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Das Weihnachtsessen

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Thea Eickmeyer

~ 24.12.1895 ~

»Noch ein bisschen Auflauf, Karl?«

Karl nickt und lächelt. »Danke, Frau Siebold.«

Sie füllt ihm auf und er isst tapfer; nur Hilde weiß, dass er keinen Fisch mag. Wahrscheinlich würde er heute auch Pferdedung essen, wenn es verlangt würde, um ihre Eltern gnädig zu stimmen.

Später am Abend ziehen sich die Männer ins Arbeitszimmer ihres Vaters zurück. Sie kann sich kaum konzentrieren und zerschlägt beim Abräumen des Geschirrs versehentlich einen Teller.

Was, wenn ihr Vater nein sagt?

Dann steht Karl in der Tür; er strahlt übers ganze Gesicht. Es ist, so fühlt es sich an, der schönste Abend ihres Lebens.

~ 24.12.1896 ~

Der erste Heiligabend im eigenen Haus, als Mann und Frau.

Sie hat den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht. Als er zum Esstisch kommt, riecht er Fisch. Auflauf, wie bei ihren Eltern.

»Hilde, du weißt doch …«

»Ich weiß.«

In weiteren Schüsseln sind Braten und Kartoffeln, er bemerkt es erst jetzt.

»Es macht dir doch nichts aus? Heiligabend esse ich Fischauflauf, immer schon. Weihnachten ohne Fischauflauf wäre wie Weihnachten ohne Christbaum.«

Nach einem kurzen Moment des Zögerns schiebt er den Braten beiseite und nimmt von dem Auflauf.

»Du magst doch keinen Fisch.«

Er lächelt. »Jetzt schon und nur zu Weihnachten.«

~ 24.12.1897 ~

»Lass das Abräumen, das kann ich doch tun!«

Es ist rührend, wie Karl sich um sie bemüht, seit er weiß, dass sie ein Kind erwartet.

»Ich bin nicht krank«, wehrt sie lachend ab, doch er will nichts davon hören.

Zu guter Letzt einigen sie sich, zusammen abzuräumen und gehen anschließend ins Wohnzimmer. Als sie sitzen, legt er zärtlich eine Hand auf ihren Bauch, küsst ihre Wange. Ihr wird warm, nicht nur vom Feuer im Kamin.

»Ich liebe dich, meine Hilde.«

Der Christbaum leuchtet dieses Jahr besonders hell. Alles ist so, wie sie es sich immer erträumt hat. Alles ist perfekt.

~ 24.12.1898 ~

Nur einige wenige Kerzen beleuchten das Esszimmer, keinem von ihnen ist nach Festbeleuchtung. Einen Christbaum haben sie dieses Jahr nicht gekauft.

Die Tür zum Nebenzimmer steht offen – vor vier Wochen hat dort noch ein Baby in der Wiege gelegen.

Erst heute Vormittag waren sie am Grab, sie hat darauf bestanden. Karl würde am liebsten gar nicht gehen. Es gibt oft Streit. Auch heute hatten sie eine Auseinandersetzung, erst vor einer Stunde, und keiner von ihnen hat Appetit.

Am Ende gehen sie früh zu Bett und liegen wach, ohne einander zu beachten. In der Küche steht der Auflauf, ungegessen und kalt.

~ 24.12.1903 ~

Ute zappelt auf ihrem Stuhl herum. Der Auflauf vor ihr ist noch beinahe unberührt.

»Sitz bitte still!«, ermahnt ihre Mutter.

»Ich bin satt. Ich will aufstehen!« Mit vier Jahren sind der Christbaum und die Geschenke weit interessanter als das Essen.

»Ute!«

Hastig greift sie nach der Gabel und bemüht sich, nicht zur Wohnzimmertür zu schielen – dem Vater darf man nicht widersprechen.

»Hans muss auch nicht am Tisch sitzen«, mault sie trotzdem einige Minuten später leise.

»Hans ist drei Jahre jünger als du. Möchtest du vielleicht schlafen gehen wie er?«

Sie schüttelt den Kopf. Zehn Minuten später ist ihr Teller leer.

~ 24.12.1914 ~

Immer wieder finden sich ihre Blicke über den Tisch hinweg. Sie müssen sich zwingen, heiter zu scheinen, so zu tun, als sei nichts geschehen.

Sie bekommt kaum einen Bissen hinunter, Karl hingegen ist bei der dritten Portion des Auflaufs, den er nicht mag. Wer weiß, vielleicht isst er ihn heute zum letzten Mal.

Den Kindern haben sie es noch nicht erzählt; sie wollen ihnen die Feiertage nicht verderben. Wie sagt man einem Kind: Dein Vater zieht in den Krieg? Wie sagt man: Vielleicht kommt er nicht zurück?

Schlimmer noch: Wie lebt man weiter, während er fort ist, ständig im Ungewissen?

~ 24.12.1915 ~

»Aller Augen warten auf Dich, o Herr. Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du tuest Deine milde Hand auf und erfüllest alles, was da lebt, mit Segen. Herr, segne uns und diese Deine Gaben, die wir von Deiner Güte nun empfangen werden, durch unseren Herrn, Jesus Christus. Amen.«

Die Stimme ist falsch. Das ist alles, woran sie denken kann. Es sollte seine sein, nicht ihre. Auch die drei Gedecke am Esstisch sind falsch.

Ute und Hans essen kaum. Keiner ist hungrig.

»Was, wenn er tot ist?«, fragt Hans schließlich.

Ute wirft die Gabel hin und läuft aus dem Raum.

~ 24.12.1917 ~

»Christus. Amen.«

Wie schnell man sich an Veränderungen gewöhnt. Über zwei Jahre ist es her. Zwei Jahre mit der falschen Stimme beim Tischgebet, jeden Tag, der falschen Anzahl von Gedecken, dem leeren Stuhl am Kopfende.

Falsch klingt es nicht mehr, nicht einmal mehr seltsam.

Hans hat es geschafft, eine kleine Forelle zu angeln. Die Portionen sind winzig, aber die Kinder haben gelernt, nicht nach mehr zu fragen. Ihr Vater und die anderen Männer haben noch weniger, das wissen sie, und es schiene wie Sünde, sich über das Vorhandene zu beschweren.

Seit einem halben Jahr hat keiner von ihnen Karl erwähnt.

~ 24.12.1918 ~

Karl steht neben dem Esstisch, er atmet schwer, Tränen laufen über eingefallene Wangen in seinen Bart. Zu seinen Füßen liegen die Reste des Auflaufs und die Scherben des guten Geschirrs.

Hilde und die Kinder sind aus dem Raum gelaufen, als er anfing zu toben.

Drei Monate ist er nun zu Hause. Sie hatte gehofft, es würde besser werden, doch so schlimm war es noch nie. Ihre Lippe blutet noch von dem Schlag, und entsetzt ertappt sie sich bei dem Gedanken, es wäre besser gewesen, er wäre gefallen. Alles wäre besser als dies.

Im Esszimmer fängt Karl wieder an zu schreien.

~ 24.12.1920 ~

Sie hasst die Anstalt. Die kahlen weißen Räume, in denen es immer kalt ist, die unfreundlichen Wärter, genauso kalt wie ihre Umgebung. Wie soll irgendjemand hier gesund werden?

Nicht einmal den Auflauf darf sie ihm mitbringen – als ob das schreckliche Essen hier besser schmecken würde!

Die Kinder wollen nicht kommen; sie kann es verstehen. Karl ist nicht derselbe, es ist nur noch schlimmer geworden. Die meiste Zeit erkennt er sie nicht einmal.

Die Ärzte wissen nicht, was er hat.

»Es ist der Krieg«, sagen sie und zucken hilflos die Schultern.

Auch bei diesem Besuch redet er kein Wort mit ihr.

~ 24.12.1922 ~

Es gab einen Personalwechsel in der Anstaltsleitung, sehr zu ihrer Erleichterung. Die Regeln sind gelockert – sie darf ihm seine eigene Kleidung bringen, Bücher, Essen. Alles, wovon sie glaubt, es könnte ihm helfen.

Manchmal denkt sie, sie könnte es genauso gut lassen, besonders, wenn er bei einem Besuch versucht, sie zu schlagen. Fast hasst sie ihn dann, aber noch schlimmer ist es, zuzusehen wie die Wärter ihn überwältigen.

Heute ist ein guter Tag: Karl liegt im Bett und weint. Er schreit nicht, er lässt sich mit Auflauf füttern und streicheln. Kurz bevor er einschläft, flüstert er ihren Namen.

Gut ist relativ.

~ 24.12.1927 ~

Karl ist ruhiger geworden. Er schreit kaum noch, schmeißt nicht mehr mit Gegenständen. Seit Monaten ist er nicht mehr gewalttätig ihr und den Wärtern gegenüber.

Als sie kommt, beachtet er sie nicht, aber er isst den Auflauf, ohne sich zu beschweren. Sie erzählt ihm von den Enkelkindern, die er nicht kennt. Er liegt still auf dem schmalen Bett – sie weiß nicht, ob er ihr zuhört, sie versteht.

»Wenn es im nächsten Jahr so weitergeht, können Sie ihn über Weihnachten mitnehmen«, sagt der behandelnde Arzt nach dem Besuch.

Erschreckenderweise stellt sie fest, dass sie nicht weiß, ob ihr die Vorstellung gefällt.

~ 24.12.1928 ~

Die Stimmung ist gedrückt, es wird kaum geredet. Alle essen stumm, verbissen.

Wenigstens ist bisher nichts passiert, das war ihre größte Sorge. Die Ärzte sagen, er sei jetzt ungefährlich, das Schlimmste sei vorbei. Trotzdem bleibt ein gewisses Unbehagen.

Karl stochert eine Weile lustlos im Auflauf. Unvermittelt steht er auf, setzt sich in einer Ecke der Küche auf den Boden und beginnt zu weinen. Als sie sich neben ihn setzt und versucht, ihn anzufassen, schlägt er ihre Hand weg und schreit.

Ute und Ludwig bringen hastig ihre Mädchen aus dem Raum; Hans geht, um die Anstalt zu rufen.

Karl wird abgeholt.

~ 24.12.1929 ~

Sie sind zu zweit, Ute und Hans sind nicht gekommen.

»Ich kann das den Kindern nicht antun«, hat Ute gesagt, »und Ludwig auch nicht.«

Sie hat darauf verzichtet, Ute zu fragen, ob sie es sich selbst antun würde, hätte sie keine Familie.

Hans ist dankenswerterweise über Weihnachten mit seiner Verlobten verreist, sodass sich die Frage erübrigt hat.

Sie weiß nicht, was sie reden soll; was sie auch sagt, sie bekommt keine Antwort. Karl sitzt am Tisch und starrt stumm auf seine Hände.

Sie füllt seinen Teller, er riecht daran, schiebt ihn dann mit angewidertem Gesicht von sich.

»Ich mag keinen Fisch.«

~ 24.12.1930 ~

Dieses Jahr hat sie Karl nicht abgeholt. Auch die Kinder sind mit ihren Familien zu Hause geblieben, und sie hat nicht vor, sie zu besuchen.

Sie kann keinen von ihnen mehr sehen: nicht Karl, der wie ein Fremder ist, wie ein Kind manchmal oder wie ein Tier. Ist das noch ihr Mann? Ist der nicht gestorben, vor Jahren schon?

Die Kinder mit ihren gut gemeinten Ratschlägen sind fast noch schlimmer.

Nach dem Essen sitzt sie im Wohnzimmer vor dem Christbaum und wartet auf die Müdigkeit, die nicht kommt. Stattdessen kommen die Tränen.

Es war ihr erster und letzter Heiligabend allein.

~ 24.12.1935 ~

Karl wirkt anders als sonst, anwesender. Schon seit Monaten erkennt er sie regelmäßig. Morgen kann es wieder vorbei sein, doch sie kann die Hoffnung nicht aufgeben, egal was die Kinder sagen. Sollen sie sie doch für närrisch halten.

Als sie die Wohnung betreten, betrachtet er alles genau. Am Esstisch dann ein Blick auf das Essen und ganz plötzlich die Frage: »Hilde, ist heut Heiligabend?«

Sie ist zu überrascht, um zu antworten.

»Hilde, ist heut Heiligabend?« Die Frage ist drängender diesmal, ängstlich. Die Macht, die sie in diesem Moment besitzt, ist erschreckend.

Langsam nimmt sie seine Hand. Er lässt sie.

»Ja.«

Diese Geschichte besteht aus sogenannten »Drabbles«, die stets genau hundert Worte lang sind.

O Du Fröhliche

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