine Familienmitglieder zur Identifizierung Ihrer Mutter ausfindig gemacht werden konnten, ist er der Einzige, den wir vorerst haben.«

»Bewahren Sie die Tasche meiner Mutter auf?«, fragte Violett.

»Die Behörden haben sie an sich genommen, obgleich keinerlei Papiere darin waren. Ich denke aber, dass Sie die Tasche in einigen Tagen werden abholen können. Denn schließlich werden die Beamten aller Voraussicht nach keine weiteren Nachforschungen anstellen.«

Violett verließ das Pfarrhaus mit dem Gefühl, eine Spur verfolgen zu können, die sie am Ende vielleicht zu einer Antwort auf all die ungelösten Fragen führen würde. Ihr Herz pochte so heftig, als wäre es durch diesen Lichtblick zu neuem Leben erweckt worden. Eine Reanimation, die eine einfache Nachricht ausgelöst hatte: Sie hatte die Möglichkeit, ihren Vater zu finden. Und selbst wenn er, wie Violett schon als Fünfjährige aus Lauras Erzählung geschlossen hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilte, würde die Gewissheit, seinen Namen zu tragen, sein kaltes Grab nicht mehr ganz so trostlos erscheinen lassen. Im Gegenteil. Denn Violett war sich sicher, dass sie es als Verknüpfungspunkt zwischen ihrer eigenen Seele, der von Laura und natürlich der ihres Vaters verstehen würde. Auch wenn sie nur noch im Geiste als Familie vereint wären, weil ihnen die Umstände des Schicksals die Chance auf ein gemeinsames Leben genommen hatten, so glaubte Violett dennoch, dass sie eine innere Einheit spüren würde, nach der sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Dass Laura ihr nur so wenig von ihrem Vater erzählt hatte, ließ darauf schließen, dass sein Tod sie unsagbar verletzt hatte.

Der Gedanke, dass Laura ihr den Vater bewusst vorenthalten hatte, als dieser noch lebte, schien ihr unerträglich. Denn hatte sie nicht angedeutet, er hätte nicht das Geld gehabt, sie zu ernähren? Ein Gefühl von Wut brandete in ihr auf. Hatte Laura aus falschem Stolz die Tür zu ihrem alten Leben für immer zugeschlagen? Hatte sie Violetts Vater nicht das Gefühl geben wollen, für sie aufkommen zu müssen? Violett musste diese Gedanken verdrängen, um nicht verrückt zu werden. Nein, Laura hätte ihr das bei all der Geheimniskrämerei sicher nicht angetan. Nicht ihrer geliebten Tochter …

Als sie ihre Wohnung betrat, wurde Violett bewusst, dass ihr dieses Gedankenspiel eine Menge Kraft geraubt hatte, die sie doch gerade jetzt so dringend brauchte.

Sie sah auf die Uhr und registrierte, dass die Mittagszeit schon vorüber war. Aus den Toastscheiben, die noch in ihrem Brotkasten lagen, machte sie sich ein kleines Sandwich, das sie mit all dem, was ihr im Kühlschrank in die Hände fiel, recht wahllos belegte. Gedankenverloren strich sie Butter und Ahornsirup auf die Toastscheiben, bevor sie sie zum Abschluss noch mit ein wenig Käse garnierte. Sie brachte das Sandwich aber nicht nur wegen seiner merkwürdigen Zusammenstellung nur schwer hinunter. Die Freude darüber, unter Umständen ihre wahren Wurzeln zu finden, und die Angst davor, eine Wahrheit zu erfahren, die sie nicht ertragen konnte, hatten in ihr einen großen inneren Widerstreit entfacht, der sich wie ein starkes Feuer anfühlte.

Heute musste sie ihre Schicht im Café zum Glück erst am Abend antreten, obwohl dort Hochbetrieb herrschen dürfte.

Violett beschloss, so bald wie möglich den Bus nach Sunderfield, die nächstgrößere Stadt, zu nehmen, wo es ein Internetcafé gab. Sie selbst besaß nämlich leider keinen Computer mit Internetzugang. Sie hatte die Hoffnung, dass ihr Vater irgendeine Spur im Netz hinterlassen haben könnte. Denn man sagte bekanntlich oft, dass das Internet alles wusste. Aber galt das auch für einen Menschen, der vor gut einundzwanzig Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach noch gelebt hatte, sich jedoch nicht durch eine besondere Leistung hervorgetan hatte? Schließlich kannte sie nicht einmal den Beruf ihres Vaters. Wenn er zum Zeitpunkt von Lauras Schwangerschaft tatsächlich nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung gehabt hatte, konnte er wie sie einer einfachen Tätigkeit nachgegangen sein oder im besten Fall in einem Studium gesteckt haben. In dem Fall wäre ein Erfolg ihrer Suche um einiges wahrscheinlicher. Mit diesen Gedanken setzte sie sich vor ihren alten Fernseher, den viele wohl eher in einem Museum vermuten würden. Violett wusste zwar, dass auf BBC im Moment die Nachrichten liefen, schaltete ihn aber dennoch ein, obwohl sie in ihrer Verfassung eigentlich keine Katastrophenmeldungen gebrauchen konnte.

Eine der ersten Nachrichten, die über den Sender gingen, betraf den Tod eines Mannes und seiner Frau, die ein weltweites Brauereiimperium begründet hatten und zu den bekanntesten Gesichtern Großbritanniens zählten: Michael und Lydia Evans. Beide waren in Frankreich auf der Hauptstraße nach Mandlieu – eine malerische Stadt in der Provence – tödlich verunglückt. Dort verbrachten sie den Meldungen zufolge in einem großen romantischen Feriendomizil ihren alljährlichen Urlaub. Das Anwesen erstreckte sich über mehrere Tausend Hektar und war von zahlreichen Weinbergen umgeben.

Es gehöre aber nicht der Familie, sondern guten Freunden der Evansʼ, hieß es in den Nachrichten weiter.

Aus ihr vollkommen unerklärlichen Gründen überkam Violett ein beklemmendes Gefühl, als sie die Bilder des Ehepaares und ihres verunglückten Wagens sah. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte sie eine innere Verbundenheit mit Michael und Lydia Evans. Aber warum? Sie kannte die beiden doch überhaupt nicht. Vielleicht hatte sie in irgendeiner Zeitung schon einmal von ihnen gelesen, aber das konnte doch noch keine emotionale Bindung zu ihnen herstellen. Sie erinnerte sich auch nicht daran, zuvor schon einmal ein Foto von den beiden gesehen zu haben. Violett sank auf ihrer Couch merklich in sich zusammen. Mit einem Mal verfolgte sie den Fernsehbericht wie gebannt. Sie konnte ihre Augen kaum mehr von den schrecklichen Bildern lösen, die das verunglückte Auto sowie Michael und Lydia Evans in ihrer Brauerei oder auf gesellschaftlichen Anlässen zeigten. Die außergewöhnliche Anziehung, die die Evansʼ auf sie ausübten, konnte doch kaum an ihrer wirtschaftlichen Macht und dem damit einhergehenden Prestige liegen.

Es wurde weiter berichtet, dass sich die »großen Evansʼ«, wie sie von ihren Landsleuten liebevoll genannt wurden, schon vor längerer Zeit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatten. Die Führung des Betriebs hatten sie vor zwei Jahrzehnten an ihre Tochter Sadie und deren Mann, Sam Miller, übergeben. Dieser entstammte einer großen amerikanischen Brauereidynastie, mit der die Evansʼ Anfang der Neunzigerjahre fusioniert und so die weltweite Marktführung übernommen hatten. Ihre Biermarke »Silverline« wurde daraufhin weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Wie ein Prinzenpaar hatten sie die Brauerei sowohl nach innen als auch außen repräsentiert. Gut neunzehn Jahre später hatten sie das Zepter aus persönlichen Gründen an ihre drei Kinder, John, Jason und Emily, weitergereicht, die die Brauerei seither ebenso wie das Unternehmen »Evanʼs Inc.« überaus erfolgreich weiterführten. Vor allem John und Jason wurden eine ausgeprägte unternehmerische Weitsicht und ein überaus großes Geschick nachgesagt, mit deren Hilfe sie ihre Biermarke, die von den Briten nur »Silver« genannt wurde, auch auf neuen Märkten erfolgreich platzieren konnten.

Nun ging es um die Aufteilung eines Erbes von geschätzt gut hundert Millionen britischen Pfund – Vermögenswerte, auf die außer Michael und Lydia Evans selbst bisher kein Familienmitglied hatte zugreifen können. Die Brauerei war aufgrund ihres sich täglich verändernden Wertes nicht in der Erbmasse enthalten, würde jedoch sicher in den Händen der Familie bleiben, die in Zukunft allenfalls einzelne Unternehmensteile outsourcen würde, um die Kosten zu senken. Das hatte der »große Evans« bisher weniger aus den unternehmerischen als aus den ethischen Grundsätzen seiner Firmenpolitik nicht zugelassen und kategorisch abgelehnt. Diese Maxime mussten sowohl Sadie und Sam als auch seine Enkelkinder bisher beherzigen. Die meisten Kenner der Familie und der Großteil der Journalisten gingen davon aus, dass Sadie Evans zugunsten ihrer Kinder, die die Geschicke der Brauerei bereits lenkten, auf das Erbe verzichten werde. Der Nachrichtensprecher sagte im selben Atemzug, es sei bereits der dritte große Schicksalsschlag, den die Evansʼ zu verkraften hätten. Als läge über dieser Familie, deren Mitglieder doch stets ein skandalfreies und vorbildliches Leben geführt hatten, ein Fluch. Ihre Tochter Laura war im Alter von vierundzwanzig Jahren völlig unerwartet an Nierenversagen gestorben, und Sadies Ehemann Sam war von einer Bergtour im Himalaja vor gut vier Jahren nicht wieder zurückgekehrt. Nun mussten die krisenerschütterte und -erprobte Sadie und ihre Kinder erneut große Stärke beweisen und in dieser schwierigen Zeit als Familie eng zusammenstehen.

Violett hatte bei dem Namen Laura kurz aufgehorcht. Doch dann war sie zu der Überzeugung gekommen, dass ihr lediglich ihre Fantasie einen üblen Streich spielte. Ihre Mutter würde doch wohl kaum dieser überaus wohlhabenden Familie entstammen. Zumal die Tochter der Evansʼ ja bereits mit vierundzwanzig Jahren verstorben war. Violett dachte, dass sie auf dem Boden der Tatsachen bleiben müsse und dass dieser sie wohl kaum zu den Evansʼ führen würde. Diese hätten sicherlich nicht jahrzehntelang die Existenz ihrer eigenen Tochter verleugnet, nur weil sie sich in einen mittellosen Mann verliebt hatte und von ihm schwanger geworden war. Das ergäbe überhaupt keinen Sinn. Man lebte schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert. Also schlug sich Violett diesen Gedanken wieder aus dem Kopf. Ich muss schon sehr erschöpft sein, um auf so einen Mist zu kommen, dachte sie.

Kurz darauf wurden ihre Augenlider immer schwerer, und sie fiel in einen tiefen Schlaf, der den Anstrengungen der vergangenen Stunden Respekt zollte.

Nach nur wenigen Stunden schreckte Violett aus ihren Träumen hoch, weil das Telefon klingelte. Wer rief sie da nur an? Hatte Brian geschwindelt, als er gesagt hatte, er würde sich an das von seinem Professor verordnete Handyverbot halten? Sie blieb für einen Moment so regungslos wie eine Porzellanpuppe. Sie traute ihren Ohren nicht. Aber das Telefon gab tatsächlich Laute von sich. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen. Sicherlich war es Brian. In dieser festen Annahme nahm sie ab und drückte sich den Hörer ans Ohr.

»Hallo, bist du’s, Brian?«

»Nein, so wollte mich meine Mutter zwar ursprünglich mal nennen, aber seit nunmehr sechzig Jahren höre ich auf den Namen Daniel. Hier ist Pfarrer O’Connell.«

»Woher haben Sie meine Nummer?«

»Vom lieben Gott zugegebenermaßen nicht. Hat mich zwei Gespräche gekostet. Eins nach Schottland und eins nach Italien.«

»Wie bitte?«

»Ich wusste, dass Sie mit Brian McCallister liiert sind. Ich habe Sie beide schon einmal zusammen im Ort gesehen. Er ist genau wie seine Familie hierzulande natürlich sehr bekannt. Dass niemand außer ihm Ihre Telefonnummer kennen kann, war mir ebenfalls schnell klar. Also rief ich zuerst in seiner Universität an, und die teilte mir mit, dass er auf Studienreise in Rom ist. Dann gab man mir die Hotelnummer seines Professors, dessen Vater ich übrigens schon als kleinen Jungen gekannt habe. Nun musste Mr. McCallister nur noch ans Telefon der Hotelrezeption geholt werden und … Ich wäre auch persönlich noch einmal bei Ihnen vorbeigekommen, aber der Bus von Sunderfield nach Westshire fährt nicht so oft, weshalb ich noch dort feststecke. Mein geliebtes Auto befindet sich nämlich gerade in der Werkstatt.«

»Was machen Sie denn in Sunderfield?«

»Etwas, was die jungen Leute ›surfen‹ nennen, ohne Wellen, versteht sich. Ich war bis vor Kurzem im Internetcafé.«

»Haben Sie etwa …?«

»Genau das habe ich.«

Violett war für einen Moment völlig sprachlos.

»Sie wollen sicher erfahren, was ich herausbekommen habe. Da Sie dem Schweigen am anderen Ende der Leitung zufolge gerade einen Schock erlitten haben, teile ich Ihnen die gute Nachricht mit: Ihr Vater ist im World Wide Web zu finden. Und: Er lebt!«

In diesem Moment fiel Violett der Hörer aus der Hand. Sie fasste sich an ihr Herz, das nun nicht mehr normal schlug, sondern regelrecht trommelte. Das konnte doch nicht wahr sein! Ihr Vater lebte! Laura hatte sie … Für einen kurzen Moment hatte Violett das Gefühl, alles im Raum würde anfangen, sich zu drehen. Sie schien zunächst völlig unfähig, den Hörer erneut in die Hand zu nehmen, doch dann griffen ihre Hände wie von selbst danach. Sie musste jetzt einfach die Wahrheit erfahren, auch wenn diese einen emotionalen Graben zwischen Laura und ihr aufwerfen könnte.

Als der Hörer wieder in ihren zitternden Händen lag, fragte sie: »Mr. O’Connell, sind Sie noch dran?«

»Ich habe extra gewartet, bis Sie wieder bei mir sind und sich gesammelt haben. Ihr Vater ist ein angesehener Juraprofessor geworden, aber schon mit gut dreiundzwanzig Jahren in die Vereinigten Staaten immigriert, noch als Student wohlgemerkt. Dort hat er schnell Karriere gemacht und bekleidet heute einen Lehrstuhl an der Columbia University.«

Violett war von dem Gehörten völlig überwältigt. Sie rief in den Hörer: »Danke, danke, Pfarrer O’Connell. Danke für alles.« Dann legte sie auf.

Die Wut über ihre Mutter gewann in ihrem Kopf vorerst nicht die Oberhand, sondern die reine Freude! Ihr Vater lebte! Und wie! Das musste gefeiert werden! Violett tanzte durch ihre Wohnung, ergriffen von einer bisher nicht gekannten Euphorie. Sie taumelte geradezu vor Glück. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie hatte einen Vater in Amerika! Sie überlegte, ob sie nicht sofort in das kleine Lebensmittelgeschäft von Mrs. Jackson laufen und sich eine Flasche Sekt kaufen sollte. Den konnte sie sich auf jeden Fall leisten, denn der Sekt, den Mrs. Jackson anbot, gehörte sowieso nicht gerade eben zur Spitzenklasse. Dennoch waren die wenigen Flaschen, die sich in ihren Regalen fanden, zu Violetts Verwunderung oft ausverkauft. Dann dachte sie, welchen Eindruck es erwecken mochte, wenn sie einen Tag nach Lauras Tod Sekt einkaufen würde, als hätte sie Grund zum Feiern. Dass sie im Gegensatz zu früher mit der Gewissheit lebte, einen Vater zu haben, konnte sie den Leuten schließlich schlecht erzählen. Dennoch war es natürlich wundervoll, quasi über Nacht einen Vater bekommen zu haben, und sie hätte es, wäre die Situation anders gewesen, an die große Glocke oder gar an »Big Ben« gehängt. So kam ihr nach kurzem Nachdenken die Idee, das Spirituosengeschäft von Mr. Cunningham aufzusuchen und den Lieblingswein ihrer Mutter, einen Sauvignon blanc, zu kaufen, wenngleich sie sich bezüglich ihrer Gefühle für Laura momentan recht unschlüssig war. Sie wollte aber nicht zulassen, dass die Wut über Lauras Lüge die Oberhand gewann, da zum einen die innere Freude und die Erleichterung überwogen und sie zum anderen zu dem Schluss kam, dass sie sich in einer ruhigen Minute noch einmal ihre ganz eigenen Gedanken über das Lügenkonstrukt ihrer Mutter machen konnte. Der Kauf des Lieblingsweins ihrer Mutter würde die Leute sicher nicht zu weiteren Tuscheleien hinreißen. Sie würden vielmehr denken, dass Violett auf diese Art und Weise ihrer gedenken wollte. Das traf zwar irgendwie durchaus zu, aber eigentlich wollte Violett verstärkt ihren Vater ins Zentrum ihrer Gedanken rücken und die an ihre Mutter zumindest vorerst verdrängen. Lauras Lügenhaus stand auf einem sehr wackeligen Fundament und begann endlich langsam einzustürzen, wenngleich sie es sicher aus einer Not heraus errichtet hatte und nicht, um ihre Tochter zu verletzen.

Violett nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen in den Vereinigten Staaten anzurufen. Es war doch sicher möglich, dass sie mit ihrem Vater verbunden wurde. Er war schließlich ein anerkannter Juraprofessor und hatte daher wahrscheinlich auch eine eigene Sekretärin und natürlich einen eigenen Anschluss. Sie versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Als kleines Kind war ihr das immer nur sehr schlecht gelungen, aber ihre Vorfreude nährte ihre Fantasie in besonderem Maße. So stellte sie sich ihren Vater in einem imposanten Büro hinter einem nicht weniger beeindruckenden Schreibtisch vor. Dabei produzierte ihre Fantasie das Bild eines Mannes, das der Wirklichkeit zwar nicht entsprechen konnte, sich aber unglaublich selig anfühlte. Violett sah ihn vor ihrem inneren Auge und bediente dabei die Vorstellung des Edelmannes, den Laura ihr als Kind angedeutet hatte. Sie sah einen sichtlich ergrauten älteren Mann vor sich. Er trug einen edlen und vornehmen Nadelstreifenanzug, war in seinen Wesenszügen aber ganz natürlich. Cedric verkörperte mit seiner fast schon aristokratischen Erscheinung zwar eine besondere Eleganz, aber gleichzeitig auch eine bedeutende Bodenständigkeit. So wie Violett selbst. Sie formte in ihrem Kopf weiter die Vorstellung eines Mannes, der trotz seines Alters noch sehr fit war und lediglich einen kleinen Wohlstandsbauch angesetzt hatte. Sie stellte sich ihren Vater, Professor Maycen, mit einer kleinen schwarzen Brille vor, die relativ weit vorne auf seiner Nase saß und durch die er die Welt mit äußerst aufgeweckten Augen betrachtete, woraus die gleiche Neugier sprach, die Violett auszeichnete. Violett gab ihrem Fantasievater noch eine Pfeife in die Hand, an der er zog, wenn ihn die Studenten mal wieder zu viele Nerven gekostet hatten. Einen Schnurrbart verlieh sie ihm nicht, da sie das sehr altbacken fand. Die Zeiten von Tom Selleck waren schließlich vorbei. Außerdem war sie sich sicher, dass er um die Augen herum ein paar Lachfältchen hatte. Violett schmunzelte bei dieser Vorstellung.

Nun war sie mit dem Bild ihres Vaters überaus zufrieden und beschloss, sich sofort auf den Weg zu Mr. Cunningham, dem Spirituosenhändler in Westshire, zu machen. Er verfügte über ein für den kleinen Ort außerordentliches Sortiment an erlesenen Weinen, sodass sein Geschäft, das etwas abseits des Geschehens in einem Wohnviertel des Dorfes lag, schon längst kein Geheimtipp mehr war. Auch aus anderen Städten der Region stammende Weinkenner und Liebhaber eines guten Tropfens fanden sich bei ihm ein und überließen ihm mit bestem Gewissen ihr Geld. Ein guter Wein war ja schließlich nicht mit Gold zu bezahlen, auch wenn viele Briten natürlich bevorzugt lieber zu einem Bier als zu einem edlen Rebensaft griffen. Mr. Cunningham freute sich natürlich darüber, dass sein Geschäft so florierte. Sein einst sehr düsteres Gesicht zeigte nun stets ein Strahlen, egal, wer über die Ladenschwelle trat; nur Jugendlichen wies er die Tür. Selbst abtrünnige Biertrinker waren ihm herzlich willkommen. Seine Sorgenfalten schienen sich zusehends zu glätten. Das Preisfeilschen mit den Händlern und Weinbauern hatte sich gelohnt, der Schuldenbetrag bei seiner Bank schrumpfte zusehends, sodass er sich seine schweißgebadete Stirn nicht mehr so oft wie früher mit seinem alten Taschentuch abwischen musste. Sein geblümtes Taschentuch zückte er für gewöhnlich, wenn er im Stress war. Sein ganz persönliches Markenzeichen. Die Leute im Ort scherzten, es habe wahrscheinlich schon in seiner Wiege gelegen.

Violett raste mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs durch die Straßen zum Weinladen. Die Leute um sie herum nahm sie kaum wahr. Sie wollte nichts mehr erklären, sondern feiern. Mr. Cunningham war über ihr Erscheinen augenscheinlich leicht überrascht. Auf seine Mitleidsbekundung reagierte Violett gar nicht richtig. Er holte sein geblümtes Taschentuch hervor, tupfte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und dachte bei sich: Jeder trauert anders. Er würde beim Verlust seiner Mutter vermutlich tagelang nichts essen können, was ihm angesichts seiner überflüssigen Pfunde allerdings auch nicht schaden würde. Die Welt seiner Bordeauxʼ und Rosés wäre jedoch nicht mehr die gleiche, er würde im Kontakt mit seinen Lieferanten und Händlern am Telefon wahrscheinlich ständig in Tränen ausbrechen und, um sie zu trocknen, nicht nur sein geliebtes Taschentuch, sondern seine ganze Tischdecke benötigen.

Mr. Cunningham behielt seine Gedanken aber natürlich für sich. Violett befand sich währenddessen schon längst wieder in ihrem Wohnzimmer. Sie griff zu dem alten Korkenzieher, der wie gewohnt in der Schublade der antiquierten Kommode lag, und zog in Windeseile den Korken aus der Flasche, der gar keine andere Chance hatte, als sich Violetts Kraft, die sie aus ihren Armen und Fingern schöpfte, zu ergeben. Nun holte sie sich ein Glas aus der verstaubten Vitrine, allerdings nicht das, das Laura immer benutzt hatte, sondern vielmehr das, das für Gäste bereitgehalten worden war, obwohl es die in ihrem Haus nie gegeben hatte. In der Folge hatten die angestaubten Gläser bisher lediglich ein Dasein als Dekoration gefristet. Nachdem sie sich ein Glas des in Italien angebauten Weißweins eingeschenkt hatte, hob sie es mit den Worten zum Himmel: »Auf dich, Paps, ich freue mich auf dich.«

Nicht nur der Alkohol ließ Violett in dieser Nacht ruhig schlafen, sondern auch eine innere Sicherheit, die sie bisher nie so deutlich gespürt hatte und die sie in einen erholsamen Schlaf wiegte.

Als Violett am nächsten Morgen wieder zu sich kam, fiel ihr Blick auf den Kalender, und sie fuhr erschreckt empor. Sie hatte gestern vor lauter Freude ihre Schicht im Café vergessen! Ihr Arbeitsplatz war damit wohl Geschichte, zumal sie am Vortag um die Zeit, zu der sie eigentlich Tabletts und Gläser hätte jonglieren müssen, mit einer Weinflasche gesichtet worden war. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie war doch wirklich dämlich! Nicht, dass sie ihren Arbeitsplatz sonderlich vermissen würde, ihr Gehalt dafür aber umso mehr. Also lief sie eilig zum Telefon und wählte mit zittrigen Händen die Nummer des Cafés »Lorraine«. Ihr erster Anruf des Tages hatte eigentlich kein Orts-, sondern ein Ferngespräch in die Vereinigten Staaten sein sollen. Schöne Bescherung!

Violett überlegte, welche Ausrede sie ihrem Chef präsentieren sollte, damit er sie nicht auf die Straße setzte. Doch bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, meldete er sich bereits am anderen Ende der Leitung. Violett machte sich den Vorwurf, zuvor nicht noch einmal in sich gegangen zu sein, um sich im Kopf ein paar geeignete Ausreden zurechtzulegen. Aber vielleicht waren ja die, die direkt aus dem Bauch kamen, ohnehin die besten.

»Dawson hier, Café Lorraine«, meldete sich die meist missgelaunte Stimme ihres Chefs. Er war mit einer Italienerin verheiratet und hatte seinem Café als Zeugnis seiner Liebe zu ihr eigentlich einen italienischen weiblichen Vornamen geben wollen. Dass er in die falsche Sprachkiste gegriffen hatte und über dem Eingang zum Café nun stattdessen in großen Lettern der Name einer Französin prangte, hatte ihm seine Frau offenbar noch nicht mitgeteilt. Wahrscheinlich wiederum ein Zeugnis ihrer Liebe. Man sollte seinen Angetrauten schließlich ehren, und wenn dazu gehörte, dass man ihm einen Fehler verschwieg, war das wohl ein Zeichen dafür, dass man sich die Worte des Pfarrers bei der Trauung sehr zu Herzen genommen hatte. Auch wenn der Fehler natürlich für jeden, der auch nur geringe Sprachkenntnisse hatte, deutlich sichtbar war.

»Hier ist Violett«, begann sie schüchtern.

»Ich habe dich gestern schon vermisst. Deine Kollegin, die gerade Feierabend machen wollte, hat sich natürlich gefreut, dass sie deine Schicht völlig überraschend auch noch übernehmen durfte. Das Lächeln steht ihr immer noch ins Gesicht geschrieben.«

»Nun«, versuchte Violett zu erklären, die mit der Ausdrucksweise ihres Chefs oft Probleme hatte, denn er verstand es, Vorwürfe besonders ironisch zu verpacken.

»Ich war gestern …«, fuhr sie fort, beschloss dann aber, gleich zum eigentlichen Punkt überzugehen: »Sitze ich jetzt auf der Straße?«

»Was fragst du mich das? Du musst doch wissen, wo du dich gerade aufhältst«, scherzte Violetts Chef und ließ sie damit wissen, dass sie ihre Stelle nicht verloren hatte.

»Danke«, entfuhr es Violett.

»Kein Problem. Ich entlasse ungern so eine nette Bedienung wie dich. Ich glaube sogar, dass allein deine Anwesenheit den Umsatz steigert. Bei dir haben die Leute eben nicht das Gefühl, dass du sie am liebsten sofort um die Begleichung der Rechnung bitten willst, noch ehe sie überhaupt bestellt haben. Dann mach es mal gut. Noch einen guten Tipp: Alkohol ist keine Lösung, solange es kein gutes Bier ist. Auf Wiedersehen, Violett.« Ihrem Chef war ihr Gang zu Mr. Cunningham anscheinend nicht verborgen geblieben. Nun war sie also um eine große Weisheit reicher.

Im Anschluss wählte sie sofort die Nummer der internationalen Auskunft, um mit den Vereinigten Staaten verbunden zu werden. Nachdem sie die Sorge um den möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes nun los war, würde die Neugierde auf ihren Vater sie jeden Augenblick zum Platzen bringen. Schon nach einem kurzen Gespräch mit einer Frau mit einer sehr unangenehmen Stimme war sie im Besitz der Telefonnummer der Columbia-Universität und ließ sich durchstellen. In den Sekunden, in denen die Verbindung aufgebaut wurde, spürte sie einen richtigen Trommelwirbel in ihrem Herzen. Endlich! Sie würde ihrem Vater durch dieses Telefonat ein Lebenszeichen senden, das er durch seine Stimme erwidern würde. Als würden sie sich gegenseitig Morsezeichen durchgeben und eine Botschaft, die nur sie beide verstanden. Wie herrlich, das Warten hat ein Ende, dachte sie glückserfüllt, als sich am anderen Ende der Leitung eine freundliche Frauenstimme meldete.

Violett war jedoch zunächst mit der Sekretärin der Universität, Mrs. Summers, und nicht mit der Bürovorsteherin ihres Vaters verbunden worden.

»Hier ist Mrs. Summers. Die Sekretärin der Hochschule …«

»Könnte ich bitte sofort mit Professor Maycen sprechen?«, schoss Violetts heraus, ehe Mrs. Summers überhaupt weiterreden konnte. Violett hoffte, in wenigen Augenblicken die Stimme ihres Vaters zum ersten Mal hören zu können. Doch was sollte sie ihm eigentlich sagen? Hallo, bitte nicht auflegen! Ich bin deine Tochter. Oder …

Doch dann folgte die Ernüchterung auf dem Fuße, denn Mrs. Summers meinte: »Da haben Sie Pech. Er macht nämlich gerade eine Kreuzfahrt in die Karibik, und da möchte er natürlich nicht gestört werden. Er hat sein Handy und all seine Paragrafen zu Hause gelassen, Sie verstehen? Wie ich der Nummer auf meinem Display entnehmen kann, rufen Sie aus Großbritannien an. Wollen Sie sich für einen Studienplatz hier bewerben? Falls …«

Violett ließ enttäuscht den Hörer sinken. Sie hörte der Sekretärin gar nicht weiter zu, sondern legte resigniert auf. Ihr großer Wunsch, ihren Vater zu sprechen, war nicht in Erfüllung gegangen. So versetzte sie sich in Gedanken ebenfalls in die Karibik und träumte davon, mit ihrem Vater barfuß an einem weißen Sandstrand mit Blick auf ein türkisblaues Meer entlangzuspazieren und ihm all das sagen zu können, was ihr auf der Seele lag, sodass all die Fragen, die sie beschäftigten, wie eine schwere Last von ihr fallen würden. Violett war beinahe wieder in der gleichen Stimmung wie kurz nach Lauras Tod, nur dass es diesmal hauptsächlich Enttäuschung war, die ihr einige Tränen aus den Augen lockte.

Sie fühlte sich erneut vollkommen energielos und schlurfte im Pyjama und mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand zum Briefkasten. Sie dachte, dass die Beileidskarten schließlich auch ein Recht hatten, irgendwann gelesen zu werden. Vielleicht würden sie sie sogar ein bisschen aufbauen. So stakste sie das Treppenhaus hinunter und ging auf ihren roten Briefkasten zu, dessen kaminrote Farbe an die vielen schnuckeligen Telefonhäuschen erinnerte, die man auf der Insel großteils ausgemustert hatte. Wie in Zeitlupe öffnete Violett die Klappe des Briefkastens, als hätte sie Angst davor, diese könnte sie erschlagen. Kaum hatte der Briefkasten seinen Inhalt preisgegeben, fielen Violett an die zwanzig Beileidskarten in die Hände, die recht zerknittert waren. Anscheinend hatte sie der Briefträger aus reiner Not in ihren Briefkasten regelrecht hineingepresst, in der Hoffnung, dieser würde nicht nachgeben. Violett klemmte sich die Beileidskarten unter den Arm und warf noch einen Blick in das Zeitungsrohr, in dem wie an jedem Tag der Tageskurier steckte. Mittlerweile waren es schon zwei.

Als Violett die beiden Exemplare herauszog, bog gerade der Briefträger um die Ecke.

»Hallo, Violett. Tut mir leid, wenn ich deine Briefe vergewaltigt habe. Aber ich habe mir gedacht, dass ich das Recht des Stärkeren anwenden muss, damit du deine Post bekommst.«

»Keine Sorge, Paul«, erwiderte Violett und konnte schon wieder ein wenig lächeln. Sie mochte den Briefträger sehr. Sie beide kannten sich schon, seit sie ihre ersten Brieffreundschaften geschlossen hatte.

»Ich habe hier noch etwas für dich«, meinte der Briefträger, »es ist ein Einschreiben.«

»Will etwa jemand das viele Geld, das ich von meiner Mutter geerbt habe?«, scherzte Violett und gab Paul eine einigermaßen leserliche Unterschrift.

Der Briefträger meinte: »Das Schreiben ist mit einem Siegel versehen und kommt von einem Notar, der offensichtlich den Nachlass irgendeiner Person verwaltet, die nicht mehr …« Er beendete seinen Satz nicht und fügte hinzu: »Tut mir leid, dass ich so neugierig war und den Briefkopf gelesen habe. Aber so ein Siegel ist auch nur schwer zu übersehen. Neugier sollte einem Vertreter meines Berufs eigentlich fremd sein.« Er drückte Violett den Umschlag mit dem roten Siegel in die Hand.

»Ist schon gut, Paul. Machʼs gut und grüß mir deine Frau.«

»Mach ich gern. Bis dann. Auf Wiedersehen. Alles Gute.«

Violett betrachtete die Anschrift näher. Moment mal! Er kam von einem Nachlassverwalter aus London! Wieso London? Es hätte sich doch einer von hier in der Nähe melden müssen, um ihr das Geld zu übertragen, das Laura in ihrem Leben so eisern zusammengespart hatte. Ein Testament hatte Laura zwar nie gemacht, aber ihre Bank hatte sich sicher mit einem Notar in Verbindung gesetzt. Violett interessierte sehr, welche Summe Laura auf ihrem Bankkonto hatte. Doch sie verstand immer noch nicht, warum sie ein Dokument mit Londoner Absender in den Händen hielt. Eine Nachricht von irgendwelchen Verwandten sähe schließlich anders aus.

Sie eilte die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, wo sie die Karten erst einmal auf ihrer Couch ablegte. Den Umschlag aus der Hauptstadt öffnete sie behelfsweise mit einem Messer. Dann zog sie ganze vier Blätter aus ihm heraus. Na ja, Notare waren noch nie dafür bekannt gewesen, sich kurz fassen zu können. Doch was Violett nun schwarz auf weiß geschrieben sah, verschlug ihr vollkommen die Sprache. Das Schreiben war an eine Violett Evans gerichtet. Hatte sich da jemand einen Witz erlaubt? Es war doch nicht der erste April! Die ganze Aufmachung des Dokuments sprach allerdings nicht für einen dummen Scherz, zumal es von einem Justin Whittlestone mit Doktortitel beglaubigt war. Sie las den Brief noch einmal kopfschüttelnd durch und verspürte dabei den beinahe unwiderstehlichen Drang, die Weinflasche von gestern Abend erneut zu öffnen. Sie zwickte sich, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, überprüfte ihren Verstand, indem sie das Abc vor sich hersagte. Da ihr dabei anscheinend kein Fehler unterlaufen war, befand sie sich wohl noch immer im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Noch einmal ging sie das Dokument im Stillen durch. Dort stand in schönster Juristensprache geschrieben:

An Erbpartizipantin Violett Evans

Violett Evans, die rechtmäßig erbende Tochter von Laura Evans, gest. am 05.09. d. J., wird zur Verlesung und Eröffnung des Testaments am 20. September um 9 Uhr zur Klärung der Hinterlassenschaften ihres Großvaters Michael Evans, gest. am 06.09. d. J., geladen. Aufgrund der Erbsumme wird um persönliches Erscheinen gebeten und darum, keine im eigenen Auftrag handelnde Person mit Prokura zu bestellen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Justin Whittlestone

Bei Fragen und für weitere Rechtsbelehrung stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, sobald das Testament verlesen wurde.

Unter dieser Nachricht war noch die Adresse von Whittlestones Büros verzeichnet, das allem Anschein nach im Herzen der Hauptstadt lag.

Die übrigen beigelegten Seiten bestanden aus einer Auflistung von Paragrafen und einer Rechtsbelehrung über das allgemeingültige Nachlassverfahren.

Violett wurde ganz schwarz vor Augen. Sie war eine Evans! Lauras Geister der Vergangenheit lebten also in einer stattlichen Villa an der Themse. Diejenigen, die sie zu einem verschlossenen Menschen und ihr das Leben einst zur Hölle gemacht hatten. In Violetts Adern floss also das Blut von Lauras größtem Feind: ihrer eigenen Familie. Violett fiel der Name Sadie Evans ein, den sie in den Nachrichten gehört hatte. Die dort gezeigten Bilder waren aber älteren Datums gewesen. Violett vermutete, dass sie den Achtzigern zuzuordnen waren. Sadie musste Lauras Schicksal damals doch aus nächster Nähe miterlebt haben. Hatte sie ihrer Schwester denn nicht helfen können? Verhindern können, dass der Himmel über ihr einbrach?

Sie musste ihr so schnell wie möglich gegenübertreten. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie überhaupt auch nur einen Penny aus dem Erbe der Evansʼ anrühren sollte. Wäre es in ihren Händen nicht schmutziges Geld? Sie wollte so schnell wie möglich mit Mr. O’Connell Kontakt aufnehmen, zumal sie sich auch darüber wunderte, dass es der Nachlassverwalter geschafft hatte, sie in diesem kleinen Ort ausfindig zu machen. Ein Kunststück, das den Evansʼ bisher nicht geglückt war.

Violett wurde bewusst, dass sie gar nicht im Besitz der Nummer von Mr. O’Connell war. Wie also sollte sie ihn erreichen? Den Weg zur Kirche einschlagen? Da fiel ihr Mrs. Winter ein. Eine Frau aus dem Dorf, die den Pfarrer regelmäßig aufsuchte, weil ihr Mann bereits gestorben war und sie sonst niemanden zum Reden hatte. So schenkte Mr. O’Connell ihr schon seit Jahren ein offenes Ohr, und man munkelte im Dorf, dass sich Mrs. Winter mittlerweile sogar Sünden ausdachte, die sie ihm beichten konnte. Der Pfarrer bekam im Gegenzug aber auch immer etwas von ihrem köstlichen Gewürzkuchen ab. Außerdem wurde sie oft auch mit einer Dose Plätzchen auf dem Weg zum Pfarrhäuschen gesehen. So wurde der Pfarrer stets gut verköstigt und hatte sicherlich auch nichts weiter dagegen, wenn Mrs. Winter auf seiner Türschwelle stand, zumal jedes ihrer Gespräche letztendlich in eine köstliche Teestunde mündete. Nur dem Klatsch, den sie ihm zusammen mit dem Ergebnis ihrer Backkünste so gerne servierte, war er sicherlich weniger zugeneigt. Ihm wäre es lieber gewesen, die Leute würden von selbst auf ihn zukommen und ihm von ihren Sorgen erzählen, anstatt durch das meist sehr verzerrte Bild von Mrs. Winter davon zu erfahren. Oft berichtete sie ihm richtige Schauermärchen von den Einwohnern Westshires. Mrs. Winter empfand sich als verkannte Miss Marple, die der Wahrheit auf den Grund ging. Doch leider endete diese meist schon in ihrem Mund, da sie aus lauter Langeweile ihrer Fantasie etwas zu viel Spielraum gab. So hatte sie gegenüber Mr. O’Connell beispielsweise im Brustton der Überzeugung behauptet, dass ihr Nachbar Mr. Livingston in seinem Garten mithilfe einer Schaufel einen Graben ausgehoben und neben ihm ein verdächtig großer, langer Sack gelegen hätte, in dem sie die Leiche seiner von ihm ermordeten Frau vermutete. Später hatte sich herausgestellt, dass in dem ominösen Sack nichts als einfache Blumenerde gewesen war, mit der ihr Nachbar ein Blumenbeet anlegen wollte, während sich seine Frau ein paar schöne Tage auf den Kanaren machte. Ein anderes Mal hatte sie dem Pfarrer berichtet, im Haus gegenüber würde sich eine militante und gefährliche Organisation formieren. Dieses Haus war jedoch lediglich eine Art Vereinshaus, in dem sich an dem von ihr beschriebenen Abend eine Handvoll Umweltschützer zu ihrer Hauptversammlung getroffen hatten. Mrs. Winters Nachbarn verzichteten mittlerweile schon freiwillig darauf, sich Hitchcocks »Psycho« anzuschauen, um nicht gleich die Polizei vor ihrer Tür stehen zu haben. Aufgrund dessen hatte ihr Mr. O’Connell, natürlich so subtil wie nur möglich, empfohlen, doch einmal ein Buch zu lesen, wohlgemerkt einen Liebesroman, und so ihre Zeit zu verbringen. Die Bibel hatte er ganz bewusst nicht zur Sprache gebracht, denn am Ende hätte ihm Mrs. Winter noch von einer plötzlichen Heuschreckenplage in ihrem Garten erzählt.

Violett warf also einen Blick in das örtliche Telefonbuch, das in ihrer Kommode lag. Nachdem sie Mrs. Winters Nummer im hinteren Verzeichnisbereich gefunden hatte, rief sie sie sofort an.

»Hallo, hier Winter. Wer spricht?«, meldete sich Mrs. Winters schrille und sensationslüsterne Stimme.

»Hallo, hier ist Violett.«

»Tut mir leid, dass du so schlecht klingst, Kind«, meinte Mrs. Winter zu Violetts Verwunderung. Sie selbst empfand den Klang ihrer Stimme als vollkommen normal, zumal sie sich große Mühe gab, gegenüber den Nachbarn und den restlichen Dorfbewohnern nicht zu zeigen, wie sehr sie die Nachricht, die sie heute erhalten hatte, aufregte.

»Mir geht es eigentlich ganz gut, aber …«

»Das denkt man immer, und dann passiert das große Unglück.«

»Mrs. Winter, ich bin von keinem tödlichen Virus befallen. Ich hätte nur gerne die Nummer von Pfarrer O’Connell.«

»Willst du ihn besuchen? Dann können wir uns ja dort treffen. Ich bin immer zwischen vier und fünf dort.«

Damit wusste Violett schon einmal, um welche Uhrzeit sie einen großen Bogen um das Pfarrhaus zu machen hatte. »Könnten Sie mir die Nummer des Pfarrers jetzt geben?«

»Das kann ich natürlich. Ich muss sie nicht einmal nachschlagen. Die habe ich fest in meinem Kopf gespeichert.«

Welch ein Wunder, dachte Violett genervt.

»Die Nummer lautet 475363. Sie erinnert mich …«

»Danke«, meinte Violett kurz, um Mrs. Winter nicht auch nur die geringste Chance zu geben, ein weiteres Wort zu sagen. Andernfalls kämen in ihr gewiss ganz unchristliche Gedanken auf. Erleichtert legte sie auf und wählte gleich darauf die Nummer von Mr. O’Connell. Sie hatte sie sich gut eingeprägt.

Lang lebe die Lüge!

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