Читать книгу Resilienz - Linda Graham - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 2
Übungen zur somatischen Intelligenz
Atem, Berührung, Bewegung,
Visualisierung, soziale Kontakte
Du kannst die Wellen nicht aufhalten,aber du kannst lernen, auf ihnen zu reiten.
SWAMI SATCHIDANANDA
Wir haben uns angesehen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Situationen kompetent umzugehen, wenn alles drunter und drüber läuft. Unsere Grundreaktionen auf alle Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens haben ihren Anfang in unserem Körper. Um unsere Resilienz zu stärken, fangen wir mit körperbasierten Werkzeugen, sprich unseren Übungen zur somatischen Intelligenz, an.
Denken Sie zurück an Ihren Biologieunterricht und das Thema vegetatives Nervensystem oder VNS. Ihr vegetatives Nervensystem scannt dauernd die Umgebung mitsamt Ihrem sozialen Umfeld ab und sucht nach Signalen der Sicherheit, Gefahr oder Bedrohung Ihres körperlichen Überlebens oder Ihres psychologischen Wohlbefindens.28 Dieses Scannen entspringt tief im Hirnstamm und Rückenmark. Es findet rund um die Uhr statt, sogar im Schlaf, und immer außerhalb Ihres Bewusstseins. Ihr höheres Gehirn kann sich jedoch dieses Absuchens der Umgebung nach Signalen bewusst werden. Die Kontrolle Ihres höheren Gehirns ist sogar notwendig für die Deutung der Signale aufgrund Ihrer Erfahrung und Konditionierung. Aber während Ihr höheres Gehirn komplexer und umfassender in seiner Analyse von dem ist, was passiert und was Sie diesbezüglich tun sollten, so erledigt es diese Aufgabe auch langsamer. Das körperbasierte VNS reagiert innerhalb von Millisekunden auf ein Signal, Ihr präfrontaler Kortex benötigt dagegen weitaus mehr Zeit dafür: von einigen Sekunden bis zu mehreren Minuten.
Sie haben vermutlich auch gelernt, dass das vegetative Nervensystem zwei Zweige hat: das sympathische Nervensystem (Sympathikus) und das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus). Das sympathische Nervensystem regt Sie an, sofort zu handeln, wenn etwas nicht stimmt oder Sie Gefahr wittern: Das ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Diese schnelle, schützende Reaktivität bringt Ihren Körper jetzt in Bewegung, um sich einer Gefahr zu stellen oder vor ihr zu fliehen, eine unsichere oder toxische Person zu konfrontieren oder vor ihr wegzulaufen.
Ihr tieferes Gehirn teilt Ihrem Körper mit, sich zu bewegen, noch bevor Ihr höheres Gehirn sich überhaupt bewusst ist, dass gerade etwas passiert ist. Ihr Nervensystem reagiert, um Sie am Leben zu erhalten, noch bevor Ihr bewusstes Gehirn überhaupt weiß, dass Sie sich in Lebensgefahr befinden.
Nach dem gleichen Prinzip ermöglicht das parasympathische Nervensystem Ihnen, sich selber zu beruhigen, um zu »ruhen und zu verdauen«, wenn die Gefahr vorüber ist. Diese beiden Zweige fungieren wie Gas- und Bremspedal im Auto: Die Aktivierung des Sympathikus kommt dem Betätigen des Gaspedals gleich, die Aktivierung des Parasympathikus dem des Bremspedals.
Es gibt viele Vorteile, den Sympathikus auch ohne eine Gefahrensituation zu aktivieren. Er schafft es, dass wir morgens aufstehen, dass wir aufstehen wollen, und er motiviert uns, auf unsere Mitmenschen zuzugehen, die Welt zu erkunden, zu spielen, kreativ und produktiv zu sein. Weil es den Sympathikus gibt, bilden wir Regierungen, komponieren Sinfonien, entwerfen und bauen Gebäude und arbeiten daran, das Problem Klimawandel zu lösen. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Sympathikus ist die Basis menschlicher Zivilisation, so wie wir sie kennen.
Und auf ganz ähnliche Weise erlaubt das Einschalten des Parasympathikus außerhalb einer Gefahrensituation es uns, uns sicher und geerdet zu fühlen, im Reinen und zufrieden. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Parasympathikus ist die Basis unseres menschlichen Wohlbefindens. Es ist das Gefühl, am Strand ein Nickerchen zu machen, sich in kontemplativer Stille zu entspannen oder nach dem Liebesakt einzuschlafen.
Es wird jedoch kompliziert, wenn entweder der Sympathikus oder der Parasympathikus als Reaktion auf eine vermeintliche Gefahr oder Lebensbedrohung überaktiviert werden. Eine plötzliche Überaktivierung des Sympathikus kann Sie zu Wut oder Angst, Furcht und Panik anstacheln. Eine plötzliche Überaktivierung des Parasympathikus kann dazu führen, dass Sie sich innerlich taub fühlen, abschalten, sich zurückziehen oder dissoziieren. Ein solch übermäßiges Anstacheln oder Abschalten kann die Funktionsweise des höheren Gehirns komplett, zumindest zeitweise, aus der Bahn werfen. In dem Moment reagieren Sie nur noch aus Ihren automatischen Überlebensreaktionen und aus dem konditionierten Lernen heraus, das im frühen Kindesalter in die neuronalen Schaltkreise Ihres Gehirns codiert wurde. Dieses neurobiologische Reagieren ist unmittelbar und es ist dominant.
In diesem Kapitel stelle ich Ihnen Übungen zum Atem, zur Berührung, zur Bewegung und zur Visualisierung vor. Sie dienen der Stärkung Ihrer somatischen Intelligenz und sollen Ihnen helfen, die vom Nervensystem an Ihr Gehirn gesendeten Signale zu erkennen, zu interpretieren und zu verwalten. Sie kehren wieder zu Ihrem physiologischen Grundzustand des Wohlbefindens zurück – zu Ihrer Resilienzbandbreite, Ihrem Toleranzfenster, Ihrem Gleichmut. Sie sind wieder ruhig und entspannt, beteiligt und wachsam, Sie meistern die Situation, Sie reiten die Wellen. In diesem Gleichgewichtszustand verfügen Sie über die Reaktionsflexibilität, die Sie benötigen, um die Signale zu interpretieren, die die Stressoren in Ihrem Umfeld aussenden (oder auch Ihre eigenen inneren Botschaften über diese Stressoren oder über Sie selbst in Bezug zu ihnen). So machen Sie Alternativen aus und reagieren danach mit Resilienz und Klugheit.
Anders als unsere Vorfahren, die sich mit akuten Gefahren ihrer physischen körperlichen Sicherheit beschäftigen mussten, ist der moderne Mensch eher einer chronischen Gefährdung seiner psychischen Sicherheit und seines psychischen Wohlbefindens ausgesetzt. Mithilfe dieser Übungen lernen Sie auch, Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System (Social Engagement System) im Gehirn (ebenfalls unbewusst) zu stärken und Ihr Nervensystem besonders als Reaktion auf diese Gefährdung zu regulieren.
Im »Ein« oder »Aus« feststecken
Eine Reihe von Stressoren sorgt dafür, dass das sympathische Nervensystem im »Ein« stecken bleibt. Dazu gehören unermüdlicher Arbeitsdruck; ständige Beschwerden und Kritik von Menschen, an denen Sie einen Teil Ihres Selbstwerts ausmachen wie Ihr Partner oder Ihre Partnerin oder Ihre Kinder; das Nichterreichen gesteckter Ziele im Vergleich zu anderen oder zu Ihren eigenen Erwartungen. Die Erregung ist zu groß, Sie halten nicht inne, man lässt Sie einfach nicht; Sie sind ständig unruhig, auf der Hut und gestresst und nicht in der Lage, das Gefühl der Sicherheit und Ruhe wiederzuerlangen, das unerlässlich für Ihr Wohlbefinden ist.
Andere Umstände lassen das parasympathische Nervensystem im »Aus« feststecken. Dazu zählen unermüdliche Langeweile auf der Arbeit, zu viele Verluste oder Verbindungsabbrüche in zu kurzer Zeit, zu viel Scham und Schuld, Kritik und Zurückweisung – oder Erfahrungen, die Sie als solche wahrnehmen. Statt sich der Situation zu stellen und sie anzugehen, kollabieren Sie in einem Zustand der erlernten Hilfslosigkeit oder Depression, Sie sind nicht mehr in der Lage, die Energie oder Motivation aufzubringen, es zu versuchen und wieder zu versuchen. Eine derartige Reaktion gehört zu unserem neurobiologischen Erbe aus Millionen von Jahren, in denen unsere Vorfahren sich tot stellten, um nicht von Löwen aufgefressen zu werden, und aus Hunderttausenden von Jahren der Evolution in sozialen Gruppen, in denen man Konflikten aus dem Weg ging oder andere beschwichtigte, damit man nicht aus dem Stamm verbannt wurde.
Vor nur zwanzig Jahren entdeckte der Neurophysiologe Stephen Porges einen dritten Zweig des vegetativen Nervensystems: die Bauch-Vagus-Leitungsbahn, die er als sozialen Vagus bezeichnet.29 Der soziale Vagus ist eine neuronale Leitungsbahn, die Körper und Hirnstamm miteinander und danach mit den Nerven im Nacken, im Hals, in den Augen und Ohren verbindet. Diese Leitungsbahn der Kommunikation zwischen Gesicht und Herz erzeugt eine unbewusste Neurozeption von Sicherheit dann, wenn Sie sich inmitten anderer sicher fühlen. Menschen sind soziale Wesen. Sie werden in Familien hineingeboren und wachsen in Großfamilien, unter Verwandten und in Gemeinschaften auf. Das Gehirn hat sich so entwickelt, dass es automatisch nach Kontakt und Verbindung zu anderen zur Beruhigung sucht, wenn sein eigenes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens unterbrochen wird. Das auf soziale Kontakte ausgerichtete System kann, selbst unbewusst, Signale wahrnehmen wie »Es ist in Ordnung«, »falscher Alarm«, »Dir geht es gut« oder »Du bist sicher«. Das ist die neurobiologische Grundlage sicherer Bindung und eines inneren Gefühls der Sicherheit und Ruhe. Es ist ebenfalls das neuronale Fundament, das es uns ermöglicht, dann Risiken einzugehen, wenn sie nötig sind.
Deb Dana, die Kollegin von Stephen Porges, sagt in A Beginner s Guide to Polyvagal Theory:
»In diesem [ventralen Vagus-] Zustand ist der Herzschlag reguliert, unser Atem voll, wir nehmen die Gesichter unserer Freunde wahr, wir können uns in Gespräche einstimmen und ablenkende Geräusche abschalten. Wir sehen das »große Ganze« und stellen eine Verbindung zur Welt und den Menschen in ihr her. [Sie können sich selbst erleben] als glücklich, aktiv, interessiert und die Welt als sicher, voller Freude und friedlich. Dieser Zustand beinhaltet, dass Sie Pläne machen und diese ausführen, dass Sie auf sich selber achten und sich Zeit fürs Spielen und für Aktivitäten mit anderen nehmen, dass Sie sich produktiv auf der Arbeit fühlen und das generelle Gefühl von Regulierung und Kontrolle haben. Wir haben die Fähigkeit, Störungen anzuerkennen und Alternativen zu erkunden, um Hilfe zu bitten und geordnete Reaktionen zu haben.«30
Auf Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System zurückzugreifen, um ein inneres Gefühl von Sicherheit zu erzeugen, bedeutet nicht unbedingt, dass die Umstände selber sicher sind. Das Risiko, dass Ihr Haus zwangsversteigert wird, oder dass Sie sich einen Hexenschuss beim Schuhe-Zubinden holen, gibt es immer noch, und Sie müssen Resilienz beweisen, um mit solchen Gefährdungen fertigzuwerden, trotzdem gibt es die innere Neurozeption von Ruhe und Gleichgewicht.
Ist die Bauch-Vagus-Leitungsbahn vollständig ausgereift und funktioniert zuverlässig, dann fungiert sie als »Bremse« und reguliert die Aktivierung des sympathischen und des parasympathischen Nervensystems und verhindert so, dass Sie sich hoch in eine Panik schrauben oder hinab in den Treibsand von Rückzug geraten. Ihr Körper reagiert zwar, aber Ihr Gehirn kann das Gefühl von Ausgeglichenheit aufrechterhalten und sich recht schnell von diesem Ungleichgewicht erholen. Sie vertrauen sich selber genug, um sich zu sagen: »Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Ich kann lernen, jetzt damit umzugehen.« Sie vertrauen darauf, dass Ihre Mitmenschen Ihre Ressourcen sind: Sie kehren in einen Ruhezustand zurück, weil Ihre Mitmenschen ruhig sind. Sie vertrauen darauf, die Situation zu meistern, weil diese auf Ihre Fähigkeiten vertrauen, die Situation zu meistern.
Die Übungen in diesem Kapitel sind so angelegt, dass Sie die vielen Werkzeuge Ihrer körperbasierten somatischen Intelligenz, die Atem, Berührung, Bewegung, Visualisierung und soziale Kontakte beinhalten, anwenden lernen, um zu Ihrem natürlichen physiologischen Gleichgewicht zurückzukehren. Selbst angesichts vieler Herausforderungen, Turbulenzen, Verluste und Traumata, wenn es unmöglich scheint, auch nur einen kurzen Augenblick des Gleichmuts zu finden, können diese Werkzeuge Ihnen helfen, zu Ihrem Resilienzbereich zurückzukehren und die Neuroplastizität Ihres Gehirns auf Lernen und Bewältigen vorzubereiten. Hier ist ein Beispiel einer solchen Rückkehr zum inneren Gleichgewicht:
An einem Freitagnachmittag holte ich mein fünfjähriges Patenkind Emma von der Schule ab. Ich trug sie auf dem Arm zum Auto, stolperte dabei aber über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig. Ich fing mich wieder und fiel nicht hin. Weder Emma noch ich nahmen Schaden. Weiter ging’s, wie immer. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Yogalehrerin Ada davon und sie meinte: »Siehst du, Yoga ist nicht nur für die Fitness. Yoga ist für’s Leben.«
Und genau das ist der Punkt aller dieser Übungen. Resilienztraining bedeutet nicht ein Satz an Fertigkeiten, sondern es schafft Gewohnheiten für das ganze Leben. Sie mögen stolpern, aber sich selber vor dem Hinfallen bewahren. Und sollten Sie doch hinfallen, dann können Sie wieder aufstehen. Und sollten Sie hinfallen und sich etwas brechen und deswegen eine Zeit lang – oder überhaupt nicht mehr – wieder aufstehen können, dann können Sie die Energie, die Fertigkeiten und die Ressourcen aufbringen, um Ihr Wohlbefinden wieder zu erlangen.
Neue Konditionierung
Diese Übungen unterstützen Sie darin, Herausforderungen mit mehr Resilienz und Flexibilität zu begegnen. Auch dann, wenn alles aus den Fugen gerät, werden Sie in der Lage sein, bewusst neue Entscheidungspunkte im Gehirn zu schaffen, mit deren Hilfe Sie Ihre Reaktionen flexibler gestalten.
Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht
Diese Werkzeuge stärken die bestehenden neuronalen Leitungsbahnen, welche einen stabilen Resilienzbereich aufrechterhalten, in dem Sie nicht allzu sehr aus der Balance geraten. Sie können es vermeiden, durch eine unerwartete oder unliebsame Situation Ihr Gleichgewicht zu verlieren, oder aber Ihr Gleichgewicht schnell wiedererlangen und zu Ihrer natürlichen Basis des Gleichmuts zurückkehren. Es fällt Ihnen leichter, die Ruhe zu bewahren und weiterzumachen. Eines der grundlegenden Werkzeuge ist die Aufmerksamkeit auf den Atem.
Langsames Atmen erhöht die Aktivierung des Vagus und den parasympathischen Tonus und führt damit zu einem besseren physischen und psychologischen Wohlbefinden. Langsames, tiefes Atmen kann wirksam Angst verhindern. Langsames und tiefes Atmen in Augenblicken der Angst bringt den Bauch-Vagus in einen Zustand der Kontrolle zurück, und so wie sich unser automatischer Zustand ändert, so kann sich auch unsere Geschichte ändern.
DEB DANA, RHYTHMS OF REGULATION
Sie atmen ständig. Zu atmen bedeutet zu leben. Jedes Einatmen aktiviert den Sympathikus Ihres Nervensystems ein wenig (oder sehr, wenn Sie auf etwas überreagieren oder hyperventilieren). Jedes Ausatmen aktiviert den Parasympathikus ein wenig (oder sehr, wenn Sie panische Angst haben und in Ohnmacht zu fallen drohen). Sie können lernen, diesen Rhythmus des Ein- und Ausatmens (längere Ausatmung) dazu zu benutzen, mehr Ruhe im Körper zu kultivieren und auf ein tieferes Gefühl des Wohlbefindens zuzugreifen.
ÜBUNG 2–1: MINI-ATEM-MEDITATION31
1. Atmen Sie bitte fünf bis zehn Atemzüge ganz natürlich und ruhig. Achten Sie dabei auf die Empfindungen des Einatmens (bemerken Sie die kühle Luft in den Nasenlöchern und im Hals und die sanfte Ausdehnung von Bauch und Brustkorb) und des Ausatmens (bemerken Sie die ausströmende wärmere Luft und die Entspannung von Bauch und Brustkorb). Und denken Sie an die praktische und enorm effiziente Formel »wenig und oft«. Halten Sie inne und wiederholen Sie die Übung dann mehrmals am Tag.
2. Wenn Sie möchten, können Sie folgende Sätze des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh still beim Atmen aufsagen: »Einatmen, ich bin zu Hause. Ausatmen, ich lächele.«
3. Stellen Sie sich beim Einatmen »nach Hause kommen« vor und sagen dabei »Ich bin hier. Ich bin zu Hause«. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, wie Sie eine sichere Verbindung zu der äußeren Welt herstellen und in einen Zustand der Leichtigkeit und Harmonie mit anderen kommen. Stellen Sie sich vor, in das Wort Ich einzuatmen und in das Wort Wir auszuatmen. Wiederholen Sie diesen Rhythmus eine Minute lang.
4. Diese Übung dient dazu, sich in ein beruhigendes Gefühl des Wohlbefindens und der Verbindung hinein zu entspannen und die Leichtigkeit beziehungsweise Ruhe in Körper und Geist zu vertiefen. Vielleicht bemerken Sie sogar ein Gefühl der Sicherheit in dem Augenblick: »Nichts wird in diesem Augenblick passieren, das mein Gefühl des Wohlbefindens zunichtemacht.« Lassen Sie sich in diese Leichtigkeit und Sicherheit fallen, auch wenn es nur diesen einen Augenblick lang ist.
ÜBUNG 2–2: LIEBEVOLLES ATMEN32
In dieser Übung benutzen Sie das gütige Gewahrsein Ihres Atems, um das Gefühl von Sicherheit und Ruhe in Körper und Geist zu stärken.
5. Nehmen Sie eine bequeme Haltung ein, in der Sie Ihren Körper zwar stützen, sich aber nicht anstrengen müssen, um in dieser Haltung zu verweilen. Schließen Sie die Augen, wenn Sie möchten, oder lassen Sie Ihren Blick weich werden. Kommen Sie in ein Gefühl der Gegenwärtigkeit und entspannen Sie sich in Ihrem Körper. Atmen Sie mehrmals langsam ein und wieder aus, um unnötige Anspannung loszulassen.
6. Richten Sie Ihr Gewahrsein auf den Atem. Bemerken Sie, wo Sie den Atem am ehesten spüren – vielleicht an den Nasenlöchern, im Hals oder im sich hebenden und wieder senkenden Bauch. Erlauben Sie sich, die einfachen Empfindungen beim Atmen zu bemerken. Fühlen Sie einfach nur Ihren Atem eine Zeit lang.
7. Können Sie sich mit Offenheit, Neugier und Fürsorge auf sich selber und auf Ihren Atem einstellen? Wenn Sie dabei Unbehagen in Körper und Geist spüren, versuchen Sie einfach, mit diesem Unbehagen zu sein, lassen Sie sich auf das Unbehagen ein, akzeptieren Sie, dass es in diesem Moment so ist. Begegnen Sie sich selber mit Güte.
8. Stellen Sie einfach fest, dass Sie sich nicht ans Atmen erinnern müssen. Ihr Körper atmet für Sie. Ihr Körper atmet Sie.
9. Versuchen Sie, Ihren ganzen Körper beim Atmen zu fühlen. Bemerken Sie, wie Ihr Atem sich im ganzen Körper ausbreitet und jede Zelle mit Sauerstoff versorgt.
10. Geben Sie sich dem Atem hin. Werden Sie Ihr Atem. Ruhen Sie eine oder zwei Minuten lang in der Leichtigkeit dieses Augenblicks.
11. Erlauben Sie sich einen Moment der Wertschätzung und Dankbarkeit für diesen Atem, der Sie jeden Moment am Leben erhält.
12. Lassen Sie dann Ihr Gewahrsein vom Atem los. Erlauben Sie allem, was in Ihr Gewahrsein tritt, für den Moment einfach nur so zu sein, wie es ist. Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie wieder die Augen.
Diese Übung hilft dabei, Ihre eigenen Intentionen und klugen Bemühungen anzuerkennen, ein authentisches Gefühl der Leichtigkeit und des Gleichgewichts zu erzeugen. Machen Sie sich klar, dass Sie ein Werkzeug lernen, mit dessen Hilfe Sie das Hoch- und das Herunterfahren Ihres Nervensystems zuverlässig regulieren können.
Ein sanftes Ausrichten auf die Körperlichkeit Ihres Körpers kann Ihr Gewahrsein in der Sicherheit des gegenwärtigen Moments erden. Das Gewahrsein subtiler Bewegungen im Körper weckt Ihr Gehirn auf und bereitet dessen Neuroplastizität auf Neugier und Lernen vor.
ÜBUNG 2–3: SICH AUF DIE FUSSSOHLEN FOKUSSIEREN33
1. Stehen Sie bitte auf und fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen im Kontakt mit dem Boden. (Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, wenn Sie mögen.) Bemerken Sie die Empfindungen in Ihren Füßen, wie sie den Boden berühren.
2. Wippen Sie vor und zurück und von einer Seite zur anderen. Bemerken Sie jede Veränderung in Ihrer Empfindung. Malen Sie mit Ihren Knien Kreise und fühlen Sie die Veränderungen der Empfindungen in den Fußsohlen.
3. Wandert Ihr Geist, dann richten Sie einfach wieder Ihre Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen.
4. Heben Sie einen Fuß an und setzen ihn wieder ab. Heben Sie nun den anderen Fuß und setzen ihn wieder ab. Bemerken Sie, wie sich die Empfindungen in den Füßen beim Anheben und Absetzen verändern. Bemerken Sie dabei jede Veränderung im ganzen Körper.
5. Beginnen Sie, langsam zu gehen, Schritt für Schritt, und bemerken Sie dabei jede Veränderung in den Fußsohlen. Achten Sie auf die Empfindung beim Anheben des Fußes, beim Schritt nach vorn und dann beim Absetzen des Fußes. Gehen Sie eine halbe bis eine Minute (oder länger, wenn Sie mögen).
6. Halten Sie an und stehen Sie still. Bemerken Sie nun die Empfindungen in den Füßen und im Körper.
7. Erkennen Sie an, dass die kleine Oberfläche der Füße Ihren ganzen Körper stützt. Vielleicht erlauben Sie sich einen Moment der Wertschätzung und der Dankbarkeit für diese großartige Leistung Ihrer Füße, die Sie durch Ihr gesamtes Leben hindurch tragen, Tag für Tag.
8. Sie können diese Übung an der Kasse im Supermarkt machen (Sie müssen bei Punkt 5 Kreativität beweisen) oder anderswo, um in dieses Gefühl der Gegenwärtigkeit, Ruhe und Sicherheit in dem jeweiligen Moment zu kommen. Selbst die subtilen Bewegungen dieser Übung werden Ihr Nervensystem neu starten.
Ebene 2: Pannen und Kummer, Unruhen und Stürme
Wir geraten jeden Tag ein wenig aus dem Gleichgewicht. Selbst mit einer inneren sicheren Basis können Unruhen und Schwierigkeiten, eine kleine Krise oder eine große Katastrophe dafür sorgen, dass wir den Halt verlieren und unsere Resilienz zeitweise oder manchmal auch länger entgleist.
Die nachfolgenden körperbasierten Übungen stärken das auf soziale Kontakte ausgerichtete System, welches unser Nervensystem beruhigt. »Dir geht es gut. Es ist in Ordnung. Alles wird gut«, auch dann, wenn die Dinge gar nicht gut aussehen. Diese Übungen unterstützen Sie darin, Ihre Resilienz wiederzuerlangen und die Ressourcen zu finden, es noch einmal zu versuchen.
Laut Dacher Keltner, Gründer des Greater Good Science Center an der University of California in Berkeley, ist eine warmherzige, sichere Berührung der schnellste Weg, im Nervensystem Leichtigkeit und Ruhe wiederherzustellen.34 Berührung ist die »ursprüngliche Sprache des Mitgefühls, der Liebe und Dankbarkeit, das zentrale Medium, in dem das Gute eines Menschen auf einen anderen Menschen übergehen kann«. Warmherzige, sichere Berührungen aktivieren die Ausschüttung von Oxytocin, dem Hormon der Sicherheit und des Vertrauens, dem direkten und sofortigen Gegenmittel Ihres Gehirns für das Stresshormon Cortisol.
ÜBUNG 2–4: UMARMUNGEN
Eine warmherzige Umarmung mag für Sie keine neue Übung sein, aber manchmal vergessen wir, wie nachhaltig sie unsere angespannten Nerven beruhigt.
1. Identifizieren Sie Menschen oder Tiere in Ihrem Leben, die Sie gerne umarmen oder um eine Umarmung bitten können. (Ich habe mir den Hund meiner Nachbarin für diese Zwecke mehr als einmal ausgeliehen.)
2. Umarmen Sie diesen Menschen oder dieses Tier mit Ihrem ganzen Körper zwanzig Sekunden lang. Zwanzig Sekunden (ungefähr drei Atemzüge) reichen, um Oxytocin in beiden Umarmenden auszuschütten, wenn es ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens gibt. Es schafft für beide einen sich selbst verstärkenden Kreislauf der Bindung und der Zugehörigkeit.
3. Wiederholen, wiederholen und nochmals wiederholen – mit so vielen verschiedenen Mitmenschen und Tieren, die Sie gerne umarmen, und so oft Sie sich daran erinnern.
Umarmungen sind eine »Wenig-und-oft«-Übung par excellence für Ihr Nervensystem. Mit jeder Umarmung werden Sie entspannter und offener und Sie bleiben entspannter und offener, während Sie Ihrem Tag nachgehen. Sie stärken die neuronalen Leitungsbahnen Ihres auf soziale Kontakte ausgerichteten Systems auf die bestmögliche Weise.
Nervenzellen sind Teil der Struktur Ihres Herzens. Warmherzige, sichere Berührungen aktivieren diese Neuronen. Ihr Körper spürt die beruhigende Energie Ihres auf soziale Kontakte ausgerichteten Systems.
ÜBUNG 2–5: DAS HERZZENTRUM ANKURBELN
1. Bitten Sie jemanden, in deren Nähe Sie sich sicher fühlen, neben Ihnen zu sitzen.
2. Legen Sie die Hand auf Ihr Herz. Bitten Sie die andere, ihre Hand gleichzeitig sanft auf Ihren mittleren Rücken zu legen, in der gleichen Höhe wie Ihre eigene Hand. Sie können die Energieverlagerung dieser Übung auch erleben, indem Sie sich das Gefühl der Verbindung zu einem anderen Menschen ins Gedächtnis rufen, während Sie sich an ein Kissen lehnen und auf einer festen Couch oder einem Stuhl sitzen.
3. Atmen Sie ruhig ein und aus. Spüren Sie die sichere Energie in der Mitte Ihres Rumpfes. Entspannen Sie sich in diese Leichtigkeit und Geborgenheit eines aktiven auf soziale Kontakte ausgerichteten Systems.
4. Nach ein oder zwei Minuten können Sie sich mit Ihrem Übungspartner abwechseln, wenn Sie möchten.
Das auf soziale Kontakte ausgerichtete System ist nonverbal. Eine warmherzige, sichere Berührung vermittelt Sicherheit und führt das Nervensystem zurück zur Ruhe, auch ohne Worte.
ÜBUNG 2–6: HAND AUFS HERZ
Dieses Werkzeug ist so wirksam, dass eine Panikattacke in weniger als einer Minute beruhigt werden kann.
1. Legen Sie Ihre Hand aufs Herz. Atmen Sie ruhig, langsam und tief in diesen Herzbereich hinein. Wenn Sie möchten, dann können Sie ein Gefühl der Leichtigkeit und Sicherheit oder der Güte in dieses Herzzentrum hineinatmen.
2. Erinnern Sie sich an einen einzigen Moment, in dem Sie sich sicher und von einem anderen Menschen geliebt und geschätzt fühlten. Versuchen Sie nicht, sich an die ganze Beziehung zu erinnern, denken Sie nur an einen einzigen Moment. Das kann eine Partnerin oder ein Partner, ein Kind, ein Freund oder eine Freundin, ein Therapeut oder eine Lehrerin oder eine spirituelle Persönlichkeit sein. (Sich an einen liebevollen Moment mit einem Tier zu erinnern funktioniert ebenfalls.)
3. Während Sie sich diesen Moment der Sicherheit, Liebe und Wertschätzung ins Gedächtnis rufen, erlauben Sie sich, die damit verbundenen Gefühle zu erleben. Lassen Sie Ihren Körper von den Empfindungen dieses Moments überschwemmen. Verweilen Sie mit diesen Gefühlen zwanzig oder dreißig Sekunden. Bemerken Sie, ob sich Leichtigkeit und Sicherheit instinktiv vertiefen.
4. Wiederholen Sie diese Übung am Anfang mehrmals am Tag, um die neuronalen Schaltkreise dieses Erinnerungsmusters zu stärken. Danach können Sie sie jederzeit wiederholen, wenn Sie diese Übung benötigen.
Sich an einen Moment zu erinnern, an dem Sie sich sicher und von einem anderen Menschen oder einem Haustier geliebt und geschätzt fühlten, aktiviert das soziale Vagus-System und versichert Ihnen, dass Sie in der Tat sicher sind, dass Sie dazugehören und dass Sie willkommen sind. Ihr Blutdruck sinkt und Ihre Herzfrequenz stabilisiert sich. Sie kehren zu dem Gefühl der Sicherheit zurück, das aus dem Gefühl von Verbindung und Zugehörigkeit zu sicheren anderen Menschen erwächst, auch dann, wenn Sie alleine sind.
Sie können diese Bindung und Zugehörigkeit, dieses Gefühl der »Ruhe und Verbindung«, selbstverständlich auch dann erleben, wenn Sie sich in Gesellschaft anderer Menschen befinden, denen Sie vertrauen und in deren Nähe Sie sich sicher fühlen. Sie aktivieren ebenfalls die Ausschüttung von Oxytocin immer dann, wenn Sie sich an solche Momente erinnern oder sie sich einfach nur vorstellen. Ich empfehle, diese Übung immer dann zu machen, wenn Sie die ersten Anzeichen von Unruhe und Verunsicherung bemerken. Mit mehr Übung werden Sie aus einer schwierigen emotionalen Reaktion heraustreten können, bevor diese Sie vollständig einnimmt. Üben Sie sie mindestens fünfmal pro Tag eine ganze Woche lang, um Ihr Gehirn darin zu trainieren, auf diese neue Art zu reagieren. Sie ist, wenn Sie so wollen, mobiles Gleichgewicht.
ÜBUNG 2–7: EINEN MOMENT DER VERBINDUNG GENIESSEN35
Anmerkung: Diese Übung funktioniert auch inmitten von überwältigenden Problemen oder Tragödien sehr gut.
1. Bitten Sie eine gute Freundin (oder eine Therapeutin Ihres Vertrauens), bei dieser Übung zu assistieren. Setzen Sie sich in angenehmer körperlicher Nähe einander gegenüber. Lächeln Sie sich offen und freundlich an und halten Sie dabei Blickkontakt.
2. Spüren Sie in sich Sorge um das Wohlergehen der anderen und Fürsorge für sie und zeigen Sie das in Ihrem Gesicht. Lassen Sie sich selber spüren, dass dem Gegenüber Ihr Wohlbefinden auch wichtig ist. Nehmen Sie dessen Fürsorge in seinem Gesicht wahr.
3. Genießen Sie das Gefühl der Entspannung in der Verbindung zueinander. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit 30 Sekunden lang auf diese Erfahrung und lassen Sie die Gefühle tiefer werden. Spüren Sie die gefühlte Wahrnehmung dieser Entspannung im Körper.
Verbindung zu genießen ist eine neuronale Übung, die die Leitungsbahn des Bauch-Vagus nutzt, welche eine Ressource von Sicherheit und damit Resilienz in Ihrem Gehirn produziert. Der Vorgang des Genießens gibt Ihrem Gehirn die Zeit, die es braucht, um eine positive Erfahrung in positive Gefühle umzuwandeln.
Ebene 3: Zu viel
Manchmal trifft uns das Leben hart. »Falle sieben Mal hin, stehe acht Mal auf.« So lautet ein inspirierendes japanisches Sprichwort. Aber es ist nicht immer einfach, von einem Trauma oder mehreren Traumata oder einem ganzen Leben voller Traumata wieder auf die Beine zu kommen. Hat man Sie über Bord geworfen und Sie benötigen Hilfe, um wieder ins Boot zu klettern, dann ist es besonders wichtig, Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System zu stärken und zu nutzen, um Zuflucht und Ressourcen in sicheren Verbindungen mit anderen Menschen zu finden.
ÜBUNG 2–8: GLEICHMUT FÜR ZWEI36
Jeder Atemzyklus trainiert sanft den Regulierungsrhythmus Ihres sozialen Vagus. Das Einatmen aktiviert den Sympathikus und fördert soziale Kontakte und Verbindung. Das Ausatmen aktiviert den Parasympathikus und ruft ein Gefühl des Wohlbefindens hervor. In dieser Übung synchronisieren Sie Ihren Atem mit dem Ihres Gegenübers, um der Übung Verbundensein hinzuzufügen.
1. Ihre Übungspartnerin liegt mit geschlossenen Augen bequem auf dem Boden. Sie sitzen in bequemer Haltung daneben. Kommen Sie in ein Gefühl, mit diesem Menschen im Hier und Jetzt gegenwärtig zu sein.
2. Legen Sie eine Hand auf die Hand oder den Unterarm Ihrer Übungspartnerin und die andere auf deren Scheitel. Ihre Partnerin atmet langsam und tief.
3. Beginnen Sie damit, Ihren Atem mit ihrem Atem zu synchronisieren. Atmen Sie einfach zwei oder drei Minuten lang gemeinsam und achten dabei darauf, wie die Lebenskraft des Atems in Ihren Körper und den Ihrer Übungspartnerin ein- und wieder aus ihm austritt.
4. Nach zwei bis drei Minuten tauschen Sie die Rollen.
Durch Wiederholung dieser Übung stärken Sie Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System. Sie erreichen leichter ein gemeinsames Gleichgewicht: Gleichmut für zwei.
Sie gewinnen an Stabilität und Stärke, wenn Sie Ihr Verwandtsein mit den Menschen anerkennen, die in demselben Boot wie Sie sitzen – oder die aus demselben Boot wie Sie über Bord geworfen wurden. Sie werden sich der gemeinsamen Humanität Ihrer Situation bewusst. »Ich bin nicht die Einzige. Ich bin nicht alleine.«
ÜBUNG 2–9: EINER SELBSTHILFEGRUPPE BEITRETEN ODER EINE SOLCHE SELBER GRÜNDEN
1. Suchen Sie sich eine Selbsthilfegruppe in Ihrem Umkreis für Menschen, die das gleiche Trauma oder ein ähnliches Trauma wie Sie erlebt haben: eine Selbsthilfegruppe für Krebspatienten, für Angehörige von Alzheimererkrankten oder für Eltern, die ein Kind durch Gewalt, Krankheit oder eine Naturkatastrophe verloren haben. Sie erhalten Unterstützung, Ermutigung und lernen Vorbilder kennen, die wissen, was Sie gerade durchmachen, ohne dass Sie irgendetwas sagen, rechtfertigen oder erklären müssten. Dies sind Menschen, die, mit den Worten von Brené Brown, »das Recht verdient [haben], Ihre Geschichte zu hören«. In der Gemeinschaft mit sicheren anderen zu sein stärkt den sozialen Vagus einer jeden. Sie helfen einander, Ihre Emotionen zu regulieren, gerade, indem Sie sich gegenseitig unterstützen.
2. Gibt es eine solche Selbsthilfegruppe nicht, dann gründen Sie eventuell eine. Die 84-jährige Mutter einer Freundin von mir zog in ein Altersheim, nachdem ihr Mann nach 62 gemeinsamen Jahren verstorben war. Sie gründete dort eine Selbsthilfegruppe für kürzlich Verwitwete in ähnlicher Situation. Geschichten zu teilen und Hilfe anzubieten machten einen ansonsten schmerzlichen Übergang leichter.
3. Jahrzehnte an Studien in der Verhaltensforschung bestätigen den Nutzen von Selbsthilfegruppen. Aber den Kontakt zu vielen Menschen zu suchen ist eine großräumigere Erfahrung neuer Konditionierung. Wenden Sie auch hier das Prinzip des Wenig und Oft an. Fragen Sie Freunde, ob sie eine geeignete Gruppe empfehlen können. Gehen Sie zu einem Treffen, um zu sehen, ob diese Erfahrung für Sie hilfreich ist. Vielleicht lassen Sie sich beim ersten Mal von einer Freundin begleiten. Ist die Gruppe das Richtige für Sie, dann gehen Sie bitte weiter hin. Wenn nicht, dann versuchen Sie bitte, Ihre Erfahrungen nur mit einer anderen Person zu teilen.
Rekonditionierung
Jedes Mal, wenn Sie Ihren Körper bewegen und Ihre Haltung ändern, ändern Sie Ihre Physiologie. Jedes Mal, wenn Sie Ihre Physiologie ändern, ändern Sie die Aktivität und den Zustand Ihres vegetativen Nervensystems. Sie können diese Veränderung selber erleben:37 Legen Sie einen Bleistift zwischen Nase und Oberlippe (dazu müssen Sie mithilfe Ihrer Gesichtsmuskeln die Stirn runzeln). Legen Sie ihn dann zwischen Ihre Zähne (dazu müssen Sie mithilfe Ihrer Gesichtsmuskeln lächeln). Bemerken Sie, wie sich das forcierte Stirnrunzeln und das forcierte Lächeln anfühlen, und den Unterschied zwischen beiden. Mit etwas Übung können Sie den Wechsel in Ihrem inneren Zustand durch die Veränderung Ihrer Physiologie bemerken. (Danke sehr, Dan Siegel, für diese Übung!) Sie können diese Art von Rekonditionierung – die Gegenüberstellung von negativen und positiven körperlichen Bewegungen – anwenden, um zum physiologischen Fundament Ihrer Resilienz zurückzukehren. Und während dieses Prozesses verdrahten Sie vielleicht sogar die Erfahrungen Ihrer physischen Zustände neu.
Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht
Die nachfolgenden Übungen sind einfache Werkzeuge mit großer Wirkung. Üben Sie wenig und oft, um neue Leitungsbahnen in Ihrem Gehirn zu erzeugen.
ÜBUNG 2–10: EINEN MOMENT DER ENTSPANNUNG GENIESSEN38
Lassen Sie Ihren Körper seufzen: Atmen Sie tief aus und lassen Sie dabei die Anspannung in Ihrem Körper los. Ein tiefer Seufzer (oder mehrere) ist die natürliche Art des Körpers, sein Nervensystem zurückzusetzen. Üben Sie, indem Sie auf jeden Moment der Anspannung, auch beängstigende Momente, mit einem bewussten Seufzen reagieren, um Ihre Physiologie in einen entspannteren Zustand zu versetzen.
Die Kopplung von angespannten und entspannten Zuständen dann, wenn der entspannte Zustand stärker ist, stärkt den »Muskel« Ihrer Vagus-Bremse und ermöglicht selbst in angespannten Momenten mehr Ruhe.
ÜBUNG 2–11: PROGRESSIVE MUSKELENTSPANNUNG39
Da wir nicht gleichzeitig das sympathische und das parasympathische Nervensystem aktivieren können, kann unser Körper nicht gleichzeitig angespannt und entspannt sein. Die progressive Muskelentspannung aktiviert den Parasympathikus und dient der schrittweisen Entspannung des gesamten Körpers. Die nachfolgende Anleitung funktioniert von den Füßen zum Kopf. Sie können sie aber auch andersherum machen. Die gesamte Übung dauert circa sieben bis zehn Minuten und kann im Liegen oder Sitzen gemacht werden.
1. Fangen Sie an, indem Sie die Zehen des rechten Fußes krümmen. Halten Sie diese Anspannung und zählen Sie bis sieben. Lösen Sie dann die Anspannung und strecken die Zehen. Zählen Sie bis fünfzehn. Krümmen Sie danach das rechte Fußgewölbe, als wollten Sie Ihren Fuß vom Körper weg strecken. Halten Sie diese Anspannung und zählen Sie bis sieben. Entspannen Sie den Fuß wieder und zählen Sie bis fünfzehn. Beugen Sie den Fuß und ziehen Sie die Zehen zum Schienbein hin. Halten Sie diese Anspannung und zählen Sie bis sieben. Entspannen Sie den Fuß und zählen Sie bis fünfzehn.
2. Beim Anspannen bis sieben und beim Entspannen bis fünfzehn zu zählen stellt sicher, dass Sie sich länger entspannen als anspannen. Das gehört zum Rekonditionierungsprozess. Zählen hält Ihr Gehirn auch davon ab, in den Standardmodus von Sorge und Grübelei zu wandern. Wenn Sie beim Anspannen einatmen und beim Entspannen ausatmen, schalten Sie den Parasympathikus mehr als den Sympathikus ein und bringen so mehr Ruhe in Ihren Körper.
3. Fahren Sie damit fort, andere Körperbereiche anzuspannen und zu entspannen und beim Anspannen einzuatmen und bis sieben und beim Entspannen auszuatmen und bis fünfzehn zu zählen. Spannen Sie Ihre rechte Wade an und entspannen Sie sie, dann den rechten Oberschenkel, die rechte Hüfte und danach das rechte Gesäß. Spannen Sie nun Ihre linken Zehen an und entspannen Sie sie wieder, dann den linken Fuß, die linke Wade, den linken Oberschenkel und danach die linke Hüfte und das linke Gesäß. Spannen Sie Ihren Rumpf an und entspannen ihn wieder, dann den Hüftbereich, den Bauch und im Anschluss die Muskeln im Rippen- und im Wirbelsäulenbereich. Spannen Sie die Finger jeder Hand an und entspannen Sie sie wieder, dann die Handflächen, die Handgelenke, die Unterarme, die Ellbogen, die Oberarme, die Schultern und zuletzt den Nacken. Spannen Sie danach alle Gesichtsmuskeln an und entspannen Sie sie wieder – Kiefer, Hals, Lippen, Wangen, Ohren, Augen, Nase, Stirn.
4. Beenden Sie die Übung mit einem tiefen Seufzer. Verweilen Sie eine ganze Minute lang in diesem entspannten Zustand.
Probieren Sie diese Übung abends aus: Sie ist eine hervorragende Einschlafhilfe.
ÜBUNG 2–12: YOGA – KIND-HALTUNG
Eine der unter Yoga-Lehrerinnen beliebtesten Asanas oder Haltungen zur Entspannung oder Regeneration ist Balasana oder »Kind-Haltung«.Nach einer 45- oder 90-minütigen Yogastunde, in der die Praktizierende den Körper durch viele verschiedene Haltungen mit begleitenden Atemübungen geführt hat, darf sie sich ausruhen und all die körperliche Aktivität nun in einem entspannten, kohärenten Ruhezustand zusammenführen, der den Geist nährt und den Körper entspannt. Aber Sie können diese Haltung zur bewussten Entspannung von Körper und Geist auch dann einsetzen, wenn Sie nie Yoga praktizieren.
1. Stehen Sie auf einer Yogamatte, dem Teppich oder auf einer gepolsterten Unterlage.
2. Gehen Sie auf alle viere. Hände und Knie stützen Ihren Körper in einer »Tisch«-Position.
3. Lehnen Sie sich zurück. Strecken Sie das Gesäß zu den Füßen und senken Sie es auf die Fersen hinunter (oder auf ein zwischen Gesäß und Fersen gelegtes Kissen). Ihre Arme sind natürlich nach vorne ausgestreckt. Legen Sie die Stirn auf den Boden (oder auf ein Kissen).
4. Entspannen Sie sich und ruhen Sie in dieser Haltung zwei oder drei Minuten lang. Atmen Sie sanft ein und aus, richten Sie Ihren Geist auf die Leichtigkeit in Ihrem Körper aus.
5. Sie können die Kind-Haltung nach jeder Art der körperlichen Betätigung einnehmen (oder nach einem langen Tag). Die Entspannung im Körper zu erleben hilft Ihnen, sich in Ihrer natürlichen Resilienzbasis zu verankern.
Ebene 2: Pannen und Kummer, Unruhen und Stürme
Ihr Körper hat die natürliche Tendenz, sich bei Stress oder Katastrophen anzuspannen, und diese Anspannung trägt dann dazu bei, dass Ihr Gefühl des Wohlbefindens aus der Bahn gerät. Die folgenden Übungen stellen dieser Anspannung die äußerst wirksame Entspannung durch Eintauchen in die Natur gegenüber. Das verändert sowohl Ihren psychologischen als auch physischen Zustand.
ÜBUNG 2–13: FREUNDLICHER BODY-SCAN40
Diese Übung wurde ursprünglich als Kernübung des MBSR-Programms (Mindfulness-Based Stress Reduction oder Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit) konzipiert. Jon Kabat-Zinn entwickelte dieses Programm an der medizinischen Fakultät der University of Massachusetts in Amherst mit dem Ziel, dass Patientinnen und Patienten Stress und chronische Schmerzen besser bewältigen. Wenn möglich, machen Sie diese Übung bitte draußen oder mit Blick auf eine schöne Landschaft. Studien haben gezeigt, dass selbst zehn Minuten in der Natur oder zumindest mit Blick auf die Natur den Körper entspannen und die kognitiven Fähigkeiten verbessern.
1. Legen Sie sich in bequemer Haltung auf das Bett oder den Boden oder draußen auf eine Decke, Yogamatte oder ein Kissen. Fühlen Sie, wie Kopf, Schultern, Rücken, Hüften, Beinunterseiten und Fersen den Boden berühren. Erlauben Sie Ihrem Körper, sich zu entspannen und in den ihn unterstützenden Untergrund zu sinken. Atmen Sie ganz natürlich, sanft und tief.
2. Richten Sie Ihr Gewahrsein auf die Empfindungen in den Füßen. Begrüßen Sie den großen Zeh des rechten Fußes und achten Sie auf Schmerzen im Zeh und wünschen ihm dann Trost und Leichtigkeit. Begrüßen Sie alle Zehen des rechten Fußes, das Fußgewölbe und den Knöchel und die Ferse. Achten Sie dabei behutsam auf die Empfindungen in jedem Bereich des Fußes und atmen Sie Trost und Leichtigkeit in jeden Bereich hinein.
3. Machen Sie das Gleiche langsam mit dem linken Fuß und für jeden Bereich Ihres Körpers den Rumpf entlang aufwärts, die Hände und Arme und jeden Bereich Ihres Gesichts und Kopfes, bis zu den Ohren, Augen, Nase und allen schmerzempfindlichen Teilen Ihres Mundes, bis zu den Haaren auf dem Kopf und dem sensationellen Gehirn im Schädel, das es Ihnen möglich macht, in diesem Moment achtsam, mitfühlend und gefestigt zu sein.
4. Während Sie Ihren Körper so scannen, atmen Sie eine mitfühlende Fürsorge und Akzeptanz in jeden Bereich, der Trost und Leichtigkeit benötigt. Sie können entschleunigen, achtsam wahrnehmen, und mitfühlende Fürsorge in jedes Gelenk atmen, falls Sie an Arthritis leiden, oder in jede Narbe, die das Überbleibsel alter Sportverletzungen ist. Der Body-Scan dient dazu, jeden Teil des Körpers achtsam und mit Liebe zu bewohnen, sich jeder Körpererfahrung sicher bewusst zu werden.
5. Üben Sie sich darin, besonders achtsam und mitfühlend gegenüber Empfindungen im Bauch, Genitalbereich, Herzzentrum und im Hals und Kiefer zu sein, also in Bereichen, die unbewusste somatische Erinnerungen an Stress, Scham, Wut oder Angst festhalten. Atmen Sie jetzt mitfühlende Akzeptanz in diese Bereiche hinein, um sämtliche beunruhigenden Empfindungen oder Erinnerungen zu tragen. Begrüßen Sie sie! Hören Sie, wo die physischen und psychologischen Schmerzen sind, und schicken Sie Fürsorge und die Intention des Trostes und der Leichtigkeit zu jeder im Körper festgehaltenen beängstigenden Erinnerung.
6. Beenden Sie diese Übung, indem Sie sich des Energiefeldes Ihres Körpers als Ganzes bewusst werden – Ihr ganzer Körper atmet, in Gleichmut, lebendig, entspannt und resilient.
7. Mit dieser Übung bauen Sie ein größeres Gewahrsein und eine größere Akzeptanz für Ihren Körper auf. Später, wenn Sie anfangen, mit beunruhigenden somatischen Empfindungen oder Erinnerungen zu arbeiten, bildet der freundliche Body-Scan einen sicheren Rahmen für jegliche Gefühle und ermöglicht es, dass sich diese Gefühle auflösen und Sie sich durch sie hindurchbewegen können.
ÜBUNG 2–14: WALD-BAD41
Ich gehe in die Natur, um zur Ruhe zu kommen und geheilt zu werden und um meine Sinne in Einklang zu bringen.
JOHN BURROUGHS,
Studies in Nature and Literature
Während das Stressniveau in unserer modernen, übermäßig vernetzten Stadtgesellschaft steigt, wünschen sich Menschen die Ruhe, die ein Eintauchen von Körper und Geist in die Natur mit sich bringt. Und die Wissenschaft bestätigt die Richtigkeit dieser intuitiven Weisheit.
1. Suchen Sie sich ein Waldstück oder einen Park mit viel Grünflächen, in dem Sie eine halbe bis anderthalb Stunden spazieren gehen können. (Laut Florence Williams, Autorin von The Nature Fix, hat ein längerer Aufenthalt in der Natur positivere Auswirkungen auf das Gehirn.) Sie können alleine spazieren gehen, Sie können mit einer Freundin oder mit einer Gruppe spazieren gehen. Stille wirkt sich jedoch ebenfalls gut auf das Gehirn und sein Gleichgewicht aus: Hat das Gehirn weniger Reize zu verarbeiten, gibt es mehr Ruhe und Regeneration.
2. Beginnen Sie, langsam zu gehen, und nehmen Sie die Eindrücke aller fünf Sinne in sich auf:
• Sehen Sie die Form eines Blattes, die Vielzahl an Baumformen, die Wolken am Himmel.
• Riechen Sie die Kiefernnadeln oder die frische Luft oder die feuchte Erde.
• Hören Sie das Vogelgezwitscher oder das Rauschen des Windes und vielleicht das Plätschern eines nahen Teiches oder Baches.
• Fühlen Sie das Moos auf einem Zweig oder die Flechte auf einem Stein oder den Sand, die Kieselsteine unter Ihren Füßen.
• Schmecken Sie eine Beere, wenn es solche gibt (und diese essbar sind).
3. Gehen Sie noch langsamer, atmen Sie noch langsamer, vielleicht bleiben Sie stehen und achten darauf, wie sich Licht und Schatten, Bewegung und Stille um Sie herum verändern. Halten Sie inne, um die Veränderungen in Ihnen, in Ihrer Energie oder Stimmung zu bemerken.
4. Nehmen Sie sich am Ende des Spaziergangs einen Moment Zeit, um über die gesamte Erfahrung, insbesondere jegliche Veränderungen in Ihrer gefühlten körperlichen Erfahrung, nachzudenken.
Diese Übung lässt Blutdruck und Cortisolwerte zuverlässig sinken. Wissenschaftler in Finnland haben herausgefunden, dass ein Eintauchen in die Natur fünf Stunden pro Monat (das entspricht circa zehn Minuten pro Tag oder dreißig Minuten zwei- oder dreimal pro Woche) ausreicht, um langfristige positive Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit zu haben.
Ebene 3: Zu viel
Es mag kontraintuitiv klingen, positive Erfahrungen inmitten von Tragödien zu suchen, aber das Gegenüberstellen von positiven und negativen Erfahrungen ist die Grundlage der Rekonditionierung und jeder erfolgreichen Traumatherapie. Es ist unerlässlich, wollen wir Trauma bewältigen, heilen, lernen und wachsen. Wichtig ist, nie das Geschehene zu verleugnen, zu verdrängen, zu bagatellisieren oder zu vergessen. Aber selbst kleine positive entspannende Erfahrungen, besonders wenn alles aus den Fugen gerät, verlagert das Gehirn aus Kontraktion, Reaktivität und Grübelei heraus und in ein Gefühl der Möglichkeiten und größeren Perspektive hinein.
ÜBUNG 2–15: GEKONNTE ABLENKUNG
1. Suchen Sie selbst in den dunkelsten und düstersten Stunden nach positiven Erfahrungen, besonders körperbasierten Erfahrungen, die Sie darin unterstützen, Ihren psychischen Zustand durch Veränderung Ihres physischen Zustands zu verändern. Dazu gehören beispielsweise eine heiße Tasse Kaffee zu trinken, die kühle Brise auf Ihrer Haut zu spüren, das Lächeln einer Freundin mit einem Lächeln zu erwidern, einen Spaziergang in der Natur zu machen oder mit einem Welpen zu spielen. Verzeichnen Sie die gefühlte Wahrnehmung dieser Erfahrung in Ihrem Gewahrsein und lassen Sie sie dort verweilen. Genießen Sie diese Zuflucht. Suchen Sie nach solchen Erfahrungen wenig und oft. Selbst kurze Erfahrungen können eine sofortige Veränderung bewirken.
2. Wenn Gedanken, Gefühle oder Empfindungen unlösbar scheinen, dann verlagern Sie bitte die Ausrichtung Ihrer Aufmerksamkeit vorübergehend, aber vollständig, von den Problemen dieses Moments weg. Noch einmal: Wichtig ist, nie in Verleugnung oder Dissoziation zu entfliehen, sondern bewusst und absichtsvoll in einen anderen Aktivitätskanal zu wechseln. Sehen Sie sich eine Lieblingsshow im Fernsehen an, bereiten Sie eine Mahlzeit vor, gehen Sie schwimmen oder Rad fahren oder tanzen, gehen Sie ins Fitnessstudio. Gönnen Sie Geist und Herz eine Ruhepause, ohne sich schuldig zu fühlen: Das ist grundlegende Selbstfürsorge.
Bewusst die Aufmerksamkeit abzulenken bietet eine vorübergehende Ruhepause von Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, denen man sich stellen muss. Und das müssen Sie hinterher, aber Sie werden sich hoffentlich erholt und in der Lage fühlen, danach wieder weiterzukämpfen.
ÜBUNG 2–16: PENDELN – ZWISCHEN ANSPANNUNG UND LEICHTIGKEIT WECHSELN42
Diese Übung beinhaltet ein bewusstes sicheres Gegenüberstellen negativer und positiver körperlicher Zustände, um die somatischen Erinnerungen an ein negatives Erlebnis neu zu verdrahten.
1. Identifizieren Sie eine Stelle in Ihrem Körper, in der Sie eine somatische Erinnerung oder ein Trauma oder etwas Negatives oder Unangenehmes festhalten. Bemerken Sie die körperlichen Empfindungen – ein flaues Gefühl im Magen, ein angespannter Kiefer, Anspannung in Rücken oder Schultern.
2. Machen Sie nun eine Stelle in Ihrem Körper aus, die keinerlei Stress oder Trauma fühlt – vielleicht ist es der Ellbogen oder der große Zeh. Bemerken Sie die körperlichen Empfindungen, sich im Toleranzfenster zu befinden, sich ruhig, entspannt und wohlzufühlen. Wenn Sie momentan die körperbasierten Empfindungen von Trauma spüren, dann ist dieses Fenster vermutlich sehr klein. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf diese ruhige, traumafreie Stelle im Körper und nehmen Sie die Empfindungen von Leichtigkeit und Entspannung stetig wahr.
3. Wechseln Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt absichtsvoll zwischen den angenehmen körperlichen Empfindungen in der traumafreien Körperstelle und den unangenehmen körperlichen Empfindungen in der traumatisierten Körperstelle hin und her. Richten Sie Ihr Gewahrsein jeweils eine halbe bis eine Minute auf diese Stelle und bleiben Sie bei der unangenehmen Stelle nur so lange, wie Sie diese Erfahrung sicher »halten« können, ohne von ihr überwältigt zu werden.
4. Wiederholen Sie dieses Pendeln mehrere Male und erhöhen Sie dabei die Länge, die Sie bei der angenehmen Stelle bleiben. Bemerken Sie, wie die unangenehme Empfindung sich verändert oder schwächer wird.
5. Wenn sich die Intensität des Unangenehmen ein wenig abgeschwächt hat, halten Sie inne und reflektieren über die gesamte Erfahrung samt aller Veränderungen.
Wenn Sie Ihr Gewahrsein zwischen diesen beiden körperlichen Empfindungen hin- und herwechseln lassen, praktizieren Sie eine Technik, die man Pendeln nennt, weil sie an das Pendel einer Uhr erinnert, das vor und zurück schwingt. Pendeln eignet sich ausgezeichnet dazu, eine Traumaerinnerung allein durch Körperempfindungen sicher zu rekonditionieren. Machen Sie diese Übung wenig und oft. Die Auswirkungen können sofort eintreten, sie können dauerhaft sein.
Dekonditionierung
Mit dem Prozess der Dekonditionierung erlauben Sie Ihrem Gehirn, sich in die Weite hinein zu entspannen, die Sie dann auf natürliche Weise empfinden, wenn Ihr Nervensystem im Gleichgewicht ist. Aus einem solchen Zustand des Wohlbefindens heraus ist es einfacher für Ihr Gehirn, zu spielen und neue Einsichten, neue Weisheit zu erzeugen.
Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht
Ganze 25 % Ihres Gehirns sind der visuellen Verarbeitung im Occipitallappen (Hinterhauptlappen) gewidmet.43 Wissenschaftler haben beobachtet, dass, wenn wir uns daran erinnern oder vorstellen, eine Banane gesehen zu haben, dieselben Neuronen im visuellen Kortex (Sehrinde) aufleuchten, die dann aufleuchten, wenn wir wirklich eine Banane sehen. Das heißt, dass visuelle Erinnerungen und vorgestellte Szenarios genauso real für das Gehirn sein können wie tatsächliche Beobachtungen. Sie können sich diese Macht der Visualisierung und Vorstellung sowie tatsächliche Beobachtungen zunutze machen, um ein Gleichgewicht in Ihren neuronalen Schaltkreisen herzustellen, so dass eine sichere Basis entsteht, zu der Sie zurückkehren können.
ÜBUNG 2–17: BAUCHBOTANIK
Vor Jahren machte ich eine Wanderung im Hinterland des Yosemite National Park und traf auf einen Ranger und eine kleine Gruppe von Wanderern. Sie lagen ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Jeder Einzelne war, ganz und gar eingenommen, damit beschäftigt, diesen halben Quadratmeter Boden vor ihm aus einer Höhe von 15 cm zu betrachten. Der Ranger nannte diese fünfminütige Übung »Bauchbotanik«. Sie können Bauchbotanik fast überall praktizieren, um einen Perspektivwechsel zwischen Klein und Groß zu erreichen und Ihren Platz im großen Ganzen zu erkennen.
1. Suchen Sie sich einen solchen halben Quadratmeter an einem Lieblingsstrand, auf einer Wiese, in einem Wald, in Ihrem eigenen Garten oder in einem städtischen Park (achten Sie aber bitte darauf, wo Sie sich hinlegen). Legen Sie sich auf den Bauch, so dass sich Ihre Augen auf diese Fläche aus einer Höhe von 15 cm fokussieren können.
2. Kommen Sie in den gegenwärtigen Moment. Defokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit von Sorgen um die eigene Person. Konzentrieren Sie sich auf das, was vor Ihnen abläuft. Bemerken Sie Schmutz oder Sand, Pflanzen und Insekten. Bemerken Sie jede Aktivität, jede Stille, jede Veränderung von Licht und Schatten. Bemerken Sie die Beziehung der Dinge zueinander. Bemerken Sie den Einklang von Farben und Formen. Bemerken Sie Besonderheiten. Bemerken Sie die Zeichen von Leben und Tod, Gewalt und Schönheit, alles in einem kleinen Maßstab. Beobachten Sie dieses Stück vor Ihnen zwei Minuten oder länger.
3. Stehen Sie dann auf und richten Ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Horizont der größeren Landschaft um Sie herum. Verfolgen Sie die Form der Bäume, Hügel und Gebäude mit Ihren Augen. Beobachten Sie diesen größeren Horizont zwei Minuten oder länger. Bemerken Sie jede Aktivität, jede Stille, jede Veränderung von Licht und Schatten. Bemerken Sie Besonderheiten. Bemerken Sie die Zeichen von Leben und Tod, Gewalt und Schönheit, alles in einem großen Maßstab.
4. Sie können zwischen Mikro- und Makrolandschaft so oft Sie möchten, hin- und herwechseln. Lassen Sie Ihren Geist zwei Minuten oder länger mit diesem Mikro- und Makrokosmos alleine spielen.
5. Bringen Sie Ihr Gewahrsein zurück zum Zustand Ihres Nervensystems. Bemerken Sie Gefühle der Ehrfurcht, jeden Wechsel in der Perspektive Ihres Platzes in dieser Welt und jede Veränderung Ihres Wohlbefindens.
Wiederholt die visuelle Perspektive zu wechseln baut die »Muskeln« der Reaktionsflexibilität in Ihrem Gehirn auf.
ÜBUNG 2–18: SICH AN EINE BERUHIGENDE NATURLANDSCHAFT ERINNERN
Diese Übung kann Ressourcen in Ihrem Gehirn aufbauen, die ein Leben lang bestehen bleiben.
1. Gehen Sie nach draußen an einen Ort, der beruhigend und besänftigend für Sie war oder der Momente des Mutes für Sie darstellt.
2. Bleiben Sie eine halbe Minute lang dort und betrachten Sie die Landschaft. Prägen Sie sich den Anblick ein.
3. Versuchen Sie, dieses Bild wiederholt in Ihrem Geist hervorzurufen.
4. Versuchen Sie, dieses Bild später in Ihrem Geist hervorzurufen, wenn Sie längst woanders sind. (Wenn Sie diese beruhigende oder ermutigende Landschaft mehrmals im Geist aufsuchen können, um diese Erfahrung zu verstärken, ist das ausgezeichnet.) Wiederholen Sie dieses Aufrufen oft, bis es zu einer zuverlässigen Ressource in Ihrem Gehirn geworden ist.
5. Wenn Sie nur den leisesten Anflug eines Ungleichgewichts bemerken, dann rufen Sie dieses Bild im Geist auf. (Sie können dabei die Hand auf Ihr Herz legen, wenn Sie möchten.) Erlauben Sie dieser gefühlten Wahrnehmung der beruhigenden oder ermutigenden Landschaft, Ihnen dabei zu helfen, Ihr Gleichgewicht jetzt wiederzufinden.
Sie können selbstverständlich auch eine ganze Bildergalerie an beruhigenden Landschaften erstellen, so wie Erinnerungen an beruhigende und ermutigende Menschen, um Ihre Resilienzbandbreite wiederzuerlangen, selbst wenn sich die Umstände ändern.
ÜBUNG 2–19: EINEN SICHEREN ORT SCHAFFEN44
Diese Übung benutzt Visualisierung und die Neuroplastizität Ihres Gehirns, um eine sichere Zuflucht und Ressource zur Bewältigung von Situationen aufzubauen.
1. Sitzen Sie in einer bequemen Haltung. Wenn Sie bereit sind, stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Tor. Stellen Sie sich in vielen Details vor, wie hoch das Tor ist, aus welchem Material es ist, welche Farbe es hat. Machen Sie dieses Tor im Geist so real wie möglich.
2. Stellen Sie sich dann vor, Sie öffnen das Tor und gehen hindurch. Wenn Sie auf der anderen Torseite angekommen sind, stellen Sie sich vor, was vor Ihnen liegt: ein Weg, ein Flur, ein Pfad, ein Bürgersteig oder eine Straße, die Sie zu einem für Sie ganz besonderen Ort führt. Das ist Ihr sicherer Ort.
3. Gehen Sie den Weg entlang. Bemerken Sie beim Gehen, was Sie sehen, hören, riechen und alles andere, was Sie erleben.
4. Sie kommen jetzt zu einem Ort, der Ihr sicherer Ort ist. Es mag eine Wiese sein, ein Häuschen, ein Lieblingszimmer zu Hause, ein Hofgarten oder ein Tisch in einem Café zusammen mit einer Freundin – jeder Ort, der nur für Sie persönlich ein besonderer Ort ist. Erlauben Sie sich, zu Ihrem sicheren Ort herüberzugehen und ihn zu betreten.
5. Nehmen Sie sich Zeit und schauen Sie sich um: Bemerken Sie alles, was Ihnen hilft, sich hier sicher und wohlzufühlen. Entspannen Sie sich und genießen Sie es, hier zu sein. Genießen Sie das Gefühl von Selbstvertrauen und innerer Stärke, das Ihr sicherer Ort Ihnen vermittelt.
6. Wenn Sie möchten, setzen Sie sich im Geist hin. Fügen Sie diesem Ort all das hinzu, was Sie sich sicherer und wohler fühlen lässt. Entfernen Sie alles Unerwünschte. Sie können alles verändern, was Sie wollen. Und dann entspannen Sie sich einfach, fühlen Sie sich wohl, genießen Sie Ihren sicheren Ort. Erlauben Sie sich einen Moment der Dankbarkeit, dass es Ihren sicheren Ort gibt und dass Sie sich hier jederzeit sicher fühlen können.
7. Wenn es Zeit ist, zu gehen, stellen Sie sich vor, Sie stehen auf, bedanken sich bei diesem Ort dafür, dass es ihn gibt, und dann gehen Sie denselben Weg wieder zurück, der Sie hierher gebracht hat, bis Sie am Tor ankommen, es durchschreiten und sich umdrehen, um es zu schließen. Ihr sicherer Ort ist auf der anderen Seite, aber Sie wissen, Sie können jederzeit dorthin zurückkehren.
8. Üben Sie dieses Aufrufen Ihres sicheren Ortes in gewöhnlichen und stressfreien Momenten, damit der Ort dann zur Verfügung steht, wenn das Leben Ihnen eine Breitseite verpasst. Erkennen Sie an, dass Sie auf die Neuroplastizität Ihres Gehirns zugreifen können, um neue und kompetente Bewältigungsressourcen aufzubauen.
Ihr sicherer Ort wird sich womöglich mit der Zeit ändern, das ist ganz normal. Wenn Sie diese Übung machen, wird Ihr Gehirn lernen, Zufluchtsorte und Ressourcen zur Bewältigung von Situationen immer dann zu schaffen, wenn Sie sie benötigen.
Ebene 2: Pannen und Kummer, Unruhen und Stürme
Als mein 80-jähriger Vater einen Schlaganfall hatte, der eine Einweisung ins Krankenhaus und danach in ein Pflegeheim erforderte, schnellte mein Stressniveau so in die Höhe, dass mein höheres Gehirn wirklich keine guten Dienste leistete. Mein Meditationslehrer Howie Cohn schlug vor, einfach innezuhalten, ruhig auf dem Bett zu liegen und sämtliche körperlichen Empfindungen in mein Gewahrsein zu lassen, sie aber nicht mit Was-wäre-Wenn-Geschichten anzustacheln. Er riet mir, sie noch nicht einmal als Angst, Panik oder Terror zu identifizieren, sondern die Körperempfindungen einfach nur sein zu lassen. Sie mochten unangenehm, beunruhigend oder beängstigend sein, aber sie würden nichts weiter tun, als nur da zu sein.
Ich übte, die Unruhe in meinem Brustkorb zu bemerken, die Enge um mein Herz, die Anspannung im Kiefer, ohne zu versuchen, sie zu verändern oder zu beheben. Nur mit den Empfindungen zu sein schuf den Raum für sie, sich zu lösen und selber zu verlagern. Natürlich löste diese Verlagerung nicht die Gesundheitsprobleme meines Vaters. Sie half mir aber dabei, nicht meinen eigenen Notfall über diesen Notfall zu erzeugen. Ich war in der Lage, zu meinem gewohnten Gut-genug-Zustand zurückzukehren und von dort aus kluge Entscheidungen zu treffen.
ÜBUNG 2–20: BERUHIGEN, BESÄNFTIGEN, ZULASSEN45
Diese Übung hilft Ihnen dabei, auf eine Art weites Gewahrsein zurückzugreifen, welches es ermöglicht, dass alles Beunruhigende für Ihr Nervensystem und damit für Ihr Funktionieren aufkommt, anerkannt wird, dort ein wenig bleibt und dann weiterzieht.
1. Finden Sie eine angenehme Position im Sitzen oder Liegen. Schließen Sie die Augen und atmen Sie dreimal sanft ein und aus. Fühlt man sich körperlich in einer bestimmten Position wohl, dann hilft das, schwierige Empfindungen oder Emotionen besser zu bewältigen, wenn sie im Körper aufsteigen.
2. Legen Sie Ihre Hand kurz aufs Herz, um sich daran zu erinnern, dass Sie in diesem Moment gegenwärtig und sicher sind und dass Sie es wert sind, Güte zu erfahren.
3. Identifizieren Sie in der Weite dieses gütigen Gewahrseins die Situationen und Umstände, die Sie jetzt ins Ungleichgewicht bringen und Ihr Wohlbefinden gefährden, und lassen Sie sie in Ihr Gewahrsein eintreten.
4. Bemerken und identifizieren Sie, welche Emotionen von diesen Umständen ausgelöst werden – vielleicht sind es Angst, Wut, Traurigkeit, Einsamkeit oder Scham.
5. Richten Sie Ihr Gewahrsein nun ganz und gar auf die von diesen Umständen ausgelösten Körperempfindungen. Lassen Sie die Geschichte los. Lassen Sie die Emotionen los. Konzentrieren Sie sich nur auf das Erleben dieser Empfindungen. Sie können sie mit sanfter, warmer, verständnisvoller Stimme benennen, so, als erkannten Sie die Gefühle einer Freundin an: »Das ist Anspannung«, »Das ist Enge«, »Das sind Schmerzen«.
6. Weiten Sie Ihr Gewahrsein auf Ihren Körper als Ganzes aus. Scannen Sie Ihren Körper nach Stellen, an denen Sie sich dieser schwierigen Empfindungen am meisten bewusst sind. Suchen Sie sich eine einzige Stelle aus, an der Sie diese Empfindung am meisten spüren, vielleicht in Form von angespannten Muskeln. Neigen Sie Ihr Gewahrsein sanft zu dieser Stelle.
7. Beruhigen Sie nun die Muskeln, die diese Empfindung tragen, so, als ob Sie die schmerzenden Muskeln mit Hitze behandelten. Beruhigen … beruhigen … beruhigen. Sie versuchen nicht, die Empfindungen zum Verschwinden zu bringen, sondern Sie halten sie in einer sanften Umarmung.
8. Wird das Unbehagen angesichts dieser Empfindung zu groß, dann richten Sie Ihr Gewahrsein auf die Empfindung des Atems. Sind Sie ruhiger geworden, können Sie es noch einmal versuchen. Wenn es leichter für Sie ist, dann können Sie auch nur den Rand der Empfindung beruhigen. Sie müssen nicht vollständig in die Empfindung eintauchen.
9. Schenken Sie sich nun einige besänftigende Worte und Trost, während Sie mit diesen Empfindungen kämpfen. »Ach, das ist schwer. Das ist wirklich unangenehm. Möge ich in diesem Moment gütig zu mir selber sein. Möge ich diesen Moment, diese Empfindungen so akzeptieren, wie sie sind. Möge ich sie in liebendem Gewahrsein halten.« Besänftigen … besänftigen … besänftigen.
10. Dann lassen Sie zu, dass das Unangenehme dieser Empfindungen hier ist. Lassen Sie den Wunsch los, das Unangenehme möge verschwinden. Lassen Sie zu, dass das Unangenehme kommt und geht, wie es mag, wie ein Gast in Ihrem Haus. Zulassen … zulassen … zulassen.
11. Beruhigen, besänftigen, zulassen. Wiederholen Sie diese Worte wie ein Mantra und halten Sie das Unangenehme der Empfindungen in der größeren Weite Ihres Gewahrseins.
Während Sie es zulassen, dass die Empfindungen in Ihrem Körper einfach da sind, und Ihrer Erfahrung mit entspannter Güte und Neugier begegnen, werden sämtliche Gefühle der Anspannung oder Enge einfach von selber schwächer werden und weiterziehen.
ÜBUNG 2–21: FOKUSSIEREN (nach einer Übung von Ann Weiser Cornell)46
Fokussieren ist das sanfte, akzeptierende Hören auf den eigenen Körper und die Botschaften des inneren Selbst.
1. Suchen Sie sich einen Platz, an dem Sie bequem und ungestört, mit einer Stütze, ungefähr zwanzig Minuten sitzen können. Finden Sie eine angenehme Position. Schließen Sie die Augen, wenn Sie möchten.
2. Nehmen Sie sich etwas Zeit, um sich Ihres ganzen Körpers hier und jetzt bewusst zu werden. Sie nehmen vielleicht Ihre Hände wahr und das, was sie berühren. Nehmen Sie Ihre Füße wahr und das, was sie berühren. Spüren Sie den Kontakt Ihres Körpers zum Platz, auf dem Sie sitzen. Erlauben Sie sich, in die Stütze hineinzusinken. Werden Sie sich Ihres Atems bewusst.
3. Richten Sie Ihr Gewahrsein allmählich nach innen und fokussieren Sie es auf das Körperinnere, samt Kehle, Brustkorb, Magen und Bauch. Lassen Sie einfach das Gewahrsein ankommen und sich dort niederlassen.
4. Fragen Sie sich nun still: »Gibt es irgendetwas in meinem Körper, in meinem Leben, das sich falsch anfühlt oder unangenehm?« Warten Sie, bis Sie eine Gefühlsantwort erhalten. Lautet die Antwort Nein und alles fühlt sich gut an, dann genießen Sie einfach dieses Gefühl.
5. Wenn Sie eine gefühlte Wahrnehmung haben, dass etwas nicht stimmt in Ihrem Leben, was auch immer dies sein mag, wie eine Erinnerung oder deren Geschichte, dann wird sie sehr wahrscheinlich in Ihrem Gewahrsein aufsteigen. Lassen Sie die Geschichte los. Lassen Sie nur die gefühlte Körperwahrnehmung stärker werden. Das benötigt oft ein wenig Zeit. Der Körper ist langsamer als der Geist.
6. Fühlen Sie etwas, dann sagen Sie: »Ich fühle etwas.« Und beschreiben Sie dann mit körperlichen Begriffen, was Sie genau in dem Moment fühlen. Erkennen Sie das Gefühl an. Lassen Sie es wissen, dass Sie es fühlen. Sie verstehen es. Lassen Sie das Gefühl genau so sein, wie es ist. Bleiben Sie bei ihm, spüren Sie es nur und seien Sie offen gegenüber allem Weiterem, was in Ihr Gewahrsein treten mag wie Bilder, Gedanken oder weitere Gefühle.
7. Nehmen Sie Veränderungen wahr. (Vielleicht gibt es keine, dann ist das auch in Ordnung.) Es ist Zeit, die Übung nach einer Weile zu beenden. Tun Sie das bitte langsam und danken Sie Ihrem Körper. Werden Sie sich des Zimmers bewusst, in dem Sie sich befinden. Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie die Augen.
8. Schreiben Sie vielleicht auf, was Sie gelernt und an Veränderungen bemerkt haben.
Ihre gefühlte Körperwahrnehmung vermittelt Ihnen nicht nur, was in Ihrem Leben jetzt wichtig ist, sondern auch eine neue Richtung, in die Sie Ihr Leben vielleicht lenken möchten. Neue Reaktionen schaffen neue Alternativen.
Ebene 3: Zu viel
In jeder Übung in diesem Kapitel haben Sie sich damit befasst, den Zustand Ihres Nervensystems zu verändern und zu einem ausgewogeneren körperbasierten Sein zurückzukehren. Ein derartiges Proaktiv-Sein, selbst mit einem guten Resultat, ist anstrengend. In der nachfolgenden Übung geben Sie sich selbst die Erlaubnis, vollständig loszulassen, sich freizumachen, eine Auszeit von Bewältigungsstrategien und generell vom Tun zu nehmen. Es ist eine andere Art von klugem Bemühen. Sie greifen auf den positiven Prozess des Ruhezustandsnetzwerks zu, um sich in so viel Leichtigkeit und Entspannung fallen zu lassen wie möglich. Sie benutzen diese positive Seite des Parasympathikus, den Zweig des »Ruhens und Verdauens«, um zu entschleunigen oder ganz innezuhalten. Indem Sie bildlich gesprochen eine Zeit lang unter die Decke kriechen, nehmen Sie Zuflucht vor Allem, von dem Sie bombardiert und überwältigt werden, um einfach nur still zu liegen und nichts zu tun – um so Ihre Reserven zum Weitermachen wieder aufzufüllen.
ÜBUNG 2–22: ZUFLUCHT SUCHEN
1. Sehen Sie drei oder vier Stunden an einem bestimmten Tag vor, an dem andere Menschen das Ruder übernehmen.
2. Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie sich sicher und wohl fühlen und ungestört sind. Das können sein: das Bett, Badezimmer, Wohnzimmer, eine Autofahrt im Hinterland, eine Parkbank oder eine Anhöhe mit Blick auf das Meer.
3. Schalten Sie alle Geräte aus, die Sie mit der Welt verbinden. Legen Sie sie woanders ab, in einem anderen Zimmer, wenn Sie zu Hause sind, oder zu Hause, wenn Sie woanders sind.
4. Entleeren Sie Ihren Geist von all seinen Sorgen, Pflichten und Verbindlichkeiten. Das ist nicht leicht, trotzdem – geben Sie sich die Erlaubnis, so viel wie möglich loszulassen. Gehen Sie während dieser Pause irgendwo hin, wenn Sie möchten. Füllen Sie Ihr Gewahrsein in diesem Moment mit Angenehmem und Unkompliziertem. Sie leben und Sie atmen. Der Strom ist an (wenn er es denn ist). Sie waren bereits mit dem Hund Gassi gehen, er macht jetzt ein Nickerchen, während Sie sich diese Pause gönnen. Erlauben Sie sich, etwas anderes zu spüren als immerwährendes Überwältigt-Sein. Lassen Sie Ihre Sinne alle angenehmen Empfindungen genießen, die Sie bemerken: das weiche Bett oder bequeme Sofa, die Stille im Haus, wenn niemand sonst da ist, der Geruch von frischer Luft. (Sie werden vielleicht feststellen, dass Sie während dieser seltenen Zufluchtsmomente einschlafen, und Schlaf mag genau das sein, was Sie brauchen. Achten Sie darauf, ob Sie sich nach dem kurzen Schlaf erholt oder immer noch überwältigt fühlen. Diese Art von Zuflucht dient dazu, »den Brunnen zu füllen«, damit Sie mit neuer Energie zu Ihren Umständen zurückkehren können.)
5. Sind die drei oder vier Stunden vorbei, dann kann es sein, dass Sie nur ungern Ihre Zuflucht wieder verlassen und zu dem zurückkehren, dem Sie sich stellen müssen. Aber stellen werden Sie sich ihm mit mehr Ruhe und Gleichgewicht. Diese Dekonditionierungsübung bringt Ihnen womöglich neue und potenziell nützliche Einblicke in Ihre Probleme.
Machen Sie diese Pause so oft Sie können. Es ist zwar nur eine kleine Pause von Ihren Problemen, aber eine kleine Pause ist weitaus besser als keine Pause. Sie werden Ihr Nervensystem neu starten, Ihre Batterien aufladen und Ihre Bewältigungsmechanismen mit mehr Energie angehen. Sie verdrahten Ihre Resilienz neu.
Dieses Kapitel enthält zahlreiche Werkzeuge, um mittels Atem, Berührung, Bewegung, sozialen Kontakten und Visualisierung auf die somatische Intelligenz zuzugreifen, welche die Reaktivität des Gehirns auf jegliche Art von Herausforderung und Stress zuverlässig reduziert. Mit mehr Resilienz stehen Ihnen mehr Reaktionsalternativen zur Verfügung.
Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupte fliegen, kannst du nicht ändern. Aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern.
CHINESISCHES SPRÌCHWORT
Wenn Sie diese körperbasierten Übungen wenig und oft praktizieren, verstärken Sie die neuronalen Leitungsbahnen, die dafür zuständig sind, dass Sie sich sicher, geerdet und wohl fühlen und Ihre Mitte finden. Diese Gefühle bereiten Ihr Gehirn auf Neuroplastizität vor und machen es für neues Lernen empfänglich und dazu fähig, neue, flexiblere Verhaltensweisen auszuprobieren und neue Risiken einzugehen.
Das innere Gleichgewicht, das durch Zugriff auf die somatische Intelligenz erlangt wird, wird die Grundlage, alle komplexeren Arten von Intelligenz zu trainieren. Diese sind die emotionale Intelligenz, die Beziehungsintelligenz und die reflexive Intelligenz.