Читать книгу Das Geheimnis der Keshani - Lina-Marie Lang - Страница 2
DAS ÖDLAND
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Es dauerte noch mehrere Stunden, bis sie die Ebene erreichten. Während sie den Pass hinabstiegen, schien die Dunkelheit immer mehr zuzunehmen. Über Miragar hingen dunkle Wolken, sie wirkten beinahe wie die Decke eines riesigen Raumes. Irgendetwas sagte Nadira, dass diese Wolken immer da waren und das ganze Land in ein seltsames Zwielicht tauchten.
Je näher sie der Ebene kamen, desto unruhiger wurden sie. Sie fühlten, dass das Land lebensfeindlich und gefährlich war, sie fühlten, dass eine Bedrohung von ihm ausging. Es war nichts greifbares, nichts das sie unmittelbar bedrohte, trotzdem konnten sie das Gefühl einer Bedrohung nicht ablegen. Das Fehlen einer direkten Bedrohung sollte sie eigentlich beruhigen, aber das Gegenteil war der Fall, die Bedrohung wurde dadurch um so intensiver.
Als sie die Ebene erreichten, sahen sie, dass die dunkle Farbe von Sand und von zähem, dunklen Gras kam. „Was ist das für seltsamer Sand?", fragte Nadira.
„Das ist kein Sand", sagte Callanor. „Das ist Asche."
Asche? Hatte er gerade gesagt, das sei Asche? Nadira sah sich um. Woher kam diese Asche? Gab es vielleicht einen Vulkan? „Woher kommt diese Asche?" Sie konnte keinen Vulkan entdecken, aber das Tokar Gebirge war gigantisch, dort mochte sich durchaus einer verstecken.
„Miragar war eines der Schlachtfelder im Krieg gegen die Aiudir", sagte Brancus. „Das Land verbrannte durch die Kämpfe mit Ashara."
„Aber müsste es sich nach all der Zeit nicht erholt haben?", fragte Aurel.
Brancus zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, welche Waffen damals benutzt wurden."
Was auch immer passiert war, es musste schrecklich gewesen sein. Aber wieso gerade hier? Der Rest von Soria war nicht so verwüstet worden. Alluria war ein grüner, blühender Garten, Androtor ein stolzes Reich. Wieso war Miragar so zerstört? Nadira war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte.
„Wir schlagen bald unser Lager auf", sagte Callanor. Noch auf dem Pass hatte er sie Holz sammeln lassen. Bald wurde ihnen klar wieso: Es gab kein Brennholz in Miragar. Allerdings gab es auch Gefahren, die man besser nicht durch ein Feuer auf sich aufmerksam machte. Von diesen Gefahren wussten die Gefährten noch nichts, niemand außer Callanor. Und aus diesem Grund beschloss er, nicht tiefer in das Land hinein zu reiten, sondern das Lager hier am Rand des Ödlands aufzuschlagen.
„Das Holz reicht nur für heute", sagte Aurel. „Was machen wir die nächsten Tage?"
„Wir müssen ohne Feuer auskommen", sagte Callanor.
„Wie lange werden wir brauchen, bis wir auf Menschen treffen?", fragte Nadira.
„Das kann man hier nie sagen", sagte Callanor. „Vielleicht schon morgen, vielleicht erst in Resperu."
„Aber es muss doch Dörfer geben", sagte Nadira.
„Nicht wie Ihr sie kennt." Er schien das nicht näher erklären zu wollen, aber Nadira lies nicht locker.
„Was soll das heißen?"
„Es gibt keine festen Dörfer. Die Bewohner von Miragar ziehen umher. Sie bleiben nie länger als einige Tage am selben Ort."
Nadira und Aurel sahen sich fragend an. Darec und Lledar hingegen schienen nicht überrascht zu sein, denn sie waren bereits in Miragar gewesen und kannten die Sitten hier.
***
Callanor führte sie in Schlangenlinien tiefer in das Land. Nadira wusste nicht, wieso er nicht einfach einer geraden Linie folgte. Hatte er vielleicht die Orientierung verloren? Oder war er auf der Suche nach etwas?
Sie lies ihren Blick über die Ebene schweifen, dabei hatte sie das Gefühl, dass das Land sich ihrem Blick zu entziehen versuchte. Sie war nicht in der Lage zu sagen, wie das Land beschaffen war. Nur in einem kleinen Umkreis um sich herum konnte sie es klar erkennen, außerhalb dieses Radius schien die Welt unbestimmbar zu sein. Mit Schrecken wurde Nadira klar, dass sie sich alleine hier niemals zurechtfinden würde.
Ihr Blick traf auf die Berge, die sie eben überquert hatten. Sie lagen jetzt auf ihrer rechten Seite. Die Berge waren ein Orientierungspunkt. Aber wo lag der Pass? Nadiras Blick suchte den Berg ab, aber so sehr sie sich anstrengte, sie konnte den Eingang zum Pass nicht entdecken.
Callanor machte einen erneuten Schwenk und plötzlich lagen die Berge hinter Nadira. Jetzt konnte sie nicht mehr weiter nach dem Pass suchen, ohne sich den Hals zu verrenken.
„Dieses Land ist unheimlich", sagte Aurel. Nadira hatte gar nicht bemerkt, dass sie neben ihr ritt.
„Sehr unheimlich sogar", bestätigte sie. Als sie sich wieder umsah, sah sie, dass sich links und rechts Hügel erhoben und den Blick auf das Land versperrten. Kurze Zeit später hielt Callanor an.
„Hier schlagen wir unser Lager auf", sagte er.
Nadira starrte die Hügel verwirrt an. „Ich hatte die Hügel gar nicht gesehen", sagte sie.
„Es sind keine Hügel", sagte Callanor. „Wir sind in eine Senke geritten. Hier sind wir geschützt, wir können Feuer machen, ohne dass es über Meilen zu sehen ist."
„Sind wir deshalb in Schlangenlinien geritten?", fragte Lledar.
„Genau", sagte Callanor. „Ich wusste, dass hier irgendwo diese Senke ist, aber das Land macht es schwer, sie zu finden."
„Wieso ist das so?", fragte Nadira. Das Land machte ihr Angst, alles hier war so fremd. Sie waren erst seit Kurzem hier in Miragar und sie hatte das Gefühl, in einer vollkommen anderen Welt zu sein. Wie mochten die Menschen hier wohl sein? Waren sie ebenso fremd wie das Land?
„Niemand weiß es genau", sagte Callanor. „Aber man kann das Land nicht klar erkennen. Viele denken es ist ein Fluch der Aiudir. Aber vielleicht liegt es einfach nur am Licht oder am Land selbst."
Ein Fluch. Das verfluchte Land. War Miragar ein verfluchtes Land? Worauf hatten sie sich nur eingelassen? Die Anderen hatten gesagt, Nadira habe keine Ahnung, worauf sie sich einließ. Immer mehr musste sie eingestehen, dass sie recht hatten. Hatten die Anderen es gewusst? Wenn ja, wieso hatten sie sie begleitet? Nadira hatte das Gefühl, sie würde sie alle ins Verderben stürzen. Vielleicht hatte sie das ja schon.
***
Das Lager war schnell und routiniert aufgebaut. Inzwischen hatten sie es so oft gemacht, dass jeder wusste, was er zu tun hatte. Trotzdem war in dieser Nacht einiges anders. Wie üblich wurden Wachen eingeteilt, diesmal allerding immer zwei Personen zusammen. Callanor bläute allen ein, wie wichtig es war, dass die Wachen wirklich wach blieben. Sie mussten sich gegenseitig wach halten, und man sollte lieber jemand anderen aufwecken als auf der Wache einzuschlafen.
Aber auch das war noch nicht alles. Die Wachen sollten regelmäßig aus der Senke herausklettern, auf beiden Seiten, und die Umgebung begutachten. „Wenn ihr etwas seht, ganz egal was, ein Tier, Menschen, nur einen Schatten, irgendetwas das ungewöhnlich ist, dann weckt mich und zeigt es mir." Obwohl er es nicht aussprach, war an seinem Verhalten und seinen Anweisungen klar zu erkennen, dass er hier eine neue oder eine größere Bedrohung erwartete.
Wenn Nadira an ihre bisherige Reise zurückdachte bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie waren schon auf so viele Gefahren gestoßen, aber nie hatte Callanor sie solche strengen Sicherheitsmaßnahmen treffen lassen, nie war er so ernst gewesen.
„Auf was sollen wir genau achten?", fragte Tinju.
„Auf alles. Alles, was nicht so ist, wie es sein sollte, jede Kleinigkeit."
Wieso wagte Nadira es nicht, Callanor zu fragen, welche Bedrohungen er eigentlich erwartete? Sie hatte sich die Antwort darauf gerade selber gegeben: Sie wagte es nicht. Vielleicht erwartete sie, dass die Antwort noch schlimmer war als ihre Befürchtungen.
„Und sorgt dafür, dass das Feuer nicht zu hell wird und vor allem nicht zu groß." All diese Andeutungen machten Nadira immer mehr und mehr Angst. Wie wird es den anderen da erst gehen?, fragte sie sich. Ich bin eine Dynari. Ich bin mächtig und kann auf mich aufpassen. Sie konnten den anderen ansehen, dass sie dieselbe Nervosität verspürten, die auch Nadira empfand.
Wie es wohl Aurel ging? Sie war keine Ashari, sie hatte keine Waffen. Wenn es hier wirklich etwas Gefährliches gab, war sie dieser Gefahr hilflos ausgeliefert. Sie musste sich komplett darauf verlassen, dass die anderen sie schützten. Nadira konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie Aurel sich fühlte.
***
„Aufwachen."
Nadira drehte sich zur Seite, und versuchte weiterzuschlafen. Sie war noch so müde. War sie nicht gerade eben erst schlafen gegangen? Wer störte sie da mitten in der Nacht?
„Aufstehen." Jemand rüttelte sie an der Schulter. „Diese Nacht müssen alle Wache halten."
Wache halten? Wieso sollte sie Wachen halten? Nadira war eine Dynari, wer würde es wagen, ein Haus der Dynari anzugreifen?
Wieder rüttelte jemand an ihr. „Aufwachen."
Erst jetzt wurde Nadira bewusst, dass sie sich nicht in der Sicherheit eines Hauses der Dynari befand, sie war in Miragar, im verfluchten Land.
Mühsam öffnete sie die Augen. Sie sah eine Gestalt, die sich über sie gebeugt hatte und sie wieder rüttelte.
„Ja. Ich bin wach. Ich bin wach", sagte Nadira. „Glaub ich."
„Nicht so schön, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, oder?" Nadira erkannte jetzt Tinjus Stimme.
„Nein, nicht wirklich", bestätigte sie.
„Die Sonne wird in ein paar Stunden aufgehen", sagte Tinju, dann gähnte er. „Ich brauch noch etwas Schlaf."
Ich auch, dachte Nadira. Aber sie zwang sich aufzustehen und aus dem Zelt zu kriechen.
„Gute Nacht", sagte Tinju. Leck mich, dachte Nadira, sagte aber: „Gute Nacht." Sie streckte sich, um die Schwere des Schlafs aus ihren Gliedern zu vertreiben und sah sich dann um, mit wem sie Wachen halten sollte. Am Feuer, um das herum die Zelte in einem Kreis angeordnet waren, saß Brancus.
Ausgerechnet, dachte Nadira. Jeder Andere wäre ihr lieber gewesen. Aber es machte keinen Sinn, sich darüber zu beklagen. Nadira setzte sich Brancus gegenüber an das Feuer und nickte ihm nur zu. Keiner der beiden sagte etwas.
Die Zeit verstrich und Nadira fühlte, dass ihr immer wieder die Augen zufielen. „Was macht man eigentlich genau, wenn man Wache halten soll?", fragte sie.
Brancus sah auf, schaute Nadira eine Weile stumm an, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich weiß es auch nicht. Ich vermute mal, man versucht wach zu bleiben."
Nadira grinste. Wenigstens musste nicht nur sie mit der Müdigkeit kämpfen. Das Gespräch war damit allerdings schon wieder beendet. Wie war Callanor nur auf die Idee gekommen, dass sie ausgerechnet mit Brancus zusammen Wachen halten sollte? Wieso gerade er, und wieso zwei Dynari zusammen? Wäre es nicht sinnvoller, die Kräfte der beiden … aufzuteilen? Wahrscheinlich hatte er sich gar nichts dabei gedacht, oder er dachte, dass die beiden Dynari sich am ehesten etwas zu erzählen hatten. Aber das war nicht der Fall. Weitere Zeit verstrich, ohne dass sie ein Wort sagten.
Schließlich beschloss Nadira, dass sie aufstehen musste, wenn sie nicht einschlafen wollte. Sie erhobt sich und bemerkte das sich die Schwere des Schlafes schon wieder in ihren Gliedern breitmachen wollte.
Sie ging ein wenig Auf und Ab und hoffte dadurch wieder wach zu werden. Es half, wenn auch nur ein bisschen.
„Sollten wir nicht regelmäßig aus der Grube herauskriechen und nach dem Rechten sehen?", fragte Nadira.
„Stimmt. Da war so etwas." Brancus seufzte. Ihm war deutlich anzusehen, dass er keine Lust hatte Wache zu halten. Oder lag es an der Gesellschaft? Was auch immer es war, Nadira war ganz seiner Meinung.
„Dann bringen wir es doch hinter uns." Nadira wartete nicht ab, was Brancus davon hielt, sondern ging auf den Rand der Senke zu. Sie hatte sich für das Ende entschieden, welches tiefer in das Land hinein führe. Nadira war neugierig, was vor ihnen lag.
Sie stieg den Pfad hinauf und blieb am Rand der Senke stehen. Vor ihr breitete sich eine schwarze Fläche aus, die bis an den Horizont reichte. In der Dunkelheit sah das Land aus wie ein pechschwarzer Spiegel, vollkommen glatt und gleichmäßig, ohne die geringsten Konturen.
In der Ferne glaubte Nadira, etwas zu erkennen. Lichter. Sie war sich aber nicht sicher, da nach wie vor alles unwirklich und verschwommen wirkte. Dieses Land war wirklich fremd und beängstigend.
Plötzlich fiel Nadira ein, dass sie eigentlich nur an den Rand kriechen sollten. Sie sollten nicht dort stehen, damit sie nicht gesehen wurden. Aber wie sollte jemand - oder etwas? - sie überhaupt sehen? Trotzdem ging sie in die Hocke. Aber sie weigerte sich, sich hinzulegen. Der Boden in diesem Land war … wie tot. Möglicherweise war er tot.
Als Nadira wieder zurückgehen wollte, sah sie eine Bewegung. Tatsächlich hatte sie die Bewegung nicht wirklich gesehen, sondern eher erahnt. In dieser dunklen, ebenen Fläche, war es nicht möglich etwas wirklich zu sehen. So sehr sie sich auch anstrengte, sie fand sie nicht wieder. Sie hatte sich das alles nur eingebildet.
Nadira ging wieder zurück zum Lagerfeuer. Brancus saß bereits wieder da. „Wo warst du so lange?", fragte er. „Ich war schon kurz davor, nach dir zu sehen."
„Ich war doch gar nicht lange weg", sagte Nadira.
„Jedenfalls viel länger als ich." Vermutlich hatte er nur einen kurzen Blick in die Runde geworfen und war sofort wieder zurück gegangen.
Nadira zucke mit den Schultern. „Vermutlich hab ich einfach genauer geschaut." Es machte ihr Spaß, Brancus vorzuhalten, dass er weniger gründlich war als sie selbst.
„Du hast etwas gesehen, oder?"
„Nein", sagte Nadira und schüttelte den Kopf, dann nickte sie und sagte: „Ja." Wieso wollte sie es Brancus erzählen? Es war nichts gewesen.
„Callanor sagte, wir sollen ihn wecken, wenn wir etwas sehen. Egal was."
„Ich glaube, da war nichts."
„In Miragar kann das glauben tödlich sein", sagte Brancus. Er stand auf und ging zu Callanors Zelt.
„Du willst ihn doch nicht wirklich wecken." Doch Brancus reagierte gar nicht. Er öffnete das Zelt und kroch hinein. Nur einen Augenblick später kam er mit Callanor hinaus. Nadira wurde sich bewusst, wie viel länger sie gebraucht hatte, um wach zu werden. Selbst als sie wach gewesen war, hatte sie länger gebraucht, um aus dem Zelt zu klettern, als Callanor, um wach zu werden und das Zelt zu verlassen.
„Ihr habt etwas gesehen?"
„Es war nichts", sagte Nadira. „Er hat dich umsonst geweckt."
„Ich will dieses Nichts sehen", sagte Callanor. „Wo war es?" Nadira seufzte und zeigte es ihm. Callanor hatte weniger Hemmungen damit, sich auf den toten Boden Miragars zu legen und er hatte auch keine Hemmungen, Nadira zu sich herunter zu ziehen.
Schweigend starrte er in die Dunkelheit. „Schnell, macht das Feuer aus", sagte er. „Schnell."
Nadira sprang auf die Füße und eilte in das Lager hinunter. In Callanors Stimme hatte eine Dringlichkeit mitgeschwungen, die keine Widerrede erlaubte. Um das Feuer besonders schnell zu löschen, benutzt sie ihr Ashara. Das Feuer war erloschen, bevor sie es überhaupt erreichte.
„Was ist los?", rief Brancus. „Was soll das?"
„Pssst", machte Nadira. „Callanor sagte, ich soll das Feuer löschen." Nadira wagte es nicht zu Callanor zurück zu gehen, also setzte sie sich und starrte in die Dunkelheit.
Es dauerte lange, bis sie schließlich eine Bewegung im Schatten erkennen konnte. Nadira sprang auf. Brancus stand nach ihr ebenfalls auf, aber deutlich langsamer. Eine Gestalt trat neben sie.
„Wir können hier nicht bleiben", sagte Callanor. „Weckt die anderen. Wir brechen das Lager ab."
„Was ist da draußen?", fragte Nadira.
„Nichts Gutes."
***
Das Abbauen des Lagers ging noch wesentlich schneller als das Aufbauen. Callanor trieb sie an, sich zu beeilen. Er lies keine Ausreden, keine Verzögerungen zu. Niemand wusste, was eigentlich los war, und Callanor ging auch nicht auf Fragen danach ein.
Während die anderen das Lager abbauten, verschwand Callanor immer wieder aus der Senke und beobachtete irgendetwas dort draußen. Dass er niemandem verriet, was dort lautere, verschlimmerte die Nervosität der anderen nur noch.
Callanor blieb nie lange weg, aber er ging immer wieder und kam kurze Zeit später zurück und wurde immer hektischer. In der Dunkelheit war es nicht einfach, die richtigen Handgriffe zu machen, selbst wenn man sie schon gewöhnt war.
Als sie das Lager endlich abgebaut hatten, scheuchte Callanor sie auf ihre Pferde und führte sie aus der Senke. Er benutzte denselben Weg, auf den sie am Abend zuvor hineingeritten waren. Nadira war sich sicher, das er eigentlich die andere Richtung hatte einschlagen wollen, tiefer hinein in die Ödländer von Miragar. Aber er hatte etwas entdeckt, das ihn so sehr beunruhigt hatte, dass er einen anderen Weg einschlug.
Links neben ihnen wuchsen die Schatten der Tokarberge in die Höhe, rechts lag das Meer aus Dunkelheit, das wie ein schwarzer Spiegel wirkte, komplett flach und bis zum Horizont reichend. Sie waren etwa eine Stunde unterwegs, als weit, weit rechts von ihnen, der Himmel anfing, ein wenig heller zu werden. Der Anblick beruhigte Nadira ein wenig, die Sonne ging auf, bald würde es hell sein. Am Tage würden sie alle die Gefahr sehen können, vielleicht verschwand sie dann sogar ganz.
Der Sonnenaufgang in Miragar war aber nicht mit dem Sonnenaufgang zu vergleichen, den Nadira aus Alluria kannte. Während die Sonne in Alluria die Welt lebendig erscheinen ließ, sie in ein freundliches Licht tauchte, das das Erwachen eines neuen, freundlichen Tages ankündigte, war es hier ganz anders. Das Licht, das langsam über dem Land aufstieg, wirkte überhaupt nicht warm und freundlich. Es war, als wäre das Licht in Miragar krank. Die Wolkendecke über dem Land schien alle warmen Farben aus der Sonne zu filtern. Übrig blieb ein blasses, kränkliches Licht, das kaum gegen die Dunkelheit ankam.
Eine weitere Stunde verging, ehe die Dunkelheit endlich wich. Nadira hatte das Gefühl, dass es sich um einen Kampf der geschwächten Sonne gegen den starken Schatten handelte, und dass es vollkommen unklar war, wie dieser Kampf ausging. Diesmal hatte die Sonne gewonnen, aber würde sie es morgen auch noch tun? Was würde passieren, wenn die Sonne verlor? Würde die Dunkelheit Miragar dann komplett verschlingen?
Obwohl die Sonne jetzt vollständig aufgegangen war, war das Land immer noch düster, ein Land der ewigen Dämmerung. Ein Land, in dem das Licht so schwach war, dass es nicht mehr als eine Dämmerung im Kampf gegen die Dunkelheit herausschlagen konnte.
Nadira suchte die staubige Ebene rings um sich herum nach Anzeichen von Gefahr ab. Aber abgesehen davon, dass sie sich in einer scheinbar unendlichen Ebene befanden, in der es nichts gab, außer Staub, konnte sie nichts entdecken. Das Land selbst war schon gefährlich genug, aber hier gab es noch schlimmere Gefahren.
Als Nadira bemerkte, dass sich die Tokar Berge jetzt wieder in ihrem Rücken befanden, erkannte sie, dass Callanor sie in einem weitem Bogen geführt hatte. Der Bogen musste sehr weit gewesen sein, denn Nadira hatte davon nichts mitbekommen. Oder war es dieses Land, das kaum Orientierung erlaubte? Nadira schauderte.
„Wohin reiten wir überhaupt?" Seit sie los geritten waren, hatte niemand mehr etwas gesagt. Es fiel Nadira nicht leicht, diese Stille zu brechen, aber es war ihre Mission und sie sollte zumindest wissen, was ihr Ziel war.
„Habt Ihr die Lichter gesehen, heute Nacht?"
„Ja", sie hatte sie gesehen, aber sie war sich bis eben nicht sicher gewesen, ob sie wirklich existiert hatten oder nur in ihrer Einbildung.
„Vermutlich ist es ein Dorf. Ich versuche, es zu finden. In Gesellschaft anderer Menschen sind wir sicherer."
Nadira spürte, dass Callanor etwas verschwieg, etwas über die Lichter, über die Menschen. „Und vor was laufen wir davon?"
„Ich weiß es nicht", sagte Callanor. Aber sein nervöser Blick, mit dem er die Ebene absuchte, sagte Nadira, dass er nicht die volle Wahrheit sagte. „Und ich will es nicht herausfinden", sagte Callanor dann kurzer Zeit später, aber viel leiser.
Er hatte Angst. Er hatte Angst vor dem, was da draußen war. Was war los in diesem Land, dass ein Mann wie Callanor Angst hatte? Sicher, auch erfahrene und tapfere Menschen hatten Angst. Sicher hatten auch Callanor und die anderen Krieger Angst gehabt, als sie von den Wölfen gejagt worden waren, aber das hier war etwas anderes. Im Moment herrschte keine direkte Bedrohung, trotzdem war die Angst fast greifbar.
***
Gegen Mittag entdecke Nadira vor sich dunkle Flecken in der Landschaft. Sie konnte nicht erkennen, um was es sich handelte, aber für Menschen waren sie zu groß. Sie hatte den Eindruck, dass sie gar nicht weit weg waren, vielleicht zwei Meilen. Wieso hatte sie sie jetzt erst bemerkt? Und WAS hatte sie da überhaupt bemerkt?
„Es ist ein Dorf", sagte Callanor. Er schien sich wieder ein wenig entspannt zu haben. „Hoffentlich sind wir willkommen."
Sie hielten direkt auf das Dorf zu, auch wenn es für Nadira nach wie vor nur eine Ansammlung dunkler Flecken war. Obwohl sie direkt darauf zu ritten, hatte sie das Gefühl, dass es einfach nicht näherkam. Entfernungen waren in diesem seltsamen Land wirklich schwierig einzuschätzen.
Langsam wuchsen die Flecken und wurden zu dreidimensionalen Objekten. Zwischen den Objekten, es musste sich um Hütten handeln, sahen sie Bewegungen.
Als sie sich dem Dorf weiter näherten, nahmen die Bewegungen immer weiter ab. Die Leute verstecken sich vor uns, dachte Nadira. Und irgendwie konnte sie es verstehen. Sie würde sich auch verstecken, wenn sich in diesem Land fremde Leute ihrem Dorf näherten.
Die Objekte entpuppten sich wirklich als Hütten. Aber diese Hütten waren ganz anders als Nadira sie sich vorgestellt hatte. Sie schienen größtenteils aus Leder zu bestehen, oder waren sie nur mit Leder verkleidet? Die Hütten waren klein. Selbst die Hütten im Armenviertel von Seraint wirkten riesig im Vergleich zu den Lederhütten dieses Dorfs.
Nadira fiel ein, dass das Volk von Miragar nicht lange an einem Ort blieb. Sie zogen in der unwirklichen Ebene des Landes umher. Wahrscheinlich kam daher die Bauweise ihrer Hütten, Hütten aus Holz hätten sie nicht transportieren können.
Zwischen den Hütten entdeckte sie einige Gestalten, sie waren ebenfalls in Leder gekleidet. Die Kleidung wirkte alt und verschlissen. Alle Menschen die sie sah, trugen ein Tuch um den Kopf gewickelt, sodass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte.
Callanor hielt die Gruppe am Rand des Dorfes an. Mehrere Einheimische hielten sich in der Nähe auf. Nadira erkannte keine Möglichkeit, die Leute voneinander zu unterschieden. Sie war nicht einmal in der Lage, das Geschlecht der Menschen zu bestimmen.
„Ich grüße euch", rief Callanor, laut genug, dass ihn alle hören konnten. „Wir sind harmlose Reisende und bitten darum, die Nacht im Schutze eures Dorfes verbringen zu dürfen."
Niemand reagierte auf seine Ansprache. Die Leute standen nur da und starrten sie an, niemand sagte etwas, tatsächlich bewegten sich die meisten Leute kaum. Callanor wandte sich an den Dorfbewohner, der ihm am nächsten war. „Bring uns bitte zu den Dorfältesten."
Der Mann, falls es ein Mann war, starrte Callanor nur an, aber reagierte nicht auf das, was er gesagt hatte. Callanor stieg von seinem Pferd ab und bedeutete den anderen ebenfalls abzusteigen.
Plötzlich drehte der Dorfbewohner sich um und ging davon. „Kommt." Callanor winkte den anderen und sie folgten ihm tiefer in das Dorf hinein. Nadira bemerkte schnell, dass ihr erster Eindruck nicht ganz richtig gewesen war. Ja, die Dorfbewohner hatten sich versteckt, aber nicht in den Hütten, sie hatten sich tiefer in das Dorf zurückgezogen.
Die Hütten standen dicht beieinander, sodass zwischen ihnen ein Labyrinth von Gängen entstand. Es war schwierig sich hier zurechtzufinden, denn die Hütten waren absichtlich so platziert, dass es keine geraden Wege gab.
In der Mitte des Dorfes lag ein großer, offener Platz. Die meisten Dorfbewohner schienen sich hierher zurückgezogen zu haben. Sie alle trugen Kleidung aus Leder und diese Tücher um die Köpfe gewickelt. Nadira war immer noch nicht in der Lage, Männer und Frauen voneinander zu unterschieden, aber sie sah eine Handvoll Kinder.
Ihr Führer hielt auf eine Hütte zu, die sich von den anderen kaum unterschied, sie war nur ein wenig größer. Bevor er (oder sie?) die Hütte betrat, bedeutete er Callanor zu warten.
„Wieso sind sie so still?", flüsterte Aurel. Sie sah sich immer wieder nervös um, wie auch die anderen der Gruppe. Niemand schien in der Lage, die Menschen hier einschätzen zu können, nur Callanor war jetzt wieder ruhig. Es beruhigte Nadira, zu sehen, dass ihn nicht mehr diese Angst quälte, wie draußen auf der Ebene.
Es dauerte nicht lange, da tauchte der Dorfbewohner wieder auf und winkte Callanor hinein. War es überhaupt derselbe?
„Dyna, Darec, begleitet mich." Callanor wartete keine Antwort ab, sondern schlüpfte in die Hütte. Nadira folgte ihm, war aber deutlich zögerlicher als Callanor.
Die Luft im Inneren der Hütte war stickig. Direkt hinter dem Eingang befand sich eine Art kleines Vorzimmer. Der Hauptraum der Hütte war durch einen Vorhang aus Stoff von diesem Vorzimmer abgetrennt. Ein Dorfbewohner hielt den Vorhang offen und wartete, bis sie alle den Hauptraum betreten hatten.
Der Raum war annähernd rund, der Boden mit Leder bedeckt, als Sitz- und vermutlich auch Schlafgelegenheiten gab es Kissen und Felle. Ein alter Mann saß gegenüber dem Eingang auf einem Kissen. Er war genauso gekleidet wie die anderen Dorfbewohner, aber er trug nicht das Tuch, das die Gesichter der Anderen verdeckte.
Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, seine Augen waren blass, aber trotzdem seltsam lebendig. Nadira hatte den Eindruck, dass er sehr alt sein musste. An seiner Seite, jeweils links und rechts, saß je eine weitere Person, deren Gesichter aber durch ein Tuch verdeckt waren.
Der Alte deutete auf Kissen, die im gegenüber lagen. Callanor setzt sich auf eines der Kissen und sagte „Setzt euch", zu den anderen. Nadira fühlte sich unbehaglich. Außer dem Alten, den beiden an seiner Seite und der Person, die den Vorhang offen gehalten hatte, befanden sich noch zwei weitere Dorfbewohner im Raum. Aber die anderen hielten sich um Hintergrund. Sie stand an den Wänden aus Leder und starrten die Besucher nur stumm an.
„Ihr sucht also Schutz für die Nacht?" Die Stimme des Alten klang rau und trocken, aber nicht schwach und brüchig, wie Nadira erwartet hatte.
Callanor nickte. „So ist es. Wir sind Reisende und wir wissen um die Gefahren des Landes. Deshalb bitten wir euch, die Nacht bei euch verbringen zu dürfen."
„Wir haben keinen Platz für Fremde", sagte der Alte.
„Wir bitten nicht um Schlafplätze in euren Hütten", sagte Callanor. „Wir haben unsere eigenen Zelte. Wir bitten nur darum, uns eurem Dorf anschließen zu dürfen. Für eine Nacht."
Der Alte schwieg eine Weile. „Und was bietet ihr uns für unseren Schutz?", fragte er schließlich. Er deutete auf Nadira. „Diese Frau?"
Nadira zuckte zusammen. Wie konnte er es nur wagen? Doch ehe sie etwas sagen konnte, sagte Callanor: „Nein. Sie eine hohe Dame dort wo wir herkommen. Aber ich bin sicher, wir besitzen etwas, das für euch von Wert ist."
„Wir haben nicht genug Frauen", sagte der Alte. „Habt ihr noch mehr Frauen bei euch?"
„Wir haben noch eine Frau bei uns", sagte Callanor. Nadira wollte auffahren. Wollte er ihnen etwa Aurel überlassen? „Aber sie ist die Dienerin der hohen Dame und kann euch nicht überlassen werden."
Das Gesicht des Alten verfinsterte sich. „Was habt ihr dann zu bieten?"
„Felle und Leder", sagte Callanor. Damit hatte er die Aufmerksamkeit des Alten geweckt.
„Und ihr würdet sie uns überlassen?"
„Nicht alle. Aber eine angemessene Menge", sagte Callanor. „Wir sind auf dem Weg nach Resperu."
Bei Erwähnung des Namens zuckte der Alte zusammen. „Nun gut", sagte er. "Ihr könnt bleiben. Für eine Nacht."
Callanor verneigte sich. „Ich danke euch. Und gerne werden wir unsere bescheidenen Vorräte mit euch teilen."
„Und wir unsere mit euch." Nadira hatte das Gefühl, dass es sich bei diesem Angebot um eine Tradition handelte. Am Gesicht des Alten war nicht abzulesen, ob er damit einverstanden war.
Callanor verneigte sich noch einmal, Nadira und Darec taten es ihm gleich. Dann verließen sie die Hütte wieder. „Wir bleiben", sagte er zu den anderen. „Wir bauen unser Lager auf, so, dass es in das Dorf integriert ist."
***
Als sie ihr Lager aufbauten, begriff Nadira, dass die Hütten, in denen die Dorfbewohner lebten, eher mit ihren Zelten vergleichbar waren, als mit den Häusern in Seraint. Die Bewohner des Ödlands von Miragar waren zwar keine Reisenden, wie Nadira und ihre Begleiter, aber sie waren ihr ganzes Leben lang unterwegs. Das Land Miragar zwang sie dazu immer in Bewegung zu bleiben.
Nadira hatte nicht verstanden, was Callanor damit gemeint hatte, ihr Lager in das Dorf zu integrieren. Aber es war schnell klar geworden, als sie mit dem Aufbau anfingen. Sie stellten ihre Zelte so auf, wie die Dorfbewohner es mit ihren Hütten getan hatten. Statt im Kreis um ein Lagerfeuer, bildeten sie enge Gassen zwischen den Zelten und den Hütten des Dorfes.
Während sie ihre Zelte aufbauten, tauchten immer wieder Dorfbewohner auf. Natürlich waren sie neugierig auf die Fremden, die aus einem anderen Land gekommen waren, auf die seltsame Kleidung, die sie trugen (aus der Sicht von Leuten aus Miragar) und die seltsamen Zelte, die sie aufstellen. Aber Niemand wage es, die Fremden anzusprechen. Vielleicht wussten sie auch einfach nicht, was sie fragen sollten.
Sie stellten ihre Zelte am Rand des Dorfes auf. Wie ihnen das Schutz bieten sollte, war Nadira nicht klar, aber sie vertraute darauf, dass Callanor wusste, was er tat.
Als sie mit dem Aufbau fertig waren, tauchte ein Dorfbewohner auf, blieb in der Nähe von Nadira stehen und starrte sie an. Nadira achtete nicht weiter darauf, da immer wieder Dorfbewohner auftauchten und sie beobachteten. Deshalb kümmerte sie sich erst um ihren Schlafplatz.
Als sie kurz darauf wieder aus dem Zelt herauskroch, stand der Dorfbewohner immer noch an derselben Stelle. Als Nadira ihn (oder sie?) näher begutachtete, bekam sie das Gefühl, dass es derselbe war, der sie zum Ältesten gebracht hat. Aber sie konnte nicht genau sagen, woher sie das wusste.
Wieso stand er nur da und starrte sie an? Hatte das eine bestimmte Bedeutung? War es einfach nur die Art der Bewohner von Miragar? Oder die Art dieser Person? Nein, sie hatte es schon zu oft gesehen. Es war sicher kein Verhalten dieser einen Person. Nadira ging auf den Dorfbewohner zu und sah ihn fragend an.
„Der Älteste würde jetzt gerne die Geschenke sehen", sagte er plötzlich. Er kann ja doch reden, dachte Nadira. An der Stimme erkannte sie nun auch, dass es sich um einen Mann handelte.
„Darüber musst du mit Callanor reden", sagte Nadira. „Der Mann, der mit dem Ältesten verhandelt hat."
„Aber bist nicht du die hohe Dame?"
„Ja. Aber ich habe die Verhandlungen nicht geführt." Nadira überlegte, ob sie ihn einfach wegschicken sollte. „Komm, wir gehen zu Callanor."
„Callanor", rief Nadira. „Er kommt, um die Geschenke abzuholen."
Callanor sah den Dorfbewohner einen Augenblick an. Konnte er diese Menschen unterscheiden? Offensichtlich ja. Auch wenn Nadira nicht klar war, woran genau. Vielleicht war es einfach eine Sache der Erfahrung.
„Wir sind noch nicht ganz soweit. Wir sind eben erst mit dem Aufbau fertig geworden", sagte Callanor. „Richte dem Ältesten bitte aus, dass ich ihm die Felle persönlich vorbeibringen werde, sobald ich hier fertig bin. Ich muss die Arbeit noch überwachen."
Der Dorfbewohner verneigte sich. „Außerdem hat der Älteste mir aufgetragen, euch zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Und er würde sich freuen, wenn er Spezialitäten aus eurem Land kosten dürfte."
„Wir nehmen die Einladung gerne an. Wir haben aber keine Spezialitäten dabei. Der Weg ist zu weit und unser Essen verdirbt schneller, als das der Menschen von Miragar." Callanor zögerte kurz. „Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Vielleicht haben wir noch Gewürze oder andere Dinge, die in Miragar selten sind."
Das schien den Boten zufriedenzustellen. Er verneigte sich und verschwand wieder.
„Ich muss Aurel fragen, ob sie noch Gewürze hat", sagte Callanor.
„Hat sie bestimmt", sagte Nadira. „Wenn sie nicht schon alles verbraucht hat."
Tatsächlich hatte Aurel auf Anhieb eine Idee, was sie zubereiten konnte. Am späten Nachmittag machte sich die Gruppe auf den Weg zum zentralen Platz des Dorfes. Mit dabei hatten sie einen großen Packen Felle und einen Eintopf mit besonderen Gewürzen, die für die Dorfbewohner hoffentlich exotisch waren.
Fast das ganze Dorf schien sich auf dem zentralen Platz versammelt zu haben. Auch der Älteste war jetzt nicht mehr in seiner Hütte, sondern saß mitten auf dem Platz, neben einem Feuer, das sie errichtet hatten.
Als Nadira und die anderen ankamen, machten die Dorfbewohner einen Weg für sie frei, der sie direkt zum Feuer führte. Nadira fühlte sich ein wenig unbehaglich. Es waren sehr viele Menschen hier auf diesem Platz. Deutlich mehr, als dass man sich noch wohlfühlen konnte.
Ein Dorfbewohner trat ihnen entgegen, um die Felle in Empfang zu nehmen. Er brachte sie dem Ältesten, der sie genau in Augenschein nahm. Kurz darauf zauberte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Er schien mit dem Geschenk zufrieden zu sein. Mit einer Geste lud er sie ein, sich zu ihm zu setzen.
Jedem von ihnen wurde eine hölzerne Schale mit einem grauen Brei und mehreren Streifen von trockenem Fleisch gereicht. Es sah nicht besonders appetitanregend aus. Callanor hatte ihnen schon gesagt, dass sie kein Festmahl erwarten konnten. Die Bewohner des Ödlands hatten nicht viel, und das, was sie hatten, musste vor allem haltbar und nahrhaft sein, nicht aber gut schmecken.
Der Brei war fast geschmacklos. In Alluria würde man ihn zumindest mit Gewürzen schmackhafter machen. Die Menschen in den Ödlanden von Miragar aber kannten kaum Gewürze. Sie waren den reichen Leuten in Resperu vorbehalten. Das Fleisch war zäh und schwer zu kauen, aber es schmeckte, zumindest im Vergleich zu dem Brei, gar nicht so schlecht.
Schließlich war es an der Zeit, dass Aurel ihren Beitrag zu diesem Essen beisteuerte. Sie stellte den Kessel noch einmal auf das Feuer, damit der Eintopf auch schön heiß war, dann erhielt der Älteste die erste Schale.
Und wieder stahl sich ein Lächeln auf sein vom Alter gezeichnetes Gesicht. Er lobte die Köchin lautstark. Nadira hoffte, sie erwarteten nicht, dass jeder Dorfbewohner etwas von dem Eintopf abbekam. Er würde nämlich nicht annähernd reichen.
Aber offenbar wurde das gar nicht erwartet. Tatsächlich sah Nadira nur sehr wenige Leute etwas essen. Mussten die anderen alle hungern? Oder war das hier eine Veranstaltung für die Gäste, und die anderen Dorfbewohner sahen nur zu?
Nadira bemerkte, dass Aurel in einer angeregten Diskussion mit dem Ältesten und einigen anderen Dorfbewohnern verstrickt war, in der sie wohl Rezepte austauschten und über die Vorzüge von verschiedenen Gewürzen sprachen.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Nadira hatte es gar nicht bemerkt. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war in Miragar nicht so groß, wie in Alluria. Das Feuer hatte ausgereicht, den Sonnenuntergang zu verschleiern.
Es herrschte ausgelassene Stimmung, wenn diese auch ziemlich ruhig war, wie es wohl die Art des Volkes von Miragar war. Da schnitt plötzlich ein fürchterliches Heulen durch die Stille der Nacht.