Читать книгу Feinde der Ashari - Lina-Marie Lang - Страница 3
ERSTE AUFTRÄGE
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Nadira saß an ihrem Schreibtisch und wollte etwas lesen. Aber sie schaffte es nicht, sich auf das Buch zu konzentrieren. Sie machte sich zu große Sorgen um Darec. Er und seine Gruppe waren nun schon mehrere Wochen überfällig. Hauptmann Selius machte sich noch keine Sorgen. Nach wie vor galt, dass bei so einer Reise der Zeitplan leicht durcheinandergeraten konnte. Aber für Nadira sah die Sache anders aus, sie machte sich Sorgen. Sie wusste, dass Darec zuverlässig war. Dehalb befürchtete sie, dass der einzige Grund für seine Verspätung der sein konnte, dass ihm etwas zugestoßen war.
Dabei spielte natürlich auch Nadiras Unerfahrenheit mit Reisen eine Rolle. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es manchmal schwierig war einzuschätzen, wie lange eine Reise dauern würde. Darec war nicht nur auf einer Reise, er war auf einer Prüfung und dabei ergaben sich noch viel mehr mögliche Verzögerungen. Außerdem bestand die Gruppe aus jungen Männern, die sicherlich auch den einen oder anderen Tag in Tavernen verschwendeten. Auch wenn es offiziell niemand zugab, diese Prüfung hatte auch den Zweck, dass die jungen Männer sich die Hörner abstoßen konnten. Dadurch sollten sie zuverlässiger werden, um ihre Pflicht bei der Wache besser ausfüllen zu können.
Lautes Klopfen riss Nadira aus ihren Gedanken. Da Aurel nicht hier war, musste sie die Türe selbst öffnen, davor stand Dyn Arthos.
„Ich habe eine Aufgabe für dich", sagte er.
Nadira bedeute ihm hereinzukommen. Sie bot ihm einen Stuhl an, aber er lehnte ab. „Ich bleibe nicht lange. Ich habe nur eine Aufgabe für dich."
„Und was für eine Aufgabe?"
„Eine Frau aus der Stadt hat sich an uns gewandt. Sie ist überzeugt, dass ihre Tochter über Ashara verfügt", sagte Dyn Arthos.
„Bekommen wir nicht oft solche Hinweise?" Viele Menschen wünschten sich, dass ihre Kinder Ashara besaßen. Es bedeutete nicht nur einen Aufstieg für das Kind, sondern auch für die Familie. Die Dynari unterstützten die Familien der Kinder, die als Novizen aufgenommen wurden. Allerdings wurden die Kinder von der Familie getrennt, sie wuchsen als Kinder der Dynari auf. Ohne Vater und Mutter, sondern als Teil einer großen Familie, eben der Dynari.
Nadira konnte sich an ihre Eltern nicht mehr erinnern. Sie kannte nicht einmal ihre Namen und wusste auch nicht, wo sie lebten, oder ob sie überhaupt noch lebten. Manchmal dachte sie darüber nach, aber meistens nicht. Sie war schon früh zu den Dynari gekommen, wie fast alle Novizen und sie kannte es nicht anders.
„Natürlich bekommen wir oft solche Hinweise", sagte Dyn Arthos. „Aber wir müssen ihnen auch nachgehen."
„Und was soll ich tun?"
„Du wirst zu dieser Familie reisen und das Kind prüfen." Reisen? Wo lebte diese Familie denn? Sollte das Nadrias erste Reise werden? Ein aufregender Gedanke, aber auch ein beunruhigender. Wenn sie auf eine Reise gehen musste, dann würde sie nicht hier sein, wenn Darec zurückkam.
„Wo lebt diese Familie?"
„In Seraint, es ist nicht weit. Die Aufgabe sollte dich nicht mehr als ein paar Stunden beschäftigen." Also doch keine Reise. Nadira war sowohl erleichtert als auch enttäuscht. „Ich denke, es sollte dir leicht fallen, diese Aufgabe zu erfüllen", sagte Dyn Arthos. „Du musst ja keine komplizierten Tests machen, sondern das Kind nur ansehen."
Nadira nickte. „Und wenn es über Ashara verfügt, soll ich es dann mitbringen?"
„Nein. Wir geben ihnen ein paar Tage Zeit, sich zu verabschieden. Wenn es über Ashara verfügt, sag der Mutter, dass du es in drei Tagen abholen wirst."
„Gut", sagte Nadira. „Und wenn es über kein Ashara verfügt?"
„Dann sagst du der Mutter, dass ihr Kind kein Ashari ist", sagte Dyn Arthos. Er wollte sich gerade zum Gehen umwenden, dann fügte er jedoch hinzu: "Wenn du wieder zurück bist, erstattest du mir Bericht."
***
Nadira lies sich von Aurel zurecht machen. Als Dynari musste sie immer gepflegt aussehen. Das bedeutete vor allem: langwieriges Zurechtmachen der Haare. Ohne Aurel wäre Nadira schon lange verzweifelt. Zum Glück aber hatte sie Aurel und so war es zwar immer noch nervig, aber immerhin nicht zum verzweifeln.
Als ihre Haar saßen, und sie in ihrem Kleid steckte, griff Nadira nach ihrem Diadem und setzte es auf. Der Fokusstein verband sich sofort mit ihrem Geist. Inzwischen war das Gefühl für Nadira vertraut und sie kämpfte nicht mehr dagegen an.
Nadira ging auf die Türe zu und sagte zu Aurel: „Ich bin in einigen Stunden wieder zurück."
„Hast du nicht etwas vergessen?"
Nadira sah an sich herab. Kontrollierte ihre Kleidung, dann ihr Diadem. Alles war da. Aurel schmunzelte. „So etwas meinte ich nicht."
„Was meinst du denn?"
„Eine Dynari verlässt doch nie ohne Hüter das Haus." Ein Hüter. Aurel hatte natürlich recht. Ein Hüter war eine Art persönliche Wache für die Dynari. Die Wache selbst war für die ganze Stadt zuständig. Sie schützen die Dynari, die normalen Leute, eben alles. Ein Hüter hingegen war für einen bestimmten Dynari zuständig. Jeder Dynari erwählte einen Hüter. Es war ein sehr großer Vertrauensbeweis, zum Hüter erwählt zu werden. Aber Nadira hatte noch keinen erwählt.
„Ich habe keinen Hüter", sagte Nadira.
„Ich weiß. Dann musst du jemand von der Wache mitnehmen."
Nadira seufzte. Sie hatte keine besondere Lust, jetzt nach einer Wache zu suchen.
„Weißt du überhaupt, wohin du gehen musst?", fragte Aurel. „Ich meine, kennst du den Weg?"
„Ähm", machte Nadira. Aurel hatte recht. Die Begeisterung und Aufregung über ihren ersten Auftrag hatte Nadira komplett vergessen lassen, dass sie nicht wusste, wo diese Familie eigentlich wohnte. Ohne Aurel wäre sie einfach los spaziert, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen sollte. Wahrscheinlich wäre ihr erst in der Stadt klargeworden, dass sie gar kein Ziel hatte. Eine ziemlich peinliche Situation.
Dyn Arthos hatte ihr zwar gesagt, wie die Frau hieß, aber nicht wo genau sie wohnte. Nadira kam sich gerade ziemlich dumm vor. Wieso hatte sie ihn nicht gefragt?
„Ich geh einen Wächter holen", sagte Aurel. Und ehe Nadira etwas erwidern konnte, war Aurel schon durch die Türe verschwunden. Während Nadira darauf wartete, dass Aurel zurückkam, ging sie vor ihrem Bett auf und ab. Ihre Nervosität wuchs mit jedem Schritt. Erst jetzt wurde ihr klar, dass Dyn Arthos ihr einen wichtigen Auftrag gegeben hatte. Ihr wurde erst jetzt die Verantwortung klar, die hinter diesem Auftrag stand. Ein Ashari, der nicht ausgebildet wurde, konnte eine große Gefahr werden. Ashara zu kontrollieren brauchte eine Menge Wissen und Können. Viele Ashari, die keine Ausbildung bekamen, verloren die Kontrolle über ihr Ashara. Das konnte für sie selbst und für andere in ihre Nähe sehr unangenehme Folgen haben.
Aurel riss Nadira aus ihren Gedanken, als sie deren Gemächer wieder betrat.
„Ich hab eine Wache für dich", sagte sie. „Er kennt sich in der Stadt aus und kann dir den Weg zeigen."
„Danke", sagte Nadira und verließ ihre Gemächer. Im Gang stand ein junger Mann, vermutlich nur ein oder zwei Jahre älter als Nadira. Er war also noch nicht lange bei der Wache. Als er Nadira sah, verbeugte er sich und grüßte sie.„Dyna."
***
Nadira kam sich ein wenig albern vor, als sie mit der Wache durch den Innenhof ging, auf das Tor des Hauses zu. Der Innenhof war zwar nicht mehr so voll wie bei der Feier, aber wie immer, war er durchaus belebt. Nadira hatte das Gefühl von allen beobachtet zu werden. Vermutlich bildete sie sich das nur ein. Durch die ungewohnte Situation und auch wegen der Aufgabe und der damit verbundenen Verantwortung, war sie nervös. Aber das Gefühl blieb, und sie fühlte sich zunehmend unwohl.
Der Wächter am Tor verneigten sich vor ihr, was Nadira dazu veranlasste kurz stehen zu bleiben und ihn verwirrt anzusehen. Bainus, der Wachmann der sie begleitete, war vorausgegangen und hatte davon nichts mitbekommen. Nadira musste sich beeilen, um wieder zu ihm aufzuschließen.
Das Haus von Dyn Arthos lag mitten in der Stadt, auf einem kleinen Berg. Es hieß das Haus stamme noch aus der Zeit der Aiudir und war noch von diesen erbaut worden. Aber Nadira hatte diese Geschichte nie so wirklich geglaubt. Das Haus machte nicht den Eindruck schon so alt zu sein. Vielleicht hatten wirklich Aiudir auf diesem Berg als Erste ein Haus gebaut, aber die Häuser, die heute dort standen, waren sicher nicht von den Aiudir errichtet worden.
Um vom Haus von Dyn Arthos in die Stadt zu kommen, musste man einer Straße folgen, die sich in einer Rechtskurve um den Berg wand. Die Straße war auf diese Art angelegt worden, damit sie nicht so steil war, dafür war sie so um einiges länger geworden.
Das Tor zum Haus der Dynari lag nicht am äußeren Rand, sondern war ein Stück nach innen versetzt. Links und rechts war es von Häusern gesäumt, sodass man den Eindruck hatte, durch eine kurze Schlucht zu gehen, ehe man das Tor erreichte. Diese Stelle war ziemlich eng und sollte Angreifer behindern, die dort nicht die ganze Stärke ihrer Truppen einsetzen konnten. Die Häuser links und rechts des Tores hatten flache Dächer, von dort aus konnte man Angreifer mit Pfeil und Bogen und anderen Gemeinheiten eindecken. Das Tor war außerdem massiv und schwer und konnte mit einem riesigen Riegel verschlossen werden. Es war nur schwer vorzustellen, dass Angreifer durch das Tor in das Haus vordringen konnten, außer sie hatten Unterstützung durch Ashari.
Als Nadira diese „Schlucht" hinter sich gelassen hatte, öffnete sich der Ausblick und ganz (naja, genau gesagt, halb) Seraint lag vor ihr. Sie sah die prunkvollen Villen der reichen Leute, die sich vor allem in der Nähe des Berges befanden, und immer innerhalb der Innenstadt. Die Innenstadt, oder auch alte Stadt, war von einer Mauer umgeben. Es war die alte Grenze der Stadt gewesen. Aber die Stadt war gewachsen, inzwischen um ein Vielfaches, und schließlich waren erneut Mauern um die Stadt gezogen worden. Seraint bestand also aus zwei Kreisen, deren Zentrum der Berg, und damit das Haus von Dyn Arthos, bildete.
Inzwischen war aber auch der Bereich innerhalb der äußeren Mauer zu klein, und erste Leute fingen an, sich außerhalb der Mauer anzusiedeln. In der näheren Umgebung von Seraint gab es eine ganze Menge kleine Dörfer. Sie gehörten nicht direkt zur Stadt, waren aber nah genug an den Stadtmauern, dass die Bewohner sich, im Falle eines Angriffs, in die Stadt in Sicherheit bringen konnten.
Nadiras Ziel lag im äußeren Ring, also noch in der Stadt, aber nicht in der Innenstadt. Es war eines der ärmeren Gebiete innerhalb von Seraint und es war ein weiter Weg.
Am Ende des Weges, am Fuße des Bergs, befand sich ein weiteres Tor. Da es aber keine Mauer um den Berg herum gab, hatte es eher symbolischen Charakter als eine Verteidigungsfunktion. Auch die Wachen an diesem Tor verneigten sich vor Nadira als sie das Tor passierte. Nadira war diese Respekterbietung unangenehm. Sie war froh, als sie das Tor hinter sich ließen und in die Menge eintauchten.
Das „in die Menge eintauchen" glückte aber nicht so gut, wie Nadira sich das vorgestellt hatte. Die Menschen gingen ihr und ihrem Wächter respektvoll aus dem Weg. Viele Menschen die sie passierten verbeugten sich oder machten einen Knicks.
Nicht alle Menschen waren so zurückhaltend. Ein paar wollten mit der Dyna reden, sie um einen Gefallen bitten, aber Bainus machte seinen Job gut und lies niemand an Nadira heran. Er würde einen guten Hüter abgeben, dachte Nadira. Und früher oder später würde sie einen wählen müssen.
Am Rande der Innenstadt, an der inneren Mauer, kamen sie wieder an ein Tor, und wieder verneigten die Wachen sich von der Dyna. Nadira versuchte es zu ignorieren oder als normales Verhalten abzutun. Aber das wollte ihr nicht so ganz gelingen.
Im äußeren Ring wurde es noch schlimmer. Die Leute hier waren nicht nur respektvoll, viele waren sogar ängstlich. Wenn Nadira jemand ansah, verbeugte dieser sich schnell und versuchten dann wegzukommen. Dieses Verhalten verletzte Nadira ein wenig, obwohl sie selber nicht genau wusste wieso. Die Leute verhielten sich ja nicht ihretwegen so, sondern nur wegen ihres Standes.
Schließlich kamen sie an einen Marktplatz. Er platzte schier aus den Nähten vor Menschen. Hier waren so viele Menschen, dass selbst eine Dynari kaum auffiel. Einige Male wurde sie von jemand angerempelt. Diese Leute wurden dann regelrecht bleich, als sie sahen, wen sie da angerempelt hatten. Sie entschuldigten sich überschwänglich und Nadira versuchte sie zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass alles in Ordnung war.
Schließlich kamen sie an eine Stelle, die offenbar so vollgestopft war, dass die Menschen nicht ausweichen konnten. Die Leute hier waren außerdem zu beschäftigt, nicht zerdrückt zu werden, sodass sie die Dyna gar nicht bemerkten. Immer wieder mussten sie anhalten und Bainus trieb die Leute lautstark auseinander. Nadira fand dieses Verhalten ziemlich unangebracht. Aber es gab noch eine Steigerung. Mehrere Leute machten auch nach mehrmaliger Aufforderung keinen Platz. Bainus packte die Leute schließlich einfach und stieß sie aus dem Weg.
Ein paar der Männer wollten das nicht auf sich sitzen lassen und begannen einen Streit mit Bainus. Der Streit drohte zu eskalieren, als dieser plötzlich sein Schwert zog. Jetzt war es Nadira zu viel geworden, sie ging dazwischen.
„Hört sofort mit diesem Unsinn auf", schrie sie. „Ihr alle." Dabei sah sie Bainus scharf an.
„Sie sind respektlos", rief er. „Sie wollten keinen Platz machen."
„Das ist aber kein Grund sie anzugreifen", sagte Nadira, dann wandte sie sich an die anderen. „Und was ist mit euch? Wieso wollt ihr uns nicht durchlassen?"
Ein Mann trat hervor. Er war in einfache Sachen gekleidet und etwas verschwitzt. Ein einfacher Mann. Er verneigte sich vor Nadira und sagte: „Bitte verzeiht uns, Dyna. Wir hatten Euch nicht gesehen. Diese Gasse hier ist sehr eng. Wir haben nur gesehen, dass dieser Mann handgreiflich wurde."
„Ich habe gesagt, ihr sollt Platz für die Dyna machen", schrie Bainus den Mann an.
„Genug", sagte Nadira. „Es tut mir leid, dass meine Wache so überreagiert hat. Aber würdet ihr uns nun bitte durchlassen?"
„Natürlich." Der Mann verneigte sich und begann die anderen Leute aus dem Weg zu scheuchen.
„Ihr hättet Euch nicht entschuldigen dürfen", sagte Bainus zu Nadira.
„Willst du mir sagen, was ich tun soll?"
Bainus wurde erst bleich, dann knallrot. „Nein, natürlich nicht, Dyna. Tut mit Leid." Einige der Leute, die in den Vorfall verwickelt waren, grinsten ihn jetzt schadenfroh an, während sie die Engstelle passierten.
***
Die meisten Häuser in Seraint bestanden aus Stein, oder hatten zumindest ein Geschoss aus Stein. Bei vielen Häusern war später noch ein erster Stock aus Holz oben drauf gebaut worden, aber die Grundmauern bestanden aus Stein. Nicht so in einem kleinen Bereich im Süden der Stadt, in der Nähe der äußeren Mauer. Hier lebten die ärmsten Einwohner von Seraint. Ihre Häuser bestanden nur aus Holz. Die meisten dieser Häuser waren durchaus gemütlich, aber sie waren eben nur aus Holz. Ein Haus aus Stein war ein Zeichen für einen gewissen Wohlstand. Ein Holzhaus dagegen war ein Zeichen, dass dieser Wohlstand fehlte.
Auch dieser Teil von Seraint war relativ wohlhabend, im Vergleich zu vielen anderen Orten in Alluria. Innerhalb von Seraint war es aber das Armenviertel. Bainus führte Nadira zielsicher durch die Straßen. Die Häuser hier standen dichter zusammen als in anderen Teilen der Stadt und woben so ein dichtes Netz aus engen Gassen. Nur wenige Straßen waren breit genug, um diesen Namen auch zu verdienen. Nadira war erst einmal in diesem Teil der Stadt gewesen und das auch nur kurz.
Die Leute hier waren offenbar sehr neugierig. Offen wurde Nadira angestarrt, einige Leute folgten ihr sogar ein Stück. Aber niemand sprach sie an, oder machte den Eindruck, dass sie nicht erwünscht war. Es war eher so, als fragten sie sich, was eine Dynari in diesem Teil der Stadt machte.
Sie blieben vor einem kleinen Haus stehen. Wie die anderen hier, war es komplett aus Holz gebaut. Es war so klein, dass Nadira vermutete, dass es nur aus einem oder vielleicht zwei Räumen bestand.
„Hier ist es", sagte Bainus und drehte sich zu Nadira um. Er schien auf etwas zu warten und als Nadira ihm zunickte, klopfte er fest an die Türe und rief: „Aufmachen, im Namen der Dynari."
Nadira seufzte und schüttelte den Kopf. Bainus schien sie gehört zu haben. Er drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an. Aber Nadira kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn in diesem Moment wurde die Türe einen Spalt weit geöffnet.
Eine junge Frau blickte durch den Spalt nach draußen, sie sah verängstigt aus und wagte es nicht etwas zu sagen.
„Lass uns rein, Weib", rief Bainus. Nadira schob ihn einfach zur Seite und sprach die Frau selber an. „Ralma?"
„J-ja", stammelte die Frau.
„Ich bin Dyna Nadira. Du hast dich an die Dynari gewandt, weil du vermutest, dass dein Kind über Ashara verfügt."
Die Frau schien sich ein wenig zu entspannen. Sie öffnete die Türe ein Stück weiter und Nadira konnte erkennen, dass sie kaum älter sein konnte als Nadira selbst. Sie trug ein einfaches Kleid, dass ein wenig abgenutzt aussah. „Ja. Das stimmt."
„Ich bin hier um das zu überprüfen."
Ralma öffnete die Türe und bat Nadira, und etwas widerwillig auch Bainus, herein. „Sie ist gerade nicht hier. Leider hat mir niemand gesagt, dass Ihr heute kommen würdet."
Nadira sah sich im Haus um. Sie hatte mit ihrer Einschätzung recht gehabt. Sie befand sich in einem Raum der fast die gesamte Grundfläche des Hauses einnahm. Gegenüber und ein Stück links der Türe gab es eine Feuerstelle. Ein Feuer brannte und ein Kessel hing über dem Feuer. Von dem Kessel stieg der sanfte Duft eines Eintopfs auf. Neben der Feuerstelle befand sich ein Stapel Holz. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein niedriger Tisch. Es gab keine Stühle oder Betten. Links führte eine Türe vermutlich in einen anderen Raum, dieser musste aber winzig sein. Vielleicht das Schlafzimmer oder ein Vorratsraum.
„Das ist nicht schlimm", sagte Nadira. „Wie heißt dein Kind?"
„Kini."
„Wie alt ist Kini?"
„Sie ist sechs."
Nadira nickte. In diesem Alter traten oft die ersten Anzeichen für Ashara auf. „Gibt es Verwandte, die über Ashara verfügen?"
„Nein, Dyna."
„Du weißt, dass es dann sehr unwahrscheinlich ist, dass Kini über Ashara verfügt? Ashara wird immer von den Eltern vererbt."
Offenbar wusste sie das nicht, denn ihr Gesicht spiegelte Enttäuschung wieder. „Nein, das wusste ich nicht, Dyna."
„In seltenen Fällen überspringt das Ashara einige Generationen", sagte Nadira. „Bei mir selbst war es ebenfalls so."
„Also besteht doch eine Hoffnung?" Ralmas Augen flehten Nadira an.
„Ja. Eine kleine Hoffnung besteht."
„Wieso denkst du überhaupt, dein Kind könnte eine Ashari sein?", fragte Bainus plötzlich. Der Ton war so grob, dass Ralma zusammenzuckte. Der Tonfall hatte den unausgesprochenen Vorwurf „Wie kannst du nur denken das gerade in DEINER Familie so etwas Edles wie Ashara existieren würde."
Nadira warf ihm einen warnenden Blick zu, er senkte sofort von Blick und blieb still. Nadira sagte mit sanfter Stimme zu Ralma: „Erzähl mir, was passiert ist. Warum vermutest du, dass Kini über Ashara verfügt?"
„Die meisten Kinder hier haben Angst vor Kini. Sie sagen, es passieren komische Sachen in ihrer Nähe."
„Hast du das selbst schon einmal erlebt?"
Ralma schüttelte den Kopf.
„Nun gut. Wir werden noch eine Weile warten. Mit Sicherheit kann ich es dir erst sagen, wenn ich Kini gesehen habe."
„Ich würde Euch ja Eintopf anbieten", sagte Ralma. „Aber er ist noch nicht fertig."
„Mach dir keine Umstände."
Ralma lächelte Nadira schüchtern zu und trat an die Feuerstelle, um den Eintopf umzurühren.
„Wie kannst du es wagen, in Gegenwart der Dyna nur an dein Essen zu denken?", fuhr Bainus plötzlich Ralma an. Diese erschrak so sehr, dass sie den Kochlöffel fallen lies.
„Es reicht", rief Nadira. Jetzt war sie wirklich wütend und diese Wut wurde durch ihr Ashara verstärkt. Der Fokusstein blitze rot auf, ihre Stimme schien schneidend zu werden, wie eine Klinge. „Raus!" Dem funkelnden Zorn in Nadira Augen hatte der Wächter nichts entgegenzusetzen und er verlies das Haus fast fluchtartig.
„Ich muss mich entschuldigen", sagte Nadira. „Ich weiß nicht, was er für ein Problem hat."
„Ich schon", sagte Ralma so leise, dass Nadira es fast nicht gehört hätte.
„Du weißt es?"
Ralma nickte.
„Und? Was ist es?"
„Er hat einen höheren Stand als ich. Und er verachtet alle, die einen niederen Stand haben. Er beurteilt Menschen rein nach ihrem Stand."
„Ja. Du könntest recht haben."
Plötzlich hörten sie von Draußen Geschrei. Nadira drehte sich um und lauschte einen Moment, dann ging sie zur Türe. Draußen hatte Bainus ein junges Mädchen gepackt und wollte sie gerade schlagen.
„Was ist hier los?", rief Nadira.
„Er will mich nicht rein lassen", rief das Mädchen.
„Sie ist respektlos. Diese Göre wollte einfach das Haus betreten, ohne um Erlaubnis zu fragen", rief Bainus.
„Sie wohnt hier", sagte Ralma, die Nadira zur Türe gefolgt war.
Nadira ging auf das Mädchen zu, das immer noch von Bainus festgehalten wurde. „Lass sie los", sagte Nadira scharf. Bainus zögerte einen Moment, eher er das Mädchen losließ.
„Bist du Kini?"
Das Mädchen nickte. „Und wer bist du?"
„Und unverschämtes Ding." Bainus holte zu einem Schlag aus. Nadira wurde es zu bunt. Sie sammelte eine kleine Menge Ashara, sandte es durch den Fokusstein und richtete es gegen den Wächter. Einen Moment später knalle Bainus gegen die Wand des gegenüberliegenden Hauses. Ralma stand noch immer in der Türe und starrte entsetzt auf den Mann, der benommen auf der anderen Seite der Straße auf dem Boden lag.
„Das war toll", rief Kini. „Kann ich das auch lernen?"
Nadira musterte das Kind. Sie konnte kein Leuchten von Ashara an ihr erkennen. „Nein Kini, du kannst das nicht lernen. Tut mir leid."
Ralma hatte geweint, als sich Nadira von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte große Hoffnung darin gesetzt, dass ihre Tochter es besser haben würde als sie selbst. Aber sie hatte kein Ashara und damit war dieser Traum geplatzt. Nadira hatte Bainus aufgesammelt und dem Besitzer des Hauses gegenüber etwas Geld gegeben, da eines der Bretter beschädigt worden war.
Bainus hatte auf dem Weg zurück zum Haus von Dyn Arthos, kein Wort mehr gesagt, aber er humpelte. Nadira hoffte, er hatte seine Lektion gelernt. Aber sie fürchtete, dass er das alles dem Kind in die Schuhe schieben würde, oder Nadira.
Nadira ging nicht gleich zu Dyn Arthos, sondern erst zu Hauptmann Selius. Sie berichtete ihm von Bainus Verhalten. Hauptmann Selius versicherte Nadira, dass der Mann diszipliniert werden würde.
Dyn Arthos war Stolz darauf, wie Nadira ihren ersten Auftrag gemeistert hatte. Aber er war wütend, als er vom Verhalten des Wächters hörte. Dyn Arthos würde den Mann aus der Wache, und vielleicht sogar aus Seraint entfernen lassen.
***
„Was ist los mit dir?" Aurels Stimme riss Nadira aus ihren düsteren Gedanken.
„Es ist nur … diese Frau. Sie war wirklich verzweifelt, als sie hörte, dass ihre Tochter nicht über Ashara verfügt."
„Das tun die wenigsten", sagte Aurel.
„Ich weiß. Aber du hättest ihre Augen sehen sollen. Sie waren voller Verzweiflung."
„Sie hatte sich einen gesellschaftlichen Aufstieg erhofft."
„War es wirklich nur das?" Nadira wusste nicht wieso, aber sie hatte das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckte. Viele Familien, wahrscheinlich alle, erhofften sich, dass eines ihrer Kinder ein Ashari war. Es bedeutete größeren Wohlstand, höhere Anerkennung in der Gesellschaft und Sicherheit und ein gutes Leben für das Kind. Allerdings wussten diese Menschen auch nicht, was es bedeutet ein Ashari zu sein. Ashara ist Macht, große Macht und eine große Verantwortung. Ashara kann zum Guten, wie zum Bösen verwendet werden. Es kann zum Wohl der Menschen genutzt werden und den Menschen helfen. Aber es kann auch ein Werkzeug der Zerstörung sein. Diese Verantwortung lastete schwer auf den Ashari, vielleicht auf den Dynari sogar noch etwas mehr. Denn die Dynari waren nicht nur Ashari, sie waren auch der höchste Stand in Alluria. Das Volk sah zu ihnen auf. Die Dynari waren ein Vorbild für die Menschen.
Nadira hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Ashara gegen den Wächter eingesetzt hatte. Sie hatte überreagiert, oder jedenfalls zu stark zugeschlagen. Es überraschte sie immer noch, wie stark Ashara war. Schon in ihrer Novizenzeit war ihr das immer wieder passiert. Die anderen Novizen schienen dieses Problem nicht zu haben. Aber Nadira hatte Probleme damit, das Ashara angemessen zu dosieren. Sie verwendete fast immer zuviel Kraft und konnte somit die Effekte nicht richtig dosieren.
Unter den anderen Novizen war sie schnell bekannt und berüchtigt gewesen, da sie nicht dieselbe Kontrolle über ihr Ashara hatte wie die anderen. Schnell war „es wie Nadira machen" zu einem geflügelten Wort geworden. Es wurde immer dann benutzt, wenn jemand zu stürmisch war oder die Kontrolle verlor.
Die Bemerkungen hatten Nadira verletzt, obwohl sie es sich meistens nicht anmerken ließ. Aber insgeheim war sie sich sicher, dass die meisten es wussten, besonders Brancus. Er wusste genau, dass er sie damit treffen konnte, und er nutzte dieses Wissen mit aller Macht aus.
Durch den Fokusstein war dieses Problem noch gewachsen. Der Fokusstein verstärkte das Ashara und somit war es noch schwieriger, es zu kontrollieren. Eigentlich hatte Nadira es ganz gut gemacht, für ihre Verhältnisse. Hätte sie wirklich die Kontrolle verloren, hätte ihr Ashara ihn auch zerquetschen können. Nadira wusste, sie musste weiter üben, müsste Kontrolle über ihre Macht lernen. Besonders durch den Fokusstein. Oder sollte sie den Stein einfach nicht verwenden? Es war auch möglich, das Ashara am Stein vorbei zu leiten. In der Ausbildung hatten sie aber gelernt, dass sie das nicht tun sollten, da der Stein ihre Kräfte schonte. Aber was half es, die Kräfte zu schonen, wenn man sie dann nicht kontrollieren konnte?
Nadira entschied sich den Fokusstein nicht mehr zu verwenden, jedenfalls nicht, um das Ashara zu konzentrieren. Es war zu gefährlich. Allerdings würde sie weiter üben, um ihre Kraft besser kontrollieren zu können. Vielleicht konnte sie genug Kontrolle lernen, um später den Stein gefahrlos einsetzten zu können. Aber zurzeit war sie noch nicht so weit.
Nadira stand auf und stellte überrascht fest, dass Aurel nicht mehr neben ihr stand.
„Fertig mit Träumen?"
„Wie bitte?"
Aurel war gerade dabei, die Oberseite der Schränke abzustauben. „Du hast einfach nicht mehr reagiert, als ich mit dir gesprochen habe. Deshalb dachte ich, staube mal ab."
„Tut mir leid. Ich hab das gar nicht bemerkt."
„Das habe ich bemerkt." Aurel lächelte Nadira zu und setzt dann ihre Arbeit fort.
„Ich gehe ein wenig in den Innenhof. Willst du mitkommen?" Nadira brauchte ein wenig frische Luft. Eigentlich wäre sie lieber ein wenig in die Stadt gegangen, aber nach den Ereignissen von gestern, war ihr die Lust darauf vergangen.
„Ich würde lieber hier fertigmachen, wenn es dir nichts ausmacht."
„Wie du willst." Nadira lies Aurel zurück und ging in den Hof. Außer Nadira waren noch einige andere Personen unterwegs. Nadira schlenderte gemütlich ein wenig herum, grüßte hier und da einige andere Dynari, Novizen und Diener und begann ihre Sorgen zu vergessen.
Schließlich zog sie sich auf die geschützte Wiese zurück, auf die sie sich schon während der Feier zurückgezogen hatte. Sie legte sich ins Gras, genoss die Sonne über sich und das weichte Gras unter sich, da hörte sie ein Rascheln im Gebüsch.
Neugierig, wer da wohl kam, suchte sie nach der Quelle des Geräusches. Sie entdeckte Dyn Arthos, der sich durch eine der dichtesten Stellen des Gebüsches quälte. Sein Gürtel und seine Haare blieben an den dünnen und verzweigten Ästen hängen und er fluchte leise. Nadira konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
„Ich hoffe, du amüsierst dich", sagte Dyn Arthos trocken.
„Ehrlich gesagt, ja." Jetzt musste Nadira wirklich lachen und Dyn Arthos fiel kurze Zeit später in ihr Lachen ein. „Da hinten kommt man übrigens besser durch." Nadira deutete auf die Stelle, die sie selbst, und die meisten anderen, benutzte, um durch das Gebüsch zu kommen.
„Das hätte mir auch vorher jemand sagen könnten." Dyn Arthos setzt sich neben Nadira ins Gras.
„Wen habt Ihr gefragt?"
„Niemand."
„Na dann …"
Eine Weile saßen, bzw. lagen, sie nebeneinander und schwiegen. Beide hingen ihren Gedanken nach und versuchten die Wärme der Sonne zu genießen.
„Es gibt da etwas, über das wir reden müssen", sagte Dyn Arthos."
„Was denn?"
„Du hast noch keinen Hüter gewählt."
„Ja. Das stimmt." Nadira hatte die Wahl immer vor sich hergeschoben. Sie wusste nicht so recht, wie sie jemanden dafür auswählen sollte. Und sie wollte es auch nicht. Ihr war der Gedanke nicht angenehm, dass jemand sie mit seinem Leben schützen sollte.
„Alle anderen ehemaligen Novizen haben schon einen Hüter gewählt. Es wird Zeit, dass du auch einen wählst."
„Ich möchte keinen wählen."
„Ein Hüter ist wichtig."
„Ich möchte trotzdem keinen."
„Es ist Tradition. Jeder Dynari braucht einen Hüter. Er gehört dazu. Er ist Teil des Standes."
Nadira seufzte. „Ich weiß nicht, wie ich wählen soll."
„Du solltest als Erstes mit dem Hauptmann sprechen. Er kann dir sicher einige geeignete Männer vorstellen. Und dann … lass dich von deinem Gefühl leiten. Immerhin bist du eine Dynari. Du wirst noch viele Entscheidungen treffen müssen. Es ist besser, wenn du es lernst."
Nadira schwieg. Ihr gefiel der Gedanke immer noch nicht. Aber es war besser, eine Person an ihrer Seite zu haben, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Dann ließen sich hoffentlich Ereignisse wie gestern vermeiden.
„Hast du mich verstanden?"
„Ja. Habe ich."
„Dann sprich mit Hauptmann Selius." Dyn Arthos stand wieder auf. „Wo war der leichtere Durchgang?"
Nadira musste wieder daran denken, wie Dyn Arthos sich durch das Gebüsch gequält und sich in den Ästen verfangen hatte, und fing wieder an zu lachen. "Hier drüben." Sie stand auf, und zeigte Dyn Arthos den „geheimen" Eingang.