Читать книгу Wenn wir doch nur Löwen wären - Line Baugstø - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеIch habe Löwen immer schon gemocht. Löwen sind die einzige Katzenart, die in Rudeln lebt. Die Männchen sind wunderschön mit ihren großen, goldenen Mähnen. Aber die besseren Jäger sind die Weibchen. Sie leben länger als die Männchen und können auch Rudelführer sein. Viele wissen das nicht.
Als wir in Kristiansand den Tierpark besucht haben, wollte ich mich mit den Tigern und Giraffen gar nicht erst abgeben. Ich wollte nur zu den Löwen. Ich hoffte, einer der Löwen würde so laut brüllen, dass die Erde davon bebte. Aber die Löwen brüllten nicht. Die meiste Zeit lagen sie ganz ruhig unter einem Baum und sahen aus, als würden sie schlafen. Doch dann wurde es Zeit für die Fütterung. Die Tierpfleger ließen ein Fleischstück ein paar Meter über dem Boden hin und her baumeln, sodass die Löwen, wenn sie es erwischen wollten, hoch in die Luft springen mussten. Ich wollte erst weitergehen, nachdem jeder einzelne Löwe zu fressen bekommen hatte.
Dass Leona »Löwin« bedeutet, weiß ich aus einem Buch, das wir zu Hause haben. Darin stehen alle Namen, die es gibt, und deren Bedeutung. Mein Name zum Beispiel kommt von Magdalena und bedeutet »aus Magdala«. Nicht, dass ich wüsste, wo Magdala liegt.
Meine Eltern hätten mich doch auch Viktoria nennen können. Das bedeutet »Sieg«. Oder Sarah, was »feine Dame« bedeutet, »Fürstin« oder »Prinzessin«. Aber nein. Es musste »Malin« sein, ein ganz gewöhnlicher Name für ein ganz gewöhnliches Mädchen. Aus Magdala.
Mit diesem Namen ist es vielleicht kein Wunder, dass ich mich meistens im Hintergrund halte. Fast niemand weiß, dass ich Dinge mag, die so richtig Lärm machen. Ich liebe brüllende Löwen und wummernde Trommeln. Vielleicht wäre ich cooler geworden, wenn ich einen schöneren und mutiger klingenden Namen hätte. Wie Leona. Leona, die Löwin.
Am nächsten Tag stehen Sarah und Ebba schon vor dem Klassenzimmer bereit, als Yasmin und Leona den Korridor herunterkommen. Ebba fragt laut, warum Leona nicht auf Social Media zu finden ist. Leona antwortet so leise, dass niemand ihre Antwort versteht.
»Darfst du etwa nicht?«, fragt Sarah.
»Ich bin noch nicht dreizehn«, sagt Leona etwas lauter.
»Du kannst einfach ein falsches Alter angeben«, meint Ebba.
»Das ist doch wohl ihre Entscheidung, ob sie warten will oder nicht«, sagt Amina.
Dass Amina Leona verteidigt, macht mich froh.
»Aber wie soll man sich dann mit ihr verabreden, wenn sie weder auf Snap ist noch sonstwo«, sagt Ebba.
Die Mädchen in unserer Klasse haben eine eigene Gruppe, »The 7A-Girls Rule«, aber es kommt nicht besonders oft vor, dass in dieser Gruppe Verabredungen getroffen werden, die für alle gelten.
Da erscheint Bjørg und die Diskussion ist zu Ende. Bjørg ist unsere Ethik-Lehrerin. Letzte Woche hat sie uns in Gruppen eingeteilt. Jetzt sollen wir mit der Gruppenarbeit anfangen, also muss auch Leona einer Gruppe zugeteilt werden. Bjørg verschafft sich einen Überblick.
»Du kannst in der Islam-Gruppe mitmachen, Leona«, sagt sie schließlich.
Das ist meine Gruppe! Wir schieben die Tische zusammen und stellen die Stühle um. Leona und ich am selben Tisch! Ich lächle ihr zu, und etwas zögerlich lächelt sie zurück.
Die einzelnen Gruppen sollen religiöse Feste und Gotteshäuser der fünf größten Religionen präsentieren. Jede Gruppe soll ein Plakat machen, das wir in der Klasse aufhängen werden. Die Plakate müssen schön werden, das ist wichtig.
»Wir sollten ein Foto von unserer eigenen Moschee machen und nicht einfach irgendeine Moschee nehmen«, sage ich.
Aslak rümpft die Nase und sagt: »Na jaaa …«
»Ihr habt eine Moschee hier?«, fragt Leona.
»Die ist aber nicht besonders schön«, meint Aslak.
»Immerhin ist es eine richtige Moschee«, antworte ich.
»Oh«, sagt Leona.
»Sie liegt nicht weit weg, man kann zu Fuß hinlaufen. Möchtest du nach der Schule mitkommen? Dann können wir mit meinem Handy ein Foto machen und mein Vater kann es in der Arbeit ausdrucken«, schlage ich vor.
Leona nickt.
»Gern«, sagt sie.
»Und wir werden gar nicht erst gefragt, ob wir mitkommen wollen?«, fragt Emil und schüttelt den Kopf, als wäre er beleidigt.
»Ähh …«, sage ich und spüre, wie meine Wangen ganz rot werden. Ich bin verwirrt. Hat Emil etwa Lust, etwas mit Leona und mir zu unternehmen?
Emil ist einer der kleinsten Jungs in der Klasse, nicht viel größer als ich, und er ist der einzige Junge, von dem ich weiß, dass er freiwillig in die Bibliothek geht. Außerdem hat er sehr blaue Augen. Die ganze sechste Klasse lang war ich in ihn verliebt, aber jetzt bin ich über ihn hinweg. Glaube ich zumindest.
»Willst … wollt ihr etwa auch mitkommen?«, frage ich.
So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt. Mein Plan war gewesen, allein mit Leona zu gehen und sie besser kennenzulernen. Warum ist Emil überhaupt daran interessiert, mitzukommen?
Was ist, wenn er sich plötzlich in Leona verliebt? Was, wenn Leona und Emil zusammenkommen! Ich schaue von Emil zu Aslak und wieder zurück zu Emil.
»Nee«, sagt Aslak bestimmt. »Das ist mir wirklich zu blöd.«
Plötzlich lacht Emil laut.
»Hab nur Spaß gemacht«, sagt er.
Und das hat er bestimmt auch. In unserer Klasse kommt es nicht gerade oft vor, dass Jungs und Mädchen etwas gemeinsam unternehmen. Aber etwas an seinem Lächeln macht mich ein wenig misstrauisch. Es ist kein überlegenes Grinsen, kein Von-oben-herab-Schmunzeln. Es ist ein Lächeln, von dem mir warm im Bauch wird, und vermutlich werde ich gleich noch röter.
Was, wenn ich doch nicht über Emil hinweg bin?
»Wenn Leona und ich die Moschee fotografieren gehen, dann müsst ihr im Internet nach Bildern von Mekka und so weiter suchen«, sage ich, eigentlich nur, um mich irgendwie wieder zu fangen.
»Okay, okay«, sagt Aslak.
Emil zuckt lächelnd mit den Schultern.
Dass einer von den beiden vor dem nächsten Ethikunterricht auch nur irgendetwas für das Projekt machen wird, kann ich mir kaum vorstellen.
Aber auch wenn die Jungs nicht zur Moschee mitkommen wollen, kann es doch immer noch passieren, dass ein Mädchen Lust darauf hat. Yasmin verbringt immer noch jede einzelne Pause mit Leona, aber glücklicherweise muss sie nach der Schule zum Reiten und hat daher keine Zeit. Amina hat Klavierstunde, und die anderen Mädchen in der Klasse haben weder Zeit noch Lust. Also habe ich Leona nach der Schule ganz für mich allein, genau wie geplant.
Es ist Mitte September, und draußen riecht es nach Moor und Moos und glänzenden Äpfeln. Einige Blätter an den Bäumen sind bereits gelb geworden. Sie leuchten wie Gold. Kleine goldene Flecken in all dem Grün. Ich frage mich, ob Leona sie auch sieht. Sie ist so still. Den ganzen Schultag lang hat sie kaum etwas gesagt. Ich schaue sie an, und auch sie lugt zu mir herüber.
»Erzähl mir was von dort, wo du herkommst«, sage ich.
»Das war ein winziger Ort«, antwortet Leona.
Ich warte ein wenig, ob sie dem noch etwas hinzufügen möchte, aber es kommt nichts.
»Wie klein denn? So klein wie ein Mäuseloch?«, frage ich.
Ich lache, um ihr zu zeigen, dass ich nur Spaß mache.
Über ihr Gesicht huscht ein kurzes Lächeln.
»Ein bisschen größer«, sagt sie.
Dann ist sie lange ganz still. Als ich mich mit dem Gedanken abgefunden habe, dass sie meine Frage wohl längst vergessen hat, sagt sie plötzlich:
»In der ganzen Schule waren wir nur zu zwölft.«
»Ui«, sage ich.
»Und in meiner Klasse zu dritt.«
»So wenige?«
»Ja.«
»Die beiden anderen in deiner Klasse, waren das Jungs oder Mädchen?«
»Jungs.«
»Hattest du dann eine beste Freundin in einer anderen Klasse?«
»Nein.«
»Hattest du überhaupt keine beste Freundin?«
»Nein.«
»Wie doof«, sage ich.
Ich weiß, wovon ich spreche, aber das sage ich nicht.
»Ja«, stimmt Leona mir zu.
Ich stelle mir vor, wie es wohl sein mag, aus einem so kleinen Ort zu kommen. Da hat man nicht viele Wahlmöglichkeiten. Wenn man seine beste Freundin verliert, so wie ich Ebba in der vierten Klasse, dann ist es nicht so leicht, eine neue zu finden. Dann ist man einfach allein. Vielleicht für immer.
»Und jetzt besteht die siebte Klasse in deiner alten Schule nur noch aus zwei Jungs?«, frage ich.
Leona nickt.
»Warum seid ihr umgezogen?«, frage ich.
Leona dreht sich weg und sagt etwas, das ich nicht hören kann.
»Was hast du gesagt?«
»Mein Vater hat einen neuen Job bekommen«, murmelt sie.
Es sieht so aus, als würde sie rot werden. Offenbar hat sie keine Lust, mir irgendetwas über den Job ihres Vaters zu erzählen. Aber ich verstehe nicht, warum. Das ist doch nichts, wofür man sich schämen müsste. Viele Erwachsene wechseln ihren Job.
»Und deine Mutter?«
»Sie ist Pflegehelferin, die kann so gut wie überall arbeiten.«
»Meine Mutter ist Krankenschwester. Vielleicht kann deine Mutter im selben Krankenhaus arbeiten wie meine, dann können sie sich anfreunden«, sage ich.
Leona fummelt am Reißverschluss ihrer Jacke herum.
»Mmh«, sagt sie. Der Gedanke scheint sie nicht besonders zu freuen.
Leona ist so schweigsam, dass ich davon nervös werde. Und manchmal, wenn ich nervös bin, dann bin ich nicht still, wie sonst. Stattdessen rede ich viel zu viel und viel zu schnell.
»Als ich klein war, wollte ich immer Polizistin werden, weil ich gern Sachen auf den Grund gehe. Dann wollte ich Politikerin werden. Denn da kann man Entscheidungen treffen, dachte ich. Aber jetzt habe ich beschlossen, Schriftstellerin zu werden, wenn ich groß bin. Dann kann ich andauernd neue Geschichten erfinden. Ich erfinde gern Geschichten. Oder ich werde Musikerin. Schlagzeugerin. Was möchtest du werden?«
Als ich endlich zu reden aufhöre, schaut Leona zu mir herüber. In ihren Augen schimmert ein Lächeln.
»Ich will auch Schriftstellerin werden«, sagt sie.
»Ja?«, rufe ich. »Wie cool! Stell dir vor, vielleicht werden wir zwei berühmte Schriftstellerinnen aus derselben Schulklasse.«
Und jetzt lächelt Leona endlich ein richtiges Lächeln. Ihr ganzes Gesicht strahlt.
»Oder ich werde Lady Gaga«, sagt sie.
Wir fangen beide an zu lachen. Ich sage, dass ich mir ganz gut vorstellen könnte, Kanade Sato oder Kristina Schiano zu sein.
»Hä? Wer?«, fragt Leona.
»Das sind Schlagzeugerinnen«, sage ich. »Ich habe sie auf YouTube gesehen.«
Leona nickt.
»Schreibst du viel? Um zu üben, meine ich. Wo du doch Schriftstellerin werden möchtest«, sagt sie.
»Ähhh …«, sage ich und bin mir nicht sicher, ob ich ihr die Wahrheit erzählen möchte. Zu Hause habe ich nämlich einen ganzen Stoß Hefte, die mit Erzählungen vollgeschrieben sind. Aber die darf keiner lesen. Die sind supergeheim.
»Ein bisschen«, sage ich.
Dann reden Leona und ich über unsere Lieblingsbücher. Horror und Mystery. Geistergeschichten und Vampirromane.
»Was du allerdings nicht weißt, ist, dass in dem Haus dort drüben ein Gespenst wohnt«, sage ich mit tiefer, dramatischer Stimme und zeige auf das erste Haus, an dem wir vorbeikommen, ein weißes Holzhaus.
Leona reißt die Augen auf.
»Eine graue Frau. Sie zeigt sich nur um Mitternacht, außer im Herbst, im September. Da jagt sie nämlich auf der Straße zwölfjährige Mädchen. Schau! Dort ist sie!«
Aus dem weißen Haus ist eine Frau getreten. Sie trägt eine blaue Jacke und hält ein Baby in den Armen. Leona und ich bekommen einen Lachanfall. Lachend laufen wir die Straße hinunter. Es dauert lange, bis wir es schaffen, mit dem Lachen aufzuhören.
Plötzlich stehen wir vor der Moschee. Es ist ein langes, gelbes Gebäude, und über der Tür hängt ein Schild mit sonderbaren Schriftzeichen.
»Oh. Das sieht ja fast so aus wie ein ganz gewöhnliches Haus«, sagt Leona.
Sie wirkt etwas enttäuscht.
»Ich weiß«, sage ich. »Früher war hier eine Fabrik, und jetzt ist es eine Moschee. Aber drinnen ist es schön, der Boden ist mit Teppichen ausgelegt. Wir waren letztes Jahr einmal mit der Klasse hier.«
Ich mache ein paar Fotos von dem Gebäude, und danach mache ich ein Selfie von uns beiden. Ich poste es, und noch bevor wir zu Hause sind, haben Amina, Yasmin und noch ein paar andere Mädchen in der Klasse es gelikt. Ich zeige es Leona.
»Hast du das mit allen geteilt?«, fragt sie.
»Macht’s dir was aus?«
Leona beißt sich auf die Lippen, und irgendwie habe ich den Eindruck, dass sie es dumm findet.
»Nein, nein«, sagt sie.
»Soll ich es löschen?«
»Aber nein. Es ist ein schönes Foto.«
Ich habe das Gefühl, dass sie das Gegenteil von dem meint, was sie sagt, aber trotzdem lösche ich das Foto nicht. So können alle Mädchen in der Klasse sehen, dass Leona mit mir abhängt.