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DIE KOPFLOSEN

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Die ausgelassene Stimmung war sofort zu Ende. Nadira lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Noch nie hatte sie so ein Geräusch gehört. Es war ein Schrei voller Pein, voller Hass, er war gleichzeitig ein Schrei des Schmerzes als auch der Aggression, ein unmenschlicher Laut, so unendlich bedrohlich wie der Tod.

„Was war das?", flüsterte Nadira. Sie hatte Angst laut zu sprechen, weil sie befürchtete, das Wesen das diesen Laut ausgestoßen hatte, auf sich aufmerksam zu machen.

„Guul", flüsterte der Älteste.

Nadira bemerkte, dass Callanor bleich geworden war.

„Das, was ich befürchtet hatte", sagte er. Es war also das, was ihm den ganzen Tag über solche Angst gemacht hatte. Nadira hatte sich gefragt, was es war. Jetzt stand die Chance nicht schlecht, dass sie es bald herausfinden würde. Doch war sie sich jetzt nicht mehr sicher, ob sie es herausfinden wollte.

„Vielleicht hat es uns nicht entdeckt", sagte Nadira. Aber sie wusste selbst, dass das fast ausgeschlossen war. Selbst in Miragar war es schwer ein ganzes Dorf zu übersehen. Und der Schrei war nahe gewesen.

Endlich ging ein Ruck durch die versammelten Dorfbewohner. Als wären alle gleichzeitig aus einer Starre befreit worden, kam plötzlich Bewegung in die Menschen.

Im ersten Augenblick befürchtete Nadira, dass Panik ausgebrochen war, aber sehr schnell erkannte sie, dass dem nicht so war. Die Bewegungen waren koordiniert. Offenbar wusste jeder, wie er sich in dieser Situation zu verhalten hatte. Jeder außer Nadira und ihren Begleitern.

Die Dorfbewohner zogen sich in die Hütten zurück. Aber sie versteckten sich dort nicht etwa. Schon nach wenigen Sekunden kamen sie wieder hervor. Jeder von ihnen trug einen Stock bei sich, um den etwas braunes gewickelt war. Sie liefen zum Feuer und hielten das Ende mit dem braunen Wickel hinein. Es fing sofort Feuer. Fackeln, es waren einfach Fackeln.

Die Dorfbewohner, deren Fackeln entzündet waren, verschwanden zwischen den Häusern. Einige Dorfbewohner drückten den Männern aus Nadiras Gefolge ebenfalls Fackeln in die Hand. Callanor zögerte nicht lange, er entzündete seine Fackel und bedeutete den anderen dasselbe zu tun. Dann verschwanden auch sie zwischen den Hütten.

Plötzlich war es Still, nur das Prasseln des Feuers war noch zu hören. Zwischen den Hütten hindurch und über die Dächer der Hütten hinweg, konnte Nadira sehen, dass die Dorfbewohner einen Kreis aus Licht um das Dorf gelegt hatten. Außer ihr selbst, Aurel, dem Ältesten und einem Dorfbewohner, war der Platz jetzt leer.

Ein weiterer Schrei durchschnitt die Nacht, näher noch als der erste. Nadira lief ein Schauer über den Rücken. Was für Wesen waren es, die solche Schreie ausstießen?

„Kommt mit in meine Hütte", sagte der Älteste schließlich. „Dort ist es sicherer."

„Geh mit ihnen", sagte Nadira zu Aurel. „Ich werde zu den Anderen gehen. Ich möchte wissen, was dort draußen ist."

„Eine hohe Dame sollte sich nicht in Gefahr begeben", sagte der Älteste.

„Ich glaube, wir sind hier nirgendwo sicher", sagte Nadira.

Der Älteste nickte. „Das stimmt. Aber drinnen ist die Gefahr etwas geringer als draußen."

„Ich weiß. Trotzdem werde ich mich nicht verstecken."

„Dann nimm wenigstens eine Fackel mit. Sie fürchten das Licht." Der Älteste gab dem Dorfbewohner der hinter ihm stand einen Wink. Dieser verschwand blitzschnell in der Hütte des Ältesten und kam nur wenige Sekunden später mit einer Fackel zurück.

„Danke", sagte Nadira und entzündete die Fackel am Feuer. „Ich werde vorsichtig sein."

Aurel sagte nichts, sah Nadira aber besorgt an. In ihr musste gerade ein Kampf toben. Zum einen wollte sie Nadira nicht allein lassen, zum anderen hatte sie Angst, blanke, nackte Angst.

„Bleib hier", sagte Nadira, lächelte Aurel zu und verschwand dann in die Richtung, in die Callanor und die anderen gegangen waren.

***

Tatsächlich hatten die Dorfbewohner und Nadiras Begleiter einen Kreis um das Dorf gebildet. Sie standen so dicht beieinander wie möglich, alle befanden sich im Lichtschein der Fackeln ihrer beiden Nachbarn. Nadira hatte das Gefühl, dass der Lichtkreis, den sie so erschaffen hatten, heller war als der Tag in Miragar.

Schnell hatte sie Darec gefunden. „Was ist da draußen?", fragte sie.

„Was machst du hier? Verschwinde wieder", fuhr er sie an.

„Das werde ich nicht. Ich möchte wissen, was da draußen ist." Nadira nahm einen Platz neben Darec ein, und die anderen in der Nähe passten ihren Abstand zueinander an. Jede Person, die in den Kreis hinein oder aus dem Kreis heraus trat, hatte Auswirkung auf den ganzen Kreis. Nadira war von der Effektivität beeindruck, aber auch erschreckt. Diese Effektivität hieß, dass die Dorfbewohner öfter in dieser Situation waren.

Nadira beobachtete die dunkle Ebene von Miragar außerhalb des Lichtkreises. Es war nichts zu sehen, außer gleichmäßiger Schwärze. Und es herrschte Stille. Nur das Prasseln der Fackeln und der Atem der Nebenmänner war zu hören. Dann erneut ein Schrei. Er kam von der anderen Seite des Dorfes. Nadira fuhr herum. Natürlich konnte sie nichts erkennen, da das gesamte Dorf dazwischen lag.

Diesmal dauerte es nicht lange, bis der nächste Schrei durch die Stille schnitt. Dieser kam aber aus einer ganz anderen Richtung, rechts vor ihnen. Und er klang nah. Nadira starrte in die Richtung aus der der Schrei gekommen war, aber sie konnte nichts entdecken.

„Kannst du etwas sehen?", flüsterte sie Darec zu.

„Nein." Darec hatte die Fackel in der einen Hand, die andere Hand ruhte auf dem Griff seines Schwertes. Wenn nötig, würde er es schneller ziehen, als ein Angreifer einen Hieb gegen ihn ausführen konnte.

Wieder erklang ein Schrei. Diesmal von links hinter ihnen. Diese Wesen - was immer sie waren - sie mussten das Dorf komplett eingekreist haben. Oder war es nur ein Wesen? Dann musste es schnell sein, sehr schnell.

Nadira starrte in die Dunkelheit. War da nicht etwas? Eine Bewegung? Nein, doch nicht. Sie glaubte, schlürfende Schritte in der Dunkelheit zu hören. Da! Wieder eine Bewegung. Sie hielt den Punkt fixiert. Und sie sah es erneut. Eine Bewegung, kaum erkennbar. Etwas Schwarzes, das sich auf schwarzem Hintergrund bewegte.

„Da", sagte sie leise und deutete auf die Stelle, an der sie die Bewegung gesehen hatte.

„Ich sehe es", sagte Darec. Es war also wirklich da, Nadira hatte es sich nicht eingebildet. Aber was war es? Man konnte nichts erkennen, nur ab und zu eine Bewegung, einen Schatten in der Dunkelheit, der seine Form änderte.

Dann bemerkte Nadira noch eine Bewegung. Und kurz darauf noch eine. Es waren mehrere Kreaturen da draußen. Aber nach wie vor war es ihr nicht möglich, zu sagen, was dort durch die Dunkelheit schlich.

„Sie halten sich vom Licht fern", sagte Darec.

„Wie viele sind es?", fragte Nadira.

„Ich weiß es nicht genau. Mindestens fünf." Fünf! Allein hier. Und wahrscheinlich war das ganze Dorf eingekreist. Nadira versuchte links oder rechts etwas zu erkennen, aber dort konnte sie nichts sehen. Vielleicht waren die Kreaturen die sie gesehen hatte, gerade nahe genug herangekommen, dass man sie erkennen konnte. Aber außerhalb dieses Radius konnten sich noch Hunderte dieser Kreaturen befinden.

Nadira sah es regelrecht vor sich. Ein Heer aus schattenhaften Bewegungen, das das Dorf komplett umstellt hatte. Es gab kein Entkommen, sie würden alle sterben. Nadira bemerkte, dass Panik in ihr aufstieg. Das ist alles nur in deinem Kopf, sagte sie zu sich selber. Da draußen ist kein Heer. Tatsächlich war es sehr unwahrscheinlich, dass ein ganzes Heer der Kreaturen unbemerkt bleiben würden. So viele Kreaturen auf kleinem Raum machten einfach Geräusche. Aber hier herrschte bedrohliche Stille.

„Ich glaube, sie sind wieder weg", sagte Darec schließlich.

Auch Nadira hatte schon seit einer Weile keine Bewegungen mehr gesehen. Waren sie wirklich verschwunden? Wenn ja, würden die Dorfbewohner es sicherlich wissen. Sie hatten Erfahrung damit.

Aber es dauerte noch endlose Minuten bis schließlich die Entwarnung kam. Sie wurden aufgefordert die Fackeln in den Boden zu stecken und dann wieder ins Dorf zurück zu gehen.

***

Als sie wieder auf dem Dorfplatz angekommen waren, wartete der Älteste schon mit finsterer Miene. Nadira hatte sofort das Gefühl, dass Ärger bevorstand. Er stand schweigend da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wartete. Nadira bemerkte, dass die Dorfbewohner, die aus dem Ring des Lichtes zurückkamen, sofort in den Hütten verschwanden. Jedenfalls die meisten. Einige nahmen auch Aufstellung hinter dem Ältesten und im Kreis um Nadira und die anderen herum.

„Ihr habt die Guul in unser Dorf geführt", sagte der Älteste. „Ihr habt Unheil über uns gebracht."

„Das stimmt nicht", rief Nadira. Sie sah Hilfe suchend zu Callanor, aber dieser wich ihrem Blick aus. „Callanor?"

„Doch, es stimmt", sagte Callanor zögernd.

„Es stimmt?" Nadira konnte nicht fassen, was sie da hörte. Er hatte wissentlich ein ganzes Dorf in Gefahr gebracht?

„Ihr werdet das Dorf verlassen, sofort!", sagte der Älteste scharf.

„Diese Dinger sind noch da draußen", rief Nadira. „Ihr könnt uns nicht da raus schicken."

„Ohne euch wären sie nicht hier. Ihr müsst gehen."

„Wir hatten keine andere Wahl", rief Callanor. „Sie waren uns auf den Fersen. Wir brauchten Schutz. Und ich wusste, dass wir hier Schutz finden würden."

„Ihr habt uns angelogen", sagte der Älteste. „Du wusstest, dass du die Guul zu uns führen würdest. Du hast uns alle in Gefahr gebracht."

„Ich wusste nichts davon", sagte Nadira.

„Wirklich nicht?" Der Älteste starrte Nadira an.

„Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Aber keine Ahnung was. Und ich wusste nicht, dass wir euch in Gefahr bringen würden."

Der Älteste musterte Nadira lange. Schließlich sagte er: „Ich glaube, du sagst die Wahrheit. Aber es ändert nichts. Ihr müsst gehen. Und zwar sofort." Er gab den Dorfbewohnern, die um Nadiras Gruppe herumstanden, einen Wink und plötzlich zogen diese Waffen.

„Was soll das?", rief Nadira. „Wir sind nicht eure Feinde."

„Nein. Ihr seid Verbannte. Geht jetzt."

„Wo ist Aurel?", rief Nadira. „Ich habe sie hier zurückgelassen."

„Sie gehört jetzt uns", sagte der Älteste. Nadira wollte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte.

„Was soll das heißen?", fragte sie lauernd.

„Sie wird eine von uns. Sie bleibt hier. Ihr geht. Sofort."

„Gebt mir sofort Aurel zurück." Nadiras Stimme war eiskalt geworden. Als sie auf den Ältesten zutrat, strahlte sie plötzlich eine gefährliche Autorität aus. „Sofort", fügte sie hinzu.

Der Älteste zögerte, aber nur einen Moment. „Nein. Sie gehört uns. Sie ist unsere Entschädigung."

„Ihr hattet gar keinen Schaden", sagte Nadira. „Niemandem ist etwas passiert."

„Das ist nicht euer Verdienst", sagte der Älteste. „Wir haben sie abgewehrt."

„Ihr könnt keine Entschädigung verlangen, wenn nichts passiert ist. Gebt mir sofort Aurel zurück."

Der Älteste trat zurück und winkte zwei Dorfbewohnern zu. Sie traten vor und wollten Nadira greifen. Aber bevor sie sie erreichen konnten, hatte Nadira nach ihrem Ashara gegriffen. Mit einer fast lässigen Bewegung der Arme schleuderte sie die beiden Krieger weit von sich. Mit einem dumpfen Schlag krachten sie in die Hütte des Ältesten und rissen sie halb ein.

Nadira wandte sich wieder dem Ältesten zu. Trotz des fahlen Lichts konnte sie erkennen, dass dieser bleich geworden war. „Ich will Aurel zurück", sagte sie.

Der Älteste war über diese neue Entwicklung so überrascht, dass er nicht wusste, was er sagten sollte. Er stotterte nur unzusammenhängende Worte dahin.

In dem eingestürzten Teil der Hütte bewegte sich etwas. Nadira machte sich bereit, ihr Ashara wieder einzusetzen, falls einer der Krieger noch nicht genug hatte. Aber es war nur Aurel, die versuchte durch die Felle zu klettern, die den Eingang verhingen.

„Aurel, komm her", rief Nadira.

Obwohl mehrere Dorfbewohner in Aurels Nähe standen, wagte niemand es, sie aufzuhalten. „Sie wollten mich behalten", sagte Aurel. „Sie hatten mich in die Hütte geschleift und gesagt, ich müsste hier bleiben und eine von ihnen werden."

„Keine Sorge, du bleibst nicht hier", sagte Nadira. Sie wandte den Blick zu ihren Gefährten. Die Krieger hatten Waffen gezogen und hielten die Dorfbewohner in Schach. Nadira hatte davon gar nichts bemerkt. Allerdings versuchten die Dorfbewohner auch nicht, sie anzugreifen.

„Wir gehen. Und werden Aurel mitnehmen", sagte Nadira. „Wenn ihr versucht, uns daran zu hindern, wird Blut fließen." Nadira erkannte sich selbst nicht wieder. Wer war dieser Person, die kühl darüber redete, andere Menschen zu töten? Hatte diese Reise sie verändert?

Der Älteste stand nur da und versuchte Nadira mit Blicken zu töten. Langsam zogen Nadira und die anderen sich zurück.

„Wir sollten so schnell wie möglich unser Lager abbrechen und von hier verschwinden", sagte Nadira.

„Wir können nicht weg", sagte Callanor. „Sie sind da draußen. Sie werden uns bei lebendigem Leib fressen."

„Was sind das überhaupt für Dinger?", rief Brancus. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Sie sind … keine Lebewesen."

„Niemand weiß, was sie sind", sagte Callanor. „Man weiß nur, dass sie gefährlich sind. Tödlich."

„Ich glaube, wir haben gerade Wichtigeres zu tun, als diese Kreaturen einer Art zuzuordnen", sagte Nadira.

Sie kamen ohne Zwischenfälle in ihrem Lager an. Allerdings fanden sie Dorfbewohner vor, die ihre Sachen durchwühlten.

„Nehmt sofort die Hände von unseren Sachen weg", rief Brancus ihnen zu. Die Dorfbewohner zuckten zusammen, hörten aber nicht damit auf, die Sachen zu durchwühlen.

„Wir sind im Namen des Ältesten hier", sagte einer. „Wir nehmen alles, was wir brauchen können, als Entschädigung, weil ihr die Guul zu uns gelockt habt."

„Mir reicht es jetzt", sagte Brancus. Plötzlich schoss Feuer aus seinen Händen und traf den Dorfbewohner.

Nadira griff sofort nach ihrem Ashara und löschte die Flammen wieder. „Lass das. Sie sollen verschwinden, aber wir werden sie nicht töten, wenn wir eine andere Wahl haben."

„Sie rauben uns aus", rief Brancus.

„Und daran werden wir sie hindern, aber nicht auf diese Art", sagte Nadira. Zu dem Dorfbewohner sagte sie: „Du hast gesehen, was passiert, wenn ihr nicht aufhört. Ich habe dir dein Leben gerettet. Nimm es und geh. Und wage es nicht, unser Eigentum mitzunehmen."

Die meisten der Dorfbewohner hatten die Warnung verstanden, aber nicht alle. Sie versuchten mit einem Bündel Felle zu entkommen. Lledar und Tinju hinderten sie daran.

„Lasst uns packen", sagte Nadira und machte sich sofort an die Arbeit. Dieses Mal war das Abbauen des Lagers noch chaotischer. Nicht nur, dass sie im Dunklen arbeiten müssten, sie mussten auch noch auf die Dorfbewohner aufpassen und auf die Kreaturen dort draußen. Doch schließlich hatten sie es geschafft. Nadira war nass geschwitzt vor Anstrengung und Anspannung.

„Wir brauchen Licht da draußen", sagte Callanor. „Sonst überleben wir keine fünf Minuten.

„Können wir Fackeln basteln?", fragte Darec.

„Nein", sagte Callanor. „Wir haben nichts passendes dabei."

„Bringen wir das Dorf in Gefahr, wenn wir Fackeln von hier nehmen?", frage Nadira.

„Sie können die Fackeln ersetzen", sagte Callanor. „Sie haben genug."

„Bist du sicher?"

Callanor nickte. „Ganz sicher. Sonst könnten sie nicht überleben."

„Dann nehmt euch Fackeln. Aber nehmt sie nicht alle von derselben Stelle. Sonst machen wir ein großes Loch in ihre Verteidigung."

Jeder nahm sich eine Fackel und sie steckten die andern so um, dass keine Lücke entstand. Die Dorfbewohner würden den Ring dann an dieser Stelle wieder schließen. Nadira ließ auch noch einige Felle zurück, als Entschädigung für die Fackeln.

Dann ritten sie davon in die Nacht. Wohl wissend, dass dort draußen gefährliche Monster nur darauf warteten, sie zu fressen.

***

Nadira konnte die Angst, die die ganze Gruppe gefangen hielt, regelrecht sehen. Es handelte sich dabei nicht um eine Fähigkeit ihres Ashara, sondern die Angst war einfach so greifbar, dass sie jeder bemerkte. Außerdem hatte Nadira selbst Angst.

Ständig sahen sie Bewegungen, schattenhafte Gestalten, die sich gerade außerhalb des Lichtscheins ihrer Fackeln hielten. Sie hörten schlürfende Schritte und immer wieder knurrte eine der Kreaturen. Es war ein tiefes Knurren, wie das eines Wolfes, ganz anders, als die hellen Schreie, die sie im Dorf gehört hatten.

Vielleicht folgten ihnen andere Kreaturen, Wölfe vielleicht. Aber Nadira wusste, dass es nicht so war. Da, wieder ein Schatten. Sie war sich nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass diese Wesen humanoid waren. Sie schienen Arme und Beine zu haben und aufrecht zu gehen.

Die Bewegungen der Schatten erschienen Nadira träge und unkoordiniert, aber immer wieder entdecke sie die Schatten auch vor sich. Entweder war hier eine wahre Armee dieser Kreaturen, oder sie waren schnell.

Auch die Pferde waren nervös. Es war ein Wunder, dass noch keines davon durchgegangen war. Vielleicht erkannten sie instinktiv, dass sie keine Chance hatten, dieser Gefahr davonzulaufen. Nadira wäre selbst am liebsten davongelaufen, aber wohin? Sie wussten nicht, wo die Kreaturen waren und wo nicht. Sie wusste auch nicht, wie schnell sie waren. Würde das Licht einer einzelnen Fackel reichen? Oder war nur das Licht der Gruppe stark genug, um sie zurückzuhalten?

„Meine Fackel geht gleich aus", sagte Aurel plötzlich.

Callanor lies sich zurückfallen um Aurels Fackel zu kontrollieren. „Sie hat recht. Und auch die anderen Fackeln werden nicht mehr lange halten."

„Was machen wir jetzt? Diese Dinger werden uns sofort angreifen, wenn das Licht aus ist." In Aurels Stimme schwang Panik mit. Nadira glaube, Tränen in ihrem Gesicht schimmern zu sehen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Aurel sich fühlte, noch schlimmer als sie selber. Und sie war selbst vor Angst kurz vor dem Durchdrehen.

„Wir brauchen Stoff", sagte Callanor. „Den wickeln wir um die Spitze der Fackel, dann brennt sie länger."

Sie hielten an. Sie suchten sich aus dem Gepäck verschiedene Kleidungsstücke heraus, die sie mehrfach mitgenommen hatten, und zerschnitten sie in dünne Streifen. Einen dieser Streifen wickelte Callanor um Aurels Fackel, die dabei erlosch. Aurel schrie vor Schreck auf.

„Keine Sorge. Wir können sie mit einer der anderen Fackeln wieder anzünden." Genau das machte er auch, als er den Stoffstreifen gewickelt und befestigt hatte.

„Sie kreisen uns ein", sagte Darec.

Tatsächlich war die Dunkelheit um sie herum jetzt voller Bewegung. Eine große Menge der Kreaturen hielt sich direkt außerhalb des Fackelscheins auf. Unbewusst griff Nadira nach ihrem Ashara. Im letzten Augenblick, bevor sie ihre ganze Kraft entfesselte, beruhigte sie sich wieder. Jedenfalls soweit, dass sie die aufsteigende Panik wieder hinunterkämpfen konnte.

Solange sie Licht hatten, waren sie in Sicherheit, jedenfalls halbwegs. Nadira durfte ihre Kraft jetzt nicht vergeuden. Wenn die Fackeln nicht lange genug hielten, würde sie sie brauchen. Sie atmete tief ein, ganz ruhig bleiben.

„Brancus", rief Nadira. „Was siehst du?" Sie wollte wissen, was er mit seiner besonderen Fähigkeit erkennen konnte.

„Das wollt ihr nicht wissen", sagte Brancus nur und schwieg dann. Das war die schlimmste Antwort gewesen, die Nadira sich vorstellen konnte. Für einen Moment gewann wieder die Panik Oberhand. Nadira sah vor sich eine Ebene, vollkommen ausgefüllt von schattenhaften Wesen, so weit das Auge reichte. Und ihre kleine Gruppe mittendrin, ein verlorener Lichtpunkt in einem Meer aus schattenhaften Leibern, von Kreaturen, die über sie herfallen würden, sobald das Licht verschwunden war.

„Was ist mit den anderen Fackeln?", fragte Tinju. „Sie werden auch nicht mehr lange halten."

„Wir warten damit, bis die Fackeln fast ausgehen. Wir haben nur begrenzte Mengen Stoff", sagte Callanor. „Wir müssen die Fackeln die ganze Nacht brennen lassen. Nur so haben wir eine Chance."

„Werden sie verschwinden, wenn es Tag wird?" Aurels Stimme zitterte noch immer.

„Wir wollen es hoffen."

Sie setzten sich wieder in Bewegung. Die Masse der schattenhaften Bewegungen teilte sich vor ihnen, und hinter ihnen schloss sie sich wieder.

„Wie viele das wohl sind?", fragte Lledar. Er schien eher erstaunt, als verängstigt zu sein.

„Zu viele, um sie zu bekämpfen", sagte Darec.

„Du weißt, was sie sind. Nicht wahr?", fragte Nadira.

Darec nickte. „Ich vermute es zumindest." Aber er sprach nicht weiter.

„Was sind sie?"

„Erinnerst du dich an meine Erzählung von der Fahrt? Ich war schon einmal in Miragar."

„Du meinst diese Wesen, die euch angegriffen haben?" Nadira konnte sich noch an die Erzählung erinnern, allerdings nicht mehr an alle Details.

„Ja. Die meine ich. Nur waren es weniger." Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: „Viel weniger."

Darec war damals mit anderen Kriegern zusammen gewesen. Er sagte, sie hatten nur durch Glück überlebt, weil sie Hilfe bekommen hatten. Eine Ashari hatte sie gerettet. Ohne ihr eingreifen wären sie alle getötet worden. Und jetzt waren sie von diesen Kreaturen eingekreist, und es waren viel mehr als damals.

Zwar hatten sie sogar zwei Ashari in der Gruppe, aber was nutzt dass, wenn diese nicht wussten, wie sie die Kreaturen abwehren konnten?

Eine Stunde verging. Nadira hatte das Gefühl, dass der Lichtschein der Fackeln immer schwächer wurde, und dass die Kreaturen immer näherkamen. Sie hatten noch zwei weitere Male anhalten müssen, um Fackeln neu zu entzünden. Der Stoff, den sie noch zur Verfügung hatten, wurde immer weniger.

Als sie das vierte Mal anhielten, entdeckte Nadira eine der Kreaturen, die sich weiter in den Lichtschein hineingewagt hatte als die anderen zuvor. Für einen kurzen Moment konnte Nadira sie deutlicher erkennen. Eine humanoide Gestalt, Arme und Beine, aber die Arme waren grotesk lang und endeten in langen Klauen. Die Beine waren im Verhältnis zum Körper und den Armen viel zu kurz. Und das Ding, das sie sah, hatte keinen Kopf.

„Sie kommen näher heran", sagte Nadira. „Ich konnte einen gerade deutlich erkennen."

„Was ist es?", fragte Aurel.

„Ich weiß es nicht. Es sind wohl wirklich diese Kreaturen, aus Darecs Erzählung."

Callanor entzündete die Fackel neu. „Das Licht wird immer schwächer. Unser Stoff brennt weniger hell als die Fackeln der Dorfbewohner. Und wir haben nicht mehr viel Stoff übrig."

„Wird es reichen?"

„Ich fürchte nicht."

***

Die Befürchtung wurde schon bald zur Gewissheit. Ihre improvisierten Fackeln brannte bei Weitem nicht so lange wie die Fackeln der Dorfbewohner. Es dauerte etwa eine Stunde, bis die Stoffstreifen aufgebraucht waren.

„Das war der Letzte", sagte Callanor und reichte Lledar die Fackel zurück.

„Die Fackeln werden immer kürzer", sagte Aurel.

„Natürlich, auch das Holz brennt mit der Zeit ab. Auch wenn hauptsächlich der Stoff brennt und das Holz ein wenig schützt."

„Was machen wir jetzt?", fragte Nadira. „Die Fackeln halten nicht mehr lange und es sind noch Stunden bis die Sonne aufgeht."

„Wir müssen unsere Klamotten verbrennen." Darec warf Nadira einen entschuldigenden Blick zu. „Das heißt auch deine Kleider."

„Ich kann doch nicht in diesen Klamotten am Hof von Resperu auftauchen", sagte Nadira.

„Immer noch besser als gar nicht dort aufzutauchen", sagte Callanor. „Wenn wir nicht bis Sonnenaufgang durchhalten, ist alles egal."

Zähneknirschend musste Nadira zugeben, dass er recht hatte. Was nutzte ein schönes Kleid, wenn man von irgendwelchen Monstern gefressen wurde? „Also gut", sagte sie nach einer Weile.

Callanor hatte bereits angefangen, alles an Stoff, alle Klamotten, auch die Winterklamotten, die sie für die Rückreise brauchten, einzusammeln. Wie zuvor schnitt er alles in Streifen. Am Ende waren Nadiras feine Kleider an der Reihe. Nadira konnte nicht zusehen, wie er die teuren und feinen Stoffe zerschnitt, aber auch das Geräusch des zerreißenden Stoffs tat ihr in der Seele weh.

Schließlich war es vollbracht und sie ritten weiter. Aber sie mussten jetzt viel öfter anhalten, um die Fackeln zu erneuern. Immer öfter wagte sich eine der Kreaturen näher an die Gruppe heran. Nadira hatte das Gefühl, dass die Helligkeit ihrer Lichtinsel mit jeder Minute nachließ.

Schließlich war eines der Wesen außerordentlich mutig. Trotz der brennenden Fackeln schoss es plötzlich nach vorne. Es packte Lledar mit seinen riesigen, in langen Krallen endenden Klauen am Fuß und versuchte ihn vom Pferd zu zerren.

Lledar schrie erschrocken, und vielleicht vor Schmerz, auf und versuchte sein Schwert zu ziehen. Aber ein grober Ruck brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er musste sich mit aller Kraft am Sattel festhalten, um nicht zu Boden gerissen zu werden.

Seine Situation verschlechterte sich noch, als sich sein Pferd vor Schreck aufbäumte, aber wahrscheinlich rettete ihm das auch das Leben. Das Pferd hatte offenbar nicht vor, als Futter für diese Kreaturen zu enden, und das zeigte es deutlich, indem es dem Ding vor die Brust trat.

Die Kreatur gab einen fast kläglichen Schrei von sich und wurde von der Wucht des Tritts zu Boden geschleudert. Lledar klammerte sich mit aller Kraft am Sattel fest, während sein Pferd auf die Kreatur eintrat, bis sie sich nicht mehr bewegte.

Callanor führte die Gruppe zügig ein gutes Stück von der Angriffsstelle weg, ehe er sich um Lledar kümmerte. „Bist du verletzt?"

„Nur ein paar Kratzer."

Nadria war anderer Meinung. Für sie waren diese „Kratzer" ausgewachsene Wunden. Aber Lledar war ein Krieger, er dachte wohl in anderen Maßstäben.

„Reiten wir einfach weiter", sagte Lledar.

„Das werden wir nicht. Ich muss das versorgen", widersprach Callanor.

„Ich schaffe das schon."

Callanor achtete nicht auf ihn, sondern nahm einen der Stoffstreifen, um die Wunde zu verbinden. „Ich glaube, dass du es schaffst. Aber das Blut würde die Guul nur noch mehr reizen. Sie können es riechen und es verstärkt ihren Hunger noch mehr."

Lledar widersprach nicht mehr, als Callanor die Wunde versorgte. „Wir sollten uns darauf gefasst machen, dass solche Angriffe jetzt öfter passieren werden."

Nadira hatte befürchtet, dass er das sagen würde. Aber mehr als das schockierte sie, was sie ein Stück hinter sich hörte. Geräusche von Fleisch das zerrissen wurde, und schmatzende Geräusche. Sie wusste genau, was das bedeutete. „Sie fressen ihn."

„Was?", fragte Brancus.

„Hört doch. Sie fressen ihn. Sie fressen die Kreatur, die Lledars Pferd getötet hat."

„Und das wird sie nur aggressiver machen", sagte Callanor. „Kommt jetzt, wir müssen weg von hier."

Es dauerte nicht lange, bis die nächste Kreatur einen Angriff wagte. Diesmal war Tinju das Ziel. Aber diesmal waren sie auf Angriffe vorbereitet und Tinju empfing das Ding mit seinem Schwert. Er hackte ihm die Klaue einfach ab, mit der es ihn packen wollte. Die Gruppe drehte ab, weg von der verletzten Kreatur. Nur Sekunden später hörten sie, wie seine Kameraden über den Verletzten herfielen.

„Sie fressen sich wirklich gegenseitig auf", sagte Nadira. „Was sind das nur für Dinger?" Niemand antwortete.

Beim nächsten Halt, Brancus Fackel musste erneuert werden, schoss wieder eine der Kreaturen vor. Sie wollte sich Callanor schnappen, der gerade die Fackel reparierte, aber Brancus war schneller. Mit einer fast schon lässigen Handbewegung schleuderte er einen Ball aus Feuer nach der Kreatur, die sofort Feuer fing als wäre sie aus Stroh.

Mit einem fürchterlichen Heulen stolperte die Kreatur zurück und prallte in einige andere Kreaturen, die ebenfalls sofort Feuer fingen. Nur wenige Augenblicke nach dem Angriff wankten drei lebende - wirklich lebende? - Fackel durch die Nacht. Aber die anderen Kreaturen hielten sich von ihnen fern. Ob nur wegen des Lichts, das sie ausstrahlten oder weil sie die Gefahr erkannten … Nadira wusste es nicht.

„Die brennen ja wie Zunder", sagte Brancus.

„Können wir sie so nicht vertreiben?", fragte Aurel.

„Nur kurzzeitig. Und ich glaube nicht, dass unsere Dynari das unendlich oft machen können."

„Nein, können wir nicht", sagte Brancus. „Jedes Mal kostet es Kraft."

„Lasst uns weiterreiten", sagte Callanor.

„Wohin reiten wir überhaupt?", fragte Arero. „Ich meine, weißt du überhaupt, wohin wir gerade reiten?"

„Nein", gestand Callanor. „Ich halte uns nur in Bewegung, damit sie uns nicht einkreisen können."

„Wir reiten also vielleicht in die falsche Richtung?"

„Sehr wahrscheinlich sogar", sagte Callanor. „Kommt weiter."

Sie kamen nicht weit, bevor die nächste Kreatur angriff. Aber Darec durchbohrte sie mit seinem Schwert und sorgte so wieder für eine Ablenkung für die anderen Monster in der Nähe.

Die nächste Stunde war geprägt von Angriffen einzelner Wesen. Immer wieder versuchte eine der Kreaturen, an die Beute zu kommen. Aber die Krieger und die beiden Ashari konnten die Angriffe abwehren.

Je mehr der Kreaturen sie erschlugen, desto öfter schienen die Angriffe zu erfolgen. Und schließlich verbrauchten sie den letzten Stoffstreifen.

„Das war der Letzte", sagte Callanor. „Bald sitzen wir im Dunkeln."

***

Eine Fackel nach der anderen erlosch. Brancus holte noch etwas Zeit heraus, indem er die Stöcke selbst entzündete. Aber es half alles nichts, das Licht wurde immer weniger und weniger, und gleichzeitig die Angriffe der Kreaturen immer häufiger.

Noch waren nicht alle Fackeln erloschen, trotzdem schienen das Licht jetzt zu schwach zu sein, um die Kreaturen noch fernzuhalten. Bis jetzt waren alle Angreifer von den Kriegern, den Ashari oder den Pferden abgewehrt worden. Und immer wieder konnten sie so ein wenig Zeit herausschlagen, weil die Kreaturen sich auf ihre verletzten Kameraden stürzen. Aber die Angriffe nahmen immer weiter zu.

„Wir brauchen Deckung", rief Callanor. „Wenn sie uns von allen Seiten angreifen können, sind wir verloren."

„Es gibt hier aber keine Deckung", rief Lledar. Es gab nichts in der Nähe, das auch nur annähernd wie Deckung aussah. Sie waren von einer schwarzen Ebene in der es von Bewegung nur so wimmelte umgeben. Aber nirgendwo schien es etwas zu geben, das ihnen Deckung bieten konnte.

„Was machen wir jetzt?", frage Tinju, nachdem er sein Schwert aus dem Leib einer der Kreaturen gezogen hatte. „Wir können das nicht lange durchhalten. Und sie werden immer aggressiver."

Tatsächlich schien es Nadira, dass Licht diese Wesen schwächte. Sie waren am Anfang einfach zu töten gewesen, aber jetzt aber waren sie deutlich schneller und aggressiver. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand verletzt oder gar getötet wurde. Und schließlich würden die Kreaturen sie einfach überrennen.

„Da hinten", rief Darec schließlich. „Ist da nicht etwas?" Alle Blicke folgten seiner Hand. Nadira konnte zunächst nichts erkennen. Erst als sie sich voll konzentrierte, erkannte sie einen dunklen Schatten, der sich über die Ebene erhob. Es war eigentlich kaum zu erkennen, bestenfalls zu erahnen, aber irgendetwas schien dort zu sein. Was immer es war, es lag vor ihnen und zog sich so weit nach links und rechts dahin, wie sie sehen konnten.

Doch zwischen ihnen und dem Schatten befand sich ein weites Feld voller Bewegungen. Es mussten Hunderte Kreaturen sein, die sich zwischen ihnen und diesem Schatten befanden.

„Ich glaube wir schaffen es nicht rechtzeitig dorthin", sagte Callanor.

Nadira starrte den Schatten an, in der Hoffnung mehr erkennen zu können. Waren sie dort sicher? Um was handelte es sich überhaupt? Aber außer einem flachen, aber sehr langen Schatten, der etwas dunkler war als der Himmel, war nichts zu erkennen.

„Vorsicht." Aurels Stimme überschlug sich fast. Im nächsten Moment prallte etwas gegen Nadira. Sie sah scharfe Krallen aufblitzen, fühlte einen stechenden Schmerz in der Schulter und kurz darauf krachte der Boden hart in ihren Rücken.

Ihr drohte schwarz vor Augen zu werden. Aber sie wusste, wenn sie das zuließ, war das ihr Tod. Mit aller Kraft kämpfte sie die Dunkelheit zurück. Keine Sekunde zu früh. Eine der Kreaturen hockte über ihr auf ihrem Pferd. Das Pferd bäumte sich auf, aber anstatt abgeworfen zu werden, nutze die Kreatur den Schwung aus, um sich auf Nadira zu stürzen.

Nadira handelte blitzschnell. Es war keine Zeit, gezielt nach ihrem Ashara zu greifen. Stattdessen warf sie der Kreatur einfach unkontrolliert Energie entgegen. Das Wesen wurde mitten im Sprung getroffen. Eine unsichtbare Riesenfaust prallte mit ungeheurer Wucht gegen die Kreatur und warf sie zurück. Fast im gleichen Augenblick ging das Wesen in Flammen auf.

Es flog zehn vielleicht zwanzig Meter durch die Luft und krachte dann in eine Masse ihrer Kameraden. Innerhalb von Sekunden fingen auch diese Feuer. Sie waren zu dicht gedrängt, um ihren brennenden Kumpanen auszuweichen.

Rasende schnell breitete sich das Feuer aus. Als Nadira sich mühsam in die Höhe stemme, brannte bereits mindestens ein Dutzend der Kreaturen, und das Feuer breitete sich weiter aus. Die Kreaturen stolperten umher und steckten so auch ihre Nachbarn in Brand, und diese wiederum ihre Nachbarn.

Darec war von seinem Pferd gestiegen und stützte Nadira. Ihre Schulter brannte wie Feuer, ihr Rücken und ihre rechte Seiten war ein einziger Schmerz. Darec stützte sie und untersuchte ihre Wunden.

„Ich glaube, sie hat sich nichts gebrochen", sagte er. „Aber die Wunde muss versorgt werden."

„Ich fürchte, wir haben keine Zeit dafür", sagte Callanor. „Das Feuer hat sie für den Moment vertrieben, aber das wird nicht lange so bleiben."

„Kannst du reiten?", fragte Darec.

„Ist das Pferd verletzt?", frage Nadira. Vor ihren Augen drehte sich alles und sie hatte Angst die Dunkelheit würde doch noch gewinnen. Aber das konnte sie nicht zulassen. Doch wenn Darec sie nicht gestützt hätte, wäre sie gestürzt.

„Dem Pferd ist nichts passiert. Es wollte dich fressen, nicht das Pferd."

„Wie beruhigend."

„Wir müssen weg von hier", sagte Callanor. In seiner Stimme schwang eine Dringlichkeit mit, die keinen Widerspruch duldete.

Darec half Nadira zurück auf ihr Pferd. Trotzdem schaffte sie es beinahe nicht. Jede Bewegung fühlte sich an, als würde eine der Kreaturen eine weitere Klaue in ihren Körper stoßen. Die Anstrengung, wieder auf ihr Pferd zu steigen, wäre fast zu viel gewesen. Als sie endlich im Sattel saß, war die Dunkelheit wieder da. Diesmal hatte Nadira nicht mehr die Kraft, sie zurückzuschieben. Aber trotzdem ließ sie nicht zu, dass die Dunkelheit sie übermannte.

„Los weiter." Die Stimme klang unwirklich. Aber Nadira klammerte sich daran, sie wusste, dass sie real war.

„Sie schafft es nicht", sagte eine andere Stimme.

„Sie muss es schaffen", sagte die erste Stimme wieder.

Nadira klammerte sich an den Sattel und hoffte, dass es ausreichen würde, um nicht herunterzufallen. Den eigentlichen Kampf aber führte sie in ihrem Kopf aus. Die Dunkelheit tauchte immer wieder auf und wollte Nadira umschließen, einem schwarzen Seidentuch gleich, das sie umfangen wollte. Aber immer wieder wich Nadira zurück und konnte verhindern überwältigt zu werden.

Der Kampf zerrte an Nadiras Kräften, aber sie schaffte es, die Dunkelheit zurückzuhalten. Die Angriffe wurden schwächer und schließlich zog sich die Dunkelheit zurück. Doch Nadira fühlte, dass sie nicht weit weg war, sondern sich nur versteckte, lauernd auf eine Gelegenheit.

„Wieder wach?"

Nadira wandte den Kopf, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte. Es war Lledar.

„Pünktlich um unser aller Tod noch mitzuerleben", sagte er.

Nadira schreckte auf. Die plötzliche Bewegung sorgte dafür, dass Wellen der Pein von ihren Rippen aus durch ihren ganzen Körper schossen. Doch diesmal lockten diese Schmerzen die Dunkelheit nicht an, sondern holten Nadira komplett zurück.

Und sie wünschte sich die Dunkelheit zurück. Die Gruppe hatte angehalten. Die letzte Fackel war erloschen. Die Krieger, Callanor und Brancus hatten einen Kreis gebildet, in dessen Mitte die Pferde mit Nadira und Aurel standen. Außerhalb des Kreises befanden sich die Kreaturen. Eine dichte Wand aus dunklen Bewegungen umschloss den Kreis der Gefährten komplett. Sie waren eingekreist, von wahrscheinlich Hunderten der Kreaturen. Ihr letztes Licht war erloschen. So endet meine Reise nach Miragar also, dachte Nadira.

***

Sie kämpften wie wahre Helden. Ein gutes Dutzend der Kreaturen waren bereits von den Kriegern erschlagen worden. Nadira griff immer wieder mit ihrem Ashara in den Kampf ein, aber sie musste sich schonen, sie war verletzt und hatte viel ihrer Kraft bei dem Angriff verloren. Brancus legte immer wieder einen Ring aus Feuer um die Gruppe, um so den Ansturm der Kreaturen aufzuhalten und den Kriegern Zeit zu geben, die Angreifer zu erschlagen.

Alle Krieger bluteten bereits aus mehreren Wunden, aber wie durch ein Wunder war noch niemand ernsthaft verletzt worden. Ein Wunder und ihre Zusammenarbeit. Sie achteten aufeinander und halfen sich, wenn jemand in Bedrängnis geriet. Die Kreaturen im Gegensatz dazu, fielen über ihre verwundeten Kameraden her.

Jedes Mal wenn Nadira einem ihrer Kameraden half, fühlte sie, wie ihr Ashara ein Stück weiter dahinschmolz. Brancus musste auch am Ende seiner Kräfte sein. Nadira war überrascht, dass er immer noch in der Lage war zu kämpfen.

Hinter ihr erscholl ein Schrei. Sie drehte sich um und sah, dass eine der Kreaturen Arero ihre Klauen in die Schulter getrieben hatte. Nadira schleuderte der Kreatur ihr Ashara entgegen, diese wurde von dem Angriff fortgeschleudert und regelrecht zerfetzt.

Arero war viel schlimmer erwischt worden als Nadira zuvor, er war nicht mehr in der Lage zu kämpfen. Lledar und Callanor rückten näher zusammen, um die Lücke zu schließen. Aurel versuchte Areros Wunde zu versorgen, aber sie konnte nicht viel tun.

Die Kreaturen schienen zu verstehen, dass die Verteidigung der Gefährten jetzt geschwächt war, denn sie verstärkten ihre Angriffe noch weiter. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis sie sie endgültig überrannten.

Eine neue Welle der Angreifer stürzte sich auf die Krieger. Nadira überlegte, wie sie ihr verbleibendes Ashara verwenden konnte, um zumindest noch ein bisschen Zeit herauszuschlagen. Der Feuerring, den Brancus um die Gruppe gelegt hatte, brannte langsam nieder. Auch er musste am Ende seiner Kräfte sein. Aurel weinte leise.

Nadira wollte ihr letztes Ashara, alles, was ihr noch verblieb, in einen letzten großen Angriff legen. Der Angriff sollte eine Schneise des Todes in die Angreifer brennen. Aber sie kam nicht dazu. Rechts von ihr ging eine Reihe der Kreaturen in Flammen auf. Was macht Brancus da, dachte Nadira. Aber sie erkannte schnell, dass nicht Brancus das getan hatte.

Der Ansturm der Kreaturen kam kurz ins Stocken. „Was ist los?", rief Callanor.

„Da." Nadira deutete auf die brennende Schneise, die in den Ring der Kreaturen geschnitten worden war.

Callanor hatte keine Zeit, sich damit zu beschäftigen, denn die Kreaturen kamen wieder heran. Aber Nadira sah, dass eine einzelne Gestalt durch die Lücke im Ring der Kreaturen auf sie zuging.

„Spart Eure Macht, Ashari", rief eine Frau.

„Wer ist das?", rief Darec.

Nadira antwortete nicht, sondern versuchte mehr zu erkennen. Die Gestalt war jetzt nah genug, um sie erkennen zu können. Sie trug Kleidung aus Leder, ähnlich wie die Dorfbewohner, aber ihr Gesicht war nicht verschleiert. Es war eindeutig eine Frau. Sie war schmutzig und wirkte irgendwie wild, und sie strahlte große Macht aus. Nadira wechselte die Sicht und konnte das Ashara dieser Frau hell wie eine Sonne strahlen sehen. Aber sie sah noch etwas das sie schockierte. Auch von den Kreaturen ging Energie aus. Nicht das helle Strahlen von Ashara, sondern dunkle Schatten, die aus den Körpern der Wesen herausleckten, als wollten sie alles Licht das ihnen zu nahe kam auslöschen.

Ein Kreis aus Feuer breitete sich von der Ashari aus und umschloss die ganze Gruppe. Die Kreaturen in der vordersten Reihe fingen sofort Feuer. Daraufhin zogen die anderen sich zurück.

„Wer bist du?", rief Nadira.

„Eine Freundin", rief die Fremde zurück. „Ich glaube, ihr braucht ein wenig Hilfe."

„Die brauchen wir eigentlich schon seit Stunden", rief Callanor.

„Wir müssen weg von hier", sagte die Fremde, ohne auf Callanors Vorwurf einzugehen. „Ich kann den Feuerkreis nicht lange aufrechterhalten."

„Können wir ihr vertrauen?", fragte Lledar.

„Was haben wir für eine Wahl?", fragte Nadira. „Ihr vertrauen oder getötet werden."

Die Fremde nickte. „Steigt auf eure Tiere, sie sind schneller als ihr und wir müssen schnell sein. Und jemand muss mich mitnehmen."

Darec trat auf sein Pferd zu und streckte der Fremden die Hand entgegen. Als sie ihm näherkam, hielt er inne. Überraschung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab: „Du?"

Die Fremde nickte.

„Du kennst sie?", fragte Nadira.

„Ja", sagte Darec und starrte die Fremde an.

„Wir haben jetzt keine Zeit dafür", sagte die Fremde und ergriff Darecs Hand. „Später."

Er nickte, stieg auf sein Pferd und zog sie hoch in den Sattel. Sie streckte ihre Hand aus und deutete auf den Schatten, den die Gefährten schon vorher entdeckt hatte. „In diese Richtung", sagte sie. „Und so schnell es geht."

„Sagt nur wann", sagte Callanor.

Der Ring aus Feuer schrumpfte und erlosch innerhalb von Sekunden. Plötzlich löste sich ein Licht aus der Hand der Fremden, schoss geradewegs nach oben, verharrte eine Sekunde über ihnen und explodierte dann in einem taghellen Blitz.

Für einen Moment war die ganze Umgebung von Licht erfüllt. Für einen Moment konnte Nadira alles ganz klar erkennen, auch die Kreaturen. Es waren große, humanoide Wesen, ihre Haut war grau und eingefallen, wie tot. Sie hatten lange Arme, die bis zu den Knien reichten, ihre Finger endeten in langen, wie Metall glänzenden Krallen. Das Schlimmste aber war: Sie hatten keinen Kopf. Der Körper endete einfach mit dem Ende ihres Rumpfes. Dort, wo sich beim Menschen der Hals befand, hatten diese Kreaturen ein riesiges Loch, ein Loch voller scharfer, glänzender Zähne.

„Los", rief die Fremde. Die Gefährten brauchten eine Sekunde, um sich von dem Anblick der Kreaturen zu lösen. „Los", rief sie wieder. Diesmal gehorchten sie und trieben ihre Pferde an. Die Kreaturen wichen vor dem hellen Licht zurück und waren wie gelähmt. Aber sehr lange hielt die Wirkung nicht an.

Die Fremde lies ein weiteres Licht in die Luft steigen und wieder tauchte sie die Ebene in taghelles Licht, Helligkeit wie man sie außerhalb von Miragar kannte. Die Kreaturen wichen zurück, rannten davon oder ließen sich einfach zu Boden fallen.

Nadira und Brancus benutzen ihr Ashara, um die restlichen Wesen aus dem Weg zu räumen. Die Fremde musste noch drei weitere Blitze beschwören und plötzlich waren sie durch. Keine weiteren der kopflosen Kreaturen waren vor ihnen.

„Nicht langsamer werden", rief die Fremde. „Wir sind noch nicht in Sicherheit."

Der Schatten wuchs vor ihnen immer weiter in die Höhe. Die Fremde sandte gelegentlich ein Licht nach hinten, um die Kreaturen weiter aufzuhalten.

Schließlich erreichten sie die Ausläufer des Schattens. Was aus der Ferne ausgesehen hatte wie ein massiver Schatten, war in Wirklichkeit eine große Ansammlung von Säulen, die aus dem Boden emporragten.

Sie hielten das Tempo und schossen zwischen den ersten Reihen der Säulen hindurch. Erst jetzt erkannte Nadira ihren Irrtum. Es waren keine Säulen, es waren Bäume. Bäume ohne Blätter, ohne Nadeln, ja sogar größtenteils ohne Äste.

„Der tote Wald", hauchte Callanor, und Nadira erfasste eine Spur des Entsetzens, das in diesen Worten lag.

Das Geheimnis der Keshani

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