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Seine verzweifelte Hoffnung, dass die offensichtlich schwer verletzte Person bald mit dem Hubschrauber abtransportiert und die Autobahn wieder freigegeben würde, schwand nach einem Telefonat. Die aktuellsten Informationen hatten stets seine Kollegen in der Einsatzzentrale parat, die in engem Kontakt mit der Autobahnpolizei standen. Ein Schwerlaster war ins Schleudern geraten, hatte mehrere Autos gerammt, Ladung hatte sich auf der Fahrbahn verteilt, Öl und Benzin waren ausgelaufen. Das volle Programm. Im Augenblick war die Feuerwehr damit beschäftigt, den Fahrer, mehr tot als lebendig, aus dem Führerhaus zu schneiden. Die Arbeit wurde mit einsetzender Dämmerung nicht einfacher.

Wenn es nicht so verdammt kindisch und unmännlich wäre, hätte Linus vor Verzweiflung am liebsten geheult. Warum? Warum nur machte es ihm das Schicksal so schwer? Warum verhinderte es die Erfüllung seines Horoskops? Sein Kopf sank für einige Minuten nach vorne, seine Hände umklammerten das Lenkrad und er schloss die Augen, um sich zu beruhigen und besser nachdenken zu können.

Als der rettende Gedanke sich in seinem Kopf formulierte, brach ihm Schweiß in Handflächen und Rücken aus. Für einen kurzen Augenblick stand sein Körper in Flammen und sein Herz raste wie verrückt. Ruckartig setzte er sich wieder auf.

Es gab vielleicht einen Ausweg, die Situation zu retten! Zwar war dieser Plan ein wenig absurd, aber je mehr er darüber nachdachte, desto konkretere Formen nahm dieser an. Warum eigentlich nicht? Genaugenommen war das sogar eine überaus brillante Idee, bei der nichts schiefgehen konnte. Na ja, fast nichts, außer sich bis auf die Knochen zu blamieren, aber dieses Risiko musste er eingehen. Es war immer noch besser, als seine Herzdame völlig zu versetzen und dem vorzeitigen Aus tatenlos entgegen zu sehen.

Inzwischen stiegen die ersten Autofahrer aus, um sich ein wenig die Füße in der Kälte zu vertreten und mit anderen Fahrern zu sprechen, wohl in der Zuversicht, diese wüssten mehr. Einige rauchten, aber die meisten sprachen hektisch und mit verärgerter Miene in ihr Handy.

Schatz, ich sitz auf der Autobahn fest. Ich komme später … ja ich weiß, ich hab versprochen

Das Ausatmen der Männer war im Scheinwerferlicht als diffuse Wölkchen zu erkennen. Keine einzige Frau hatte ihr Auto verlassen.

Noch einige Wochen, dann würde es um diese Uhrzeit wärmer und heller sein. Die ideale Zeit für eine neue zarte Liebe, die wachsen sollte, wie die Pflanzen im Frühling. Seufzend zückte Linus sein Handy und starrte es an, als müsste es automatisch reagieren.

Okay, jetzt oder nie!

Der nötige Anruf zur Umsetzung seines Planes bereitete ihm Unbehagen. Zuerst musste er noch einen Schluck aus der Mineralwasserflasche trinken, die einsatzbereit in einer Halterung am Armaturenbrett steckte.

Verdammt, auch das noch.

Der letzte Tropfen prickelte seine Kehle hinab, und augenblicklich fühlte er umso mehr Durst. Konnte es noch schlimmer werden?

Nein, unmöglich. Er würde kein einziges Wort herausbekommen. Besser er schrieb Maik.

Hey Alter.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende ausgeführt, die Worte noch nicht im Kopf formuliert, die er schreiben wollte, als sein Finger auf das grüne Symbol klickte, durch die Kontaktliste scrollte und wie ferngesteuert auf das gespeicherte Fotoicon seines besten Freundes klickte.

Das Pulsieren in seiner Halsschlagader war ihm noch nie so bewusst geworden wie in diesem Augenblick.

Obwohl Linus zuversichtlich war, dass Maik ihm jeden, absolut jeden Freundschaftsdienst erfüllen und ihn ganz bestimmt nicht im Stich lassen würde, wurde sein Mund bei dem Gedanken, um was er ihn bitten wollte, noch trockener. Ein letzter Blick auf die Uhr: noch eine gute halbe Stunde. War sein Zeitfenster wirklich schon so geschrumpft?

Er brauchte nicht lange zu warten.

Servus Linus, hast schon Feierabend?

Maik hatte sein Handy immer griffbereit, nahm es sogar mit auf die Toilette, und besaß ein zweites in Reserve. Vermutlich würde er Tausend Tode sterben, wenn er auch nur eine Minute von der Welt abgeschnitten wäre.

Fast. Hast du Zeit?

No way. Prog. Morgen?

Oh Shit.

Maiks Abkürzung für Programmieren war gleichzusetzen damit, dass er an der Tastatur klebte. Je herausfordernder die Aufgabe war, desto mehr liebte Maik diese und verbiss sich darin wie ein besessener Terrier. Gäbe es dazwischen nicht die normalen Phasen, wäre ihre Freundschaft wohl längst eingeschlafen.

To late. Please help!!!

Die Antwort ließ nur Sekunden auf sich warten.

Was los?

Na, wenigstens war Maik neugierig und verstand gleich, dass es nicht um ein spontanes Treffen auf ein Bier ging.

Brauch dringend deine Hilfe. Leben oder Tod, tippte Linus.

Die Sekunden bis zu Maiks Antwort schienen ewig zu dauern.

OK, wo und wann?

Also hatte Maik keinen Termindruck. Während seiner Ausbildung zum Mediengestalter hatte sein Freund die Leidenschaft fürs Programmieren entdeckt und war dabei im Laufe der Zeit richtig gut geworden. Vor einem Jahr hatte er seinen Traumjob in einer Webagentur gefunden, die sich auf aufwendige Shoperstellungen spezialisiert hatte, und war seither praktisch mit seinem Computerarbeitsplatz verheiratet. Ein Umstand, den Maiks letzte Beziehung trotz angeblich großer Liebe nicht lange überlebt hatte.

Linus leistete sich ein leichtes Aufatmen. Der erste Schritt war getan, der zweite würde viel schwerer werden. Jetzt musste er Maik nur noch erklären, was er tun sollte.

Aufgabe für Superman.

Auf das Display starrend zuckte Linus zusammen, als der spezifische Klingelton erklang, den er Maik zugeordnet hatte. Offensichtlich war diesem das Hin- und Hergesimse zu umständlich geworden.

»Hier Superman, der Retter der Welt«, meldete sich der Freund mit übertrieben tiefer Stimme.

»Hi, wie geht’s dir, Kumpel?«, presste Linus hervor. »Klasse, dass du Zeit für mich hast.«

Seine Stimme klang nicht so fest wie sonst, sondern eher belegt und unsicher, und Linus hasste sich dafür.

»Was’n los mit dir? Klingst ja schlimm, Alter.«

»Scheiße noch mal, ich stehe im Stau.«

Ein Stück weiter vorne kam Unruhe in die stehenden Autos. Einer der Wagen scherte auf die Standspur aus.

Maik lachte sein lautes jungenhaftes Lachen, mit dem er überall auffiel. »Tolle Neuigkeit, ja und? Ich glaube nicht, dass ich dir da helfen kann. Bist du nicht der Straßenexperte? Oder erwartest du, dass ich dich unterhalte, bis sich der Stau aufgelöst hat. Ehrlich, das …«

»Nein!«, wurde er von Linus rüde unterbrochen, dessen Herzschlag den Brustkorb zu sprengen drohte. »Ich, ich hab ein ernsthaftes Problem. Ich …« Linus spürte, wie sein Kehlkopf beim Schlucken hüpfte. War die Idee, die ihm noch vor Minuten gefallen hatte, wirklich gut und nicht vielleicht ziemlich dämlich? Aber es gab keine Alternative. Es musste sein.

»Maik, ich habe heute ein Date. Aber ich schaff das nicht rechtzeitig.«

»Oh, verstehe. Dann brauchst du echt Hilfe von Superman. Ich schau mal, ob ich ihn irgendwie erreichen kann.«

»Scherze helfen mir gerade nicht weiter«, maulte Linus genervt.

»Mensch, was ist los mit dir? Dann ruf sie halt an, dass du später kommst. Ist doch kein Problem, das wird sie schon verstehen.«

Konnte es noch peinlicher werden?

»Ich – hab keine Telefonnummer von ihr.«

Am anderen Ende war für einen Augenblick nur Stille. Sogar das Klackern auf der Tastatur war eingestellt worden. Maik gehörte zu den wenigen Männern, die voll multitaskingfähig waren. Es war nichts Außergewöhnliches, dass er weitertippte, während er sich mit Linus unterhielt.

Dann ertönte lauteres Lachen. »Willst du mich verarschen? Was für’n Date ist das denn?«

Seine Hand zitterte. Jetzt musste er mit der Wahrheit ans Licht. Tick-tack, die Zeit verrinnt!

»Na ja, so ’ne Art Blind Date über ’ne Partneragentur. Also, wir haben schon ein bisschen gechattet, Persönliches ausgetauscht und so …«

Das Lachen schwoll zu einem Inferno an und dröhnte in Linus’ Ohr.

»Soll das heißen, du …« Maik beruhigte sich ein wenig und prustete nun nur noch leise belustigt in den Hörer. »Du hast dich tatsächlich bei so ’nem Verein angemeldet? Mensch Linus, das hast du doch nicht nötig, die zocken dich doch nur ab.«

Linus traute sich nicht, irgendetwas darauf zu antworten. Er ahnte auch so, was Maik auf jeglichen seiner Gründe erwidern würde: Du siehst gut aus und wenn du dich ein wenig mehr anstrengen würdest, wärst du längst verheiratet.

Als ob das so einfach wäre. Linus unterdrückte ein Seufzen. Genau das war der Kern seines Problems. Ja, er sah gut aus und hatte damit einen Kennenlernbonus in der Frauenwelt.

Und nein, das war kein Garant fürs große Glück.

Denn er hatte bisher jedes Mal den Eindruck gewonnen, die Frauen wollten ihn nur eine Zeitlang als attraktiven Begleiter, vielleicht um ihre Freundinnen neidisch und ihren eigentlichen Wunschmann eifersüchtig zu machen. Gewiss, er war ein Mann zum Herzeigen, wenn er geduscht hatte und ordentlich angezogen war. Aber es war nun mal nicht völlig zu vermeiden, trotz Handschuhen, dass er schmutzig nach Hause kam, mitunter nach Öl und Benzin roch. Bisher hatte das jede abgetörnt. Verständnis für seinen Beruf, mit Arbeitszeiten auch mal an Sonn- oder Feiertagen, hatte nicht eine auf Dauer aufgebracht. Trotzdem liebte Linus seinen Job, diese Möglichkeit, anderen Menschen auf seine Weise zu helfen, und er hätte ihn niemals für eine Frau aufgegeben.

»Und du hast wirklich keine Nummer von ihr?«

Verständlich, dass Maik ihm das nicht abkaufte.

»Wie habt ihr euch denn dann verabredet?«, bohrte dieser weiter. »Per Chat, über die Partnerwebsite.«

»Na also, schreib ihr halt.«

Linus seufzte. Manchmal war sein Freund ein echter Holzklotz. »Hör zu, unser Treffen ist in nicht mal einer halben Stunde. Wenn ich ihr jetzt schreibe, liest sie das vielleicht gar nicht mehr.«

»Und weiter? Wie soll ich dir dabei helfen? Ich hab’s leider noch nicht geschafft, die Uhr zurückzudrehen«, gab Maik zurück, deutlich von dieser Unterhaltung strapaziert.

Jetzt musste er alles auf eine Karte setzen, damit sein Freund die Dringlichkeit seines Anliegens verstand und ihn nicht im Stich ließ.

»Es ist so, dass … also, ich … ich muss da hin, ich meine, ich müsste … mein Horoskop ist eindeutig. Heute treffen Sie die Frau Ihres Lebens. Deshalb …«

Das Klappern der Finger auf der Tastatur setzte wieder ein.

»Ich hab dir schon tausend Mal erklärt, dass du diesen Mist nicht glauben sollst. Das sind Standard-Horoskope, die auf fast jeden Menschen zutreffen. Und überhaupt, wann hattest du vor, mir von deiner Partnersuche zu erzählen?«, schnaubte Maik ungehalten.

Verständlicherweise war sein Freund ein wenig über diese Geheimniskrämerei gekränkt. Normalerweise erzählten sie sich alles. Aber da Linus wusste, was Maik über Partnervermittlungen dachte, hatte er es vorgezogen, dies vorerst für sich zu behalten. Was ihm nicht leicht gefallen war.

»Naja, spätestens wenn ich sie dir das erste Mal vorgestellt hätte, aber jetzt – jetzt ist es ja so, dass du sie sogar noch vor mir kennenlernst. Ich meine, es wäre super, wenn du das für mich tun würdest.«

Endlich war es raus!

Für einen Augenblick war Funkstille, auch das Geräusch auf der Tastatur verstummte wieder. Dann hörte er Maiks lautes Atmen durch den Hörer.

»Sag mal, spinnst du? Hab ich das gerade richtig verstanden? Du willst, dass ich zu deinem Date gehe?«

»Ja genau. Ist ja fast bei dir um die Ecke, also kein großer Umstand. Wir haben uns nämlich im Assado verabredet. Du müsstest allerdings gleich …«

»Drehst du jetzt völlig durch? Wie soll das denn gehen? Die hört mich doch erst gar nicht an … außerdem hab ich noch zu tun.«

Klar, sie hätten rein äußerlich nicht unterschiedlicher sein können. Nur – eigentlich erwartete seine Auserwählte ja gar nicht jemanden von Linus’ Statur …

»Ach komm schon, ist ja nur für ’ne Stunde. Weißt du, Maik, es ist so … Ich meine, ich habe ihr zwar geschrieben, dass ich für die Orangen Engel arbeite. Ganz mit offenen Karten, auch wegen meinen Arbeitszeiten, sonst gibt das später Stress, nach dem Motto: Hätte ich das gewusst … Aber, nun ja, das Foto, weißt du, das man hochladen muss …« Seine Stimme drohte zu versagen und Linus räusperte sich. »Also, um es kurz zu machen: Auf dem Foto bist du zu sehen.« Jetzt war es endlich raus. Sein Herz raste wie verrückt.

Stille.

»Maik? Bist du noch dran?«

»Sag das noch mal!« Der pikierte Unterton war nicht zu überhören. »Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank? Du kannst doch nicht einfach mein Bild … Also, du bist ja ein solcher Vollpfosten!« Ein letztes ungehaltenes Schnauben war zu hören, dann brach die Verbindung plötzlich ab.

Mist, und nun? Es war Maik nicht zu verdenken, dass er diese Neuigkeiten nicht gut hieß. Verzweifelt hieb Linus mit der Faust auf die Hupe. Der Fahrer auf der linken Spur neben ihm zeigte ihm einen Vogel.

Was für ein verkackter Tag!

Mein

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