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Sonnwend im Turm
ОглавлениеLisa Kuppler
Der Winter war schon immer ein Freund der Nachfahren Draculas. Die dunklen Nächte brachen früh herein, und das graue Dämmerlicht des Morgens bot ihnen Schutz bis weit in den Tag.
Der Vampir schaute hinaus in den dunklen Himmel, von dem seit Stunden Schneeflocken fielen. In seinem langen Leben vergingen die Jahre wie im Flug, doch diese Nacht, die längste des Jahres, war etwas Besonderes. Jedes Jahr prägte er in dieser Nacht eine Münze im Turm.
Zur Christmette im Jahr 1732 war der Turm fertig gestellt worden, nach seinen Plänen. Zwischen dem kleinen Park und der Kirche erhob er sich zu einer Höhe von neunundsechzig Metern. Der Vampir war einmal der Architekt des Königs gewesen. Doch die Steine dieses Turms hatte er nie berührt. Sein eigener Turm hätte die Kathedrale zieren sollen, das höchste Bauwerk seiner Zeit. Halb vollendet war der Turm vom Blitz getroffen worden und wenig später in sich zusammengefallen. Das Krachen hatte man noch am anderen Ende der Stadt gehört.
Nach der unglückseligen Audienz beim König (niemand glaubte einem Baumeister, mochte er auch noch so berühmt sein, wenn er den sandigen Boden für den Einsturz seines Bauwerks verantwortlich machte) und noch bevor die königlichen Schergen ihn in den Kerker werfen konnten, war er zur Baustelle geflohen. Dort hatte ein Vampir ihm aufgelauert und ihm für sein Blut diese halbe Existenz vermacht. Der Architekt war an diesem Abend verschwunden, seine Leiche wurde nie gefunden. Sein Grab war leer, nur sein Name stand auf einem schwarzen Stein. Dem neu geschaffenen Vampir war nichts geblieben als dieser Turm, den einer seiner Schüler ihm zu Ehren und Andenken errichtet hatte.
Knapp hundert Jahre lang waren hier die silbernen Guldiner und goldenen Dukaten des Könighauses geprägt worden. Dann hatten Maschinen die Funktion des Münzturms übernommen, wie überall in dieser schönen, neuen Welt. Doch jede Christnacht prägte der Vampir eine Eisenmünze.
Keine Münze aus Gold, denn Gold war des Teufels. Er hatte seine Seele verloren, doch er war nicht ein Diener Beelzebubs geworden. Auch keine Münze aus Silber, denn Silber war der Fluch der Nachfahren Draculas. Nein, Eisen musste es sein. Oben in seinem Schlafgemach wuchs der kleine Haufen rostiger Münzen neben dem Sarg.
Bedächtig stieg er die steile Treppe hoch bis in die Spitze des Turms, wo der Wind durch die Fenster blies. Er klemmte den Oberstempel in den Schlaghammer, der an einer Schnur befestigt war. Der Vampir sprang hinunter in die Tiefe bis zum ebenerdigen Eingangsraum (solche Sprünge waren ein Privileg seiner Art). Leichten Fußes landete er neben dem metallenen Prägeamboss, der dort in den Boden eingelassen war. In die passgenaue Mulde legte er den Unterstempel. Dann nahm er den Schrötling aus seiner Westentasche. Kein halbes Zoll maß das flache Stück Eisen im lichten Rund. Behutsam platzierte er es auf dem Amboss.
Mit einem letzten Blick hoch in das schattige Gemäuer löste er die lange Schnur, die ihm seit zwei Jahrhunderten treue Dienste tat. Für einen Moment noch war der Frieden der Winternacht ungestört, dann näherte sich von oben ein kaum wahrnehmbares Zischen. Mit einem laut tönenden Schlag trafen Hammer und Amboss aufeinander. Funken stoben im schwachen Licht, das Echo des Aufpralls hallte von den dicken Wänden wider.
Der Vampir lauschte, ob draußen Menschen von dem Knall aufgeschreckt worden waren. In der Kirche wurde der Baum für die mitternächtliche Christmette geschmückt, und das Gebäude, das sonst um diese Stunde im Dunkeln lag, glänzte festlich im Lichterschein. Doch niemand näherte sich dem Turm. Mit seinen geschärften Sinnen nahm der Vampir nur das Rieseln der Schneeflocken wahr und die vorsichtigen Tapser der Katze vom Pfarrhaus nebenan.
Zufrieden beugte er sich zum Prägeamboss und hob den Oberstempel ab. Aus dem Eisenschrötling war eine Eisenmünze geworden. Zielgenau war der Stempel die gesamten neunundsechzig Meter des Turms herabgestürzt und hatte den Unterstempel getroffen – ein Hammerschlag auf den Amboss, exakt, wie von Menschenhand geführt. Der Turm stand im Lot und hatte sich seit 278 Jahren keinen Zoll nach rechts oder links geneigt. Natürlich nagte der Zahn der Zeit an Stein und Putz, ansonsten stünde das Bauwerk bis in alle Ewigkeit auf diesem festen Grund. Denn seine Pläne, die Pläne des Architekten des Königs, waren gut gewesen. Hätte die Kathedrale nicht auf weichem Sandboden gestanden, dann wäre sein Turm immer noch der höchste der Stadt. Ein wenig bedauerte er es, dass er niemandem die Beweise zeigen konnte, die er Jahr um Jahr in der Christnacht sammelte. Doch nicht einmal die Kathedrale hatte überlebt, geschweige denn seine Richter oder der König selbst. Das Rad der Zeit hatte sich weitergedreht, und nur ihn allein kümmerte es, ob der Münzturm immer noch gerade stand.
Die Umrisse der Prägung auf der Eisenmünze waren messerscharf unter seinen Fingerspitzen, die gewellten Sonnenstrahlen, die klaren Linien der Ziffern. Das Motiv der Sonne war ihm damals passend erschienen. Ludwig XV. war noch nicht lange tot gewesen, und alle Schaffenden, Architekten bis Operettenschreiber, hatten seinen glorreichen Einfluss auf die Künste gepriesen. Die geteilten Ziffern, 17 links, 32 rechts der Sonne, markierten das Jahr der ersten Münzprägung. Und das Jahr seines Todes.
Im Halbdunkel des Turms glitzerte die neue Münze matt. Er rieb sie zwischen den Fingern, prüfte ihre Qualität und erfreute sich an der makellosen Prägung. Den Geruch von Blut in seinem Turm bemerkte er erst, als eine helle Stimme fragte: »Wohnst du hier?«
Hätte sein Herz noch geschlagen, es wäre vor Schreck stehen geblieben. Niemand außer der Katze im Pfarrhaus wusste von seiner Existenz. Langsam drehte der Vampir sich zur Tür.
Ein Mädchen von vielleicht acht Jahren stand da, mit roten Wangen und dunklen Locken. Ihr dunkelgrüner Mantel war von Schneeflocken bedeckt. In der Hand hielt sie einen Stern aus Stroh. Der süße Geruch von Blut kam von ihrem rechten Daumen, wo sie sich beim Schmücken des Christbaums gestochen haben musste. Denn ganz sicher gehörte das Kind zu den Menschen in der Kirche.
Unwillkürlich ging er vor ihr in die Knie, die Augen auf den Stern und den blutenden Daumen gerichtet.
»Ja, ich wohne hier«, sagte er, obwohl es gefährlich war, mit Sterblichen zu reden. Besser man verschwand blitzschnell, so dass die Menschen den bleichen, hageren Mann, den sie vermeintlich im Turm gesehen hatten, für reine Einbildung hielten. Doch es war nur ein kleines Mädchen. Und der Vampir war hungrig.
Nicht, dass er sich an einem Kind vergriffen hätte. Der Vampir tötete nie. Blut war ein sehr nahrhafter Saft, schon ein Schluck genügte, um ihn für Tage zu sättigen. Ein Tropfen vom Daumen des Mädchens war ein herrliches Christmahl für ihn.
»Kannst du den Stern zum Leuchten bringen?« Das Mädchen hielt ihm den Strohstern entgegen, als wisse sie, dass er früher einmal ein Baumeister gewesen war. »Die Tanten sagen, er strahlt nur auf der Spitze des Weihnachtsbaums. Aber dort sitzt schon der Engel mit der goldenen Trompete. Und wie kann das sein, dass der Stern über dem Stall in Bethlehem geleuchtet hat, wenn er nur auf Baumspitzen strahlt?«
Das vorwitzige Kind erinnerte ihn an seinen Sohn, der in diesem Alter gewesen war, als der Architekt zum Vampir geworden war. Er griff nach der Hand des Mädchens. »Ihr habt Euch verletzt, Fräulein?«
Sie schien die Wunde erst jetzt zu bemerken. Doch nickte sie und schaute mit großen Augen zu ihm hoch. Er wischte das Blut von ihrer Haut und schmeckte es mit der Zunge. Seine Beißzähne schoben sich aus dem Fleisch. Er schluckte das lebendige, warme Blut, in dem das Pochen des Herzens noch zu spüren war. Wie Sonnenlicht strömte es durch seinen Körper.
Vorsichtig fuhr der Vampir mit dem speichelfeuchten Finger über die kleine Wunde am Daumen des Mädchens. Als er noch lebte, hatte er nichts von der heilenden Wirkung der Körpersäfte der Vampire gewusst. Überhaupt hatte er kaum etwas über Vampire gewusst. Doch diese eine Gabe hatte ihn überrascht – warum sollten diese grausamen Kreaturen solche Heilkräfte in sich tragen? Inzwischen wusste er, dass jedes Böse auch mit einem Guten kam und jedes Gute mit einem Bösen. Die Wunde schloss sich, und die Daumenkuppe war wieder rosig und glatt.
Das Mädchen lachte, und der Vampir sagte: »Nun lass uns sehen, ob wir deinen Stern zum Leuchten bringen.«
Er nahm den Stern aus ihrer Hand. Das Roggenstroh war zu einem matten Goldton gebleicht und kunstvoll gebunden. Von der geflochtenen Mitte aus gingen lange Strahlen ab, zwischen denen sich winzige Strohkreise ringelten, die wie Schneeflocken aussahen.
»Ein Engel trompetet auf dem Christbaum in der Kirche?«, fragte er. Er wollte sicher gehen, dass der Stern nicht vermisst wurde, wenn er ihn in die Turmspitze setzte.
Das Mädchen nickte. »So ein kleiner mit dicken Backen. Die Tanten sagen, er verkündet den Hirten die Geburt des Jesuskinds. Aber das glaube ich nicht. Das war ein ganz anderer Engel, mit großen Flügeln und einem silbernen Kleid.« Ihre helle Stimme zitterte vor Empörung darüber, dass irgendjemand glauben könnte, ein pausbäckiger Trompeter hätte etwas mit wirklichen Engeln gemein. Der Vampir, der die geflügelten Himmelsboten schon mit eigenen Augen gesehen hatte (manchmal kreuzten sich die Wege der Blutsauger mit denen der Engel), musste ihr recht geben.
»Und?«, fragte das Mädchen. »Kannst du ihn zum Leuchten bringen? Du bist kein Engel. Oder?« Sie schaute zu ihm hoch und blickte dann schnell wieder auf ihren geheilten Daumen.
»Ich bin kein Engel, nein.«
Der Vampir reichte dem Mädchen die Eisenmünze. Er brauchte beide Hände, um den Stern von Bethlehem über seinem Turm leuchten zu lassen. Sie nahm sie, ohne einen Blick darauf zu werfen. Ihre Augen hingen an dem Stern, den der Vampir zwischen seinen Händen drehte. Der Wurf würde unpräzise sein ohne Messinstrumente, und für eine Berechnung der Flugbahn fehlte ihm die Zeit. Der Architekt in ihm stöhnte ungehalten angesichts des dilettantischen Unterfangens. Doch er war kein Baumeister mehr.
Unter dem ehrfurchtsvollen Blick des Mädchens hielt er den Stern vor sich wie eine Scheibe beim Diskuswurf. Er kannte den Turm wie seine Westentasche, er wusste, wo der Wind durch unsichtbare Ritzen pfiff und wie der Schneefall und die Kälte draußen sich im Innern des Bauwerks bemerkbar machten. Seine neunundsechzig Meter Höhe waren ihm zur zweiten Natur geworden, eine Entfernung, nach der er seine Welt bemaß. Mit einem scharfen Ruck seines Handgelenks schleuderte der Vampir den Strohstern in die Höhe.
Dies war sein Turm. Die Statik war ausgelegt nach den Plänen des berühmten Münzturms der Salzstadt Hall, wo der erste Guldiner geprägt worden war. Der Schlaghammer fiel die neunundsechzig Meter Fallhöhe wie ein Lot und traf haargenau auf den Amboss. 278 Eisenmünzen besaß der Vampir, 278 unumstößliche Beweise. Einer davon befand sich nun in der Hand dieses Menschenkinds.
Doch die Bahn, die der Stern einschlug, würde sich nie zum Münzprägen eignen. Obwohl der Vampir ihn mit seinen besonderen Kräften auf einen pfeilgeraden Pfad geschickt hatte, kam er ab vom vorgesehenen Kurs. Er flog zu weit nach rechts, torkelte nach links, wirbelte um seine eigene Achse und stieg höher in weiten, unbeständigen Spiralen. Das Mädchen lachte auf vor Begeisterung, als der Strohstern wie eine riesige goldene Schneeflocke hoch ins Gewölbe schwebte. Selbst der Vampir konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hatte seine Hand wirklich diesen wilden Wurf getan? Vielleicht war es der eindringende Wind, der den Strohstern tanzen ließ.
Und dann hätte der Stern im Schatten des Turmgewölbes verschwinden sollen. Der Vampir konnte ihn noch sehen, ein blass-goldener Schimmer im hölzernen Gebälk. Doch auch das Mädchen sah ihn noch, mit ihren schwachen sterblichen Augen. Sie deutete auf den Stern und flüsterte: »Da leuchtet er.«
Und wirklich, es war, als ob da oben nicht ein Stern, sondern eine ganze Sonne erstrahlte. Noch nie war die kunstvolle Konstruktion des Gewölbes so deutlich zu sehen gewesen, auch am Tage nicht, denn das Innere der Turmspitze lag immer im Schatten. Aber nun gleißte ein Licht in der Höhe, hell wie es der Vampir seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Aus Instinkt trat er zur Tür, halb hinaus in die dunkle Nacht. Sonnenlicht bedeutete den Tod für Vampire, doch dieses Licht verbrannte ihn nicht. Es fiel kühl und silbern auf seine bleiche Haut.
»Du hast ihn zum Leuchten gebracht.« Mit strahlenden Augen zog das Mädchen ihn zurück in den Turm.
»Nicht ich.« Der Vampir war ein Geschöpf der Dunkelheit, solch ein Leuchten stand nicht in seiner Macht. Doch was war dieser Stern, der den drei Weisen die Geburt des neuen Königs verkündet und den Hirten auf dem Feld den Weg zur Krippe gewiesen hatte? Ein Komet? Eine Sternenkonstellation? Ein wundersam leuchtender Strohstern im Gewölbe eines alten Turms?
Er starrte hinauf in seinen Turm und dachte an die 278 Sonnen auf seinen Münzen. Er dachte an die Wärme des Sommers, die im Roggen steckte, aus dem der Stern gefertigt war. Was machte das Wunder der Christnacht aus? Die längste Nacht, die tiefste Kälte, das neugeborene Kind? Während er in seinem Turm Sonnen in Eisen geschlagen hatte, zog draußen am Himmel der Sonnenwagen seine Bahn von Ost nach West, jeden Tag, Jahr um Jahr.
Das Mädchen griff nach seiner Hand, sie reichte ihm die Münze. »Ich muss gehen. Die Tanten werden ärgerlich, wenn ich zu lange fort bin.«
»Behalt die Münze«, sagte der Vampir.
Zum ersten Mal betrachtete das Mädchen die Eisenmünze. »Da ist eine Sonne drauf.« Sie grinste ihn an. »Ich weiß schon, dass das Spielgeld ist. Damit kann man nichts kaufen.«
Wie recht sie hatte. Seinen guten Ruf, den rechtschaffenen Namen des Architekten, der er einmal gewesen war, würde er nie zurückkaufen können, auch in Tausenden von Jahren nicht. Und wenn der Vampir nicht an einem Pfahl im Herzen starb, dann hatte er noch eine Ewigkeit vor sich. Sein Gemach würde sich mit Eisenmünzen füllen, hoch bis unters Dach des Turms. Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal leuchtet die Sonne auf der Münze.«
Ihre Lippen formten ein stummes, erstauntes Oh, als sie die Münze in die Höhe hielt. Sicher war es nur eine Reflektion des silbernen Lichts des Weihnachtssterns, doch die geprägte Sonne strahlte auf, als beginne ein neuer Tag.
»Du bist doch ein Engel«, flüsterte das Mädchen, dann sprang sie hinaus in die Nacht. Der Schnee auf ihrem dunkelgrünen Mantel glitzerte wie Sternenstaub.