Читать книгу Feinde der Ashari - Lina-Marie Lang - Страница 4

EIN HÜTER FÜR NADIRA

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Nadira verbrachte die nächsten Tage damit der Entscheidung auszuweichen, wer ihr Hüter werden sollte. Sie war, wie Dyn Arthos gesagt hatte, zu Hauptmann Selius gegangen. Dieser war sehr respektvoll gewesen und hatte sich mit Nadira unterhalten. Der Hauptmann wusste natürlich von Nadiras Freundschaft mit Darec, er hatte beide zusammen aufwachsen sehen.

Als Nadira in das Haus von Dyn Arthos gekommen war, war Selius noch nicht Hauptmann gewesen, er hatte allerdings schon das Kommando über seine eigene Einheit gehabt. In der Zeit von Nadiras Ausbildung war er weiter aufgestiegen. Jetzt da Nadiras Ausbildung vorbei war, hatte sie ihn aber überholt. Sie war jetzt eine Dynari, und stand damit im Rang über ihm. Er war zwar der höchste Mann in der Wache, und eine Respektsperson, aber die Dynari standen trotzdem über ihm. Über den Dynari stand nur noch der Rat, dieser bestand wiederum aus Dynari. Nadira fragte sich, ob es nicht komisch für ihn war, dass das kleine Mädchen jetzt im Rang über ihm stand.

Hauptmann Selius stelle Nadira einige Wachen vor, die seiner Meinung nach zu ihr passen würden. Aber Nadira war nur geringfügig interessiert. Sie wollte diese Entscheidung einfach noch nicht treffen.

Da Dyn Arthos aber darauf bestand, dass sie bald einen Hüter erwählte, traf sie sich mit den jungen Männern, um sie etwas besser kennenzulernen. Aber wirkliches Interesse entwickelte sie an keinem davon. Der Hüter würde die meiste Zeit in ihrer Nähe sein. Nadira war der Meinung, dass es sich deshalb um eine Person handeln sollte, die sie ansprach, mit der sie sich unterhalten konnte. Aber niemand den sie kennenlernte sprach sie an. Eigentlich langweilte sie sich in deren Gegenwart nur.

„Hast du dich endlich für einen Hüter entschieden?" Dyn Arthos lies einfach nicht locker.

„Nein."

„Was ist das Problem?"

Nadira überlegte einen Moment. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, was das Problem war. Sie wusste nur, dass sich etwas in ihr dagegen sträubte, einen der Wächter auszuwählen, die ihr bis jetzt vorgestellt worden waren. Ob das ihre eigene Sturheit war, oder mehr als das … Nadira wusste es nicht. „Ich habe einfach niemand gefunden, der mich anspricht", sagte sie, nachdem einige Zeit verstrichen war.

„Inwiefern anspricht?"

„Anspricht eben. Jemand mit dem ich mich auf einer Ebene befinde."

„Du sollst ihn ja nicht heiraten. Er soll dich nur beschützen und repräsentieren."

„Und wie soll er mich repräsentieren, wenn ich keine Verbindung fühle?"

„Er soll dich, als Dynari, repräsentieren."

Nadira seufzte. „Vielleicht bin ich keine gute Dynari."

„Du bist eine Dynari. Du bist nur stur."

„Das ist eine meiner herausragenden Eigenschaften", bestätigte Nadira.

„Aber du musst endlich deine Sturheit überwinden und jemanden wählen. Das gehört zu deinen Pflichten als Dynari."

„Ich versuche es doch. Aber mein Hüter ist doch immer bei mir. Deshalb sollte es jemand sein, mit dem ich mich verbunden fühlte. Jemand mit dem ich reden kann, und so jemanden habe ich noch nicht gefunden."

„Dann such weiter und streng dich mehr an."

Und Nadira suchte weiter. Und die Tage kamen ihr endlos vor. Und sie schien der Lösung ihres Problems keinen Schritt näherzukommen.

***

Nadira brauchte dringend eine Pause. Eine Pause von ihren Studien und vor allem eine Pause von der Grübelei, wen sie als Hüter erwählen sollte. Also ging sie hinaus auf den großen Platz und setzte sich an den Springbrunnen.

Es war ein warmer, sonniger Tag. Obwohl Nadira das Gefühl hatte, dass die Sonne ihre Energie wieder auflud, war es auch gleichzeitig unangenehm heiß. Hier, direkt am Springbrunnen war es am angenehmsten. Das Wasser kühlt die Luft etwas ab, und der leichte Nebel aus Wassertropfen kühlte noch zusätzlich. Nadira hatte es fast geschafft sich zu entspannen und ihre Sorgen für einen Moment zu vergessen, aber nur fast.

Noch immer machte sie sich Sorgen um Darec und noch immer war sie der Lösung ihres Problems mit dem Hüter keinen Schritt nähergekommen. Wie sollte sie sich für einen der Männer entscheiden, wenn diese sie alle langweilten? Sollte sie wirklich einen Hüter wählen, mit dem sie sich nicht unterhalten konnte? Der Hüter war immerhin fast immer in ihrer Nähe.

Das andere Problem war, dass sie ihrem Hüter wirklich vertrauen musste. Aber keiner der Männer, die man ihr vorgestellt hatte, war ihr sympathisch und vertrauenswürdig genug vorgekommen.

Auch Hauptmann Selius und Dyn Arthos waren ihr keine wirkliche Hilfe bei der Entscheidung. Beide gaben ihr zwar Empfehlungen, aber beide urteilten nach ganz anderen Maßstäben und widersprachen sich gegenseitig. Nadira konnte also nur nach ihren eigenen Maßstäben entscheiden, und sie fand niemand, der dazu passte.

„So grüblerisch?"

Das mit dem Entspannen und dem Sorgen vergessen hatte nicht geklappt. Nadira war wieder so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass Larana sich zu ihr gesellt hatte.

Als Nadira sie endlich bemerkte, machte Larana einen Knicks vor ihr, wie es die Etikette verlangte. Aber, wie schon mehrmals zuvor, strafte ihr verschmitztes Lächeln die höfische Geste lügen.

„Lass den Quatsch", sagte Nadira. Sie war genervt davon, dass sie einfach nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen. Sie war genervt davon, dass sie sich immer noch Sorgen um Darec machen musste. Und sie mochte es nicht, wenn ihr Freunde sich so verhielten. Trotzdem bereute sie ihre schlechte Laune im selben Moment, Larana konnte ja nichts für ihre Sorgen.

Das Lächeln war aus Laranas Gesicht gewichen. „Entschuldige."

Nadira seufzte. „Tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld."

Larana setzte sich zu Nadira und kurz Zeit schwiegen beide. „Was bedrückt dich?"

„Dynari-Kram", sagte Nadira.

„Verstehe. Geht mich nichts an."

„Das wollte ich damit nicht sagen." Jetzt verletzte sie auch noch ihre Freunde, weil sie nicht in der Lage war, ihre Pflichten als Dynari zu erledigen. „Ich denke nur, dass es nicht interessant ist und du mir nicht helfen kannst."

„Versuch es."

Nadira zögerte einen Moment. Sie wollte Larana nicht damit belasten. Aber es würde gut tun, darüber zu sprechen. Und so fing sie an ihr alles zu erzählen. Sie redete sich alles von der Seele. Als sie fertig war, war Laranas Gesicht nachdenklich.

„So viele Sorgen. Und ich bin hier, um dir noch mehr zu machen."

„Du willst mir Sorgen bereiten?" Was meinte sie damit? Was hatte sie vor?

„Ich will es nicht. Aber ich denke, dass ich es tun werde." Larana machte eine kurze Pause, als erwartete sie, dass Nadira etwas dazu sagte, dann fuhr sie fort: „Ich werde eine Reise machen. Ich habe ein Angebot von einem reichen Händler bekommen."

„Eine Reise? Du willst mich auch verlassen?" Ein Freund war bereits auf einer Reise und noch nicht wiedergekommen. Jetzt wollte auch Larana noch weg? Wieso wollten sie alle verlassen?

„Es ist ja nicht für immer. Aber er bezahlt gut. Sie brauchen einen Ashari, der sie begleitet."

„Wieso?"

„Es handelt sich um eine große Handelskarawane. Sie ziehen mit mehreren Händlern, Wagen und Söldnern los. Und sie wollen zur Sicherheit auch einen Ashari dabei haben."

Nadira nickte. Sie verstand es nicht ganz, aber wollte sich das nicht anmerken lassen. Dass Händler im Verbund reisten und Söldner anstellten, die die Händler beschützten, war nicht ungewöhnlich. Aber wieso brauchten sie einen Ashari?

„Sie bezahlen gut", sagte Larana.

„Wann geht es los?"

„Schon übermorgen."

„Übermorgen? Dann haben wir ja kaum noch Zeit uns zu verabschieden."

„Genau genommen haben wir gar keine mehr. Deshalb bin ich hier. Morgen werde ich den ganzen Tag mit Vorbereitungen beschäftigt sein."

„Was sagte Aurel dazu?"

„Sie weiß es noch nicht", sagte Larana. „Ich war gerade auf dem Weg in deine Gemächer, als ich dich hier gesehene habe."

„Aurel wird nicht sehr glücklich drüber sein."

„Und du?" Larana musterte Nadira und sah ihr tief in die Augen. Nadira hatte das Gefühl, dass Larana ihr etwas sagen wollte, aber sie verstand nicht was.

„Ich werde auch nicht glücklich sein."

Larana lächelte. „Ich komm ja zurück."

„Wohin geht die Reise?"

„Nach Miragar", sagte Larana. Nadira blieb einen Moment die Luft weg. Das war vermutlich die Erklärung, warum die Händler einen Ashari dabei haben wollten. Schon der Weg nach Miragar war beschwerlich und gefährlich. Aber Miragar selbst war noch schlimmer. Es gab viele Gerüchte. Das Land sollte nur eine unbewohnbare Wüste sein, gefährliche Kreaturen sollten durch die Einöde streifen, die Einwohner von Miragar sollten ein seltsames, fremdes Volk sein, das die meisten Menschen in Alluria nicht so recht verstanden. Was wollten die Händler in Miragar?

„Ich passe schon auf mich auf", sagte Larana.

„Na das will ich doch hoffen."

„Komm, gehen wir Aurel bescheid sagen."

So kam noch eine weitere Sorge dazu. Nadira fragte sich, ob das das Leben einer Dynari war. Andauernd mit Sorgen leben, Sorgen um andere Leute, Sorgen wegen der Regeln, Sorgen wegen allem Möglichen.

***

Larana blieb länger als sie eigentlich vorgehabt hatte. Wie sie erwartet hatte, war Aurel überhaupt nicht davon begeistert, dass Larana diese Reise antreten wollte.

„Das ist doch viel zu gefährlich", hatte sie gesagt.

„Ich bin eine Ashari, ich kann auf mich aufpassen", hatte Larana geantwortet. „Deshalb wollen sie mich da dabei haben." Wieder hatte sie ihr übliches, verschmitztes Lächeln gezeigt. Aber Nadira erkannte, dass sich diesmal auch Nervosität dahinter verbarg. Larana war nicht halb so selbstsicher, wie sie versuche zu erscheinen.

Aurel versuchte weiter, ihr die Reise auszureden. „Wenn du es nur wegen des Geldes machst, ich hab nicht viel, aber wenn du Geld brauchst …"

„Ich mache es nicht nur wegen des Geldes." Larana sah Nadira für den Bruchteil einer Sekunde an, ehe sie fortfuhr. „Ich will auch mehr von Soria sehen. Ich bin mein ganzes Leben nur hier in Seraint gewesen."

„Dann geh doch nach Androtor, nicht nach Miragar."

„Ich weiß nicht, ob Androtor wirklich sicherer wäre. Es gibt da Gerüchte …"

„Du meinst, dass der Kaiser verschwunden ist?"

Larana nickte. Falls der Kaiser von Androtor wirklich verschwunden war, würde es das Reich destabilisieren. Es könnte zu Konflikten um die Nachfolge des Kaisers kommen. Einige Beobachter fürchten sogar, dass es zum Krieg kommen könnte.

„Vermutlich ist es trotzdem sicherer als Miragar", sagte Aurel.

Die Diskussion ging noch lange so weiter. Aurel versuchte Argumente zu finden, damit Larana nicht auf die Reise ging, aber Larana lies sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen. Nadira versuchte, sich nicht in die Diskussion verwickeln zu lassen. Sie wollte nicht, dass Larana wegging. Aber es war ihre Entscheidung und nicht die von Nadira oder Aurel.

Schließlich, es war schon spät abends, verabschiedete Larana sich. Es würde das letzte Mal für eine lange Zeit sein, dass die Freunde sich sahen. Entsprechend herzlich und tränenreich fiel der Abschied auch aus. Auch Nadira, die versuchte ihre Würde als Dynari zu behalten, hatte bald Tränen in den Augen.

Nadira saß traurig auf ihrem Bett und vermisste Larana jetzt schon, obwohl sie gerade mal seit zehn Minuten weg.

„Das ist alles deine Schuld, das weißt du aber, oder?"

Es gab nicht viel, das Nadira in diesem Augenblick mehr überraschen hätte können. „Meine Schuld? Wieso soll es meine Schuld sein?"

Aurel baute sich vor Nadira auf. In diesem Moment hätte man den Eindruck haben können, dass Aurel die Herrin war und Nadira die Dienerin. „Sie geht wegen dir."

„Wegen mir? Von was redest du überhaupt?"

Aurel setzte zu einer Antwort an, aber dann musste sie etwas in Nadiras Augen erkannt haben, das sie zögern lies: echte Verwirrung und Überraschung. „Du weißt es wirklich nicht?"

„Was? Was soll ich wissen?"

Aurel seufzte, der Zorn, den sie eben noch verspürt hatte, war verraucht. Sie setzte sich neben Nadira auf das Bett und sah richtig geknickt aus.

„Was soll ich wissen?"

Aurel sah auf, sah Nadira direkt in die Augen. „Sie wollte, dass du sie aufhältst. Deshalb war sie hier, nicht um sich zu verabschieden. Sie wollte von dir hören: Geh nicht. Ich will nicht, dass du gehst."

„Wieso gerade von mir?"

Aurel musterte Nadira still und fixierte ihren Blick. In diesem Moment hatte Nadira das Gefühl, dass in Aurel eine Macht steckt, ähnlich ihrem Ashara. Sie hatte das Gefühl, dass Aurel alles wusste, oder zumindest alles aus Nadiras Augen lesen könnte, was diese dachte.

„Sie ist verliebt in dich. Schon seit Jahren. Willst du mir wirklich sagen, dass du das nicht weißt?"

„Wie … wie kommst du auf so etwas?"

Aurel winkte ab. „Alle wissen es. Ich weiß es schon lange, Darec weiß es. Vermutlich weiß sogar Brancus es. Ich bin mir auch sicher, dass Dyn Arthos es weiß. Und du willst mir sagen, dass du nichts davon weißt?"

„Ich …", stammelte Nadira. Sie hatte es nicht gewusst. Oder doch? Hatte sie dieses Wissen einfach verdrängt? Natürlich wusste sie, dass Larana sie gern hatte, sehr gern sogar. Aber verliebt? Nein. Sie hatte es nicht gewusst. Nadira schüttelte den Kopf.

Aurels Gesicht zeigt, dass sie ihr nicht ganz glaubte. Aber sie sagte nichts dergleichen. „Jetzt weißt du es jedenfalls. Und was willst du jetzt machen?"

Nadira überlegte lange, was sie mit diesem neuen Wissen tun sollte. Aber sie kam auf keine Antwort. Und so verstrich die Nacht und der nächste Tag, ohne dass Nadira etwas unternahm. An diesem Tag, und den folgenden Tagen, sprach Aurel kaum ein Wort mit Nadira. Wenn Nadira Aurel ansah, sah sie nur Wut und Enttäuschung in ihren Augen. Es dauerte fast eine Woche, bis diese Gefühle aus ihren Augen verschwanden und sie wieder anfing, mit Nadira zu sprechen.

Nadira fragte sich selbst ebenfalls, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte Larana noch aufhalten können. Aber was wäre dann gewesen? Sie wusste nicht, was dann passiert wäre, ob sie das Richtige getan hätte. Es war Laranas Entscheidung diese Reise anzutreten. Nadira hatte nicht das Recht, es ihr auszureden. Oder doch? Wäre es vielleicht sogar ihre Pflicht gewesen? Dieser Gedanke beschäftigte Nadira noch lange.

***

Schweren Herzens stand Nadira kurz davor, eine Entscheidung zu treffen. Sie tendierte zu einem jungen Mann, der zwar offenbar anständig und ehrenhaft war, aber über keinerlei Humor verfügte. Nadira sah sich schon endlose Stunden in Langeweile, in seiner Gesellschaft verbringen.

Aber die anderen Bewerber waren viel schlimmer. Einer war total von sich überzeugt und glaubte fest daran er wäre perfekt. Er ging Nadira von der ersten Minute an auf die Nerven. Ein anderer nahm die Rolle des Beschützers viel zu ernst und hielt sich offenbar für den, der das Sagen hatte. Ständig versuchte er Nadira zu sagen, was sie tun und lassen sollte. Andere waren einfach langweilig, wussten nicht was Körperhygiene bedeutete, oder hatten andere Macken, die Nadira nicht ertragen konnte.

Vermutlich hatte Nadira mit ihrer Entscheidung einfach zu lange gewartet und die Guten waren alle schon weg. Es blieb ihr also nur dieser eine, der zwar anständig, aber langweilig war. Nadira führte einen harten, inneren Kampf und ihr Pflichtgefühl war gerade dabei, über ihre Zweifel zu triumphieren, als Aurel in das Zimmer gestürmt kam.

„Sie sind wieder da", rief sie aufgeregt. „Sie sind wieder da."

„Ganz ruhig. Wer ist wieder da?"

„Na die Wächter, oder die zukünftigen Wächter um genau zu sein. Sie sind zurück von ihrer Fahrt."

Nadira sprang auf, warf dabei ihren Stuhl um, lief zu Aurel und nahm ihre Hände. „Sind sie alle unverletzt? Leben sie noch alle? Was ist mit Darec?"

„Ist weiß es nicht. Sie sind eben erst am Tor angekommen."

Nadira drehte sich um und wollte zur Türe hinaus, aber Aurel hielt sie zurück. „Wohin willst du?"

„Na, ich will nachsehen."

„Du weißt doch, Dynari dürfen sie nicht sehen, nicht bevor sie offiziell in die Wache aufgenommen worden sind."

Nadira hielt inne. Aurel hatte recht. Wenn Nadira sich mit ihnen unterhalten würde, dann würde keiner von ihnen zur Auswahl stehen. Sie musste sich gedulden. Dann kam ihr eine Idee. „Aber das gilt nicht für Diener, oder?"

Aurel grinste. „Nein, tut es nicht."

„Geh hin, informier dich. Und sag mir bitte, dass es ihm gut geht."

„Ich hoffe, dass ich das wirklich sagen kann."

Nadira durfte zwar nicht zu den Ankömmlingen, aber sie konnte zumindest vom Haus Dyn Arthos aus dem Treiben zusehen. Wie sie kurze Zeit später feststellte, war sie nicht die Einzige die diese Idee hatte. Sie war auf das Dach eines der Häuser gestiegen, die die „Schlucht" zum Tor bildeten, von dort aus hatte sie einen guten Ausblick über die Stadt. Es waren schon gut ein Dutzend Leute hier, darunter Dynari, Diener und Wachen.

Sie hatte die Gruppe schnell entdeckt. Oder genau gesagt, die Menschenmenge, die die Zurückgekehrten empfing. Für die Bewohner von Seraint waren die, die von der Fahrt zurückkehrten, eine Art Helden. Allerdings nur für einige Tage. Wenn die Feierlichkeiten vorbei waren, waren sie einfach nur Wächter und die meisten Bürger von Seraint hielten die Wächter eher für ein notwendiges Übel, als für Helden.

Als sich die Gruppe und die Menschtraube, die sich um sie versammelt hatte, langsam dem Berg näherten, konnte Nadira mehr Details erkennen. Die Heimkehrer waren von Menschen umringt, die ihnen zujubelten und sie feierten. Nadira fragte sich, ob es wirklich um die Leute ging, die von der Fahrt nach Hause kamen, oder nur die Feier, die es jetzt geben würde.

Als die Gruppe das Tor am Fuße des Berges erreicht hatte, verlies Nadira das Dach wieder. Sie ging zurück in ihre Gemächer und beobachtete alles vom großen Fenster aus.

Die Gruppe war noch immer von einer Menschentraube umringt. Nadira konnte einen kurzen Blick auf Darec erhaschen, er schien unverletzt zu sein. Die Gruppe zog weiter in das Haus der Wache und verschwand somit aus Nadiras Blickfeld.

Kurz darauf kehrte Aurel zurück. Sie strahlte bis über beide Ohren.

„Es geht ihm gut?"

Aurels Lächeln nahm noch etwas zu und sie nickte. Nadira fiel ihr glücklich in die Arme und sie drückten sich gegenseitig.

„Morgen findet die Zeremonie statt", sagte Aurel. „Du musst schnell sein, wenn du ihn willst. Es gibt auch andere, die es auf ihn abgesehen haben."

Nadira wusste im ersten Moment gar nicht, was Aurel meinte, doch dann ging ihr ein Licht auf. Sie hatte die ganze Zeit auf Darec gewartet und sie würde ihn kriegen.

***

Nach und nach erreichten Nadira mehr Informationen. Besonders die Information, dass alle die Fahrt gut überstanden hatten, lies sie erleichtert aufatmen. Also war Darec nichts passiert, es ging ihm gut.

Nadira wäre am liebsten sofort in das Haus der Wache gelaufen, um Darec zu sehen. Aber sie wusste, dass sie das nicht durfte. Es wäre ein großer Fehler, den sie sich nie verzeihen würde.

***

Im Laufe des Tages machten Gerüchte über die Abenteuer die Runde, die die Männer auf ihrer Fahrt erlebt hatten. Die Gerüchte reichten von: Es war gar nichts passiert, und sie hatten eine langweilige, aber anstrengende Fahrt hinter sich; bis zu dem Gerücht, dass sie einem Aiudir begegnet waren und ihn getötet hatten. Dazwischen gab es viele andere Gerüchte, über Kämpfe mit Räubern, gerettete Händler, eroberte Jungfrauen, es gab Geschichten von Orgien (die Nadira nicht so recht glauben wollte).

Aus diesen vielen Gerüchten konnte Nadira auch einige Informationen herausfiltern. Offenbar war die Reise zuerst nach Norden gegangen, in das Kaiserreich Androtor, dann in einem Bogen nach Westen und schließlich nach Süden bis nach Miragar. Von dort aus, Richtung Nordosten, zurück nach Alluria.

Sie schienen aber auch einigen Gefahren ausgesetzt gewesen zu sein. Zumindest einer der Männer war verletzt worden. Lange Zeit soll es schlecht um ihn gestanden haben, und seine Verletzung war einer der Gründe, weshalb die Gruppe sich verspätet hatte. Sie hatten alle zusammengehalten, und ihn nicht im Stich gelassen. Aber bis er sich weit genug erholt hatte, um weiter reisen zu können, hatte es mehrere Wochen gedauert.

Es hieß Hauptmann Selius sei sehr stolz auf diesen Zusammenhalt. Alle aus der Gruppe sollten in die Wache aufgenommen werden. Die Zeremonie würde schon morgen stattfinden. Die Männer waren zwar erschöpft, aber der Verletzte war wieder gesund und es ging allen entsprechend gut.

Gleich nach der Zeremonie wollte Nadira Darec als ihren Hüter auswählen. Diese Nacht schlief Nadira gut. Darec war zurückgekehrt und ihr Problem sollte sich morgen in Luft auflösen.

***

Die Zeremonie sollte gegen Mittag beginnen. Nadira hatte vor, vor dem Saal zu warten. Wenn die Männer den Saal verließen, würde sie zu Darec gehen und ihm sagen, dass sie ihn als ihren Hüter auserwählt hatte. Sie hoffte, dass er sich freuen würde. Vermutlich wusste er noch gar nicht, dass Nadira inzwischen in den Stand einer Dynari erhoben worden war.

Nadira bereitete sich aufwendig auf dieses Ereignis vor. Sie wollte einer Dynari würdig sein. Sie wollte einen Auftritt hinlegen, dass es allen die Sprache verschlug. Sie wollte einfach atemberaubend aussehen, und sich auch so fühlen. Aber wo blieb Aurel? Sie brauchte Hilfe dabei, und Aurel war eigentlich sehr zuverlässig.

Nadira trat ans Fenster und sah hinaus in den Innenhof. Nur wenige Leute waren dort unterwegs. Das Haus von Dyn Arthos war heute besonders ruhig. Wahrscheinlich waren alle dabei, sich auf die Zeremonie vorzubereiten. Nadira wollte sich gerade wieder umdrehen, da sah sie jemand über den Hof rennen. Es war Aurel. Da war sie also, wurde auch Zeit, dass sie endlich kam.

Keine zwei Minuten später kam Aurel in Nadiras Gemächer gestürmt, sie war völlig außer Atem.

„Kommst du endlich?"

Aurel schnappe so stark nach Luft, dass sie nicht antworten konnte.

„Du musst ja extrem gerannt sein. Also auf diese eine Minute wäre es nun auch wieder nicht angekommen", sagte Nadira, die jetzt ein schlechtes Gewissen hatte, weil Aurel wegen ihr so gerannt war.

„Doch", keuchte Aurel, aber mehr bekam sie noch nicht heraus.

„Doch? Wieso?" Langsam dämmerte es Nadira, dass mehr dahintersteckte, als nur die Verspätung. Aber Aurel brauchte noch eine Minute, bis sie wieder genug Luft bekam, um reden zu können.

„Ich hab gerade was Schlimmes mitbekommen." Aurel schnappte immer noch nach Luft. „Brancus, er hat auch noch keinen Hüter."

Brancus? Was konnte er schon wieder im Schilde führen? Und wieso sollte es wichtig sein, dass er noch keinen Hüter hatte?

„Er will … er will auch Darec. Und er ist schon im Haus der Wache."

Jetzt blieb Nadira die Luft weg.

***

Darecs Blick glitt über die anderen Mitglieder der kleinen Gruppe, mit denen er die Fahrt bestritten hatte. Die Fahrt war der Abschluss einer langen Ausbildung zum Wächter, und es war zugleich eine Prüfung. Die Ausbildung sollte sie auf ihr Leben als Wächter vorbeireiten, auf ein Leben als Beschützer der Bürger von Alluria und auch darauf, dass sie vielleicht eines Tages als Hüter auserwählt wurden. Dann wurden sie vom Beschützer der Bürger zum Beschützer eines Dynari. Es war eine der größten Ehren, die einem im Alluria zuteilwerden konnten, aber gleichzeitig war es auch ein gefährliches Leben. Jedenfalls potenziell gefährlich. Viele Dynari verließen ihre Heimatstadt kaum. Innerhalb der Städte bestand wenig Gefahr für die Dynari. Sie wurden oft fett und träge, und die Hüter dieser Dynari ebenfalls.

Die Ausbildung sollte die zukünftigen Wächter auf die möglichen Gefahren vorbereiten. Die Fahrt war eine Prüfung, in der festgestellt wurde, ob diese Vorbereitung erfolgreich gewesen war. Gleichzeitig war es aber auch ein Teil der Vorbereitung, denn auf dieser Fahrt lernten die Männer oft mehr, als in der Ausbildung selbst. Das wichtigste Element der Fahrt war, dass niemand wusste, was passieren würde, auch die Ausbilder nicht. Und genau darauf sollten Wächter vorbereitet sein, auf das Unvorhersehbare.

Darecs Gruppe hatte es geschafft. Sie hatten die Fahrt hinter sich gebracht und es überlebt. Alle. Es hatte Zeiten gegeben, in denen nicht klar gewesen war, ob sie es schaffen würden. Sie hatten Entbehrungen und Schmerzen erlitten, aber sie hatten auch spannende Abenteuer erlebt, fremde Länder gesehen und so manche exotische Vergnügen genossen.

Darec war, wie auch die anderen aus der Gruppe, froh wieder zu Hause zu sein. Aber wo war Nadira? Wieso hatte er sie noch nicht gesehen? Er musste sich eingestehen, dass er noch gar keine Zeit gehabt hatte, jemand zu treffen. Endlich wieder im Haus der Wache angekommen, hatten sie kurze Zeit gehabt um zu baden und etwas zu essen. Dann hatte Hauptmann Selius sie zu sich bestellt und einen Bericht verlangt. Das hatte bis spät in die Nacht gedauert. Danach waren sie alle erschöpft in ihre Betten gefallen. Trotzdem war Darec enttäuscht, Nadira noch nicht gesehen zu haben. Er hatte erwartet, dass sie ihn begrüßen würde, wenn er wieder in Seraint war.

Heute Morgen hatten Darec und seine Gefährten lange geschlafen. Als sie endlich aufgestanden waren und gefrühstückt hatten, begangen auch schon die Vorbereitungen auf die Zeremonie. Sie wurden gebadet (von Dienerinnen), sie wurden frisiert und ihre Uniformen gesteckt. Hier und da musste noch etwas nachgebessert werden. Jetzt saßen sie in einem kleinen Warteraum und warteten, dass die Zeremonie begann.

„Hey, Darec", rief einer der anderen. „Weißt du noch die Kleine in Cassant?" Er lachte anzüglich und die anderen stimmten in sein Lachen ein. Darec nickte. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Die Kleine hatte einfach nicht die Finger von ihm lassen können. Darec hatte sich geschmeichelt gefühlt, aber er hatte kein wirkliches Interesse an ihr gehabt. Sie an ihm auch nicht, wie sich später herausgestellt hatte. Sie hatte ihm nur den Geldbeutel abgenommen. Die Jungs hatten sich köstlich amüsiert, Darec allerdings weniger.

Die Türe schwang auf und Hauptmann Selius kam herein. Er sah sie alle der Reihe nach an. „Seid ihr soweit Männer?"

„Jawohl", riefen sie alle wie aus einem Mund.

„Dann wollen wir es mal hinter uns bringen." Es war bekannt, dass Hauptmann Selius kein Freund von Zeremonien war. Er war ein Mann der Tat, und keiner der großen Reden. Außerdem mochte er die steifen Rituale nicht. Aber es gehörte nun mal zu seiner Pflicht als Hauptmann. Er war froh, wenn er alles hinter sich hatte. Für Darec und die anderen war die Zeremonie hingegen eine große Ehre.

***

Darec betrat den Saal als Dritter. Der Saal im Haus der Wache hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem großen Saal im Haus der Dynari. Aber der Saal der Dynari war viel größer und punktvoller eingerichtet. Der Saal im Haus der Wache war eher zweckmäßig. Es gab eine Art Bühne, von dort aus konnte der Hauptmann seine Ansprache halten, und das tat er auch. Er lobte den Mut der Wache und stellte fest, dass diese Männer denselben Mut gezeigt hatten. Darec und die anderen hatte sich in einer Reihe aufgestellt. Sie standen auf der Bühne und vor ihnen ging der Hauptmann auf und ab und hielt seine Rede. Im Saal waren war die Wache von Seraint versammelt.

Natürlich waren nicht alle Angehörigen der Wache hier. Viele hatten Dienst und waren auf ihren Posten. Außerdem wäre der Saal nicht groß genug gewesen, um alle Leute aufzunehmen. Aber da die Wache ihre Posten niemals unbesetzt lies, kam es sowieso nie dazu, dass sich alle gleichzeitig an einem Ort versammelten.

Hauptmann Selius sprach jetzt über die große und edle Tradition der Wache, über das Große das sie vollbrachten, über den Dienst am Land und den Leuten. Aber Darec höre nur mit einem Ohr zu. Er war nervös. In wenigen Momenten würde sich sein Traum erfüllen und er wurde zu einem vollwertigen Mitglied der Wache. Wenn Hauptmann Selius doch endlich mit seiner Rede fertig werden würde.

***

Nadira hielt an ihrem Plan fest. Sie war fest entschlossen, Darec heute als ihren Hüter zu erwählen. Zusammen mit Aurel machte sie sich auf den Weg zum Haus der Wache. Sie benutzten nicht den Haupteingang, denn wie Nadira wusste, war Brancus bereits dort und Nadira hatte keine Lust auf eine Konfrontation mit ihm.

Nadira stand vor einem Problem. Brancus war zuerst da gewesen, deshalb hatte er den Vortritt. Und sie durfte Darec nicht sehen, bevor er offiziell in die Wache aufgenommen worden war. Wenn sie aber wartete, würde Brancus ihn ihr quasi vor der Nase wegschnappen. Nadira traute ihm zu, dass er Darec auf eine Mission schickte, die dieser nicht überleben konnte, nur um ihr eins auszuwischen.

Sie hatte noch keine Idee, wie sie das Problem lösen würde, aber Nadira war fest entschlossen zu gewinnen. Schon um Darec Willen.

Sie waren jetzt im Haus der Wache angekommen und standen vor einem der Nebeneingänge in den Saal. Nadira hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte.

„Dyna, kann ich Euch helfen?"

Nadira zuckte erschrocken zusammen. Der Wächter hatte sich ihr so leise genähert, dass sie ihn nicht bemerkt hatte.

„Verzeiht Dyna, ich wollte Euch nicht erschrecken."

„Was machst du hier draußen?", fragte Nadira. „Solltest du nicht drin sein?"

„Ich bin für die Wache eingeteilt, Dyna. Ich halte in den Gängen Wache."

„Hat die Zeremonie schon angefangen?"

„Das hat sie."

„Wie lange wird sie dauern?"

„Das kann ich nicht genau sagen, Dyna. Aber die Zeremonie dauert nicht sehr lange. Vielleicht noch ein paar Minuten."

„Danke", sagte Nadira. Noch ein paar Minuten. Sie hatte nur noch ein paar Minuten um sich etwas einfallen zu lassen und sie hatte nach wie vor keine Idee.

***

Hauptmann Selius war mit seiner Ansprache endlich fertig. Jetzt fing der spannende Teil der Zeremonie an. Er würde von jedem der Männer einen Schwur verlangen und ihnen dann das Abzeichen der Wache überreichen.

Er fing am anderen Ende der Schlage an, es würde als noch einen Moment dauern, bis er zu Darec kam. Mit dem Schwur, und dem Überreichen des Abzeichens, war er dann ein vollständiges Mitglied der Wache. Es war für Darec eine große Ehre. Seine Eltern waren einfache Bauern, die einen Hof einige Wegstunden von Seraint entfernt hatte. Darec hatte sich aber nie auf dem Hof gesehen. Er konnte sich nicht vorstellen Getreide anzubauen und Vieh zu züchten.

Zum Glück hatte er mehrere Geschwister. Diese würden den Hof eines Tages übernehmen und Darec war somit nicht gezwungen, diesen Weg zu gehen. Er hatte schon immer davon geträumt, Soria zu bereisen und Abenteuer zu erleben. Er liebte Geschichten von Helden und Kämpfern und Reisen und Abenteuern. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er irgendwann einmal selber Abenteuer erleben und Reisen unternehmen würde.

Die Wache hatte Patrouillen in beinahe ganz Alluria. Stark bewacht waren nur die Städte und die nähere Umgebung, außerdem die Hauptstraßen zwischen den Städten. Aber es gab auch Patrouillen, die weiter abgelegene Gebiete gelegentlich besuchten.

Der Hof von Darecs Eltern lag nicht weit von einer großen Handelsstraße entfernt. Deshalb hatte er dort immer wieder Wächter patrouillieren sehen. Eines Tages hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und einen dieser Männer angesprochen. Der Wächter war freundlich gewesen und hatte Darec von seinem Leben bei der Wache erzählt. An diesem Tag hatte Darec beschlossen, dass er eines Tages ebenfalls ein Mitglied der Wache werden würde. Heute war der Tag, an dem sich dieser Wunsch erfüllen würde.

Hauptmann Selius war nun bei Darecs Nachbar. Darec lies seinen Blick durch den Raum schweifen, studierte die Gesichter der anderen Anwesenden. Er konnte keine Abneigung entdecken. Einige schienen sogar stolz auf ihre neuen Kameraden zu sein. Sie waren hier als Zeugen; Zeugen des Mutes und der Taten der Neulinge; Zeugen, die bestätigen sollten, dass die Neuen es wert waren, in die Wache aufgenommen zu werden.

Plötzlich entdeckte Darec ein vertrautes Gesicht, eine Frau. In dem Moment trat Hauptmann Selius auf Darec zu und versperrte ihm den Blick. Als Darec versuchte das vertraute Gesicht wiederzufinden, gelang es ihm nicht. Aber er hatte jetzt auch keine Zeit dafür.

Hauptmann Selius drehte sich um, um einen Blick in die Richtung werfen zu können, in die Darec geschaut hatte. „Stimmt etwas nicht?", fragte er.

„Nein Hauptmann. Alles in Ordnung. Ich glaube nur, ich habe eine Freundin gesehen."

„Das kann sicher noch ein paar Minuten warten", sagte der Hauptmann mit einem Grinsen im Gesicht.

„Natürlich Hauptmann."

„Darec", sagte Hauptmann Selius jetzt, mit fester Stimme, sodass jeder im Saal ihn hören konnte. „Schwörst du dem Reich Alluria die Treue? Schwörst du die Dynari und die Bürger des Reiches zu schützen, mit deinem Leben?"

„Ich schwöre", sagte Darec.

„Dann willkommen in der Wache." Hauptmann Selius überreichte Darec sein Abzeichen. Es hatte die Form eines Schildes und war aus Metall. Es war klein und fühlte sich für seine Größe schwer an. Auf der Vorderseite war in kunstvollen Buchstaben der Schriftzug „Wache von Seraint" eingraviert. Auf der Rückseite stand sein Name. Das Abzeichen hing an einem Lederband, mit dem man es sich um den Hals hängen konnte. Darec betrachtete es einen Moment lang voller Stolz, dann legt er es an. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass Hauptmann Selius gerade dem letzten Mann sein Abzeichen überreichte.

„Ein Hoch auf unsere neuen Brüder", rief der Hauptmann und der ganze Saal fiel ein und lies die Männer hochleben.

Als der Lärm verebbt war, flog eine der Seitentüren auf. Alle Gesichter wandten sich dorthin. Eine Dienerin betrat den Saal. Darec erkannte sie sofort, es war das bekannte Gesicht, das er eben noch in der Menge gesehen hatte. Sie trat zur Seite und eine weitere Person betrat den Saal.

Es war eine weitere Frau, eine Dynari. Sie trug ein weißes Kleid, das sie ein wenig unwirklich erscheinen lies. Sie schien nicht so recht in den Saal zu passen, der düster und trist wirkte. Die Dynari hingegen strahlte regelrecht. Ihre schwarzes Haar fiel in Wellen über ihre Schulter. Die Differenz zwischen dem weißen Kleid und ihren schwarzen Haaren lies sie noch ein wenig unwirklicher wirken, wie ein Wesen aus einem Traum. Dann erkannte Darec sie.

***

Nadira ging unruhig vor der Türe auf und ab. Sie wusste, sie hatte nur eine Chance, wenn sie Darec nicht verlieren wollte. Sie wusste, dass sie gegen die Regeln, oder zumindest gegen die Traditionen verstieß, aber es war ihr egal. Darec war wichtiger als die Tradition.

Die Türe öffnete sich, und Aurel schlüpfte heraus. „Er ist an der Reihe. In ein paar Sekunden bekommt er sein Abzeichen und ist dann offiziell ein Mitglied der Wache."

„Dann ist es soweit." Nadira atmete tief ein, ihr Herz schlug so stark, dass sie ihren Herzschlag hören konnte.

„Nach ihm kommt nur noch Einer. Du solltest warten, bis die Zeremonie ganz zu Ende ist."

Jetzt war von drinnen Jubel zu hören, sie ließen die neuen Wächter hochleben. Nadira nickte Aurel zu. „Los."

***

Alle Augen waren auf Nadira gerichtet. Sie versuchte möglichst würdevoll und elegant zu wirken, aber sie hatte das Gefühl, dabei vollkommen zu versagen. Ihr war danach zumute im Boden zu versinken. Aber sie riss sich zusammen und schritt auf die Bühne zu.

„Dyna", rief der Hauptmann ihr zu. „Gibt es ein Problem? Droht Gefahr?"

„Nein", sagte Nadira. „Seid unbesorgt." Nadiras Blick war fest auf Darec gerichtet. Er trug die Uniform der Wache, er sah erwachsener aus, gereifter, und stolz; und entsetzt. Er starrt sie an und Nadira hatte das Gefühl unter seinem Blick zu erröten. Dann erreichte sie die Bühne.

„Dyna, was können wir für Euch tun? Es muss wichtig sein, wenn Ihr hier hereinkommt und unsere Zeremonie stört." Die Worte des Hauptmanns waren höflich und sorgfältig gewählt, aber es schwang auch eine kaum hörbare Warnung mit.

„Natürlich ist es wichtig, Hauptmann." Nadira ging am Hauptmann vorbei, lies ihn einfach links liegen, und trat vor Darec.

„Nadira", sagte dieser leise und Nadira lächelte ihm zu.

Offenbar hatte Brancus bemerkt, dass etwas nicht so lief, wie er sich das Ganze vorgestellt hatte. Plötzlich flog die Haupttüre auf und er stampfte in den Saal. Als er Nadira bei Darec stehen sah, blieb er abrupt stehen und sah sie mit offenem Mund an.

Nadira genoss noch einem Moment den Anblick ihres Konkurrenten, dann sagte sie: „Ich möchte, dass ihr alle meine Zeugen seid, wie ich meinen Hüter wähle." Dann drehte sie sich wieder zu Darec um. „Ich wähle dich."

***

„Dyna, das ist sehr unkonventionell", erklang eine Stimme hinter Nadira.

„Ja. Das ist es. Aber wichtige Dinge benötigen manchmal ein unkonventionelles Vorgehen."

„Ihr könnt einen Hüter erst wählen, wenn er offiziell in die Wache aufgenommen wurde."

Nadira drehte sich langsam herum und sah den Hauptmann an." Er ist doch bereits Mitglied der Wache." Darec hob sein Abzeichen an, um Nadiras Aussage zu stützen.

„Ich lege Widerspruch ein", rief Brancus. „Ich war zuerst hier und ich wollte Darec ebenfalls als meinen Hüter wählen."

„Du warst zu langsam, Brancus", sagte Nadira.

„Ich verlange, dass Dyn Arthos in dieser Sache entscheidet."

„Ich denke, wir haben die Zeremonie schon genug gestört", sagte Nadira. „Wir sollten jetzt gehen und die Wächter feiern lassen." Den letzten Satz hatte sie laut ausgesprochen, sodass jeder im Saal sie hören konnte. Und diese Worte kamen bei den anderen Wächtern gut an. Sie fingen an zu jubeln, ließen Nadira und auch Darec hochleben, und dann konnte sie niemand mehr daran hintern, mit der Feier zu beginnen.

„Dyna. Ich werde mich bei Dyn Arthos beschweren. Ich finde dieses Verhalten zutiefst beleidigend", sagte Hauptmann Selius, drehte sich um und ging weg, ohne eine Antwort abzuwarten.

Brancus stand noch eine Weile da, wusste nicht, was er tun sollte; dann warf er Nadira und Darec einen bösen Blick zu, drehte sich weg und stampfte Richtung Ausgang davon.

„Bist verrückt geworden?", fragte Darec.

„Wie redest du denn mit einer Dyna?", sagte Nadira, aber das Grinsen auf ihrem Gesicht sorgte dafür, dass die Worte weit weniger streng wirkten.

„Im Moment hab ich eher das Gefühl, ich habe es mit einer trotzigen Jugendlichen zu tun als mit einer Dyna."

„Willst du lieber zu Brancus? Dann geh ihm nach." Nadira fühlte sich ein wenig verletzt. Sie hatte sich bemüht, sie riskierte Ärger mit Dyn Arthos, und das für ihn. Aber er sah in ihr nur ein trotziges Kind.

„Du hättest mich doch draußen erwählen können. Wieso musstest du in den Saal stürmen?"

„Weil Brancus draußen gewartet hat. Auf dich. Draußen hätte er das Vorrecht gehabt."

Erst jetzt bekann Darec wirklich zu begreifen, was eigentlich gelaufen war, und dass Nadira keine Wahl gehabt hatte. Oder dass die Wahl keine wirkliche Wahl war, da die andere Möglichkeit für sie, und auch für Darec, nicht gut gewesen wäre.

„Feiert mit uns, Dyna." Plötzlich war ein anderer Wächter da. Er nahm Nadira am Arm und führte sie hinunter in die Menge, um mit ihr zu tanzen. Schon kurz darauf hatte Nadira Darec aus den Augen verloren.

***

Die Feier hatte noch lange gedauert und Nadira hatte das Gefühl, dass sie im Laufe des Abends mit beinahe jedem Wächter getanzt hatte. Außer mit dem Hauptmann und Darec. Weiter war nichts passiert. Sie hatte weder Dyn Arthos noch Brancus gesehen.

Nadira war eine der wenigen Dynari gewesen, die an der Feier teilgenommen hatte. Deshalb wollten alle mit ihr tanzen oder wenigstens mit ihr sprechen. Nach endlosen Stunden war Nadira völlig erschöpft in ihr Bett gesunken. Sie hatte viel Spaß gehabt an diesem Abend, aber leider hatte sie Darec nicht mehr sprechen können. Dahinter steckte wohl der Gedanke, dass sie in Zukunft genug Zeit mit ihrem Hüter verbringen würde. Es war ein alter Brauch, von dem Nadira nicht wusste, dass er überhaupt noch bekannt war. Eigentlich war heutzutage die Ernennung eines Hüters nicht mehr mit Feiern verbunden. Früher hatten das Ganze meistens zu bestimmten Gelegenheiten, mit anschließenden Feiern stattgefunden. Aber diese Tradition wurde heute nicht mehr zelebriert.

Auch Aurel hatte viel getanzt und mit den Wächtern geflirtet. Eine Dynari wurde natürlich mit Respekt behandelt, eine Dienerin aber konnte jeder anflirten. Und Aurel hatte die Aufmerksamkeit sichtlich genossen. Im Laufe des Abends hatte Nadira Aurel aus den Augen verloren. Später war sie zu müde gewesen, um nach ihr zu suchen.

Pünktlich zum Frühstück tauchte Aurel wieder auf. Sie strahlte noch immer. Nadira vermutete, dass Aurel die Nacht nicht allein verbracht hatte, aber sie traute sich nicht zu fragen. Beim Frühstück, sie aßen zusammen, wie sie das fast jeden Morgen taten, erzählten sie sich gegenseitig von ihren Erlebnissen bei der Feier.

„Ich hab dich später nicht mehr gesehen, wann bist du denn gegangen?", fragte Nadira dann. Und Aurel war plötzlich verlegen und wurde rot. Nadira lachte. „Ich verstehe. Du hast wo anders weiter gefeiert?"

„Sozusagen."

„War's gut?"

„Es war toll." Aurels Augen glänzten, als sie Nadira ansah.

„Wer war es?"

„Das möchte ich für mich behalten."

Nadira war ein bisschen enttäuscht, aber sie akzeptierte die Entscheidung ihrer Freundin. Wenn Aurel bereit war es ihr zu erzählen, würde sie es auch tun.

***

Später wurde Nadira zu Dyn Arthos bestellt. Sie wusste natürlich, um was es gehen würde und sie hoffte, dass er nicht wütend auf sie war.

Als sie im Arbeitszimmer des Hausherren ankam, waren schon mehrere Leute anwesend: Neben Dyn Arthos befanden sich auch der Hauptmann und Brancus in Raum. Beide sahen Nadira böse an, der Hauptmann ein wenig verärgert, Brancus mit unverhohlener Verachtung. Kurz nach Nadira kam auch Darec an.

„Nadira, Nadira … erst kannst du dich wochenlang nicht entscheiden, wer dein Hüter werden soll, und dann kann es gar nicht schnell genug gehen?"

„Es musste eben der Richtige sein."

„Aber du kennst die Regeln. Erst wenn ein Anwärter offiziell Mitglied der Wache ist, kann er erwählt werden. Und wer einen Anwärter zwischen der Fahrt und der Aufnahme in die Wache spricht, darf ihn nicht wählen."

„Das sind aber dumme Regeln", sagte Nadira.

„Aber trotzdem sind es Regeln", sagte Dyn Arthos.

„Dann gehört er mir", sagte Brancus. „Ich war zuerst vor Ort. Ich habe damit das Vorrecht, als Erster zu wählen."

„Stimmt das?", fragte Dyn Arthos Nadira.

„Ja. Er war als Erster da, in der Vorhalle. Aber nicht im Saal. Ich war vor ihm im Saal, deshalb hatte ich im Saal das Vorrecht."

„Sie hätte gar nicht in den Saal gehen dürfen", fuhr Brancus dazwischen."

„Es gibt keine Regeln, die einer Dynari verbieten den Saal der Wache zu betreten", sagte Dyn Arthos.

„Aber …"

„Kein Aber."

„Dyn Arthos. Es gibt zwar keine Regeln dagegen, dass Dynari den Saal betreten - jeder Dynari ist herzlich willkommen den Zeremonien beizuwohnen - aber die Zeremonie zu unterbrechen gehört sich nicht. Ich fühle mich persönlich beleidigt", sagte der Hauptmann.

„Hauptmann, ich wollte Euch keineswegs beleidigen", sagte Nadira. „Wenn ich das getan habe, nehmt bitte meine Entschuldigung an. Ich kam nur in den Saal, weil es die einzige Möglichkeit war, Darec zu erwählen."

„Sie hat ihn während der Zeremonie gesehen, sie darf ihn nicht erwählen", rief Brancus.

„Ich habe gewartet, bis Darec sein Abzeichen erhalten hatte. Ich habe meine Dienerin in den Saal geschickt, um die Zeremonie zu beobachten. Ich hatte sogar noch abgewartet, bis das Hochleben lassen der neuen Wächter, das das Ende der Zeremonie darstellt, zu Ende war. Erst dann betrat ich den Saal."

„Stimmt das, Hauptmann?", fragte Dyn Arthos.

„Ja. Das kann ich bestätigen. Ich hatte Darec zu diesem Zeitpunk das Abzeichen bereits übergeben und damit war er schon ein Mitglied der Wache. Und ich hatte auch die neuen Wächter willkommen geheißen, was den Abschluss der Zeremonie darstellt."

„Dann sehe ich nichts, das Nadira falsch gemacht hätte", sagte Dyn Arthos. Brancus wollte widersprechen, aber Dyn Arthos lies ihn nicht zu Wort kommen. „Aber es war kein angemessenes Verhalten für eine Dynari", sagte er, an Nadira gewandt. „Trotzdem kann ich dein Verhalten verstehen. Ich weiß, dass ihr seit eurer Kindheit Freunde seid und ich bin sicher, Darec wird dir ein guter Hüter sein."

Nadira strahlte. „Danke, Dyn Arthos."

„Aber ich war zuerst da." Brancus klang wie ein kleines Kind, dem etwas nicht passte.

„Aber nicht im Saal", sagte Nadira. „Und Hauptmann, bitte verzeiht mir. Ich wollte nicht respektlos sein."

„Falls Ihr so etwas noch einmal vorhabt, warnt mich bitte vor", sagte der Hauptmann und musste dann Lachen. Die anderen fielen in das Lachen ein, nur Brancus machte ein finsteres Gesicht.

Feinde der Ashari

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