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Kapitel Eins

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3. Juni

Der Stein, der sich in seinem Schuh verfangen hatte, während er auf dem Seitenstreifen die Straße hinaufstapfte, grub sich in Lanes Fußballen, als er die sanfte Steigung des Hügels erreichte. Er trat gegen den Rinnstein in dem Versuch, den Stein zu entfernen oder zumindest unter die Fußwölbung zu bugsieren. Vergebens. Er humpelte ein paar Schritte den Hügel hinauf, lehnte sich an den Briefkasten von irgendjemandem und zog seinen Schuh aus.

Der Schuh war ein Schnürschuh aus Segeltuch. Nichts Besonderes. Ein dünner Canvas-Schnürschuh, der nicht modisch genug war, um als Retro oder Hipster oder was auch immer durchzugehen. Einfach nur billig. Lane hatte sie als Ersatz für ein Paar Converse Star Player EVs gekauft, die er ruiniert hatte, als er über ein Stück frisch gelegten Asphalt gelaufen war. Seine Lieblingsschuhe, zu allem Überfluss. Die einzigen Schuhe, die er noch hatte. Also hatte er sich diese beschissenen Canvas-Schnürschuhe aus einem Secondhand-Laden besorgt und hasste sie.

Lane schüttelte den Stein heraus. Er zog den Schuh wieder an, schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und ging weiter den Hügel hinauf.

Ein plötzliches Reifenquietschen ließ sein Herz rasen.

„Scheiße.“ Lane schirmte seine Augen ab, als ein Geländewagen den Hügel hinauf brauste und ihn mit seinen Scheinwerfern blendete. Eine Bierdose schlug vor ihm auf die Straße und klapperte in den Rinnstein. Lane blinzelte auf die Rücklichter, als sie den Hügel weiter hinauffuhren und durch die Kurve aus seinem Blickfeld gerieten.

Wahrscheinlich Highschool-Kinder, die einfach nur dumm waren. Nicht alles drehte sich um seine Eltern. Sie hätten nicht einmal sein Gesicht gesehen, nur einen Typen am Straßenrand. Ein Kerl, der fast durchgedreht wäre.

Gott, war er erbärmlich.

Lane schaute sich seine billigen Schuhe an und stieg weiter den Hügel hinauf. Jetzt war keine Zeit für einen Nervenzusammenbruch. Er war bereits spät dran.

Zuerst waren zwei FBI-Agenten in Lanes Zimmer im Motel vorbeigekommen, um noch eine Vernehmung zu machen. Nun, eigentlich stellten sie nur Fragen, da Lane außer einem gemurmelten „Ich weiß es nicht“ nicht viel an Antworten zu bieten hatte.

„Wie lange willst du noch an dieser Geschichte festhalten?“

Sie hatten ihm nicht geglaubt. Sie glaubten ihm nicht, dass seine Eltern ihn nicht darauf vorbereitet hatten, einen Platz im Familienunternehmen einzunehmen, denn war das nicht die Art, wie sie Moredock Investments immer gefördert hatten? Lane hatte letztes Jahr ein Sommerpraktikum im New Yorker Büro absolviert. Er hatte einen Anzug getragen, an Meetings teilgenommen und versucht, sich wie der Erbe des Imperiums zu fühlen, obwohl er sich nur wie ein Betrüger vorkam. Noch immer kannte er nicht den Unterschied zwischen Anleihen und Aktien und Anteilen.

Aber niemand glaubte ihm das.

Nachdem die Agents gegangen waren, zitterte er wie Espenlaub und hatte eine gute Viertelstunde lang mit zu Fäusten geballten Händen auf der Bettkante gesessen und darauf gewartet, wieder normal atmen zu können. Anschließend hatte er sich umgezogen, dann hatte auch noch der Bus Verspätung, und jetzt – Lane sah auf die Uhr – war es fast zehn Uhr abends, und Acton hatte ihm gesagt, er solle um sieben da sein. Na toll. So ziemlich die einzige Person in ganz Belleview Heights, die nicht aufgelegt oder ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte oder – Lanes Favorit – plötzlich so tat, als würde sie ihn nicht erkennen, und Lane war drei Stunden zu spät dran. Lane hatte versucht, anzurufen, musste aber feststellen, dass sein billiges Prepaid-Handy nicht funktionierte. Das passierte anscheinend, wenn man sein ganzes Guthaben mit erfolglosen Anrufen bei den Anwälten der Eltern und der Bank verschwendete. Lane hasste das Prepaid-Telefon so sehr wie die Leinenschuhe. Sein iPhone – so ziemlich das einzige Relikt, das ihm aus seinem echten Leben geblieben war – war ein vertrautes Gewicht in der Gesäßtasche seiner Jeans, aber es war vor zwei Tagen abgeschaltet worden, da die Rechnung seit Wochen überfällig war.

Zwei Telefone und keines, mit dem er tatsächlich einen Anruf tätigen und seine Verspätung erklären konnte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu spät zu kommen und zu hoffen, dass Acton ihn noch sehen würde.

Die Dinge hatten sich verschlechtert.

Eigentlich waren die Dinge total beschissen.

„Irgendwelche Pläne für den Sommer?“, hatte ihn sein Mitbewohner in der Schule gefragt.

Ja, ich habe vor, eines Tages aufzuwachen und herauszufinden, dass meine Mutter verhaftet wurde, mein Vater das Land verlassen hat, ihre Bankkonten eingefroren sind und das FBI mich aus meinem Haus rauswirft. Und du?

Das Schlechte hatte Lane so gut wie im Griff: die Befragung durch die Securities and Exchange Commission, dem SEC, die Spekulationen in den Medien, dass jemand wissen musste, wo das Geld war, die Annahme, dass Lane dieser Jemand war. Das total Beschissene hatte sich in den letzten zwei Wochen angesammelt. Der Versuch, an das Schließfach seiner Familie heranzukommen, während gegen ihn ermittelt wurde, der Versuch, die wöchentliche Rechnung für ein Motelzimmer zu bezahlen, das so klein war, dass er nicht gleichzeitig die Eingangstür und den Minikühlschrank öffnen konnte, und der Versuch, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn er nicht zahlen könnte. Was passieren würde, wenn der Sommer zu Ende ging und es immer noch schlecht war.

Wenn er nicht zurück in die Schule gehen konnte.

Wenn er sein Leben nicht zurückbekam.

Wenn das jetzt sein Leben war.

Keine Zeit für Nervenzusammenbrüche, schon vergessen?

Lane bog um die Kurve und starrte durch das schmiedeeiserne Tor auf Actons Haus. Es war ein großes Haus im Tudor-Stil mit steinernen Schornsteinen an beiden Enden des steil abfallenden Daches. Lange Ranken kletterten an Teilen des dunklen Mauerwerks empor und reichten bis in den zweiten Stock. Dunkle Balken durchzogen das weiß verputzte Äußere der zweiten Etage und die Giebel. Das Haus hatte sich für Lane immer gemütlich und einladend angefühlt, trotz seiner Größe. Er kam gerne hierher. Das hatte er immer getan.

Nur war das Haus heute Abend beleuchtet. Geparkte Autos spielten ein kompliziertes Tetris-Spiel in der Einfahrt. Acton feierte eine Party. Gott, er konnte da nicht hineingehen, wenn Acton eine Party feierte. Er konnte es nicht ertragen, dass alle auf ihn zeigten und ihn anstarrten. Oder schlimmer, auf ihn losgingen. Eine Menge Leute hatten viel Geld verloren und hassten Lanes Eltern dafür. Sie hassten auch Lane. Je mehr er stammelte, dass alles ein Irrtum war und seine Eltern das in Ordnung bringen würden, desto mehr hassten sie ihn. Sie sahen ihn an, als würden sie ihm nicht glauben. Als ob er lügen würde.

Er hasste das. Er log nicht. Er hatte nie gelogen.

Der Knoten in Lanes Magen hatte sich seit dem Tag, an dem alles zum Teufel ging, nie ganz gelöst. Jetzt zog er sich wieder fester zusammen.

Nein. Er konnte da nicht reingehen.

Außer.

Außer er hatte keinen Cent mehr im Geldbeutel und es satt, in diesem schäbigen Motel zu übernachten. Und Acton war nicht nur der Freund seiner Eltern, er war auch Lanes Freund. Und wenn er eine Party feierte, dann war er wenigstens noch nicht im Bett, oder?

Lane holte tief Luft. Den Knoten in seinem Magen ignorierend, drückte Lane auf den Summer neben dem Tor und sagte der blechernen dünnen Stimme, die danach fragte, seinen Namen.

Das Tor öffnete sich.

***

Derek hob seine Kamera.

Klick-klick-klick.

Eine Frau in einem weißen, knielangen Kleid und mit Perlen, dick wie Murmeln, unterhielt sich mit einem Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug und einer meeresgrünen Krawatte. Derek hatte sie mit zurückgeworfenem Kopf erwischt, wie sie über etwas lachte, das der Mann gesagt hatte, ein Glas Rotwein in der Hand, das bedenklich kippte. Sie hieß Tabitha. Tabitha Irgendwer. Jeder in diesem Haus kannte ihren Nachnamen, abgesehen von Derek. Sogar die Kellner, da war er sich sicher.

Derek stand in der Hierarchie noch weiter unten als die Kellner. Die Hosensäume der Kellner waren nicht mit Fett verschmiert, wo sie in eine Fahrradkette geraten waren, und die Achseln ihrer Jacken rochen nicht nach Schweiß von einer anderthalb Kilometer langen Fahrradfahrt mit einem Rucksack voll Kameraausrüstung. Derek war hier, um unsichtbar zu sein, um offene Momente mit Belleviews Reichsten einzufangen, während sie so taten, als bemerkten sie ihn nicht.

Tabitha nahm einen Schluck Wein und leckte sich heimlich über die Zähne.

War es falsch, dass ein kleiner Teil von ihm sehen wollte, wie sie Wein auf das weiße Kleid verschüttete?

Er stellte die Blende neu ein.

Es war nicht Tabithas Schuld, dass sie reich war. Es war nicht die Schuld von Anthrazit-Anzug, dass er hundert Dollar für einen Haarschnitt ausgeben konnte, der ihn wie einen Pilz mit einer Schicht Dreck auf der Kappe aussehen ließ. Es war einfach, sich umzusehen und einen Haufen seelenloser Bastarde zu sehen. Keine Ahnung, wie langweilig sie waren, wie weltfremd. Insgeheim erbärmlich.

Die meisten von ihnen waren seit dem „Magic-Moredock-Skandal“ noch erbärmlicher – der eingängige Name der Medien für „mehrere Tausend Menschen, die über den Tisch gezogen wurden“. Wall-Street Bonze Laura Moredock hatte wie ein Magier Millionen verschwinden lassen. Und dann war auch noch ihr Mann verschwunden. Der einzig verbliebene Moredock in der Stadt war der Junge, ein College-Kid.

Derek hatte es satt, Landon Moredock in den Boulevardzeitungen zu sehen, die er normalerweise absolut nicht las – aber was sollte man auch sonst tun, wenn man an der Kasse eines Lebensmittelgeschäfts wartete? Hübscher Junge und ein totales Partytier. Lebte sein Highlife auf Kosten seiner Eltern, wurde vor diesem Club oder jener Bar gesichtet und sah aus, als würde er nicht bemerken oder sich darum kümmern, dass seine Mutter im Gefängnis saß und seine Familie alle verarscht hatte. Erst vor Kurzem hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt brachten die Boulevardzeitungen Fotos von Landon, auf denen er entweder am Boden zerstört oder wie in der Falle sitzend aussah, mit weit aufgerissenen Augen. Die Schlagzeilen lauteten SIND LANDON MOREDOCKS PARTYZEITEN VORBEI? und ERMITTLUNGEN WENDEN SICH MOREDOCK-ERBEN ZU.

Derek kam sich immer ein bisschen schäbig vor, wenn er die Magazine in die Hand nahm und sich die Fotos von Landon anschaute. Aber was machte es schon? Derek wusste es besser, als zu glauben, was er in den Boulevardblättern las, aber wenn er sich Landons Fotos betrachtete, war es leicht zu glauben, dass an den Gerüchten über das Partytier etwas dran war. Wäre Derek in Landons Alter so gut aussehend und privilegiert gewesen, hätte er es sicher auch nicht anders gemacht.

Die seriöseren Zeitungen stellten Landon nicht als sorglosen Partylöwen dar, sondern als den Erben von Moredock Investments – einen selbstmotivierten Senkrechtstarter, der sich einarbeitet, um eines Tages das Imperium zu übernehmen. Und, so vermutete das FBI, er wusste mehr über den Plan seiner Eltern, als er zugeben wollte. Erst neulich war ein Artikel über mögliche Offshore-Konten in Landons Namen erschienen, und ein Leitartikel in der Gazette hatte das aufgegriffen und den Goldjungen von Moredocks Investments als genauso korrupt wie seine Mutter bezeichnet.

Diese Version von Landon Moredock – Goldjunge, Erbe, selbstmotiviert – ärgerte Derek noch mehr als das Partymonster. Als Derek zwanzig gewesen war, hatte er als Tellerwäscher in einer Bar gearbeitet. Er hatte keinen hoch dotierten Job in der Firma seiner Familie gehabt, der auf ihn wartete, als er das College verließ. Gott sei Dank war der verdammte Skandal aufgeflogen, sonst wäre Landon Moredock wahrscheinlich schon mit einundzwanzig bei Forbes gelandet, während Derek mit siebenunddreißig so gut wie pleite war.

Derek war nicht der Einzige im Raum, dem es wegen Magic Moredock schlecht ging. Und was er verloren hatte, war Kleingeld im Vergleich zu den Beträgen, von denen sich diese Leute verabschiedet hatten. Man würde es allerdings nie erfahren.

Lasergebleichte Zähne blitzten, Gläser klirrten, und Dereks Verschluss klickte.

Derek hatte sich nie eingeredet, dass er ein Künstler war. Er hatte Fotografen getroffen, die es waren. Die das Innenleben eines Subjekts so perfekt einfangen konnten, dass sich das Betrachten ihrer Fotos fast aufdringlich anfühlte.

Derek machte gute Fotos. Er verstand etwas von Beleuchtung, Perspektive, Arrangement und Kameras. Und das Fotografieren war viel besser als die Arbeit in einer Kabine eines Großraumbüros. Also war er letztes Jahr aus seiner Kabine geflohen und hatte Fields Photography gegründet. Siebenunddreißig war doch nicht zu alt, um neu anzufangen, oder? Um herauszufinden, was er wirklich tun wollte und es zu tun? Er musste kein künstlerisches Genie sein, er brauchte nur einen Job, der ihm Spaß machte. Oder den er zumindest nicht aktiv hasste.

Hochzeiten, Abschlussbälle, lokale Veranstaltungen, private Partys … Es bezahlte die Rechnungen – gerade so – und brachte Derek nicht dazu, sich eine Waffe in den Mund zu stecken. Hier war er also, schlich durch Acton Wagners Villa und stellte sich sein Bild von Tabitha Irgendwer in einem gerahmten Zeitungsausschnitt an einer Kirchenmauer vor.

Jemand hatte einen kleinen Hund in einer Handtasche mitgebracht. Der Hund saß ruhig da und streckte seinen Kopf aus der Handtasche. Er erinnerte Derek daran, dass er morgen bei Christy vorbeikommen musste, um das Shooting für den Wohltätigkeitskalender der Humane Society zu besprechen – und dass er dabei keine schwarze Hose tragen sollte, es sei denn, er wollte sichtbar mit Haaren und Speichel bedeckt im Studio ankommen. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Tatsächlich schien ihm die Gesellschaft von Hunden, Katzen, Schweinen, Frettchen und einem sehr störrischen Ara lieber zu sein als die Gesellschaft, die er gerade fotografierte.

Er hatte an diesem Abend nur einmal einen Blick auf den Gastgeber erhascht. Acton Wagner sah nicht schlecht aus. Er war ein großer Mann, der durch seinen Anzug wie eingesperrt wirkte, seine Lackschuhe lang und spitz, sein Lächeln schief. Zweimal in den wenigen Minuten, die Derek damit verbracht hatte, ihn zu begutachten, hatte Acton einen Fingernagel an seinen Mund gelegt, sich dann gefangen und die Hand wieder an seiner Seite hängen lassen. Vor dem Skandal hatte er offenbar eine enorme Summe an eine Wohltätigkeitsorganisation gespendet, obwohl Derek nicht lange genug dabei geblieben war, um zu wissen, welche Wohltätigkeitsorganisation oder wie viel.

Er sollte wirklich mehr Fotos von Wagner besorgen.

Aber wo war der Mistkerl jetzt?

Derek ging um ein Paar herum. „Entschuldigen Sie“, sagte er, als er die Frau an der Seite streifte.

Sie wich zurück und musterte ihn kurz. Wahrscheinlich bemerkte sie den Fahrradschmierfleck auf seinem Hosenbein und fragte sich, wie dieses Gesindel hierher gekommen war. Er lächelte und winkte. „Schön, Sie zu sehen.“

Manchmal lohnte es sich, ein wenig Spaß mit diesen Leuten zu haben. Zu seiner Überraschung winkte die Frau zurück. „Ebenfalls.“

Es war wirklich nicht fair, sie alle über einen Kamm zu scheren, oder?

Derek verließ den Raum und ging einen breiten Flur entlang auf der Suche nach seinem Gastgeber.

***

Acton wartete an der Tür auf Lane.

„Landon, komm rein, komm rein.“ Ein strahlendes Lächeln, glänzende Manschettenknöpfe und eine Wolke von Aftershave. Acton war makellos. „Ich war nicht sicher, ob du es schaffen würdest.“

Die Dinge, die Lane sagen wollte – bitte nenn mich nicht so. Können wir stattdessen hier draußen reden? Gott, ich bin so froh, dich zu sehen. Hilfst du mir, Acton, bitte? – hatten keine Worte.

Lane zwang sich stattdessen zu einem Lächeln. „Ich, ähm, ich wusste nicht, dass du eine Party gibst.“

Acton schlang einen Arm um seine Schultern und gestikulierte. Der Brandy schwappte in seinem Glas und drohte, auf Lanes Hemd zu landen. „Nur ein paar Freunde. Eine Benefizveranstaltung. Nicht, dass heutzutage jemand viel zu geben hätte, hmmm?“

Lane zuckte bei dem Scherz innerlich zusammen.

Acton lachte.

Ein Kellner trat hinter sie und hielt das Tablett mit Kanapees hoch. Lane hob den Kopf, um den Duft einzufangen. Sein Magen knurrte, und er hoffte, Acton hätte es nicht gehört. Die Hüften des Kellners schwangen hin und her, während er ging. Er hatte die Eleganz eines Tänzers.

Sie hielten an der Schwelle des teuren Wohnzimmers, Actons Arm schlang sich enger um Lanes Schultern. Lane sah hinein. Oh Gott. Das war ein Albtraum. Ein wahrhaft echter Albtraum. Jede Sekunde würden sich alle zu ihm umdrehen und ihn anstarren, und Lane würde die Art von Entschuldigungen stammeln, die nach Schuld schrien, um dann würde es irgendwie der erste Schultag sein, und Lane an sich hinunterblicken und entdecken, dass er keinerlei Kleidung trug.

Oder so etwas.

Der perverse Teil seines Gehirns fragte sich müßig, was er erbrechen würde, da er seit dem Mittagessen nichts anderes als ein Sandwich gegessen hatte. Es musste ein Punkt kommen, an dem Erbrechen nur noch die Verschwendung von wertvoller Energie war.

Actons Lachen war leise, sein Atem warm gegen Lanes Wange. „Vielleicht nicht, hm? Sollen wir oben in meinem Arbeitszimmer reden?“

Erleichterung durchflutete Lane. Er nickte dankbar. „Das wäre gut.“

Lane kannte den Weg. Er war zum ersten Mal hierher gekommen, als er zehn war, und man hatte mit ihm die große Führung veranstaltet. Acton hatte ihn auf alle Merkmale und Annehmlichkeiten hingewiesen. Er hatte das ganze Haus in Quadratmetern ausgemessen, was bei jedem anderen vielleicht protzig gewirkt hätte, aber bei Acton war das eine Berufskrankheit.

Acton war „Belleviews erster Immobilienmakler“, wie es in seiner Werbung hieß. Sein Gesicht prangte auf mehr Bussen und Bänken als das seiner Konkurrenten, und es war das Gesicht eines Immobilienmaklers: gut aussehend, mit glänzenden Zahnkronen und gepflegtem Haarschnitt. Sein schiefes Lächeln hatte genau den richtigen Grad an Verwegenheit und Charme. Er war ein kräftiger Mann, aber nicht fett. Für sein Alter sah er gut aus. In ein paar Jahren, wenn die grauen Haare die dunklen überwogen, würde er distinguiert aussehen.

Die Geräusche der Party verblassten zu Hintergrundgeräuschen, als Lane Acton die Treppe hinauf folgte. Oben war das Licht gedämpft, und Lane entspannte sich. Er ließ die Schultern rollen, die Anspannung löste sich.

Actons Arbeitszimmer roch nach Leder und altem Zigarrenrauch. Ein raumhohes Regal mit ledergebundenen Büchern in dunklen Braun-, Grün- und Rottönen nahm eine ganze Wand ein. Ein lederner Ohrensessel stand hinter dem großen Mahagonischreibtisch. Der Schreibtisch war leer bis auf eine Bankierlampe aus Messing und einen zugeklappten Laptop.

Acton ging zum Sideboard hinüber. „Drink?“

Lane schob die Hände in die Taschen. Auf leeren Magen war es wahrscheinlich keine gute Idee, aber es wäre unhöflich abzulehnen, und einer würde schon nicht schaden.

„Danke.“

Das machte das Reden vielleicht einfacher. Reden war immer schwer für Lane, selbst wenn es nur er und Acton waren.

„Setz dich.“ Acton klapperte an der Anrichte herum.

Die dünnen Sohlen von Lanes billigen Schuhen scheuerten auf dem türkischen Teppich. Er setzte sich gegenüber dem Schreibtisch auf den großen leeren Ledersessel. Er ähnelte dem, den seine Mutter in ihrem Büro in New York hatte. Ein offenes, modernes Büro in einem Glas-Stahl-Wolkenkratzer, aber irgendwie hatte dieser altmodische Sessel nicht fehl am Platz gewirkt.

Lane fragte sich, was mit dem Stuhl passiert war, mit dem Büro und mit dem flotten, effizienten Personal, das dort herumgewuselt war. Er fragte sich, ob seine Mutter darüber nachgedacht hatte. Oder sein Vater.

„Es war hart, nicht wahr?“ Actons Stimme riss ihn aus seiner allzu vertrauten düsteren Träumerei.

„Ähm, ja.“ Lane brachte ein Lächeln zustande, als Acton sich an den Schreibtisch lehnte und ihm seinen Drink reichte. „Ich möchte dich nicht von deinen Gästen ablenken.“

„Du bist auch mein Gast. Mein besonderer Gast.“

Lane war sich nicht sicher, wie er das auffassen sollte, bis Acton lachte. Dann lächelte er und entspannte sich. Acton gehörte praktisch zur Familie. Das war alles, was er meinte.

„Wenn du nicht angerufen hättest, hätte ich mich bei dir gemeldet“, fuhr Acton fort. „Ich habe in den letzten Wochen viel über dich nachgedacht. Darüber, was ich tun könnte, um dir zu helfen.“

Lane wäre am liebsten vor Erleichterung zusammengebrochen. Jemand interessierte sich für ihn. Jemand glaubte ihm. All die Zeit, die Lane damit verbracht hatte, sich Sorgen zu machen, ob er Acton doch nicht hätte anrufen sollen, dass Acton ihn hasste, wie alle anderen es taten, und dabei hatte Acton von ihm hören wollen. „Mein Telefon wurde abgestellt. Sie dir das an.“ Er zog sein billiges Prepaid-Telefon heraus und legte es auf den Schreibtisch. „Ich musste mir so eines besorgen.“

Acton nippte an seinem Brandy. „Hast du etwas von Stephen gehört?“

Lane verlagerte sein Glas von der linken in die rechte Hand, seine Brust zog sich zusammen. „Er ist noch in Spanien, glaube ich. Er war geschäftlich dort, als – als das alles passierte. Er hatte letzte Woche eine E-Mail geschickt.“

Eine lausige, beschissene E-Mail: Halte durch, Kleiner. Die Anwälte klären das schon.

Lane wollte es glauben. Wollte so sehr glauben, dass er aufwachte und alles geklärt wäre. Aber es wurde Lane immer klarer, dass sein Vater keine Ahnung hatte, was los war, weder mit den Anwälten, noch mit Lane, noch mit sonst irgendwas.

Lane versuchte durchzuhalten. Er versuchte, es auszuhalten. Aber es war schwer, weil er nicht wusste, wie lange es dauern würde, bis er sein Leben zurückbekam. Wenn sein Vater ihm das nur sagen würde, ihm nur eine Ahnung davon geben würde, dann wäre es okay. Er wurde auf der Straße angeschrien. Er hatte es seinem Vater nicht gesagt – er wollte ihn nicht belästigen – aber er hatte Angst. Warum hatte sich das alles noch nicht geändert?

Acton betrachtete ihn schweigend.

„Ich glaube, ähm, ich glaube, er kommt nicht zurück, für den Fall, dass sie versuchen, ihn auch zu verhaften.“ Ein Teil von Lane wollte kenntnisreicher klingen, als er war, wollte die Risse überspielen, die die Distanz zwischen ihm und seinem Vater darstellten, und so tun, als wären sie sich näher, als sie es waren. Er wollte seine Verwundbarkeit nicht zeigen. Niemandem gegenüber. Nicht einmal gegenüber Acton. Nicht in ihrer Gesamtheit.

Lane befand sich nicht im freien Fall. Auf keinen Fall, ganz und gar nicht. Er hielt durch, während die Anwälte die Sache klärten. Kindchen.

Actons Lächeln war eine Spur zu wissend.

Lane senkte seinen Blick und nippte an seinem Drink. Scotch. Er brannte seine Speiseröhre hinunter. „Ich meine, anscheinend denkt die SEC, er hätte das Geld.“

„Hmmm.“ Acton verlagerte sein Gewicht, stellte seinen Brandy auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Und, hat er?“

Lanes Gesicht brannte. „Nein!“

Er wusste nicht, ob er log oder nicht. Er wusste nicht, warum er seinen Vater verteidigte.

„Landon.“ Acton streckte den Arm aus und legte eine große Hand auf Lanes Schulter. „Du würdest es mir sagen, wenn du es wüsstest, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Lane. Er sollte über den angedeuteten Vorwurf beleidigt sein, aber er war zu müde dafür. Wahrscheinlich hatte er seine Reserven an empörter Unschuld bei den SEC-Ermittlern aufgebraucht. Er war nur noch müde – müde und irgendwie froh, das Lächeln zu sehen, das sich auf Actons Gesicht ausbreitete.

„Und du würdest es mir sagen, wenn du das Geld hättest, oder?“

Lane konnte nicht bestimmen, ob das ein Scherz war oder nicht. Acton lächelte, aber es lag etwas Ernstes in seinem Ton. „Ich habe es nicht“, sagte Lane und wünschte sich, die Worte wären lauter, stärker aus seinem Mund gekommen.

„Entspann dich. Es sind also nur Gerüchte. Die Konten?“

„Welche Konten?“, verlangte Lane zu wissen.

Acton zuckte mit den Schultern. „Ich habe neulich etwas in der Zeitung gelesen – irgendeinen Blödsinn über Offshore-Konten auf deinen Namen.“

Nur Actons Beteuerung, dass es Blödsinn war, hielt Lane noch davon ab, in Panik zu geraten. Er hatte seit Tagen keine Zeitung mehr in die Hand genommen – konnte sich keine leisten. Und er hatte auch keinen Zugang zu einem Computer gehabt. Offshore-Konten – er wollte Acton nicht fragen, was genau das bedeutete. Wollte nicht, dass Acton wusste, wie ahnungslos er war. Kriminelle hatten in Filmen immer Offshore-Konten, richtig?

Obwohl die Filme nie zeigten, wie die Kriminellen diese Konten bekamen oder was sie damit machten. Lane wusste, dass das schlecht war, und das war genug.

Außer, dass die Konten nicht existierten. Lane verstand nicht, wie er für etwas beschuldigt werden konnte, mit dem er nichts zu tun hatte.

„Warum sollten sie das behaupten?“, fragte Lane.

Acton nahm einen großen Schluck Scotch. „Sie versuchen, der Geschichte ein bisschen neues Drama zu verpassen, nehme ich an. So ist das nun mal. Wenn du privilegiert bist, wenn du gut aussiehst, dich aber – und sei es nur ein wenig – nicht gut benimmst, machen die Medien Hackfleisch aus dir.“

Bei diesen Worten durchfuhr Lane ein Schauer. Wenn du gut aussiehst, dich aber nicht gut benimmst … Sein Schwanz regte sich. Es war ihm peinlich, in so einem Moment an Sex zu denken. Actons Nähe bewirkte immer etwas in ihm. Und durch den Stress des Skandals funktionierte sein Verstand nicht richtig. Das war alles.

Acton lächelte wieder. „Du bist ein guter Junge“, sagte er.

Lane erwiderte das Lächeln, zum ersten Mal seit Wochen aufrichtig hoffnungsvoll. Er hob das Glas an seine Lippen und schluckte. Diesmal ging der Scotch leichter hinunter. Er breitete sich in ihm aus, warm und ließ seine Haut kribbeln. Und obendrein lockerte er auch seine Zunge.

„Was ist mit deinem Gemälde passiert?“, fragte Lane.

Acton hatte immer einen Stuart Davis in seinem Büro hängen gehabt – ein Stück moderne Kunst in Blau- und Stahlschattierungen. Eine Skyline.

„Ich habe es verkauft“, sagte Acton. Er starrte auf die Stelle an der Wand, wo das Bild gehangen hatte. Abweisend wedelte er mit der Hand. „Um ein vorübergehendes Cashflow-Problem aufzufangen.“

Schuldgefühle ploppten in Lanes Magen auf. Er konnte sich nicht dazu durchringen, nach dem Grund zu fragen.

„Ich kann meine Studiengebühr für das nächste Semester nicht bezahlen“, sagte Lane plötzlich und fragte sich, ob es Acton half, wenn er wusste, dass es ihm ebenfalls wehtat. „Oder meine Motelrechnung im Moment. Oder irgendwas. Scheiße, sieh dir meine Schuhe an!“

Lane war sich nicht sicher, welche Reaktion er auf seine Litanei des Elends erwartet hatte, aber sicher kein Lachen. Er gab sich einen Moment Zeit, um festzustellen, ob er empört war. Nein. Und es war irgendwie lustig, hier in Actons Büro zu sitzen, in seinen zerknitterten Klamotten und den Schuhen, die er aus dem Secondhand-Laden hatte. Lane würde alles, was er hatte, darauf wetten – was war das schon, sechs Dollar und fünfundsiebzig Cent? – dass der letzte Typ, der mit Acton in seinem Arbeitszimmer gesessen und Scotch getrunken hatte, nicht in der Lage wäre, einen Secondhand-Laden mit einer Stadtkarte zu finden.

Seine Lippen zuckten. Es war lustig. Die Gerüchte über die Offshore-Konten. Die Medien erfanden den Scheiß, obwohl Lane nicht einmal wusste, was ein Offshore-Konto war.

„Noch einen Drink?“

Lane schaute auf sein Glas. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er ausgetrunken hatte. Er nickte und hielt Acton das Glas hin.

„Tut mir leid, wenn, ähm – wenn du – wenn es wegen meiner Eltern ist. Das Gemälde.“ Er nahm das Glas, das Acton ihm reichte, und trank einen großen Schluck. Es klang seltsam, sich für etwas zu entschuldigen, für das er nichts konnte, aber Lane hatte oft das Bedürfnis, sich für alles zu entschuldigen, was schiefging, ob er es nun verursacht hatte oder nicht. Und er wollte Acton wissen lassen, dass es ihm leidtat.

Acton gluckste. „Immer mit der Ruhe.“ Mit dem Kinn deutete er auf Lanes plötzlich leeres Glas. „Ich habe vergessen, dass du noch nicht einmal alt genug bist, um zu trinken.“

Lane erwiderte Actons Lachen und reichte das Glas an Acton zurück. „Ich nehme noch einen, wenn es dir nichts ausmacht.“ Er war überrascht, wie deutlich ihm die Worte über die Lippen kamen. Er klang nicht wie sein übliches nuschelndes Ich, sondern wie jemand, der wusste, was ihm zustand. Er klang wie sein Vater.

„Trinkst du in der Schule?“

Die Art, wie Acton die Frage stellte, jagte Lane einen Schauer über den Rücken. Als ob Acton alles wusste, was er in Boston anstellte. Als ob Lane in Schwierigkeiten wäre. Er wollte Acton nicht verraten, wie oft er als Teenager solche Fantasien gehabt hatte. Fantasien, in denen er vor Acton stand, während Acton ihn belehrte. In denen Acton ihm sagte, dass er gegen die Regeln verstoßen hatte und er …

Lane stoppte sich selbst. Irgendetwas stimmte ernsthaft nicht mit ihm. Das wusste er schon seit Jahren. Es war nur so, dass seine Eltern sich nie darum zu kümmern schienen, was Lane tat oder nicht. Aber Acton bemerkte es. Und die Vorstellung, dass jemand jede seiner Bewegungen bemerkte, jemand, der ihn zur Rede stellen würde, wenn er etwas falsch machte, war unglaublich … heiß?

Nein, irgendetwas stimmte definitiv nicht mit ihm.

Lane schüttelte den Kopf. „Nein, Sir.“ Das war die Wahrheit. Er trank nicht in der Schule. Nun, er trank hin und wieder ein Bier, um seine Nerven auf einer Party zu beruhigen. Aber er war nie betrunken gewesen. Ein Bier ab und zu war kein „Trinken“, oder? Hatte er Acton belogen, und würde Acton es merken?

Lane ließ sich von der Fantasie mitreißen, als Acton sich über die Ablage beugte. Die Wärme in seinem Körper machte es okay, über diese Dinge nachzudenken. Acton wusste es, und in einer weiteren Sekunde würde er sich umdrehen und Lane zur Rede stellen. Ihm sagen, dass er für die Lüge bestraft würde.

Oh Scheiße, Lanes Schwanz wurde steif. Das Letzte, was er brauchte, war, in Actons Arbeitszimmer einen Steifen zu bekommen, während Acton versuchte, ihm zu helfen, sein Leben in Ordnung zu bringen.

Warum dauerte es so lange, einen weiteren verdammten Scotch einzuschenken?

Acton drehte sich um und reichte ihm sein Glas. Diesmal war weniger Scotch darin. Acton war auf der Hut vor ihm.

„Natürlich weißt du das nicht. Du bist ein guter Junge“, wiederholte Acton. Er hob sein Glas und Lane berührte es mit seinem eigenen.

Sie tranken. Acton stellte sein Glas ab und legte seine Hand auf Lanes Schulter. Lane verschluckte sich an dem Schluck Scotch, lachte und verpasste völlig, was Acton sagte. „Was?“

Acton bewegte die Hand auf Lanes Schulter, drückte sie sanft und rieb seinen Daumen an Lanes Schlüsselbein. Der weiche Stoff des T-Shirts glitt zwischen ihnen hin und her. „Ich habe gesagt, dass du auch ein gut aussehender Junge bist.“

Lane zuckte zusammen, errötete und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Irgendetwas. „Als ich fünfzehn war, habe ich mir bei dem Gedanken an dich immer einen runtergeholt.“

Verdammt. Nicht das.

Er zitterte, dann kicherte er. Er hatte es tatsächlich gesagt. Er hatte etwas sagen wollen, und er hatte es gesagt, anstatt an den Worten zu ersticken.

Er fragte sich, ob Acton sich daran erinnerte, was passiert war, als Lane fünfzehn gewesen war, genau hier in diesem Raum. Als Lane auf Acton zugekommen war, um ihn in Lauras Namen etwas zu fragen, und durch die halb geöffnete Tür gesehen hatte, wie sich Acton umzog. Er wusste nicht, warum er sich nicht umgedreht hatte und weggegangen war. Nur, dass der Anblick von Actons kräftiger Brust faszinierend gewesen war. Die Kurven seines Hinterns unter dem Slip … Lanes Schwanz war hart geworden. Er hatte zu schwitzen begonnen.

Und dann hatte sich Acton zur Tür gedreht.

Lane kehrte in die Gegenwart zurück, wo sich ein Lächeln auf Actons hübschem Gesicht ausbreitete. „Dreckige kleine Schlampe.“

Warte, was? Das war nicht die Art von Dingen, die Acton zu ihm sagen sollte. Und es war auch nicht die Art von Dingen, die ihn hart machen sollten. Oh Gott. Er erinnerte sich daran, wie Acton ihn dazu brachte, sich neben ihn auf die Liege zu setzen. Er nahm Lanes Hand und rieb mit seinem Daumen über Lanes Knöchel. „Hat es dir gefallen, mir zuzusehen, Landon?“

Es hatte ihm gefallen. Aber es war so falsch. Er hätte nicht auf diese Weise an den Freund seiner Eltern denken dürfen.

„Bitte erzähle es nicht meinen Eltern.“

„Ich glaube …“ Die Worte funktionierten nicht in seinem Mund. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Er konnte nicht denken. Konnte nur mit großen Augen zusehen, wie Acton ihm das Glas aus den gefühllosen Fingern nahm und ihm an die Lippen presste.

„Trink aus.“ Acton lachte wieder. „Du bist okay.“

War er das? Gott sei Dank. Er hatte sich schon wieder Sorgen gemacht.

„Wir werden jetzt etwas Spaß haben, nicht wahr, Landon?“

Plötzlich war das Glas weg, und Actons Lippen pressten sich auf seine. Weich und ein wenig rissig. Actons Bartstoppeln kratzten an seinem Kinn. Lane kicherte in Actons Mund.

Warum hatte er sich Sorgen gemacht? Er vertraute Acton.

„Es wird unser kleines Geheimnis bleiben.“

Lane lächelte, Scotch tropfte aus seinem Mundwinkel.

Ich wollte mehr. Das war mein Geheimnis.

Acton hatte das gewusst. Als er das letzte Mal bei den Moredocks zu Besuch war, als Lane Schulferien hatte, waren sie zusammen im Wohnzimmer gelandet. Acton hatte einen Arm um Lane gelegt und seinen Nacken gestreichelt. Lane hatte sich in die Berührung gelehnt, weil er wusste, dass sie nicht unschuldig und nicht freundlich war. Er hatte Actons heißen Atem an seinem Nacken gespürt und auf die Berührung von Actons Lippen gewartet, weil er wusste, dass er sich nicht weigern würde, wenn es geschah. Aber dann hatte Lanes Mutter den Raum betreten, und Acton hatte sich zurückgezogen.

Aber jetzt küsste Acton ihn, und es war in Ordnung. Lane war schön warm, und Acton Wagner, der Mann, der ihn retten wollte, hatte eine Hand auf seiner Schulter, um ihn aufrecht im Stuhl zu halten, während die andere am Knopf seiner Hose hantierte.

Scheiße, ja.

***

Derek entdeckte die Vorzüge des Unsichtbarseins.

Er ging durch die Villa und spähte in verschiedene Räume. Er hatte es halb aufgegeben, Acton Wagner zu finden, und war mehr daran interessiert, zu erfahren, was ein alleinstehender Millionär in einem Haus mit siebenundzwanzig Zimmern tat.

Nun, öffentlich alleinstehend. Wer wusste schon, was für eine private Parade ein Mann wie Acton in seinem Haus ein- und ausgehen ließ?

Derek pfiff ein paar Takte von „If I Were a Rich Man“, als er in ein verlassenes Zimmer im zweiten Stockwerk trat. Es war klein und dunkel, mit einer hohen Decke. Die Wände waren an drei Seiten abgerundet, und überall standen Topfpflanzen, an manchen Stellen durch kleine Skulpturen oder andere Ornamente abgesetzt, und es roch feucht und erdig. In einer Ecke plätscherte ein kleiner Springbrunnen.

Was war das hier, eine Art Indoor-Garten?

Ein großes Fenster ließ etwas Mondlicht herein, und Derek sah die Silhouette eines hohen, dickstacheligen Kaktus in der Nähe des Fensters. Er konnte nicht erkennen, was die anderen Pflanzen waren, ohne das Licht anzumachen. Und das hatte er nicht vor zu tun.

Er mochte es, ein Geist zu sein.

Er verließ den Raum und überprüfte sein Handy. Dieser Rummel sollte bald zu Ende sein. Oder zumindest wurde er nicht mehr gebraucht, nicht wahr? Am besten fängt man alle in der Blütezeit des Abends ein, wenn die Hosen noch nicht zerknittert und die Wimperntusche noch nicht verschmiert war und die Bäuche noch nicht von Kaviar und Gänseleber oder was auch immer diese Leute sonst noch aßen, aufgebläht waren.

Derek persönlich hätte für ein paar Chicken Nuggets getötet.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Gäste schon zu viel Wein getrunken. Hohe Absätze fingen an zu nerven. Die Stimmen waren entweder zu laut oder heiser vor Erschöpfung.

Irgendetwas daran inspirierte Derek. Vielleicht hatte er selbst ein Glas Wein zu viel getrunken. Er bog um eine Kurve im Flur und fand ein Wohnzimmer, in dem sechs Personen saßen. Einer der Männer hatte seine Schuhe ausgezogen und seine Krawatte gelockert. Eine Frau war über den Liebessessel drapiert, einen Arm über ihren Kopf geschleudert wie ein Starlet aus den 30er-Jahren. Zwei andere Männer, glatzköpfig und massig und fast identisch, hatten passende Schweißtropfen, die unter dem Kronleuchter schimmerten.

Derek knipste ein Bild.

Bevor sie ihn bemerken konnten, ging er weiter den Flur hinunter, auf der Suche nach weiteren Fototerminen mit den müden, betrunkenen und überprivilegierten Menschen.

Was würde er mit so viel Geld machen?

Ernsthaft, wenn er ein reicher Mann wäre, was würde er kaufen?

Er mochte den Gedanken, dass es ihn nicht verändern würde, reich zu sein. Dass er derselbe alte Derek Field sein würde – ein Mann, der verstanden hat, dass ein Haus keine elf Schlafzimmer braucht, solange es nicht elf Bewohner mit unerträglichen Schnarchproblemen hat.

Vielleicht würde er immer noch überall mit dem Fahrrad hinfahren und an einem der wenigen verbliebenen Nicht-Smartphones der Nation festhalten. Er würde dieselben Freunde behalten, die er jetzt hat, und Einladungen zu Wohltätigkeitsveranstaltungen wie dieser zerreißen. Er würde für wohltätige Zwecke spenden, sicher, aber er würde niemals in Acton Wagners Villa in einem Zweitausend-Dollar-Anzug auftauchen, um mit Tabithas zu flirten.

Oder vielleicht würde er es doch tun. Vielleicht kaufte er sich ein Auto, ein schickes, und fuhr damit zu Häusern, die wie sein eigenes aussahen, und ließ es dort parken. Vielleicht würde er das nächste Mal, wenn eine Laura Moredock Geld verschwinden ließ, Millionen verlieren, nicht nur ein paar Riesen.

Es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen, da er nie reich werden würde, wenn er reiche Leute fotografierte, und das wenige Geld, das er investiert hatte, war weg.

„Der wahre Maßstab für deinen Reichtum ist, wie viel du wert wärst, wenn du dein ganzes Geld verlieren würdest“, zitierte sein Vater gerne.

Seine Mutter hingegen glaubte fest daran, dass man mit Geld Glück kaufen konnte.

„Mein eigener Pool, keine Hypothekenzahlungen, Vorruhestand, die Möglichkeit zu reisen ... Wie sollte mich das nicht glücklich machen?“

Derek mochte es, mit ihr darüber zu streiten. Er bewunderte seine Mutter und verstand, warum ein Mangel an finanzieller Sicherheit sie ängstlich machte. Sie hatte jung geheiratet und war jahrelang auf das Einkommen von Dereks Vater angewiesen gewesen, während sie Derek und Christy großzog. Und Dereks Vater war ähnlich wie Derek – er wechselte von einem Beruf zum nächsten, auf der Suche nach dem, was er tun wollte. Es gab Lohnkürzungen, Phasen der Arbeitslosigkeit und kaum Möglichkeiten, eine Altersvorsorge aufzubauen. Es hatte seine Mutter in den Wahnsinn getrieben, bis sie selbst einen Job gefunden hatte.

Es kam Derek immer noch komisch vor, dass seine Mutter aufgeschlossen genug war, um zu akzeptieren, dass ihr Sohn sich zu seinem BDSM-Lebensstil bekannte, aber als er ihr sagte, dass er seinen Bürojob kündigte, um das Fotostudio zu eröffnen, war sie ausgeflippt.

„Mit Fotografie lässt sich kein Geld verdienen“, hatte sie gesagt. „Und was ist mit deiner Rentenversicherung?“

„Meine Rentenversicherung wird mir nichts nützen, wenn ich mich erschossen habe, bevor ich das Rentenalter erreiche. Und es gibt genug Geld mit der Fotografie, dass ich nicht verhungern werde.“

Tatsächlich darf ich matschiges Essen mit französischen Namen von Silbertabletts schnappen und in Sechs-Millionen-Dollar-Häusern rumhängen.

Derek brauchte die Toilette.

Er versuchte sich zu erinnern, wohin er vorhin gewiesen worden war. Es gab mindestens sechs im Haus; er musste irgendwo eins finden. Er ging einen Abschnitt des Flurs entlang, der ihm bekannt vorkam. Ja, er war schon vor ein paar Stunden hier gewesen, und das Badezimmer war die letzte Tür auf der linken Seite.

Er klopfte, und als keine Antwort kam, versuchte er es mit dem Knauf. Unverschlossen. Er stieß die Tür auf.

Einen Moment lang war er verwirrt.

Dies war definitiv kein Badezimmer.

Der Geruch von Zigarrenrauch und Schweiß traf ihn hart. Das einzige Licht im Raum kam von einer Lampe auf einem massiven Holztisch. Aber der Schreibtisch interessierte Derek nicht so sehr wie das, was darauf lag.

Ein Mann lag auf dem Rücken, nackt, die langen Beine weit gespreizt und über die Seiten des Schreibtischs baumelnd. Sein dünner, aber muskulöser Arm war am Ellbogen angewinkelt, und er umklammerte die Tischkante so fest, dass die Adern in seinem Handrücken hervortraten. Das Lampenlicht ließ die Furchen und Schrägen seiner Muskeln in reizvollem Kontrast erscheinen. Eine massige Gestalt ragte über ihm auf und verdeckte den größten Teil seines Mittelteils, aber Derek konnte eine Hüfte sehen, deren Knochen perfekt definiert war.

Der nackte Mann drehte sich zu Derek um, sein Gesicht wurde im Lampenlicht eingefangen. Ein feinknochiges Gesicht, der Mund weich und schlaff, die Augen groß. Er war jung. Sein sandfarbenes Haar sah aus, als wäre es ein bisschen zu lang geworden, ohne geschnitten zu sein. Und sein Mund – Derek konnte so einen Mund nicht sehen, ohne ihn sich um seinen Schwanz herum vorzustellen. Die Lippen waren nicht dick genug, um schmollend auszusehen, aber dennoch voll und definiert. Seine Haut – war es nur der Lichteinfall, der sie so glatt aussehen ließ?

Der Junge kam ihm fast bekannt vor, aber vielleicht lag das daran, dass er direkt aus einer von Dereks Wichs-Fantasien entsprungen war.

Offensichtlich war Derek nicht der Einzige, dem der Gedanke an diesen Mund um seinen Schwanz gefiel. Er blickte auf und erfasste das Profil des Mannes, der sich über den Jungen beugte.

Acton Wagner.

Wagner hatte anscheinend die Veränderung in der Aufmerksamkeit des jüngeren Mannes bemerkt, denn er begann, sich Derek zuzuwenden. Als Wagner sich bewegte, schaute der Junge zu ihm zurück, und für einen Moment waren beide Männer im Profil, keiner von ihnen sah Derek direkt an.

Ohne nachzudenken, ohne die Kamera auch nur auf Augenhöhe zu heben, machte Derek ein Foto. Er legte die Kamera an seine Seite, gerade als Wagners Augen die seinen trafen.

„Es tut mir so leid“, sagte Derek, drehte sich leicht und benutzte seinen Körper, um die Kamera zu verdecken. „Ich dachte, das wäre die Toilette.“

Wagners Gesichtsausdruck verriet nicht viel. Er sah weder erschrocken noch wütend oder ängstlich aus.

Der Junge auf dem Schreibtisch jedoch sah Derek wieder an und lächelte.

Irgendetwas stimmte an diesem Lächeln nicht. Es tauchte auf, dann verschwand es, dann tauchte es wieder auf, zu breit und manisch, um ansprechend zu sein.

„Es ist okay“, sagte der Junge, seine Stimme tief und kehlig, als wäre er gerade aufgewacht. „Du kannst dich uns anschließen.“

Er kicherte.

Derek wusste plötzlich, wer der Junge war.

Landon Moredock. Er hatte in den letzten Wochen genug Bilder von ihm gesehen, aber Landon sah ein bisschen anders aus, nackt auf einem Schreibtisch, in Lampenlicht gebadet.

Heilige Scheiße.

Wagner lächelte auch. „Na, na. Benimm dich.“

Landon kicherte wieder.

Wagners Ermahnung rührte etwas in Derek. Ein Teil von ihm wäre gerne derjenige gewesen, der dem Jungen sagte, er solle sich benehmen – ihn dazu zu bringen, sich zu benehmen.

Was lächerlich war, denn das war der verdammte Landon Moredock, der sich genauso abscheulich benahm, wie es die Boulevardpresse behauptet hatte, und Derek war angewidert. Das war das kleine Arschloch, dessen Eltern Dereks Studio so gut wie ruiniert hatten, der, wenn Derek den Zeitungen Glauben schenkte, wahrscheinlich wusste, wo das Geld war.

„Du bist heiß“, erklärte Landon fast trotzig und starrte Derek immer noch an. „Du solltest herkommen.“

Er bewegte seine Hand von der Schreibtischkante zu seinem Mund und saugte an seinem Zeigefinger.

„Meine Güte, was für ein böser Junge“, sagte Wagner leise und fuhr mit einem Finger über den Innenschenkel des Jungen. „Du solltest besser vorsichtig sein. Du willst doch nicht in Schwierigkeiten geraten.“

Landon lachte, der Ton war hoch, fast hektisch. Er verstummte plötzlich, und seine Augen fokussierten sich auf Derek, wie sie es bisher nicht getan hatten. „Hey“, sagte er leise, hob seine Hüften und setzte sie dann wieder auf dem Schreibtisch ab. Als Wagner aus dem Weg war, konnte Derek den harten Schwanz des Jungen gegen seinen Bauch sehen. „Wie ist dein Name?“

Derek machte einen Schritt auf die Tür zu. Landon war betrunken. So viel war klar. Was bedeutete, dass das, was auch immer hier drin vor sich ging, wahrscheinlich nicht stattfinden sollte. Aber das war Landons Methode – Trinken, Drogen, Partys. Derek hatte nicht vor, den Vater der kleinen Schlampe zu spielen und ihm zu sagen, dass er zu Hause im Bett sein sollte – allein und nüchtern.

„Komm her“, sagte Landon. Dann, fast unhörbar: „Bitte?“

Wagner schaute zu Landon, nicht zu Derek. „Am Anfang des Flurs ist eine Toilette. Zu Ihrer Linken.“

„Geht es ihm gut?“, fragte Derek, wobei er seine Stimme lässig hielt.

Wagner drehte sich wieder um und starrte Derek an. Es gab definitiv etwas, das Derek an diesem Mann nicht mochte. Und vieles, was Derek an Landon Moredock verachtete. Die beiden hatten sich verdammt noch mal gegenseitig verdient. „Ja“, sagte Wagner, wobei seine Augen die von Derek nicht verließen – eine dunkle Herausforderung lag in ihnen, der Derek nur eine Sekunde lang begegnen wollte. „Er ist in Ordnung.“ Wagner drehte sich zu Landon um. „Nicht wahr?“

„Ähm.“ Landon kicherte noch einmal. Sein Mund arbeitete in kleinen Zuckungen, als würde er versuchen, das Lachen zurückzuhalten. „Es wäre besser, wenn du hier wärst“, sagte er zu Derek. „Ich mag …“ Er brach in Gelächter aus und hielt sich den Mund zu.

„Du magst das, nicht wahr?“, sagte Wagner beruhigend zu dem Jungen und strich ihm mit einer Hand über die Hüfte.

„Mmhm.“ Derek konnte nicht sagen, ob das Geräusch, das Landon machte, eine Bestätigung oder ein Wimmern war. Der Junge wölbte sich und wand sich unter Wagners Berührung. Derek schaute weg.

„Macht es dir was aus?“ , fragte Wagner an Derek gerichtet.

Nein, es machte Derek nichts aus. Nicht wegen so einem Arschlochpaar.

Derek verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er blieb einen Moment davor stehen und lauschte auf Schritte, die den Raum durchquerten. Dann das leise Klicken des Türschlosses.

Derek hörte sie reden – Wagners tiefe Stimme und Landons höhere – , aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten.

„Komm her. Bitte?“ Derek konnte die Worte nicht aus seinem Kopf bekommen.

Er blickte auf seine Kamera hinunter. Er konnte sich kaum daran erinnern, den Knopf gedrückt zu haben. Wer wusste schon bei dem schummrigen Licht und dem seltsamen Winkel, was er aufgenommen hatte.

Aber es war gut möglich, dass er ein Bild von Landon Moredock hatte, wie er sich für Acton Wagner zur Schlampe machte. Wenn der Boulevardpresse die Fotos von Landon, dem Partyboy, ausgingen …

Derek erlaubte sich ein grimmiges Lächeln.

Es war definitiv an der Zeit, nach Hause zu gehen.

***

Als Lane seine Augen öffnete, sah er einen Strudel aus Rot und Blau. Sein Gehirn holte langsamer auf als seine Augen: Er lag auf dem Boden und war mit dem Gesicht in einen türkischen Teppich gequetscht. Ein Kopfschmerz hämmerte auf die Innenseite seines Schädels und suchte nach einem Ausweg. Lane stöhnte und schloss wieder die Augen.

Wie viel hatte er letzte Nacht getrunken?

Es war ein reflexartiger Gedanke. Er hätte sofort wieder wegschweben sollen, auf einer Wolke aus Alkoholdämpfen und Reue abdriften: niemals. Trinkend. Schon wieder. Nur hat Lane nicht getrunken. Und es verblasste nicht. Es setzte sich irgendwie in seinem Kopf fest und verband sich mit seinen Kopfschmerzen, bis es ebenfalls pochte.

Wie viel musste ich trinken?

Er zwang seine Augen wieder auf. Das Tageslicht stach in sie.

Das Glas auf der Schreibtischkante löste die Erinnerung daran aus, wie Acton es an seinen Mund hielt. Der sanfte, kühle Druck gegen seine Lippen.

„Dreckige kleine Schlampe.“

Oh Gott. Seine Kleider. Gott, wo waren seine Kleider? Lane entdeckte sie in einem zerknitterten Haufen neben Actons Schreibtisch. Er krabbelte zu ihnen, der Teppich brannte an seinen Knien. Was hatte er sich am Abend zuvor eingeredet? Keine Zeit für einen Nervenzusammenbruch. Lane wusste nicht, was zum Teufel letzte Nacht passiert war, aber eines war sicher: Er musste seine Jeans anziehen, bevor seine Hände zu sehr zitterten, um es zu schaffen.

Er stemmte sich schwindelig auf die Beine und stieg in seine Jeans. Sein Hintern schmerzte, als er sich bewegte. Das war nicht gut, oder? Scheiße, er wusste nicht mal mehr …

Er hatte nicht vor zu weinen. Wollte er nicht. Er musste einfach nur hier raus. Jetzt sofort.

Lane zog sein Hemd und seine Schuhe an, wischte sich mit den Händen über das Gesicht und schlüpfte nach draußen.

Im Haus war es still. Lane bewegte sich vorsichtig auf die Treppe zu und ging sie hinunter. Seine Gummisohlen quietschten. Er bewegte sich durch das Foyer auf die Eingangstür zu.

„Landon.“

Lane drehte sich um, sein Herz raste.

Acton lächelte. Im Bademantel sah er genauso souverän aus wie im Smoking. „Du gehst, ohne dich zu verabschieden?“

„Ähm“, sagte Lane und errötete.

„Komm erst mal frühstücken, hmmm?“

Lane drehte den Kopf und schaute auf die Haustür. Er glaubte nicht, dass er etwas essen konnte. Er fühlte sich immer noch übel und unkoordiniert.

Acton lachte.

„Was ist so lustig?“, fragte Lane, wobei seine Stimme brach.

„Du bist es. Du tust so, als ob du irgendwo anders hinmüsstest.“ Es lag etwas entschieden Unfreundliches in Actons Stimme.

„Ist ja auch so“, sagte Lane. Er wohnte in einem dreckigen Motel in einer Gegend, die so beschissen war, dass sogar die Crack-Dealer ihre Autotüren verschlossen, wenn sie dort durchfuhren, und er hatte noch sechs Dollar und fünfundsiebzig Cent in seiner Brieftasche. Wem wollte er eigentlich was vormachen? Acton hatte recht.

Er war wegen Actons Hilfe hergekommen, und Acton hatte ihn betrunken gemacht und gefickt.

Nein. Er hatte zu viel getrunken und sie hatten gefickt. Lane war genauso ein Teil davon wie Acton.

Scham wallte in ihm auf. Ein Teil des Reizes der Fantasien über Acton, als er jünger war, war das Wissen, dass nie etwas passieren würde. Acton war zu alt. Und er war ein Freund der Familie, praktisch ein Onkel für Lane. Jetzt, wo Lane diese Teenager-Fantasie auslebte, fühlte es sich nicht richtig an.

Du wusstest es. Das letzte Mal, als ihr zusammen wart, wäre fast etwas passiert. Du wusstest, wenn du gestern Abend herkämst … Du hofftest …

„Ich gehe“, sagte Lane etwas fester.

„Zwei Millionen“, sagte Acton, sein Lächeln verschwunden.

Lane beobachtete ihn misstrauisch.

„Zwei Millionen“, wiederholte Acton. „So viel habe ich investiert. So viel haben mir deine Eltern gestohlen.“

„Es tut mir leid“, flüsterte Lane. Sein Magen schmerzte. „Das wird es – die Anwälte klären das.“

„Halte durch, Kleiner.“

„Wertlos.“ Acton sah ihn von oben bis unten an. „So wird es ablaufen, Landon. Du willst meine Hilfe? Du wirst deinen Arsch wieder zu mir nach oben bewegen und mir zeigen, wie leid es dir tut.“

„N-nein, ich –“

„Unterbrich mich nicht.“ Acton lächelte, als Lane einen Blick zur Tür warf. „Nicht, wenn ich dir einen Gefallen tue. Geh nach oben, Landon.“

Lane schluckte und klemmte die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Das möchte ich nicht tun.“

„Willst du nicht? Du warst gestern Abend eine schwanzhungrige Hure. Du hast den Fotografen zu einem flotten Dreier eingeladen!“

Lane zuckte zusammen. In Actons Ausdruck lag eine Kälte, die Lane noch nie gesehen hatte. Das war nicht richtig. In seinen Fantasien war Acton befehlend gewesen. In seinen Fantasien hatte Acton gesagt: „Komm her, Landon.“ Er hatte gesagt: „Knie nieder und öffne deinen Mund, Landon.“ Er hatte gesagt: „Mach dich feucht für mich, Landon.“ Er hatte „Hure“ gesagt.

Das Wort in echt zu hören, fühlte sich nicht so an. Es gab eine seltsame Diskrepanz zwischen Lanes Fantasien und der Realität, wie bei einem synchronisierten Film, wo die Worte nicht ganz zu den Mündern passten. Als würde er versuchen, es zu ignorieren, und hoffen, dass sie sich bald wieder synchronisieren würden. Er hatte sich Actons Kälte nicht vorstellen können, diesen Ausdruck, der so sehr nach Hass aussah. Was auch immer zwischen ihm und Acton vorgefallen war, er wollte, dass Acton ihn mochte, sich um ihn sorgte. Ihm helfen.

Was dumm war. Man fantasierte nicht ewig davon, jemandes dreckige kleine Schlampe zu sein, und regte sich dann auf, wenn er einen wie eine behandelte.

„Du …“ hast mich ausgenutzt? Nicht, wenn Lane nach einem weiteren Drink gefragt hätte. „Du hast mich gefickt“, flüsterte er.

„Und du hast es verdammt noch mal geliebt.“ Acton verengte die Augen.

Hatte er das? Eine Spirale der Hitze entrollte sich in Lanes Eingeweiden. Vielleicht hatte er das. Er hatte immer gewollt, dass Acton ihn beachtete, nicht wahr? Er hatte immer herumgehangen, wenn Acton zu Besuch war – ein dummes Kind, das dumm in einen echten Mann verknallt war. Vielleicht hätte er es beim letzten Mal getan, wenn sie allein gewesen wären. Wenn Acton gefragt hätte.

Er hätte fragen sollen.

Vielleicht hatte er das. Lane erinnerte sich nicht.

„Ich bin so dumm“, gab Lane zu und sah auf den Boden. „Ich bin so durcheinander, seit alles passiert ist. Es ist, als wüsste ich nicht, was ich tue.“ Er blickte auf, als Acton einen Schritt nach vorne machte. „Ich stecke in echten Schwierigkeiten.“

Acton seufzte und schüttelte den Kopf. „Armes Kind.“ Etwas wie Hoffnung flackerte in Lane auf. Acton klang wieder wie er selbst. Freundlich, aber bestimmt. Kontrolliert. „Du glaubst, du hast jetzt nichts? Was ist in einer Woche oder in einem Monat? Weißt du, wie viel schlimmer es werden kann?“

Lane zitterte. Acton legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Sieh dich an, Landon, du bist ein Wrack. Du hättest schon früher zu mir kommen sollen.“

Lane nickte. Er hatte alles vermasselt – alles – von dem Moment an, als die SEC ihm gesagt hatte, dass es nicht mehr sein Elternhaus war. Es war erst zwei Wochen her, und er starrte schon der Obdachlosigkeit ins Gesicht. Wer war so nutzlos?

Acton würde ihm helfen. Acton hatte ihm schon so oft geholfen, indem er Lane einfach wahrnahm. Indem er bemerkte und nicht urteilte, denn Lane hasste es, bemerkt zu werden, aber mit Acton war es nicht so schlimm.

„Hi, Landon. Wie läufts in der Schule?“

Er war immer so wortkarg in der Nähe von Mr Wagner gewesen. Er war sich immer so sicher, dass Mr Wagner hinter sein Gemurmel und sein Erröten blickte und direkt in seine schmutzigsten Gedanken hineinsehen konnte. Die Art und Weise, wie sein schiefes Lächeln nur für Lane noch ein bisschen breiter wurde – das war, weil er es wusste.

„Gut, danke, Mr Wagner.“

„Hast du gute Noten?“

Lane war errötet und hatte zu seinen Eltern geschaut. Er konnte Mr Wagner nicht anlügen. Acton.

Stephen hatte lachend einen Arm um seine Schultern gelegt. „Landon macht jetzt Filme. Sein Lehrer sagt, sie sind ziemlich gut.“

„Ich wette, das sind sie“, hatte Acton gesagt und Lane den Teil seines Lächelns gezeigt, von dem Lane sich vorstellen wollte, dass er nur für ihn bestimmt war.

Ich könnte es dir zeigen.

Aber das hatte er nie gesagt, niemals. Er mochte es nicht, wenn man ihn forschend ansah. Er war sich immer so sicher, dass er sowieso beurteilt wurde; er konnte sich nicht freiwillig darauf einlassen. Lane hatte versucht, durchzuhalten. Er hatte sogar einen Kurs über das Filmemachen am College belegt. Zumindest ein Semester lang, bis er nicht mehr konnte. Welche Art von Filmemacher konnte sein eigenes Projekt nicht anpreisen, konnte Kritik nicht abwehren und hasste es, seinen Namen im Abspann zu sehen?

Die teuren Kameras waren nun weg, zusammen mit allem anderen.

Die Prüfer von der SEC und die Agenten vom FBI waren nicht wohlwollend gewesen. Scheiße, Lane hatte kein Mitgefühl erwartet, aber die Leute, die zum Haus gekommen waren, hatten Lane behandelt, als wäre er ihnen im Weg, als würde er sie anlügen, wenn er sagte, er würde nicht verstehen, was vor sich ging. Als wäre er ein Krimineller.

„Es wird beschlagnahmt“, hatte ihm einer von ihnen gesagt, als er die Tür geöffnet hatte.

„Was?“

„Alles.“

Lane hatte in seinem Pyjama auf der Treppe gesessen und den Stapel Papierkram in sich aufgesogen, den sie ihm aufgedrängt hatten, als sie ihm sagten, dass seine Mutter in New York verhaftet worden war. Lane hatte zweimal versucht, seinen Vater anzurufen, aber er ging nicht ran. Als der erste Medienwagen vorfuhr, ging Lane wieder ins Haus. Er hatte eine halbe Stunde Zeit, um zu packen – nur ein paar Sachen. Sie ließen ihn weder seine Uhr noch seinen Burberry-Mantel mitnehmen. Ein FBI-Agent hatte ihn beaufsichtigt und ließ ihn dann durch die Hintertür gehen.

Er hatte gedacht, dass es höchstens ein oder zwei Tage dauern würde und dass die zweihundert Dollar in seiner Brieftasche ihn durchbringen würden. Er hatte mit den Anwälten seiner Eltern telefoniert und versucht zu verstehen, was sie ihm gesagt hatten, und dann hatte er es wieder bei seinem Vater versucht. Und wieder. Und wieder.

Im Laufe der Tage war ihm immer klarer geworden, dass dies keine winzige Panne in Lanes faulem Sommer war. Es war real, und er steckte in echten Schwierigkeiten. Er hatte das Geld in seiner Brieftasche verschleudert, und es gab keine Möglichkeit, mehr zu bekommen, da alle seine Karten gesperrt waren.

Das war der Moment, in dem er in Panik geriet. Er hatte seine Klamotten in einem Gebrauchtwarenladen verkauft, ein Ort, den er nie betreten hatte, aber er erinnerte sich, dass die Freundin seines Mitbewohners einmal davon gesprochen hatte. Wäre er mutiger gewesen, hätte er vielleicht widersprochen, als sie ihm Preise anboten, die ihm für gut erhaltene Armani- und Louis-Vuitton-Kleider viel zu niedrig erschienen. Aber er hatte das Geschäft stumm akzeptiert und war mit genug Geld in der Brieftasche wieder gegangen, um noch ein paar Tage durchzuhalten.

Er hatte sich so dumm gefühlt, als er versucht hatte, das Schließfach zu öffnen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er einen Schlüssel brauchte. Er hatte angenommen, es sei wie bei seinem Bankkonto – wenn er mit seinem Ausweis auftauchte, würde man ihm Zugang gewähren.

Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, wenn er den Schlüssel gehabt hätte. Sobald er sich identifiziert hatte, war es vorbei. Und anscheinend hatte ihn sein Versuch, auf das Schließfach zuzugreifen, nur noch verdächtiger erscheinen lassen. Die FBI-Agenten hatten ihn gestern gefragt, was in der Kiste war, warum er versucht hatte, sie zu öffnen, und wo er den Schlüssel hatte. Lane war es zu peinlich gewesen, ihnen zu sagen, dass er nicht gewusst hatte, dass er einen Schlüssel brauchte.

Wie kann man bei der Finanzfirma seiner Eltern ein Praktikum machen und nicht mal wissen, wie ein verdammtes Schließfach funktioniert?

Nur dass er kaum lange genug dort war, um sich mit den Kaffeebestellungen auszukennen, geschweige denn mit dem eigentlichen Geschäft.

„Du kennst doch College-Kids.“ Sein Vater hatte gelacht und Lanes Haare zerzaust. „Zu viele lange Nächte und wilde Partys.“ Denn irgendwie war das besser, als vor seinen Kunden die Wahrheit zuzugeben: Lane war nicht faul oder verkatert; er verstand einfach nicht, was er da tun sollte.

Seine Eltern hatten ihm vor Jahren erzählt, dass sie eine Bargeldreserve in dem Schließfach aufbewahrten, und dass diese nur für Notfälle gedacht war. Sie hatten ihm nie gesagt, an was für einen Notfall sie dachten, oder wie man auf das Fach zugreifen konnte, oder wie viel es enthielt. Oder woher das Geld stammte. Lane war sich nicht sicher, was das FBI dachte – dass die Kiste gestohlenes Geld enthielt? Gott, vielleicht war es das. In diesem Fall hatte das FBI es wahrscheinlich schon mit einem ihrer schicken Durchsuchungsbefehle ausgeräumt. Wenn ja, hatten sie Lane nicht gesagt, was darin war, und Lane hatte ihnen nicht gesagt, dass er es nicht wusste. Denn wer würde das schon glauben?

„Hat dein Vater dir gesagt, du sollst auf die Box zugreifen?“

Kein Kommentar, kein Kommentar, kein Kommentar.

Scheiße, wenn er gewusst hätte, wie schlimm es werden würde, hätte er sofort Acton angerufen.

„Wenn du nicht angerufen hättest, hätte ich dich kontaktiert.“

Er sah Acton jetzt an. Da war keine Spur von dieser Kälte, diesem Hass. Vielleicht hatte Lane sich das eingebildet.

„Dummer Junge.“ Acton lächelte sein vertrautes schiefes Lächeln. „Geh nach oben. Warte im Arbeitszimmer auf mich, und wir werden sehen, was wir wegen des Schecks für das Schulgeld tun können, hm?“

Er drehte sich um, ging weg und verschwand tiefer im Haus. Er wartete nicht einmal lange genug, um sich zu vergewissern, dass Lane, dessen Gesicht brannte, ihm folgte.

Quietsch, quietsch, quietsch, die Treppe hoch.

Ein guter Junge

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