Читать книгу Die Babymacherinnen - Lilli Lindberg - Страница 3
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ОглавлениеDie dritte sms an diesem Tag. Es wird weniger – er scheint also langsam zu kapieren, dass es definitiv keinen fünften Neuanfang geben wird. Lauter als beabsichtigt schlägt Gesa das Buch zu, so als wolle sie mit dem Geräusch den Arbeitstag beschließen. Die Suche nach dem richtigen Konstitutionsmittel für die Klientin muss bis morgen warten. Immerhin ist die engere Wahl schon getroffen. Ein neuer Tag bringt neue Impulse, und die hat Gesa dringend nötig.
Vor zwei Monaten hat sie sich endlich von Claudio getrennt. Lange genug haderte sie mit der Erkenntnis, dass eigentlich sie allein versucht hatte, die Beziehung zu führen. Sechs Jahre war sie darum bemüht, Claudios Lebensgewohnheiten und Vorlieben in ihre Pläne einzubinden, um zu erkennen, dass diese regelmäßig in Kompromissen zu seinen Gunsten endeten. Er war ihre große Liebe gewesen und offenbarte sich als größte Bremse ihres Lebens.
Der vierte sogenannte Neuanfang vor sieben Monaten hatte sich so müde und so wenig neu gestaltet, dass Gesas Entschluss reifte. Bevor er ihr wie eine überreife Tomate auf die neuen Schuhe aus hellem Kalbsleder plumpsen konnte, fasste sie ihn lieber in deutliche Worte. Claudio war endlich einmal sprachlos. Ob er jedoch wirklich so verblüfft war oder ob ihm einfach auch keine Überredungsargumente mehr einfielen, ist nun beim Löschen der drei sms längst nicht mehr interessant. Ausgebremst.
Wirklich interessant ist allerdings, dass die erwartete Erleichterung ausbleibt. Seit zwei Monaten wartet Gesa auf das große Aufatmen, auf ein Gefühl der Befreiung. War die Entscheidung, sich zu trennen, vielleicht doch nicht so richtig wie sie sich zunächst anfühlte?
„Aber ja! Es war längst überfällig. Das weißt du so gut wie ich.“
Das ist, was Michelle zu Gesas Zweifeln zu sagen hat. Wie gut, dass es Freundinnen gibt. Und wenn es eine gibt, die ganz genau weiß, was Gesa gut tut, dann ist es Michelle. Niemand außer ihrer Mutter kennt Gesa länger als Michelle. Sie haben zusammen die Schulbank gedrückt und sich auch nach dem Abi nicht aus den Augen verloren, obwohl Michelle zum Studium weggezogen ist. Selbst während der Phasen des intensiven Lernens, der Praktikumszeiten und Partnerschaften war immer Zeit für Austausch und Treffen.
„Ich bin stolz auf dich, dass du endlich einen Schlussstrich unter diesen zermürbenden Zustand gezogen hast. Du wirst sehen: Ab jetzt kannst du wieder nach vorne schauen.“
Michelles Worte klingen noch in Gesas Ohren und hinterlassen ein Echo der Erwartung. Nach vorne schauen – heißt das nicht: weitergehen, ein neues Ziel vor Augen zu haben? Das neue Ziel würde sich zusammen mit der Erleichterung einstellen, hoffte sie. Aber jetzt weiß sie nicht einmal mehr, wo vorne ist.
„Ich heiße Gesa Ringer, bin 32 und eine attraktive Frau mit rassigen Kurven, eine Sahneschnitte mit… - oh Mann, Michelle, du bist doch völlig durchgeknallt. Wenn mich jemand hört, komme ich sofort in eine geschlossene Psychiatrie.“
Lachen muss sie trotzdem beim Aufsagen des Übungssatzes für neues Selbstbewusstsein, den Michelle ihr als tägliche Hausaufgabe aufgegeben hat. Mindestens dreimal am Tag und möglichst vorm Spiegel laut zu sich selbst sagen, so lautet die Anweisung. Ganz geht er so: Ich heiße Gesa Ringer, bin 32 und eine attraktive Frau mit rassigen Kurven, eine Sahneschnitte mit Kussmund und braunen Kulleraugen, ein wahrer Augenschmaus. Und ich bin eine erfolgreiche Heilpraktikerin, die in ihrem Beruf voll aufgeht und der niemals die Ideen ausgehen.
Der letzte Teil ist eigentlich der einfachere, aber bis dahin hat Gesa es nur einmal geschafft. Den ersten Teil auszusprechen findet sie so absurd, dass sie bei „Sahneschnitte“ jedes Mal ins Zungenstraucheln gerät.
Solche Übungen sind typisch für Michelle. Alles, was sie macht, hat etwas von einer Studie, und nicht selten fühlt sich Gesa wie ihr Versuchskaninchen. Zu Schaden ist sie dabei bisher nie gekommen. Im Gegenteil. Meistens hatten die Versuche Erfolg. Wie damals, als Michelle ihr aufgetragen hatte, zu Claudio zu gehen und ihm zu sagen, dass ihm Grün nicht steht. Wochenlang hatte Gesa ihr in den Ohren gelegen, wie süß sie ihn fand, und sich darüber beklagt, dass er sie einfach nicht sah.
„Gibt es auch etwas, das dir an ihm nicht gefällt?“, hatte Michelle sachlich gefragt.
„Ja, dieses grüne Hemd, das er immer trägt. Die Farbe ist grässlich.“
„Dann sag es ihm.“
„Was? Ich soll ihm sagen, dass das Hemd scheußlich ist?“
„Nein, sag ihm, wie es ist. Sag ihm, dass Grün ihm nicht steht.“
Es brauchte drei Caipirinhas in der Bar gegenüber für den richtigen Mutpegel. Dann war Gesa in die Bibliothek und an den Tisch gestiefelt, an dem Claudio regelmäßig in seinen Büchern wühlte, und hatte gesagt: „Grün steht dir nicht.“ Oder hatte sie gesagt: „Grün steht Ihnen nicht?“ Auf jeden Fall hatte Claudio sie angesehen. Und nie wieder dieses grüne Hemd getragen.
Im Gegenzug stellt sich Michelle aber auch immer wieder gern Gesas Versuchen. Ob es Tee aus Gras oder dem Kraut der Einbeere war oder die Waldbodenpackung oder das Hyazinthenöl – mit Todesverachtung hat sie es hinuntergespült oder sich auftragen lassen. Freilich nicht ganz ohne zu hinterfragen, denn als Pharmazeutin kann man ja aus den Erkenntnissen einer Heilpraktikerin durchaus Nutzen ziehen. Oder bei allzu waghalsigen Projekten den Wind etwas aus den Segeln nehmen, es gegebenenfalls absagen.
Erst letzten Monat hat sie den Tee aus Einbeerenkraut als Mittel gegen starke Kopfschmerzen notiert. Das Interesse der Pharmaindustrie wäre zum jetzigen Zeitpunkt nur mäßig – die Dosierung ist zu kompliziert. Außerdem ist die Einbeere nicht in ausreichender Menge vorhanden. Man müsste sie züchten können… Kommt Zeit, kommt der richtige Einfall.
Die schlanke, drahtige Michelle ist für fast jede Schandtat zu haben. Sie hat Abenteuer im Blut, ist gern aktiv und treibt deshalb viel Sport. Ihre zarte Erscheinung, das kurze dunkle Haar und die lebhafte Art zeichnen nicht nur äußerlich einen deutlichen Kontrast zu ihrer eher zurückhaltenden und häuslichen Freundin Gesa. Die „interessante Mischung“, wie eine ihrer Klassenlehrerinnen sie einst genannt hatte, hat seit der Grundschulzeit Bestand und schon so einige Hürden gemeinsam genommen.
So versucht Michelle auch diesmal, das Boot wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.
„Vorn ist, von wo der Wind kommt, in den du deine Nase hältst.“
Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und zwinkert Gesa zu.
„Welcher Wind? Da ist nicht mal ein Lüftchen. Ich habe das Gefühl, ich spüre gar nichts mehr.“
Gesa nippt aus Solidarität am Mineralwasser. Selbst das schmeckt so eingeschlafen wie ihr Leben. Michelle sieht sie besorgt an. So mies ging es ihrer Freundin schon lange nicht mehr. Wenn die Trennung daran schuld wäre, lägen die Dinge anders. Aber die ist nur ein winziger Teil der Situation. Vielmehr scheint ihr, dass Gesa erkennt, wie lange sie schon auf der Stelle tritt. Jahrelang hat sie für Claudios Interessen zurückgesteckt. Die Freiheit ist offenbar in ihrem Kopf noch nicht angekommen.
„Weißt du was, meine Liebe? Du brauchst dringend einen Tapetenwechsel. Raus hier! Mal was anderes sehen!“
Sie sieht Gesa auffordernd an.
„Verschone mich bitte mit deinen Wellness-Arrangements in gemischten Saunas und Ausflughotels. Das ist nichts für mich. Kapier das mal! Und einen neuen Mann brauche ich vorläufig ganz sicher nicht.“
„Och, der da drüben mit dem gemütlichen Bierbauch und dem kuschligen Schnauzbart – der wäre doch geradezu ideal für… Aua!“
Michelle reibt sich grinsend den Oberarm, den Gesa soeben mit ihrer Faust getroffen hat.
„Aber jetzt mal im Ernst – was ist mit deinem Traum der eigenen Praxis auf dem Land? Hast du ihn nach tausend Kompromissen für Claudio gänzlich aufgegeben? Hat der Typ das wirklich geschafft?“
Gesa sieht nachdenklich auf das Wasserglas. Sie hat lange nicht mehr an die alten Pläne gedacht. Eine Heilpraxis oder noch besser eine Kräuterfarm auf dem Land – das war einmal der Traum, der sie angetrieben hat. Jetzt steht nicht einmal mehr ein Topf Petersilie auf der Fensterbank in ihrer Küche.
„Ich weiß nicht, ob ich mir das noch zutraue“, gesteht sie Michelle, die augenblicklich das Dilemma erkennt.
„Ich traue es dir zu, aber ich weiß auch, dass das nicht genügt. Für sowas braucht man Energie. Energie, die du zurzeit nicht hast. Die aber wirst du nicht bekommen, wenn du an deinem Zustand nichts änderst. Du brauchst neuen Input, Gesa. Sonst trittst du weiterhin auf derselben Stelle herum – solange, bis du in einem Loch steckst, aus dem du nicht mehr herauskommst.“
„Ja, im Loch – genauso fühle ich mich. Anstatt die Hufe zu schwingen und neue Klienten zu akquirieren, neue Kurse anzubieten und meine neue Freiheit zu nutzen, sitze ich stumpf herum und fühle nichts.“
Sie pickt lustlos im Salat herum, den der Kellner schon vor einer halben Stunde gebracht hat. Michelle hält ihre Hand fest und sieht Gesa an.
„Vertraust du mir?“
„Natürlich vertraue ich dir. Das weißt du doch.“
„Dann machst du mit, was ich plane?“
Gesa schaut etwas skeptisch.
„Keine Sauna, kein Wellness, keine Männer. Nicht mal einer. Versprochen.“
„Okay, ich mache mit.“
„Dann halte dir das kommende Wochenende frei. Ich hole dich am Freitagnachmittag ab. Du brauchst wetterfeste Kleidung und ein Paar Wanderschuhe.“
Gesa fühlt sich schon ein kleines bisschen besser, als sich beide vor ihrem Lieblingsitaliener verabschieden. Wenn der Impuls auch nicht aus eigener Kraft kommt, so wird sich doch etwas bewegen. Was auch immer es ist, das Michelle vorhat.
Der Wetterbericht fürs Wochenende klingt durchwachsen. Das heißt, man hat mit allem zu rechnen. Im Frühsommer wird wenigstens kein Schnee dabei sein. Als Gesa die Praxistür hinter sich ins Schloss zieht und abschließt, fällt ihr Blick auf das Schild: Gesa Ringer Heilpraktikerin. Es war ein so gutes Gefühl gewesen, damals, als sie es anbrachte. Jetzt findet sie es nichtssagend. Ja, es sagt nichts über sie aus – und doch wieder so viel…
Zu Hause bleibt nicht viel Zeit, um die bereitgelegten Sachen in den Rucksack zu packen. Wanderschuhe passen schließlich besser zum Rucksack als zur Reisetasche. Da klingelt es auch schon.
„Bist du fertig? Ich stehe gleich vor der Tür. Beeil dich!“, hört sie Michelles Stimme durch die Sprechanlage.
Schnell zieht Gesa die Jacke über, nimmt den Rucksack und verlässt ihre Wohnung. Sie läuft die Treppen hinunter und entdeckt gleich Michelles Wagen. Den Rucksack setzt sie auf den Rücksitz und steigt ein.
„Hallo Abenteuerin, bist du bereit?“, begrüßt Michelle sie.
„Hi, selber Abenteuerin. Ich bin bereit.“
Die beiden lachen und Michelle startet den Motor. Gesa stellt keine Fragen. Sie lässt die Häuser der Stadt, die vielen Geschäfte und Büros an sich vorüberziehen, beobachtet die Menschen in den anderen Autos und genießt für zwei Stunden das Gefühl, nichts organisieren zu müssen und sich treiben lassen zu können. Hier und da etwas zähflüssiger Verkehr – die Menschen sind, so wie sie, auf dem Weg ins Wochenende - da und dort ein liegengebliebenes Fahrzeug oder ein Auffahrunfall. Der ganz normale Wahnsinn.
Michelle schaltet das Radio ein, spricht aber nur wenig. Genau, was Gesa braucht. Sie denkt kurz an Claudio – was er wohl gerade macht? – und merkt, dass es sie eigentlich nicht interessiert. Die Landschaft verändert sich. Häuser werden weniger, die Wälder dichter, die Steigungen steiler. Der Blick auf die moosigen Flächen und farnigen Dickichte zwischen den Bäumen tut gut. Wie lange war sie nicht mehr draußen. Bestenfalls für ein paar Schritte am Flussufer. Am liebsten würde sie gleich hier aussteigen und so tief ins Grün eindringen, dass sie nichts mehr außer Pflanzen und Natur um sich sieht.
„Gleich sind wir am Ziel. Ist es nicht wunderschön hier?“
Nicht zum ersten Mal hat Gesa das Gefühl, dass Michelle ihre Gedanken liest. Sie lächelt.
„Ja, wunderschön. Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin.“
„Warte ab. Vielleicht denkst du das gleich nicht mehr.“
Michelle hat wieder ihr Geheimnisgesicht aufgelegt, das alles und nichts sagt. Gesa prustet los.
„Weißt du eigentlich wie du ausschaust, wenn du mich so ansiehst?“
„Unwiderstehlich. Gib es zu!“
Michelle wirft einen Blick über die Schulter und zuckt herausfordernd mit den Augenbrauen. Dabei steuert sie den Wagen durch die engen Straßen eines Dorfes. Gesa kann sich vor Lachen kaum noch halten.
„Ja, du bist wirklich unwiderstehlich. Ich liebe dich.“
„Genau das will ich hören. Brav. So, nun aber genug geflirtet. Schnapp dir deinen Rucksack. Wir sind da.“
Mit Schwung nimmt sie außerhalb der Ortschaft eine letzte Kurve und biegt in die Zufahrt zu einem Bauernhof ein. Er liegt in einem Tal, umgeben von Hügeln und sanften Bergen. Hühner laufen frei herum und der Hofhund kommt ihnen bellend, aber mit freundlich wedelndem Schwanz entgegen. Er scheint an Gäste gewöhnt zu sein.
„Hallo Struppi“, begrüßt Michelle ihn und streichelt sein zotteliges Fell.
„Warst du schon mal hier?“, wundert sich Gesa.
„Nein. Ich habe von dem Hof in der Zeitung gelesen und dann im Internet nachgesehen.“
„Und woher weißt du, dass der Hund Struppi heißt?“
„So heißt doch heute kein Hund mehr. Heute haben Hunde Menschennamen – Paul oder Lara oder Emily. Keine Ahnung, wie dieser hier heißt. Ich wollte nur freundlich sein.“
Gesa verdreht grinsend die Augen. Typisch Michelle. Sie schultert den Rucksack und betritt hinter ihrer Freundin das Haus. Die Bäuerin kommt ihnen entgegen.
„Ach, da sind Sie ja – Frau Gärber und Frau Ringer? Ich bin Marlene Brockmann.“
Sie reicht den beiden jungen Frauen zur Begrüßung die Hand und führt sie in die Küche. Dort sitzen schon einige andere an einem langen Tisch, der zum Abendbrot gedeckt ist.
„Nehmen Sie doch Platz und essen Sie mit uns zu Abend. Die Formalitäten können wir auch noch im Anschluss klären – das hat ja Zeit.“
Während des Essens lernen Gesa und Michelle die ganze Familie kennen. Sie sind die einzigen Gäste und kommen in den Genuss ganz wunderbarer Köstlichkeiten aus eigener Produktion: Frischkäse mit Wiesenkräutern, ein Pesto aus Schafgarbe, das ausgezeichnet zu den frischen Tomaten passt und selbstgebackenes Brot aus einem zweihundert Jahre alten Steinofen.
Michelle beobachtet Gesa, wie sie mit geschlossenen Augen in eine Scheibe Brot mit Kräuterfrischkäse beißt und genüsslich kaut. Sie wusste, dass der Kräuterhof genau das Richtige ist, um ihre Freundin zu inspirieren und auf andere Gedanken zu bringen.
„Was möchten Sie trinken? Es gibt Bier oder eine selbstgemachte Limonade mit Pfefferminze.“
Marlene Brockmann reicht den Krug mit der Limonade herum und Gesa lässt sich ihr Glas füllen. Auch Michelle ist neugierig auf das Getränk und kostet. Es schmeckt erfrischend und ist nicht übertrieben süß.
„Es erinnert mich an Kombucha, dieses asiatische Getränk“, meint Gesa und erntet ein Lob.
„Kompliment. Sie kennen sich aus. Die Basis ist wirklich Kombucha, nur die Minze ist meine persönliche Zugabe. Gerade im Hochsommer, wenn es so richtig heiß wird, bekommt das Getränk dadurch ein noch frischeres Aroma.“
Gesas Interesse ist geweckt. Sie fragt nach sämtlichen Rezepten für die Speisen auf dem Tisch. Michelle greift zufrieden nach einer zweiten Schnitte Brot und lauscht kauend Marlene Brockmanns Erfahrungsberichten. Gesa stellt immer wieder Fragen zwischendurch.
„Haben Sie all die Rezepte und Versuchsreihen aufgezeichnet? Ich meine, all diese wertvollen Erkenntnisse dürfen doch nicht verloren gehen.“
Ihre Augen leuchten wie schon lange nicht mehr. Das alte Feuer scheint geweckt zu sein. Michelle hat Marlene vor einigen Tagen bei der Reservierung am Telefon ein bisschen von Gesas Sinnkrise berichtet, um herauszufinden, ob der Hof das anbietet, was die Internetpräsenz versprach. Jetzt tauscht sie bedeutende Blicke mit Klaus Brockmann aus, der ihr langsam zunickt.
„Natürlich habe ich alles aufgeschrieben – sonst wäre ja die Arbeit der letzten Jahre vergebens gewesen“, lacht die junge Bäuerin. „Möchten Sie die Aufzeichnungen sehen? Ach, wollen wir nicht alle du sagen? Ich heiße Marlene.“
Gesa springt so schnell auf, dass ihr Stuhl zu Boden fällt.
„Ja gern! Ich bin Gesa und das ist meine Freundin Michelle.“
Die Kinder lachen und nutzen die Gelegenheit, sich aus der Küche zu stehlen.
„He, ihr beiden - hiergeblieben!“
Aber Marlene sieht ihre Kinder nur noch von hinten.
„Tja, dann werdet ihr mir wohl helfen müssen, den Tisch abzuräumen.“
Lachend dreht sie sich zu Gesa, die sich am liebsten gleich in die Aufzeichnungen vertieft hätte. Mit den verbleibenden zehn Händen ist der Tisch schnell abgeräumt und alles an seinem Platz verstaut. Gesa erhält dabei Gelegenheit, einen Blick in Marlenes Vorratskammer zu werfen, und ist begeistert. Genau das ist ihre Welt: getrocknete Kräuter, verschiedene Essenzen, Gelee von Tannenspitzen und Honige mit Kräuterzweigen, Gewürzsenf und weitere Gläschen und Fläschchen, die sie gern auf der Stelle inspizieren würde.
„Morgen zeige ich dir alles. Lass uns lieber den Abend nutzen, um herauszufinden, wie wir den morgigen Tag am besten gestalten können. Ich habe gehört, du steckst in einer Schaffenskrise?“
Marlenes offene, unkomplizierte Art lässt Gesa alle Scheu vergessen. Sie folgt der Kräuterfrau ins Wohnzimmer, wo Klaus Brockmann einige Kissen auf dem Boden verteilt.
„Es ist wohl eher eine Lebenskrise, die mit einer Schaffenskrise einhergeht. Ich weiß nicht mehr, was ich will und wohin es gehen soll.“
Marlene sieht Gesa interessiert an.
„Den Eindruck habe ich ehrlich gesagt nicht. Du bist doch sehr gut informiert, was Kräuter und Gewürze betrifft. Die Kenntnis kannst du doch in der Heilpraxis anwenden. Wenn du möchtest, überlasse ich dir gern einige meiner kleinen Studien. Wir werden morgen sehen, was dich besonders interessiert.“
Gesa schaut Michelle an und strahlt. Was für eine Freundin! Die nickt ermunternd und fordert sie auf, Marlene von ihrem Traum zu erzählen.
„Erzähl ihr von deinem Plan, eigene Kosmetika herzustellen.“
Gesa winkt ab, als sei es ein alberner Kindertraum, der längst seine Gültigkeit verloren hat.
„Ach, das ist ein alter Traum von mir. Aber ich habe schon lange nicht mehr daran gedacht. Es stimmt: Ich wollte immer eine eigene Kosmetiklinie entwickeln. Cremes und Wässerchen ohne Konservierungsstoffe und all den Kram, auf den unsere Haut gut und gerne verzichten kann. Na ja, ein Traum eben…“
„Der gut und gerne in Erfüllung gehen kann. Was hält dich davon ab, ihn in die Tat umzusetzen?“, fragt Marlene und sieht aus, als wolle sie die Ärmel hochkrempeln und gleich loslegen.
Gesa sieht in den offenen Kamin, in dem im Winter sicher ein gemütlich knisterndes Feuer brennt, und zuckt mit den Schultern.
„Ist doch alles utopisch. Wie sollte ich gegen die großen Kosmetikkonzerne ankommen? Ich muss ganz von vorn beginnen, hab ja noch keine Erfahrung. Und überhaupt…“
Michelle seufzt kopfschüttelnd. Wo ist bloß all die Energie hin, mit der Gesa in der Vergangenheit ihre Ideen anging und oft genug großen Erfolg hatte.
„Der Felsbrocken, der sich da Jahr für Jahr mehr in den Weg geschoben hat, heißt Claudio“, erläutert sie zu Marlenes besserem Verständnis.
„Er ist zwar inzwischen gesprengt, aber offenbar ist noch nicht wirklich zu Gesa vorgedrungen, dass der Weg wieder frei ist. Was macht man gegen Felsbrocken im Kopf?“, kratzt sich Michelle am selbigen und sieht in die Runde.
„Hm… Ich glaube, ich weiß da was.“
Alle Blicke sind auf den sonst schweigsamen Klaus gerichtet. Der scheint noch ein wenig zu grübeln, blickt aber dann entschlossen auf und nickt.
„Ja, lasst mich mal machen. Morgen früh um sieben geht es los. Festes Schuhwerk ist Bedingung. Und ein bisschen Schlaf vorher wäre auch nicht schlecht.“
Er zwinkert den beiden Stadtpomeranzen zu.
„Dafür gibt es aber noch einen kleinen Schlummertrunk“, wirft Marlene ein und geht in die Küche.
Der heiße Kräuterpunsch schmeckt nicht nur köstlich, sondern fährt sanft in die Blutbahn und verleiht die richtige Bettschwere. Eine halbe Stunde später sinken Gesa und Michelle in die Kissen ihrer Bauernbetten und schlafen sofort ein.
Um sechs Uhr in der Frühe schleicht Marlene zu den beiden ins Zimmer, zieht leise die Vorhänge beiseite und öffnet das Fenster. Den Rest wird Hugo erledigen. Der Hahn stolziert bereits seit vier Uhr krähend über das Gelände und man könnte meinen, er hätte mit seinem Platzhirschgehabe eine mittelschwere Identitätskrise. Den Kopf im Nacken und das „Geweih“ präsentiert, kräht er, was die Gurgel hergibt – jetzt genau unter dem geöffneten Fenster der Gäste.
Michelle tastet irritiert nach dem Wecker, um dem Lärm ein Ende zu machen. Vergeblich. Niemand braucht einen Wecker, solange es Hugo gibt.
„Ein Hahn – ein Hahn weckt uns. Genauso hab ich mir das immer gewünscht“, schwärmt Gesa und streckt ein letztes Mal die Glieder, bevor sie das kuschelige Bett verlässt.
Zehn Minuten später sind alle um den großen Tisch in der Küche versammelt. Die Kinder sind schon beim Frühstück und beeilen sich kurz darauf, den Schulbus zu erreichen. Marlene lädt Gesa und Michelle zu einem kräftigen Frühstück ein, während sie einen Picknickkorb packt.
„So früh kriege ich noch nichts in meinen Bauch“, entschuldigt sich Gesa und lauert auf die Kaffeekanne, aus der sich Marlenes Mutter eben ihre Tasse gefüllt hat.
„Warte, ich zaubere euch einen richtig leckeren Kaffee“, lacht Marlene und greift zwei große Milchkaffeetassen aus dem Schrank. „Der weckt Tote auf.“
Erfreut dreht sich Michelle um zum Brummen des Vollautomats, aus dem nach italienischer Manier die schaumige Kaffeeessenz in die Tasse strömt. Aufgeschäumte heiße Milch krönt den Genuss, der ausnahmsweise nicht aus eigener Produktion stammt.
„Das lasse ich mir bei allem bäuerlichen Ehrgeiz nicht nehmen“, erklärt Marlene verschwörerisch, als sie die Tassen vor Gesa und Michelle auf den Tisch stellt. „Einen wirklich guten Kaffee weiß auch ich zu schätzen.“
„Guten Morgen! Wie sieht es aus mit den Grazien aus der Stadt? Seid ihr gestärkt und startklar?“
Klaus betritt durch die Hoftür die Küche und legt drei frische Brote auf den Küchenschrank.
„Hast du etwa schon gebacken?“, fragt Gesa verwundert.
„Ja sicher. Bei uns beginnt der Tag etwas früher als in der Stadt. Die Tiere wollen versorgt sein und vieles muss bei Sonnenaufgang erledigt werden. Also, können wir los? Die Ziegen warten.“
„Wir können. Nimmst du den Korb?“
Marlene reicht Klaus den Picknickkorb und greift nach ihrem Rucksack. Bis auf die beiden alten Herrschaften verlassen alle die Küche und folgen Klaus zum Traktor. Gesa sieht Michelle fragend an – die zuckt grinsend mit den Schultern. Der Picknickkorb landet auf dem Hänger und auch Marlene steigt hinauf. Sie reicht Michelle die Hand, die mit einem Satz neben ihr steht. Zum Schluss klettert Gesa etwas umständlich hinauf. Sie verkneift sich eine Bemerkung zu ihrer Befürchtung, dass es da doch keinen Griff zum Festhalten gibt…
Die Fahrt macht solchen Spaß, dass Gesa ihre Angst schnell vergisst. Der Hof liegt bald so weit zurück, dass er nur noch wie ein Spielzeug aussieht. Sie fahren über Wiesen, am Waldrand entlang, bergauf und bergab, bis Klaus plötzlich scharf bremst. Beinahe wäre Gesa doch noch vom Hänger geplumpst. Marlene springt hinunter, als Klaus um den Traktor herumkommt und verkündet, dass er nicht weiterkommt.
„Da liegt immer noch der Felsbrocken mitten auf dem Weg. Ich habe dem Forstamt jetzt schon mehrmals Bescheid gegeben, aber die halten es nicht für nötig, das Ding aus dem Weg zu räumen. Jetzt müssen wir eben mit vereinten Kräften… Gesa, ich brauche deine Hilfe. Komm mal von da oben runter.“
Er wendet sich schon wieder ab, als Gesa begreift, dass er mit ihr gesprochen hat.
„Was, ich?“
Irritiert schaut sie von Michelle zu Marlene. Die scheinen mit etwas anderem beschäftigt zu sein.
„Gesa! Wie lang noch?“
Klaus ist schon wieder beim Traktor und Gesa macht, dass sie vom Hänger kommt. Kneifen will sie auf gar keinen Fall, wenn jemand ihre Hilfe braucht. Aber was könnte sie schon ausrichten?
„So, du steigst jetzt mal auf den Bock, fährst ein Stück nach links und parkst das Hinterteil vor dem Brocken hier. Der muss weg.“
Gesa sieht sich hilflos um. Klaus kann doch unmöglich sie gemeint haben. Noch nie im Leben hat sie am Steuer eines Traktors gesessen, geschweige denn einen gefahren. Und überhaupt: Wie soll das gehen – das Hinterteil vor dem Brocken parken. Das Hinterteil ist der Hänger… Wo ist das nächste Mauseloch?
„Ähm… ja, ich weiß nicht…“
„Was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen oder helfen? Komm, steig auf – Traktor fahren kann jeder. Jedenfalls dies alte Ding hier.“
Klaus ist schon oben und reicht Gesa die Hand. Die weiß kaum wie ihr geschieht und sitzt bald im Sitz vor dem riesigen Steuerrad.
„So, jetzt schalte die Zündung ein.“
Klaus wartet und scheint allmählich ungeduldig zu werden.
„Du, die Ziegen müssen gemolken werden. Das kann nicht mehr länger warten.“
Gesa dreht den Schlüssel um und der Motor springt an. Das Herz klopft ihr bis zum Hals. Angespannt achtet sie auf Klauss Anweisungen und arbeitet mechanisch ab, wie ihr geheißen. Klaus springt hinunter, koppelt den Hänger ab und gibt das Kommando. Gesa gibt Gas und der Traktor setzt sich in Bewegung. Sie steuert das Gerät einige Meter weit nach links auf eine Wiese und legt den Rückwärtsgang ein.
„Bitte, lass es der richtige Gang sein und lass mich nicht im Graben landen“, schickt sie ein Stoßgebet in den strahlend blauen Himmel und gibt Gas.
Der Traktor fügt sich und Gesa parkt ihn vor den Felsbrocken, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Glücklich schaltet sie den Motor aus und springt vom Fahrzeug. Noch bevor sie etwas sagen kann, kommt Klaus hinzu.
„Die Riemen mit den Haken findest du auf dem Hänger.“
Er wendet sich ab und macht sich an der Kupplung der Zugmaschine zu schaffen. Gesa wird langsam ungeduldig. Wo sind eigentlich Michelle und Marlene? Von den beiden ist weit und breit nichts zu sehen. Na, was soll es schon? Klaus braucht offenbar ihre Hilfe. Sie klettert auf den Hänger und entdeckt die kräftigen Riemen. Soll sie alle mitbringen? Das ist ein ganzer Berg.
„Alle?“, ruft sie unsicher.
„Hast du den Brocken gesehen? Was meinst du?“, fragt Klaus zurück.
Gesa fühlt sich ein bisschen allein gelassen. Was genau hat Klaus vor? Und wo zum Teufel sind Michelle und Marlene? Was soll denn das, einfach zu verschwinden und sie mit Klaus hier zurückzulassen? Verärgert greift sie zu den Riemen und merkt, wie schwer sie sind. Sie sieht hinüber zum Traktor, wo Klaus seelenruhig steht und auf sie wartet. Gesa wird wütend. Sie greift mit beiden Händen in die Riemen und zerrt sie an den Rand des Hängers. Dann springt sie ab, lädt sich den Haufen auf die Schulter und trägt ihn zu Klaus, der mit der Hand auf den Felsbrocken weist.
„Blödes Teil. Warum muss er auch ausgerechnet diesen Weg blockieren?“, denkt Gesa sauer und überlegt.
„Können wir nicht auf einem anderen Weg zu den Ziegen gelangen?“, fragt sie Klaus.
Dessen Antwort ist knapp und deutlich: „Der Stein muss weg.“
Jetzt ist Gesa richtig sauer. Ist es nicht sein Weg? Sind es nicht seine Ziegen?
„Warum steht er hier herum und sieht mir zu, wie ich mich allein abmühe? Aber, wenn er denkt, dass ich jetzt beleidigt die Brocken hinwerfe, hat er sich geschnitten. Soll er doch blöd durch die Landschaft stieren. Ich schaffe das auch allein!“
Mit dem entsprechenden Groll im Bauch, überlegt Gesa genau, wie sie vorgehen muss, um die Riemen günstig um den Stein zu legen und nach einer Weile hat sie Ordnung in den Haufen Material gebracht.
Fünf der kräftigen Bänder liegen jetzt um den Stein und sind an der dem Traktor zugewandten Seite mit einem Karabinerhaken verbunden. Als Gesa nach Klaus sieht, hat er eine schwere Eisenkette mit Haken am Traktor befestigt, den er ihr jetzt schweigend reicht. Sie hakt ihn in den Karabinerhaken, geht ebenfalls wortlos an Klaus vorbei und steigt auf den Traktor. Wieder klopft ihr Herz schneller, aber mit Entschiedenheit startet sie den Motor, legt den Gang ein und drückt aufs Gaspedal. Eine Sekunde später ist der Motor aus. Gesas Wut im Bauch wird größer – sie ist kurz davor, zu schreien.
Ein neuer Versuch. Ein bisschen mehr Gas, aber mit Gefühl die Kupplung kommen lassen. Und jetzt setzt sich die Maschine langsam in Bewegung. Sie darf nicht zu schnell vorpreschen, damit die Riemen nicht reißen. Meter für Meter zieht Gesa den Felsbrocken hinter sich her und befördert ihn an eine Stelle, an der er niemanden stören kann. Sie schaut hinter sich - ja, da kann er bleiben – und schaltet den Motor aus. Als sie vom Traktor springt, um die Riemen zu lösen, läuft plötzlich Michelle lachend auf sie zu und umarmt sie.
„Du hast es geschafft! Du hast den Brocken ganz allein aus dem Weg geräumt!“
Auch Marlene kommt dazu. Das Grinsen in Klauss Gesicht ist so breit, dass Gesa endlich ein Licht aufgeht. Sie lächelt. Ja, sie hat es geschafft, den Felsbrocken wegzuschaffen. Der Weg ist frei und es kann wieder vorwärts gehen. Sie dreht sich um und betrachtet die freie Strecke, die von der tiefen Spur des mächtigen Brockens gezeichnet ist. Eine große Erleichterung bricht sich Bahn – in ihrem Bauch, in ihrer Brust, in ihrem Kopf. Endlich. Gesa ringt mit den Tränen.