Читать книгу Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht - Lisa Lamp - Страница 6
ОглавлениеProlog
1218 n. Chr.:
»Ich liebe dich«, flüsterte sie gegen seine Lippen und schlug sich die Hände vor den Mund, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte. Ihre Wangen erröteten und sie klapperte nervös mit den Zähnen, als sie gespannt auf seine Antwort wartete. Doch sie kam nicht. Die Zeit verging, ohne dass er etwas sagte. Aber das war auch nicht mehr notwendig. Irgendetwas in seinen schwarzen Augen sagte Hestia, dass Rudolfus genauso fühlte, obwohl sie aus verschiedenen Welten stammten und es ihnen nie erlaubt sein würde, auf diese Weise zusammen zu sein, egal wie sehr sie es begehrten.
Während sie ihre bodenlangen Hängeärmel und ihre Schleppe aus Seide trug, die ihren Körper entlangflossen wie sanfte Wellen, konnte er sich gerade so seine Cotte aus Baumwolle leisten, obwohl er Tag für Tag härter arbeitete als jeder andere. Nicht umsonst hatte er die Schwielen an seinen Händen und die vielen gleichmäßig verteilten Muskeln, die ihn stark aussehen ließen. Aber das war Hestia egal. Sie liebte ihn. Mit allem, was sie hatte. Egal ob er ihr Diener war, für sie würde er immer ihr König sein. Sie wollte die Ewigkeit mit ihm verbringen und mit niemand anderem, weil er etwas besaß, dass niemand sonst je haben würde. Ihr Herz.
»Ich kann das gar nicht oft genug hören, Prinzessin«, sagte Rudolfus und lachte leise, als er sah, wie sich ihre Pupillen liebevoll weiteten und sie einen Laut der Freude von sich gab. Glücklich sprang sie in die Luft und fiel ihm um den Hals. Während er die Frau in seinen Armen betrachtete, fragte er sich, was sie erwartet hatte. Jeder Mann auf dieser Welt hatte Hestia, seine Hestia, begehrt. Sie angestarrt, wann immer sie nicht hingesehen hatte. Genau wie er. Die meisten Herrscher und Adeligen hatten nach ihr gelechzt und auf den Boden gesabbert, auf dem sie stand, oder es sogar gewagt, ihr einen Antrag zu machen. Er konnte es nicht ertragen, ihnen dabei zuzusehen, auch wenn er es verstehen konnte. Er hätte ihr am liebsten einen Ring an den Finger gesteckt, um sie als sein Eigentum zu kennzeichnen, sodass niemand sie ihm jemals wieder wegnehmen konnte. Sie war perfekt. Ihr schwarzes Haar, das über ihren Rücken fiel und sich an den Spitzen leicht lockte. Ihre grünen Augen, die im Licht der untergehenden Sonne funkelten, und ihre Haut, die schöner und reiner war als alles, was Rudolfus je zuvor gesehen hatte. Er sollte Angst haben, dass sie ihn nicht liebte oder sich nach einer besseren Partie umsah. Nicht umgekehrt. Er war derjenige, der Glück hatte.
Sanft nahm er ihre Hände von seinem Hals und legte sie sich auf die breite Brust, um sie tiefer küssen zu können. Endlich, nach all der Zeit, in der sie sich nicht berühren konnten und sich trotzdem täglich sehen mussten. Es war Rudolfus vorgekommen wie Folter. Sie so nah bei sich zu haben und doch so fern. Sie nicht berühren zu können, obwohl sie im gleichen Raum war.
Es war ihr erster Kuss in dieser Nacht, aber es würde nicht ihr letzter bleiben. Rudolfus war wie ausgehungert. Er wollte jeden Millimeter von dieser Frau berühren, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Er hätte es nicht ertragen, alleine und verschwitzt in seinem Feldbett aufzuwachen. Nicht schon wieder. Zu oft war ihm das passiert und jedes Mal wurde das Sehnen nach seiner großen Liebe schlimmer.
Hestia schmiegte ihren Körper an seinen und Rudolfus spürte ihre weiblichen Rundungen unter dem dünnen Stoff. Zärtlich fuhren seine Hände über ihren Rücken und seine Lippen berührten ihre für einen kurzen Moment. Viel zu kurz für Hestias Geschmack. Doch Rudolfus hatte nicht vor aufzuhören. Einen Wimpernschlag lang atmete er durch, bevor er seinen Mund wieder auf ihren presste und sich in dem Gefühl des Kusses verlor. Ihm wurde warm, sein Herz schlug bis zum Hals und er wusste, dass er jetzt verloren hatte. Seine Zweifel und die Angst waren wie weggewaschen. Er hatte seine mühsam errichteten Mauern fallen lassen und seine sorgsam zurechtgelegte Beherrschung aufgegeben, ohne es zu bemerken. Hestia hatte ihn in ihren Bann gezogen und es war für ihn nicht mehr von Bedeutung, dass man ihn umbringen würde, wenn jemand von ihrer gemeinsamen Nacht erfuhr. Eine Verurteilung wegen Betrug würde ihm drohen oder noch schlimmer wegen Hochverrat. Auch dass Hestias Hand dank ihrem Vater einem anderen gehörte, blendete er aus. Es zählten nur noch ihre Lippen und das Zittern, das ihren Körper erfasste, als seine Finger jeden Zentimeter erkundeten, der von der Kleidung verschont blieb. Ein Drängen in seinem Herzen zog ihn zu Hestia und machte es ihm unmöglich, sich umzudrehen und den Raum zu verlassen, auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass es das Beste für sie beide wäre. Niemand wusste, was mit Hestia passieren würde, wenn sie Ehebruch beging und jemand herausfand, was sie getrieben hatte. Aber er war zu egoistisch, um darüber nachzudenken. Er wollte sie, auch wenn er sie nur diese Nacht haben konnte. Immer wieder schenkte er ihr ein Lächeln und schlussendlich vergrub sich eine Hand in ihren wunderschönen Locken. Sie stöhnte aufreizend nach mehr und er war nur zu gerne bereit, ihr alles zu geben, was sie wollte. Während sie um Fassung rang, tastete sich seine Zungenspitze vorwärts und sie öffnete bereitwillig ihre Lippen. Seine Nase streichelte ihre und der Druck in ihren Haaren verstärkte sich. Ihr Kopf wurde nach hinten gezogen, sodass Rudolfus mehr Platz hatte, um ihren Mund in Beschlag zu nehmen.
Als Hestia das Gefühl hatte, unter seinen Berührungen zu schmelzen, hob Rudolfus sie an und trug sie schweigend in das angrenzende Zimmer, um sie auf dem Bett abzulegen. Es schickte sich nicht für eine Dame fordernd zu sein. Das wusste Hestia, aber bei ihm war es ihr nicht wichtig, was sich gehörte und was nicht. Er würde sie nicht verurteilen oder sie mit Abscheu in den Augen ansehen, weil sie etwas wollte. Andere Männer hätten sie gezüchtigt, egal welchen Stand sie hatte, doch Rudolfus liebte genau das an ihr. Er wollte, dass sie ihr wahres Ich zeigte. Er liebte ihre sture und unbeherrschte Art. So eilig es ging, zog sie sich die Kleider über den Kopf und warf sie auf den Boden, ohne die teuren Stoffe weiter zu beachten. Währenddessen ließ sie ihren Geliebten nicht aus den Augen. Rudolfus betrachtete sie schwer atmend und keuchte, als sie sich breitbeinig mit angewinkelten Knien auf das Ende des Bettes legte. In seinen dunklen Augen glühte ein Feuer, das die Flammen in ihrem Inneren widerspiegelte, und er fuhr sich durch seine schwarzen Haare, die in alle Richtungen abstanden. Er leckte sich über die Unterlippe und ließ sich von ihren Gefühlen übermannen. Wie von alleine entkleidete er sich, kletterte zu Hestia und küsste sie immer wieder. Auf jede Stelle, die er erreichen konnte. Ihre Nasenspitze, ihren Mundwinkel, ihre Stirn, ihren Busen, ihren Bauch. Und ihr gefiel es. Sie stöhnte und bebte unter seiner Behandlung, aber es genügte nicht. Selbst als ihre nackten Körper sich aneinanderrieben und ihre Zungen verschmolzen, war es nicht genug. Hestia brauchte mehr. Viel mehr. Zu lange hatten sie gewartet und nun verlangte ihr Innerstes nach ihrem Geliebten. Die Sehnsucht und die Lust wurden immer stärker, bis Rudolfus sich endlich – es kam Hestia wie Jahre vor – in ihr versenkte. Die Zeit stand für einen Augenblick still. Ihre Hände verschränkten sich und ihre Seelen wurden eins. Licht umhüllte die Liebenden und gab sie erst frei, als der nächste Morgen anbrach. Selbst wenn die Wachen kämen und Rudolfus holen sollten, würde es jetzt keinen Unterschied mehr machen. Ab dem heutigen Tage bis zum Ende ihrer Existenz würden ihre Seelen ihr Leben zusammen verbringen und sich immer wiederfinden. Egal, ob Straßen, Wälder oder mehrere Kontinente zwischen ihnen lagen. Sie würden miteinander leben und miteinander sterben. Sie gehörten zusammen. Für immer.
1300 n. Chr.:
»Warum? Sag mir, warum du mich so hasst! Ich kenne diesen Mann nicht und ich fühle mich nicht verpflichtet, ihn kennenzulernen«, schrie sie schluchzend und sah ihrer Mutter an, dass sie nicht wollte, dass jemand ihre missratene Tochter hörte, die gar nicht dem Profil einer braven Ehefrau entsprach. An vielen Tagen hatte Margaretha dieser Blick gestört, doch heute war er unbedeutend. Sie wollte ihrer Mutter den Gefallen nicht tun und sich mäßigen. Lieber wollte sie noch stärker aufbegehren und toben. Sie war außer sich, fassungslos. Wie konnte das Schicksal sie so hintergehen? Fünfzehn Jahre war es her, dass das Mädchen mit den wunderschönen dunkelgrünen Augen das Licht der Welt erblickt hatte. Einer Welt, die durch Krankheiten wie Syphilis, Ruhr und Typhus verwüstet worden war. Eineinhalb Jahrzehnte lang hatte sie es geschafft, am Leben zu bleiben und sich Männern zu versagen, die Schlange gestanden hatten, um sie zu ehelichen. Und wofür? Um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte und den sie vorgesetzt bekam wie den berüchtigten Salat von Tante Adelheid an Festtagen? Ihre Mutter hatte ihr Gemälde, auf denen Caspar, ihr Zukünftiger, zu sehen war, gezeigt und meinte, sie würde ihn selbst zum Mann nehmen, wenn sie jünger wäre. Und Margaretha war klar, woran das lag. Schwarze Haare, dunkle Augen. Er sah gut aus. Das musste sie zugeben, aber sie wollte nicht heiraten. Hatte es nie gewollt und würde ihre Meinung den Rest ihres jämmerlichen Daseins nicht ändern. Sie konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, auch wenn der Mann bei ihr ein Herzklopfen auslöste, das sie nicht verstehen konnte. Es war, als würde ihr Blut sich erhitzen und ihr Herz freudig flattern beim Anblick dieser tiefblauen Augen, die bis in ihre Seele zu blicken schienen.
Es wollte keine Festtagsstimmung aufkommen, auch wenn ihr das weiße Kleid perfekt stand und es den Mann sicherlich ein kleines Vermögen gekostet hatte. Kostbares Geld, das ihre Familie niemals gehabt hatte. Es betonte genau die richtigen Stellen, ohne sie wie eine Hübschlerin aussehen zu lassen, die sich für die fleischliche Liebe bezahlen lässt. Trotzdem war ihr Nacken frei von Stoffen und ihre Schleppe war kurz genug, damit sie nicht unbeabsichtigt darüber stolpern konnte. Unbewusst hatte Caspar ihren Geschmack getroffen und das ärgerte sie. Es regte etwas in ihr, das sie lieber im Keim ersticken würde. Ihre Mutter war ganz euphorisch und sie nicht, was wiederum ihre Erzeugerin zur Weißglut trieb. Deshalb weigerte sie sich, die Tür zu öffnen und stritt lieber mit der Frau, der sie die Situation zu verdanken hatte. Vielleicht würde sie sich doch noch von Margaretha umstimmen lassen, obwohl sie das selbst nicht wirklich glaubte.
»Er bewahrt unsere Familie vor dem Hungertod. Du darfst ihn nicht noch länger warten lassen. Was ist, wenn er seine Meinung ändert? Viele andere Mütter in diesem Dorf sind mit hübschen Töchtern gesegnet. So eine Chance bekommen wir nie wieder.« Sie klang schroff, nicht liebevoll, aber das war nicht anders zu erwarten. Sie war selbst in einer Zwangsehe gelandet um des Geldes Willen, gebracht hatte ihr das aber nichts. Ihr ganzes Leben lang musste sie um jede Münze kämpfen, nachdem ihr Ehemann im Krieg verstarb. Seitdem kümmerte sich dieser geheimnisvolle Mann um ihre Familie. Natürlich immer mit der Aussicht, eine der Nachkommen ehelichen zu dürfen, wenn die Zeit reif war. Margaretha als älteste von vier Schwestern war klar gewesen, dass sie am Ende wahrscheinlich herhalten musste, aber nun, wo der Tag gekommen war, konnte sie nicht verstehen, weshalb dieser Handel damals für sie perfekt klang. Heute hatte Verhungern durchaus seinen Reiz. Ob das noch eine Option wäre?
»Das wäre großartig. Dann wäre das Problem gelöst«, erwiderte Margaretha und verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. Die vielen Stofflagen waren unheimlich schwer, aber das war die kleinste ihrer Sorgen. Zuerst musste sie den Mann loswerden und danach das Kleid. Vielleicht konnte sie es auf dem Markt verkaufen und ihre Familie damit einen Monat versorgen, wenn der Deal geplatzt war und der Wohltäter nicht mehr für sie aufkam.
»Warten auf das, was man begehrt, hat noch niemandem geschadet«, unterbrach eine tiefe Stimme den Streit der Frauen. Margaretha erzitterte und es lag nicht an dem kühlen Luftzug, der durch das Gebäude wehte. Die Tür hatte sich geöffnet und ein junger Mann trat zu den beiden. Er war in Schwarz gekleidet und Margaretha erkannte ihn sofort von den Gemälden wieder. Aber das wäre gar nicht notwendig gewesen, weil auch ihr Herz ihr zeigte, wer er war. Es stockte einen Augenblick und raste dann weiter, als würde sie vor etwas davonlaufen. Oder auf etwas zu. Voller Erwartung sah Caspar sie an und machte eine leichte Verbeugung, wodurch ihre Mutter japste und sich beinahe an ihrer Spucke verschluckte. Lautes Husten erfüllte den Raum, gefolgt von einem Räuspern. Niemals verneigte sich ein Hochgeborener vor einer einfachen Magd. Und doch tat ihr Zukünftiger genau das. Margaretha zog scharf den Atem ein.
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht persönlich gefragt habe, aber es wäre mir dennoch eine Ehre, wenn du meine Frau werden würdest.«Er streckte Margaretha seine Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff. Sie dachte nicht mehr daran, dass das Spektakel gegen ihren Willen geschah oder sie zu einer Antwort ansetzen sollte. Es zählte nur noch dieser Mann vor ihr und seine dunklen Augen, die sie an wunderschöne Seen erinnerten. Sobald ihre Finger in seiner Hand lagen, kribbelte Margarethas ganzer Körper. Von ihrem Haaransatz bis zu ihren Zehenspitzen und es hörte auch nicht mehr auf. Nicht als sie den kurzen Gang zurücklegten oder sich in der kleinen Kirche küssten. Auch nicht, als der Ehemann seiner Ehefrau einen Ring ansteckte, der mehr wert war als die gesamte Einrichtung von Margarethas Familie. Erst als alle Gäste sich verabschiedet hatten und Caspar seine Frau wirklich zu der seinen machte, umhüllte die beiden ein helles Licht, das das Kribbeln ablöste und sich auflöste, als die Seelen der Liebenden endlich wieder vereint waren.
1402 n. Chr.:
Dorothea blickte vom Turm auf den Wagen hinab, den ein Bauer über den Marktplatz zog, während sie ihre schwarzen Locken mit der neuen Bürste kämmte, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Es war nicht der erste Wagen heute und würde nicht der letzte sein. Das wusste Dorothea schon mit ihren sieben Jahren. Tagtäglich hatte sie den gleichen Bauern beobachtet, immer zur selben Zeit, wie er keuchend die Leichen transportiert hatte. Bei Sturm, Sonne oder Regen. Sie wusste nicht, wohin er sie brachte, aber sie erblickte niemals dieselben Toten zweimal, auch wenn sie eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Körper, deren schwarze Haut übersät war mit Beulen, stapelten sich auf dem fahrenden Holz und sie beugte sich weiter aus dem Fenster, um alles genau sehen zu können. Dorothea wusste auch, wie die Krankheit verlief, die die Menschen dahingerafft hatte, aber nicht, warum man sie so weit wegbrachte. Hohe Temperaturen, Kopfschmerzen, Schüttelfrost, Schwindel, Schmerzen in Armen und Beinen. Absterben der Finger, Zehen und Nasen. Sie hatte es auswendig zu lernen und sofort zu sagen, wenn sie oder eins der anderen Kinder im Turm eines der Anzeichen zeigten. Die Krankheit war grauenvoll und weit verbreitet unten bei den armen Menschen, deshalb verstand Dorothea, warum sie in diesem Raum, fern von der Seuche, bleiben musste, obwohl sie lieber selbst über den Marktplatz spazieren gegangen wäre, um die Sonne zu genießen oder mit jemandem zu sprechen, der mehr von der Außenwelt kannte als sie. Ihr war langweilig und sie spürte ein Ziehen in ihrer Brust, dass sie nach unten zog. Keines der anderen Kinder spielte mit ihr. Sie hielten sie für sonderbar mit ihren brennenden Händen und der Flamme in den Augen. Manche hatten Angst, andere wollten nur nicht in den Dunstkreis des Spottes geraten. Das machte sie unendlich traurig. Sie fühlte sich so allein wie schon lange nicht mehr. Vielleicht war das der Grund, warum sie heute besonders intensiv auf die Fliegen starrte, die über den Toten kreisten und sich auf die schwarzen Flecken setzten. Es waren so viele. Ob sie Freunde waren und deshalb alle gemeinsam flogen? Einer der Körper erregte ihre Aufmerksamkeit. Er schien dunkler verfärbt zu sein als die anderen und er wurde von zwei weiteren Toten begraben, die quer über seiner Brust lagen und ihn erdrückten. Der Mann, eigentlich war er noch ein Kind, das niemals älter werden würde, war kleiner als die anderen Leichen, sodass er leicht zu übersehen gewesen wäre. Die Augen waren weit aufgerissen, aber die Farbe der Iris war kaum zu erkennen. Der Druck in Dorotheas Brust, nach draußen zu gehen, verschwand und machte einer Trauer Platz, die ihr die Luft zum Atmen nahm und ihre Schultern herabsinken ließen. Sie kannte den Jungen nicht, aber das Bild seines Todes bekümmerte sie und schmerzte mehr, als der Verlust ihrer Eltern vor wenigen Monden. Und der Kummer wollte auch nicht vergehen. Sie versuchte alles, um wieder zu lachen und den Jungen zu vergessen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hätte weinen können. Jeden Tag. Immer. Und am Ende tat sie auch nichts anderes mehr, außer ihren Sturzbächen freien Lauf zu lassen. Zwanzig Jahre, eine Heirat und drei Erben später versenkte sie unglücklich das Fleischmesser in ihrem Bauch, weil sie es leid war, auf das Glück, das niemals kommen würde, zu hoffen. Aber in der Sekunde des Sterbens zeichnete sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Irgendetwas in ihr wusste, dass sie die Chance bekommen würde, den jungen Mann wiederzusehen.
1556 n. Chr.:
Catharina stockte der Atem, als Barthel auf die Bühne neben der amtierenden Königin geführt wurde. Die Herrscherin hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich verzogen, um ihr eiskaltes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihr nicht. Ihre roten Haare und die blasse Haut ließen sie trotzdem wie der lebende Teufel aussehen. Die Flammen, die ihr Gesicht erhellten, verstärkten diesen Verdacht, genau wie die schwarzen Roben, die sie trug. Die dunklen Töne bildeten einen gespenstischen Kontrast zu ihrem Teint, der sie noch blasser wirken ließ. Furchterregend. Das war die Königin. Besser konnte Catharina es nicht beschreiben.
Die Hitze, die von dem Feuer ausging, auf das Barthel zugeschoben wurde, war wie Gift für Catharina. Ihr wurde schwindelig und ihr fiel es schwer, den schmerzenden Rücken durchzudrücken, der sich durch ihre bleierne Last in die falsche Richtung bog. Das Kind, das seit sechs Monden in ihr wuchs, hatte ihr schon die letzten Nächte Probleme bereitet, doch nun wütete es in ihrem Inneren. Es schlug mit den Füßen gegen ihren Unterleib und protestierte gegen die Hand seiner Mutter, die über ihren Bauch strich, um den Kämpfer zu beruhigen. Ihr wurde schlecht. Wieder ging ein Tritt gegen ihre Wirbelsäule und Catharina musste ein Keuchen unterdrücken, um in der Menge keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auf keinen Fall durfte sie jemand bemerken. Es würde ihren Tod bedeuten, wenn sie jemand erspähte, doch das hatte sie nicht abgehalten zu kommen. Sie wollte dabei sein. Lieber hier als in einem Bunker unter der Stadt auf das Unvermeidliche zu warten. Ihre Hand rieb erneut über ihre Bauchdecke, aber das half nicht, um das Durcheinander, das in ihr herrschte, zu besänftigen. Ob das Ungeborene wusste, dass es dabei war, seinen Vater zu verlieren? Catharina hatte das Gefühl sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Kalter Schweiß benetzte ihre Haut und die schwarzen Haare, die über ihren Nacken fielen, als die Frau, die vor Barthel stand, den Flammen überlassen wurde. Die Gefangene bettelte entsetzt um Vergebung und riss panisch die Augen auf. Die Wärter drängten Catharinas Geliebten mit den Schwertspitzen weiter nach vorne, ohne abzuwarten, bis die Unbekannte bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Sie krümmte sich vor Schmerzen und schrie markerschütternd. Barthel wollte sich nicht bewegen und suchte Catharinas Blick in der Menschenmenge, wodurch er die leichte Erhebung am Boden nicht sah, die von einem losen Brett der Bühne verursacht wurde. Er stolperte. Hart schlugen seine Knie auf dem Holz auf und sein Gesicht kam dem Feuer so nahe, dass Barthel der Schweiß von der Stirn tropfte. Sein Mund formte Catharinas Namen und ein Lächeln legte sich auf seine Züge, als er erneut ihre Augen vereinnahmte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und Tränen, die einfach nicht verschwinden wollten, liefen ihr ungehindert über die Wangen. Sie würde ihn verlieren. Sie hatte es gewusst, als die Männer ihn geholt hatten, aber ihn auf der Bühne zu sehen, war etwas ganz anderes. Sie wünschte, sie könnte statt ihm vor den Flammen stehen und ihm die Qualen ersparen, aber sie wusste, dass er das nicht wollen würde. Für ihn war es so richtig, solange es ihr gut ging. Einer der Männer trat Barthel gegen die Rippen, sodass er dem Feuer wieder ein Stück näherkam, und diesmal schrie er auf wie ein gequältes Tier. Die Hitze schlug über und brannte ihm die Haut und das Fleisch von den Händen, mit denen er in die Flammen griff, um sich abzustützen. Instinktiv wollte Barthel zurückschrecken und spießte sich damit selbst auf einem Schwert auf, das ihn gewaltsam ins Feuer schob. Seine Schreie wurden lauter und Catharina wollte die Augen schließen, um nicht zusehen zu müssen, wie die Liebe ihres Lebens gefoltert wurde und wie sein Blut über das Holz der Bühne tropfte. Aber sie schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. Es faszinierte sie, wie Barthel im Feuer tanzte und sein Körper mit den Flammen verschmolz. Jeder seiner Blicke, seiner Schreie und seiner Bewegungen schmerzte sie, aber sie zeigten ihr, dass er noch am Leben war. Sie hatte Angst vor dem Moment, wenn es still werden würde, kurz bevor die Menge jubelte. Doch sie konnte nicht davor weglaufen. Sie musste stark sein. Auf keinen Fall wollte sie Barthel in seinen letzten Minuten allein lassen. Sie gehörten zusammen seit ihrer ersten Nacht in dem kleinen Hof, als er ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Und sie liebte ihn. Unsterblich. Aber es sollte einfach nicht sein. Der dreizehnzackige Stern auf Barthels Schlüsselbein und die blutroten Diamanten auf ihrem hatten deutlich gezeigt, dass sie unter der jetzigen Regierung nicht lange leben würden. Ein letztes Mal loderte das Feuer auf und Catharina wurde schwarz vor Augen. In dem Moment, in dem Barthel seinen letzten Atemzug machte und die Schreie verstummten, blieb Catharinas Herz stehen und sie wusste, dass das Kind, das sie trug, ihr gemeinsames Kind, niemals das Licht der Welt erblicken würde, weil auch sie die Sonne nicht mehr aufgehen sehen würde.
1580 n. Chr.:
Maria lag in einem großen Bett mit schwarzem Bettlaken, das genauso dunkel war wie ihre lockigen Haare, die auf dem Stoff zu verschwinden schienen. Ihre grünen Augen leuchteten im Schein des Mondlichts, das durch das Fenster brach und dem Raum Helligkeit spendete. Sie fühlte sich gut, obwohl die andere Bettseite neben ihr leer und kalt war. Doch die Geräusche von Fußsohlen auf dem Boden erinnerten sie daran, dass sie nicht allein war, so wie sie es in den letzten Jahren auch keine Sekunde gewesen war.
»Schläfst du noch immer, Prinzessin?«, fragte Silverian grinsend und lehnte sich an den Türrahmen, der unter seinem Gewicht leicht knarrte. Zu gern hätte Maria einen Gedanken daran verschwendet, dass sie in wenigen Minuten Gäste erwarten würden, aber nichts lag ihr ferner als aufzustehen oder sich anzuziehen. Nicht mit Silverians nackter Brust vor Augen. Lieber wäre ihr, er würde sich wieder zu ihr legen und sie in die Arme nehmen, obwohl sie sich auch unter seinen verschlingenden Blicken wohlfühlte.
»Ja, wenn du zurück zu mir ins Bett kommst, mein Gemahl«, säuselte sie und schlug die Decke zurück, sodass ihr Geliebter einen perfekten Blick auf ihren Körper hatte, der sich ihm entgegenstreckte. Sie rekelte sich auf dem Laken und sah ihn auffordernd an. Ein Knurren war zu hören und Maria lächelte triumphierend. Silverian hatte schon immer eine Schwäche für ihre weiche Haut und ihre weiblichen Rundungen gehabt. Sie waren ihm damals im Anwesen der Familie Holl als Erstes aufgefallen, als sie sich begegnet waren, und es hatte sich nicht geändert, als er zu einem ihrer Beschützer wurde, der die Königsfamilie vor allem verteidigen sollte. Noch heute bekam er dieses seltsame Glitzern in den dunklen Augen, wenn er Maria nackt sah. Sie liebte es. Es gab ihr das Gefühl, die schönste Frau auf der Welt zu sein. Genauso wie seine kräftigen Hände, die ihren Oberschenkel massierten, während sich seine Lippen auf ihre legten. Und plötzlich war es still. In Marias Kopf breitete sich eine angenehme Leere aus, die nur Silverian ihr geben konnte. Sie musste über so vieles nachdenken, vieles planen und sie durfte dabei keinen Fehler machen. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange Zeit hatte. Immer mehr ihresgleichen wurden eingekerkert und verloren auf dem Scheiterhaufen ihr Leben. Bald würde sie eine davon sein. Silverian ahnte es noch nicht, aber die Göttin persönlich hatte es in Marias Ohr geflüstert, damit sie sich wappnen konnte und dafür sorgte, dass sie irgendwann an einem Ort nicht weit von hier wiedergeboren wurde, um alles in Ordnung zu bringen. Sie würde es schaffen, hatte die Göttin gesagt. Aber Maria war sich nicht sicher, ob sie das konnte. Ob sie stark genug war. Doch sobald Silverian bei ihr war und sie eins wurden, waren alle Aufgaben und Verpflichtungen weit weg. Dann zählte nur das Hier und Jetzt. Und Silverians unvergleichlicher Geruch, von dem sie nicht genug bekam. Maria stöhnte in den Kuss und klammerte sich an ihren Gemahl, wohl wissend, dass jedes Mal das letzte Mal sein könnte, bevor sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wieder aufeinandertrafen.