Читать книгу Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht - Lisa Lamp - Страница 7

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Kapitel 1: Blutige Zeiten

Liebe Mel!

Es heißt, Träume wären psychische Prozesse während des Schlafes, die aus realistischen Bildern bestehen und unser Erleben fantasievoll widerspiegeln. Wenn das wahr wäre, würde ich von blutenden Raben auf einem Pferdehof träumen, der einer bösen Hexe mit Warzen gehört, die alle Pferde nur für sich haben will, weil sie Angst hat, dass jemand anderer besser reiten lernen könnte als sie. So weit so gut. Doch nichts davon war Teil meiner Fantasien, die sich in meinen Kopf schlichen und mir das Schlafen versüßten. Stattdessen sah ich Liebeserklärungen, Küsse und den Tod. Immer wieder. Ich sah mich. In langen und kurzen Kleidern, mit oder ohne Unterrock, mit gepudertem Gesicht oder bemalten Lippen, arm und reich. Und ich sah Hunter. In jeder Altersstufe, in allen Berufen, mit und ohne farbige Kostüme. Trotz der teilweise lächerlichen Kleidung liebten die Mädchen, die ich zu sein schien, die Männer, die ihm zum Verwechseln ähnlich sahen. Die Pärchen fanden sich auf die verschiedenste Art und Weise, aber das Ende sah jedes Mal gleich aus: Sie starben. Gemeinsam glücklich oder allein unglücklich. Anfangs dachte ich noch, dass ich den Verstand verlieren würde oder mir mein Unterbewusstsein helfen wollte, Hunter zu vergeben, indem es mir schöne Illusionen mit ihm schenkte. Aber dann sah ich das schwarzhaarige Mädchen in der Zeit der Pest, was meine Theorie widerlegte. Daran war überhaupt nichts schön. Schwarze Flecken, Pestbeulen, die sich unter der Haut wölbten, weißer Schaum, der den Toten aus dem Mund tropfte, und von Schmutz übersäte Körper, die genauso erbärmlich aussahen wie die Straßen, in denen es vor riesigen Ratten wimmelte, die herumliegende Leichenteile abnagten. Eine Gänsehaut überzog meine Arme und ein Schauer des Ekels jagte meinen Rücken hinunter. Nicht schön traf es nicht wirklich. Widerlich, abstoßend oder desaströs waren schon passender.

Als Nächstes spekulierte ich, ob es wirklich nur Träume waren, die Hunter und mich in Situationen hineinmanövrierten, von denen ich gehört oder die ich in Filmen gesehen hatte. Doch dann war da diese rothaarige Monarchin, von der ich schwören könnte, dass sie in meinem alten Geschichtsbuch abgebildet war, die in einem dieser Träume aufgetaucht war. Fiktion war damit auch vom Tisch. Fieberhaft überlegte ich, was es noch sein könnte. Für einen Moment glaubte ich sogar, dass ich mir einbildete, alle Liebenden sähen aus wie Hunter und ich, weil ich besessen von diesem Mann war. Aber dann sah ich Maria zusammen mit Silverian auf dem Bett mit den schwarzen Laken, an die ich mich immer erinnern würde. Ich kannte die Szene. Maria hatte mir vor vielen Monaten denselben Schock versetzt wie jetzt, weil ich mich wie eine Spannerin gefühlt hatte. Es war eine von Marias Mitteilungen an mich gewesen. Damals, als ich gerade eine Hexe geworden war. Ich wusste nicht, was genau an diesem Abschnitt ihres Lebens so wichtig gewesen war, aber Maria hatte diese Nacht alles bedeutet. Ob es die letzte gemeinsame Nacht mit ihrem Geliebten gewesen war? Oder wollte sie mir eine Momentaufnahme ihres Glücks präsentieren, das so vergänglich gewesen war?

Somit blieb nur noch eine Möglichkeit über, auch wenn ich mir den Kopf zermarterte, um eine andere logische Erklärung zu finden. Es waren Erinnerungen. Meine Erinnerungen. Na gut, nicht meine, aber die meiner Seele und sie war ein Teil von mir. Die Erkenntnis traf mich hart. Nicht dass es mich störte, meine früheren Leben beobachten zu können. Aber die Tatsache, dass ich anscheinend nie ohne Hunter glücklich werden konnte – zumindest nicht bevor ich starb und ihn im nächsten Leben wiedertraf – war ein Schlag in die Magengrube.

»Read! Read! Wach auf!« Ein Ruckeln an meiner Schulter störte mich in meinen Überlegungen und zog mich aus den Erinnerungen längst vergangener Tage. Die Wärme, die mich eingehüllt hatte, verschwand und ich spürte einen kalten Luftzug auf meiner Haut, der alle Härchen auf meinem Körper gleichzeitig aufstellte.

»Read, du musst jetzt aufstehen!« Die Stimme klang nervig in meinen Ohren, auch wenn ich mir sicher war, dass ich sie kannte. Ein wenig wie das Geräusch einer Maus, der man auf den Schwanz trat. Aber ich konnte nicht identifizieren, zu wem sie gehörte und es interessierte mich auch nicht. Ich wollte noch nicht aufwachen. Ich wollte wissen, ob irgendein Paar es geschafft hatte, ohne eine Tragödie ihr Leben miteinander zu verbringen und gemeinsam alt zu werden. Maria war nicht alt und dennoch war sie in den Erinnerungen die älteste Version von mir. Ob es meiner Seele bestimmt war, immer und immer wieder jung zu sterben? War das ein Zeichen? Lohnte es sich überhaupt, gegen Rabiana zu kämpfen, wenn mein Schicksal schon vorherbestimmt war?

»Read, bitte! Beweg dich!« Diese Stimme war mir auch bekannt, aber sie klang harscher, weniger piepsig und das Schütteln an meiner Schulter wurde stärker. Ohne die Augen aufzuschlagen wusste ich, dass Du mich angesprochen hattest und wie eine Wahnsinnige an mir zerrtest, aber ich verstand nicht wieso. Warum war es so wichtig, dass ich aufwachte? Wo waren wir und wie lange hatte ich geschlafen? Ich war noch so unendlich müde. Mein Körper fühlte sich schwer an, als würde jemand auf meiner Brust sitzen und mich nach unten drücken.

»Was ist mit ihr? Ist sie tot?«, mischte sich jemand ein und seufzte genervt. »Dann sollten wir sie kühlen, bevor sie den ganzen Raum verpestet. In den nächsten Tagen wird sich schon eine Möglichkeit finden, sie wegzubringen.« Diesmal machte ich mir gar nicht die Mühe, die Tonlage einem meiner Freunde zuzuordnen. Nicole war manchmal ein Miststück, aber selbst aus ihrem Mund wären niemals solche Worte gekommen. Doch wer war die Person, mit der meine Freunde sprachen? Ich durchforstete mein Gehirn und fuhr schweißnass aus dem Schlaf hoch. Ich schlug meine Hände vor den Mund. Tränen stiegen mir in die Augen und ich keuchte erschüttert, als die Bilder von blutverschmierten Pferdemäulern, brennenden Pfeilen und einem verprügelten Hunter auf mich einstürzten. Kerzengerade saß ich in einem weichen Bett und blickte in Deine Augen, die grün leuchteten, statt wie stürmische Seen blau zu funkeln. Sorge lag in Deinem Gesicht, das sich freudig verzog, als ich Dich ansah.

»Na endlich! Wir dachten schon, du stirbst uns einfach weg, nachdem wir dich gerettet haben.« Wieder die Fremde, aber jetzt war ihre Stimme näher. Glasklar hörte ich sie und drehte meinen Kopf, um das Mädchen betrachten zu können, das anscheinend von Mitleid noch nie etwas vernommen hatte. Auf den ersten Blick erinnerte sie mich an einen Fisch. Ihre Haut war leicht bläulich und ihr Kopf war schmal. Die anliegenden Ohren, die mit Ohrringen geschmückt waren, sodass von ihrer Ohrmuschel kaum etwas zu sehen war, ließen sie noch dünner aussehen. Sie war nicht hässlich, auch wenn ihr ein riesiger Zinken aus der Mitte ihres Gesichts sprang, der ihre Nase darstellen sollte. Trotzdem war der größte Hingucker das Zeichen über ihrem Auge. Es war in schwarzer Farbe gehalten und begann bei der Spitze ihrer rechten Augenbraue. Es zog sich über ihr Lid bis hinunter zu ihrem hohen Wangenknochen. Noch nie hatte ich eine derartige Tätowierung gesehen.

»Gerettet? Ihr habt uns eher einen Heidenschreck eingejagt. Der Kampf war schon lange vorbei, bevor ihr euch eingemischt habt. Es wäre besser gewesen, wenn ihr euch einfach wieder vom Acker gemacht hättet, anstatt uns gefangen zu nehmen und uns zu verschleppen, nur damit Mama Morgan ihrem Sohn Guten Tag sagen kann.« Nicole plusterte sich vor dem Mädchen auf, das für meine Freundin nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig hatte. Sie strich sich durch den Scheitel und schnaubte amüsiert, sodass ihr Kopf sich leicht drehte. Die Haare der Fremden waren auf einer Seite abrasiert. Bis zur Haut war das schwarze Haar abgeschoren, sodass man auch hier Zeichen erkennen konnte. Sie ähnelten dem in ihrem Gesicht, doch die Schnörkel verliefen ein wenig anders. Viel hätte man über die Fremde sagen können, aber nicht, dass sie besonders mädchenhaft aussah.

»Wie putzig«, erwiderte sie augenverdrehend. »Reg dich ab, Prinzessin! Unser Boss wird ihre Gründe gehabt haben.«

»Ich bin hier nicht die Prinzessin, aber du solltest der Richtigen mehr Respekt entgegenbringen, sonst wird es hier nicht mehr so friedlich ablaufen wie die letzten Tage, Miststück.« Nicole sprang von dem Bett neben mir, auf dem sie bis jetzt gesessen und mich betrachtet hatte. Sie ging bedrohlich auf die Unbekannte zu, die instinktiv zu ihrem Gürtel griff, von dem ich nicht wissen wollte, was sie darunter versteckt hatte. Die Eisprinzessin richtete sich auf und streckte die Brust raus. Sie schien unverletzt zu sein und geduscht zu haben. Ihre blonden Haare strahlten und sie trug Kleidung, die weder Flecken von Erde noch Löcher von Messern aufwiesen. Verwirrt sah ich mir auch meine anderen Freunde an. Tara lag in einem Bett, nicht weit von mir entfernt, und beobachtete eingehüllt in eine blaue Decke das Geschehen. Sie wirkte nicht beunruhigt, als Nicole die Fremde beleidigte, obwohl die beiden Streitenden aussahen, als würden sie gleich aufeinander losgehen. Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie mich an und nickte, als wolle sie mir zeigen, dass alles gut war. Ähnlich reagierte auch Alex, die auf einem Stuhl an der Wand saß und ein Buch las, dessen Titel in einer Sprache war, die ich nicht kannte. War das Rumänisch oder Kroatisch? Ich wusste es nicht, aber Alex vergrub ihr Gesicht in den Seiten und ignorierte den Aufruhr. Jona und Jaimie saßen auf dem Boden, obwohl überall im Raum verstreut Sesseln standen. Dein Bruder hatte meine Decke unbekümmert über dem Schoß liegen und hatte sich wieder dem Kartenspiel vor ihm zugewandt, als ich aufgewacht war. Sie alle schienen, bis auf ein paar blaue Flecken und neuen Narben, unverletzt zu sein. Trotzdem war ich beunruhigt. Hunter fehlte. Er war nicht da und bis jetzt hatte ihn niemand erwähnt. Wie lange war ich in meinen Erinnerungen gefangen gewesen? Wie lange waren wir schon hier? Und viel wichtiger: Wo war hier eigentlich? In meinem nächsten Leben musste ich dringend dafür sorgen, dass ich nicht immer an unbekannten Orten aufwachte. Irgendwann würde mich das noch umbringen.

»Es reicht!«, testete ich meine Stimme, die klang, als hätte ich sie jahrelang nicht benutzt. Sie glich einem Krächzen und brach bei der zweiten Silbe, weshalb ich noch mal ansetzen musste. Nicole hörte auf mich und fuhr die Krallen wieder ein. Wütend drehte sie sich von der Fremden weg. Nicht weil sie mir gehorchte, sondern weil sie der Unbekannten zeigen wollte, dass wir ein Team waren und sie mich mit mehr Respekt behandeln sollte, da wir das untereinander auch taten. Dass es nicht immer harmonisch bei uns ablief, wollte Nicole ihr wohl nicht auf die Nase binden.

»Du hast mir überhaupt nichts zu sagen«, schnauzte das Mädchen ohne Namen mich an und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du kannst froh sein, wenn du dir von mir nichts sagen lassen musst, kapiert? Hier gelten andere Regeln.« Gerade als sie ihren Satz beendet hatte und auf mich zugehen wollte, öffnete sich knarrend die Tür und Hunter betrat mit mürrischem Gesichtsausdruck den Raum. Während er sich ein Bild von der Situation machte, blieb mir genug Zeit ihn zu mustern, obwohl mein Herz anfing, schmerzhaft zu pochen, sobald ich ihn sah. Hunter trug andere Kleidung und er humpelte nicht, auch wenn ich das nach den vielen Schlägen auf seine Kniescheiben erwartet hätte. Sein Gesicht war ebenfalls unverletzt. Nichts zeugte mehr davon, dass er beinahe von seinem Bruder umgebracht worden war. Zu Brei geschlagen, verbesserte ich mich. Jona hätte ihn nicht umgebracht, auch wenn eine Stimme in meinem Hinterkopf flüsterte, dass es verdammt knapp gewesen war.

»Sie vielleicht nicht, Aletheia, aber ich könnte mir vorstellen, dass du lieber auf mich hörst. Du hast mitbekommen, was Mutter mir versprochen hat. Read wird nicht verletzt.« Hunter klang kraftvoll und auch er sprach von einer mysteriösen Mutter. Ob die Jäger ihren Anführer so nannten, so wie wir die Göttin als Mutter der Hexen bezeichneten?

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte ich Dich flüsternd, damit die Unbekannte mich nicht hören konnte. Wie hatte Hunter sie genannt? Aletheia? Sie war der erste und würde vermutlich der letzte Mensch mit diesem Namen sein, der mir begegnete, aber ich hätte zu gern gewusst, was er bedeutete. Vielleicht irgendwas Passendes wie eiskaltes Miststück oder herzlose Bitch.

»Ungefähr einen Monat. Solange sperren sie uns schon in diesem Raum ein, ohne uns zu sagen, was hier läuft. Außer Hunter. Der spaziert hier fröhlich rein und raus, wie er will, aber hat bis jetzt auch kein Wort gesagt. Wir bekommen genug Essen und Kleidung, aber langsam schien ihnen die Geduld ausgegangen zu sein. Sie wollten, dass du aufwachst, weshalb auch immer das wichtig ist.« Auch Du sprachst leise und das löste in meiner Magengrube ein ungutes Gefühl aus. Die anderen bedachten Hunter mit einem misstrauischen Blick und das gefiel mir noch weniger. Du hattest Dich für ihn eingesetzt, aber auch Du schienst nicht zu wissen, was Du von der Situation halten solltest. Was war hier los?

»Ich wollte nur die Blondine aufschlitzen«, sagte Aletheia sachlich, als wäre es das Normalste der Welt, und Hunter lachte. Was war daran lustig? Nicole war seine Ex-Freundin und was noch wichtiger war, sie war unsere Verbündete. Meine Freundin.

»Auch das würde ich dir nicht raten. Im besten Fall werden sie dich nur alle gleichzeitig mit Messern angreifen, um dich umzubringen. Im schlimmsten bekommst du es mit Feuer, Eis, Pflanzen und Elektrizität zu tun. Und glaub mir, die Elemente werden dich foltern. Sie hängen an Nicole.« Das ‚Warum auch immer‘ hing wie Blei in der Luft und nahm mir kurzzeitig die Fähigkeit zu atmen. Hunter sah niemanden an, obwohl ich versuchte, Blickkontakt herzustellen. Ich wollte wissen, was hier gespielt wurde und er würde mir am ehesten Auskunft geben können. Doch er sah nicht mehr in meine Richtung, sodass er meine Blicke nicht bemerkte, mit denen ich versuchte, ihn zu erdolchen.

»Sie? Hab ich etwas verpasst?«, fragte Jona mit hochgezogener Augenbraue und Ekel zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Er sprach mir aus der Seele. Hatte Hunter sich gegen uns entschieden und gehörte plötzlich zu denen, wer auch immer die waren?

»Wir«, verbesserte er und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre es dasselbe. »Mutter will dich sprechen«, sagte er und deutete mit dem Kopf Richtung Tür, damit Jonathan ihm folgte, aber der dachte nicht daran. Er bewegte sich nicht von der Stelle und sah böse zu Hunter.

»Nein, danke. Ich bleibe lieber hier. Bei meinen Freunden. Bei Nicole. Ich hänge nämlich an ihr.« Nicole lachte schamlos und Alex begann ebenfalls wegen Aletheias verdutzten Gesichtsausdrucks zu kichern. Jonas Ton war scharf, auch wenn er am Ende eine belustigte Note annahm. Doch die Nachricht war klar. Er würde uns nicht verlassen, anders als sein Bruder.

»Schön. Ich werde es ihr ausrichten«, meinte Hunter ungerührt und wandte sich zum Gehen um, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Er ignorierte mich eiskalt, als wäre ich gar nicht da. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Ein Stich ging durch mein Herz und der Schmerz schien stärker zu werden, solange er bei mir war und gleichzeitig doch nicht. Es war schlimmer als damals mit Nathalia. Auch zu dieser Zeit wollte ich schreien und weinen, doch nun hatte ich das Gefühl innerlich zu verbrennen und an meinen Gefühlen zu ersticken. Im Türrahmen stockte er und drehte sich noch mal um. Kurz flackerte Hoffnung in mir auf, dass er mit mir reden, sich entschuldigen oder die Situation erklären würde. Es hätte schon gereicht, wenn er sich nach meinem Befinden erkundet hätte. Aber nichts. »Aletheia, du sollst ihnen alles zeigen«, sagte er, bevor er den Raum verließ und mich mit tausend Fragen zurückließ.

»Wieso ausgerechnet ich?«, fragte Aletheia theatralisch und machte keinen Hehl daraus, dass sie uns hasste, doch Hunter hörte sie nicht mehr oder überhörte sie mit Absicht. Scheiße, ignoriert zu werden, oder? Am liebsten hätte ich mich über sie lustig gemacht, um mich über die Tatsache hinwegzutrösten, dass er mit ihr geredet hatte und mit mir nicht, aber es war nicht die beste Idee, sich mit der einzigen Person anzulegen, die uns aus diesem Raum bringen konnte. »Na los, bewegt endlich eure Ärsche aus den Betten. Je schneller wir anfangen, umso schneller sind wir fertig und ich muss nicht mehr den Babysitter für euch spielen.« Zögerlich stieg ich aus dem Bett und sah, dass auch meine Freunde sich bewegten. Meine Füße schwankten leicht, als sie den Boden berührten, und ich musste mich noch mal auf die Bettkante setzen, damit die schwarzen Flecken vor meinen Augen verschwanden. Beim zweiten Anlauf gelang es mir, mein Gewicht in die Höhe zu stemmen, obwohl ich kaum noch Muskeln in den Beinen hatte. Außerdem wusste ich nicht, ob ich froh sein sollte, dass ich saubere Kleidung trug oder nicht. Einerseits war es ein schönes Gefühl, endlich nicht mehr dreckig zu sein. Andererseits wollte ich lieber nicht wissen, wer mich gebadet und angezogen hatte.

»Danke, dass du Read den Rücken freihältst, aber irgendetwas sagt mir, dass du lieber auf deinen aufpassen solltest, wenn du schläfst«, murmelte Tara Nicole zu, bevor sie neben unsere Führerin trat und sie auffordernd ansah. Wieder verdrehte Aletheia die Augen und langsam fragte ich mich, ob sie auch etwas anderes konnte, als genervt zu sein. Unwillig setzte sie sich in Bewegung und führte uns durch Gänge, an denen alle zehn Meter eine Glühbirne brannte. Trotzdem sah ich kaum meine eigene Hand vor Augen und musste aufpassen, nicht über meine Füße zu stolpern. Das Gehen fiel mir schwer. Ich hatte keine Kondition mehr und jeder Schritt verlangte mir alles ab. Meine Knie, die genauso wackelig wie Pudding waren, erschwerten mir jede Bewegung. Das schummrige Licht und Aletheias Stimme, die unablässig sprach, verbesserten meine Konzentration nicht. Dabei erzählte sie nichts, was mich interessierte. Also ignorierte ich sie wieder und wandte mich lieber Nicole zu, die neben mir ging.

»Was läuft hier?«, wollte ich von ihr wissen und sie seufzte schwer, bevor sie mir antwortete: »Wir hatten Angst, dass die uns noch auf dem Schlachtfeld umbringen würden. Wir waren geschwächt und hätten noch einen Kampf nicht überstanden. Aber sie haben uns gefangen genommen und in diese Lagerhalle gebracht, wo wir auf Morena Morgan gestoßen sind.« Die Eisprinzessin achtete darauf, dass Aletheia nichts von unserer Unterhaltung mitbekam, indem wir uns zurückfallen ließen. Nicht weit genug, um sie zu verlieren, aber so, dass sie frei sprechen konnte, ohne Angst vor einer erneuten Auseinandersetzung haben zu müssen.

»Sie ist wirklich Jonathans und Hunters Mutter? Aber sie ist doch eine Hexe?«, fragte ich verwirrt und überlegte, ob ich irgendetwas von dieser Frau wusste. Sie war mit Caleb Morgan verheiratet gewesen und hatte zwei Söhne. Punkt. Mehr war da nicht. Hunter hatte sie kein einziges Mal erwähnt und auch Jona hatte immer nur von seinem Vater gesprochen. Wie konnte es sein, dass ich mir nie darüber Gedanken gemacht hatte, obwohl diese Frau so etwas wie meine Schwiegermutter war?

»Sie ist eine Hexe«, stellte Nicole klar und stockte kurz, als wir von den Gängen in einen großen Raum kamen, den Aletheia als Aufenthaltsraum bezeichnete. Hier war das Licht besser und mehrere Sitzgelegenheiten waren im Saal verteilt, die teilweise besetzt waren. Einige Mädchen, die Aletheia ähnlich sahen, saßen auf einer Couch und starrten in einen Fernseher. Die Szene wirkte schrecklich normal auf mich und tröstend, weil es mich an die vielen Filmabende mit Dir, Tara und Lora erinnerte. Aber sobald ich an Lora dachte, verschwand das Gefühl und ich musste hart schlucken, um nicht zu weinen.

»Wie es aussieht, war nicht nur unsere Schule von Rabianas Plänen betroffen, auch wenn es St. Ghidora am schlimmsten getroffen hat. Rund um den Globus wurde die magische Welt von den Armeen überrannt und abgeschlachtet. Den Jägern blieb das nicht verborgen und zwei ihrer Ausbildungsstätten waren ebenfalls unter Beschuss. Morena hat in dem Chaos ihre Kontakte spielen lassen und die Führung übernommen. Die Jäger und Hexen arbeiten zusammen, um Rabiana zu stürzen, weil der Verlust von beiden Seiten enorm ist und die Jäger ihre einzige Überlebenschance in Morena gesehen haben.«

Auch Nicole betrachtete fasziniert die Einbauküche, die mit flüssigem Wasser funktionierte, und das Buffet, das in der Mitte des Raumes aufgebaut war. Viele Jugendliche belagerten die Essensausgabe und überlegten, was sie essen sollten, während die Älteren bereits auf einem Tisch saßen und aßen. Alle schienen sich zu kennen und unterhielten sich vertraut.

»Das ist doch gut, oder nicht?«, hakte ich verwirrt nach, weil Nicoles Tonfall vermuten ließ, dass ihr an der Situation etwas überhaupt nicht passte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, was das sein könnte. Wenn die Jäger mit uns eine Front gegen Rabiana bildeten, konnte das nur zu unserem Vorteil sein, oder? Für einen Moment lenkte mich das Geräusch von kläffenden Hunden ab, die mit einer Leine an einem Rohr an der Wand festgebunden waren. Sie waren zu dritt und hatten schwarzes Fell. Die abstehenden Ohren ließen sie wie Fledermäuse aussehen, aber die geflügelten Vögel jagten mir weniger Angst ein. Die Köter jaulten und fletschten ihre spitzen Zähne. Im Radius von zwei Metern um die Tiere befand sich keine Menschenseele und ein Junge betrachtete die Hunde mit einem ängstlichen Blick, als er mit genügend Sicherheitsabstand vorbeihuschte, um zu seinem Sitzplatz zu kommen. Blutiges Fleisch lag vor den Mäulern der Viecher. Während zwei fleißig an ihrem Fressen herumkauten, sodass ihnen Reste zwischen den Zähnen stecken blieben und das Blut sich mit ihrem Speichel mischte, sah einer in unsere Richtung und knurrte bösartig, als würde er spüren, dass wir nicht hierhergehörten.

»Klingt zu perfekt, wenn du mich fragst. Ich kenne Morena Morgan und sie war nie für ihre Herzensgüte bekannt. Sie soll nichts von den Machenschaften ihres Mannes gewusst haben, das glaube ich ihr, sie war schließlich nie zuhause, um irgendetwas mitzubekommen. Sie hat ihre Söhne einmal im Monat gesehen. Manchmal weniger, wenn sie Geld zum Fenster rausschmeißen konnte. Und jetzt will die Frau, die sich nur für Mode, Handtaschen und ihr öffentliches Image interessiert hat, plötzlich die Welt retten? Das ist für mich zu dick aufgetragen. Außerdem, wenn sie nur helfen will, warum sperrt sie uns dann ein und lässt uns nicht gehen? Dir geht es wieder gut, warum sind wir noch hier? Morena will gar nicht, dass wir gehen, weil sie etwas vorhat. Sie will nur ihren eigenen Arsch retten, glaub mir.«

»Hört ihr mir überhaupt zu oder haltet ihr euch für so toll, dass ihr sogar über das Jägerhauptquartier Bescheid wisst?«, zischte Aletheia erzürnt und bedachte Nicole und mich mit einem bösen Blick. Sie war in der Nähe des Buffets stehen geblieben, sodass die ganze Halle uns beobachten konnte. Lautes Tuscheln war zu hören und ich fühlte mich sofort unwohl in meiner Haut. Fast wäre ich gegen Taranee gefallen, die ebenfalls plötzlich vor mir haltgemacht hatte, aber ich konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, um einen peinlichen Zusammenstoß zu verhindern.

»Nachdem aus deinem Mund nur Scheiße kommt und keine Antworten auf unsere Fragen, halte ich es nicht für notwendig, dir meine Aufmerksamkeit zu schenken. Und weil du gefragt hast: Ich halte uns für ziemlich toll.« Nicole reagierte blitzschnell auf Aletheias Gemeinheiten und konterte biestig. Sie warf ihre blonden Haare stilvoll zurück und lächelte ihrer Gegnerin provokant entgegen, während sie vor mich trat und meine anderen Freunde ihr Platz machten, damit sie näherkommen und nicht durch den Raum schreien mussten. Trotzdem hörten alle die Auseinandersetzung. Es war mucksmäuschenstill. Man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können.

Aletheias Gesichtszüge verzogen sich zu einer Fratze, sodass sie mehr Ähnlichkeit mit den tollwütigen Hunden hatte als mit einem Menschen.

»Ich bin mir sicher, dass du mit deinem Erbsenhirn nicht mal eine Frage formulieren kannst.« Aletheia biss die Zähne zusammen und verengte die Augen zu Schlitzen. Sie war ein Stück kleiner als Nicole, sodass meine Freundin auf sie herabsehen konnte, aber das machte die Jägerin nicht weniger furchteinflößend. Ich bewunderte Nicoles Stärke. Sie brach nicht unter dem Blick von Aletheia zusammen und lächelte weiter, obwohl die Anspannung greifbar war und jeder an ihren Lippen klebte.

»Ich hätte gleich eine für dich«, sagte die Eisprinzessin freundlich und tippte gegen ihr Kinn, um den Anschein zu erwecken, nachdenken zu müssen. Aber ich war mir sicher, dass ihr die nächsten Worte bereits auf der Zunge lagen. »Wenn ich dir einen Bleistift in die Halsschlagader ramme und ihn dann wieder anspitze, zählt er dann trotzdem als Mordwaffe?« Schockierte und überraschte Laute der Umstehenden waren zu hören und auch ich riss verblüfft die Augen auf, während ich ein Grinsen unterdrücken musste. Jaimie und Du lachten los, aber euch blieb das Lachen im Hals stecken, als Aletheia laut knurrte, Nicole am Arm packte und sie gegen die nächste Wand warf. Es ging blitzschnell. Selbst wenn wir gewollt hätten, hätten wir ihr nicht helfen können. Die Höllenhexe fiel gegen das Blech der Mauern und ein Scheppern ertönte, bevor sie für einen Augenblick am Boden liegen blieb. Sie keuchte nicht vor Schmerz und betastete auch nicht ihre Rippen. Sie schien sich nicht verletzt zu haben. Trotzdem lähmte eine panische Angst meinen Körper. Meine Hände wurden kalt und ich bekam Schweißausbrüche. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

»Nicole?«, wimmerte ich leise und ging mit erhobenen Händen auf sie zu. »Nicht bewegen!«

In ihrer Rage hatte Aletheia Nicole neben die Hunde geworfen, deren Jaulen zu einem Knurren wurde. Schnaubend sahen sie die Eisprinzessin an und schleuderten ihr Fleisch von sich weg, um an ihrer neuen Beute schnuppern zu können. Das Fressen landete quer im Raum verteilt vor den essenden Jägern, von denen einer leicht grün im Gesicht wurde. Nicole begann zu zittern, obwohl sie versuchte stillzuhalten und sich ihre Angst nicht vor Aletheia anmerken zu lassen, die anders als erwartet auch nicht lachte, sondern besorgt aussah. Nicoles Lippe bebte und sie war schlagartig blass im Gesicht, als hätte ihr jemand die Farben ausgesaugt. Ihre Augen waren verängstigt zusammengepresst, als könnte sie sich die Hunde weit wegwünschen, wenn sie sie nur gut genug ausblendete. Eine Schnauze fuhr über ihre Wange. Spucke lief über das Maul des Hundes und tropfte auf Nicoles Schulter, die daraufhin ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte. Wieder ertönte ein Knurren und ein anderer Hund winselte. Der größte, der Nicole am nächsten stand, schien der Anführer der drei zu sein. Die beiden anderen waren einen halben Schritt hinter ihm und ließen ihm den Vortritt, die Eisprinzessin zu töten und ihr saftiges Fleisch von ihren Knochen zu reißen. In Zeitlupe öffnete die Höllenhexe ihre Augen und drehte ihren Kopf in die Richtung der Monster, die nach ihrem Blut lechzten. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Der Hund hielt den Augenkontakt und setzte zum Sprung an.

»Zeus! Odin! Thor! Halt!«, brüllte eine männliche Stimme von der Tür des Raumes und Aletheias erschrockener Schrei war zu hören. Die Krallen des Tieres legten sich auf Nicoles Brustkörper und sie fiel auf den Rücken, weil sie nicht gegen das Gewicht des Köters ankam. Der junge Mann, dessen Schrei immer noch in meinen Ohren widerhallte, sprintete los und überbrückte die Distanz zwischen Nicole und sich. Mit geöffnetem Maul und gefletschten Reißzähnen senkte der Hund währenddessen seinen Kopf. Selbst wenn er das Tempo beibehalten würde, würde der Jäger die Eisprinzessin nicht rechtzeitig erreichen, bevor diese Monster ihr das halbe Gesicht zerrissen hatten. Panik schnürte mir die Kehle zu und mein Innerstes verkrampfte sich. Es fühlte sich an, als würde mein Magen sich um meine anderen Organe schlingen und sie zerquetschen. Das Tier schnupperte noch einmal an Nicoles Haut und schleckte dann ihre Wange ab. Und ihren Hals. Und ihr Dekolleté. Er hörte gar nicht mehr auf. Der Köter japste fröhlich, als Nicole ihre Hand in das Fell legte und ihren Kopf reckte, damit der Hund nicht über ihren Mund lecken konnte.

»Aus! Böser Hund!«, schimpfte sie lachend und versuchte der Zunge auszuweichen, die trotz aller Bemühungen ihr Gesicht durchnässte. Der laufende Mann stockte in der Bewegung und sah Nicole verwirrt an. Sein grimmiger Gesichtsausdruck schien noch düsterer zu werden und die Muskeln seines breiten Rückens spannten sich an. Die Verspannungen waren mir seltsam vertraut und erinnerten mich an den Schützen auf dem Pferd, der den brennenden Pfeil in meine Richtung abgefeuert hatte. Ob er das gewesen war?

»Ernsthaft? Was soll das? Sonst hassen diese Viecher auch alles und jeden, außer Orion, und bei der dummen Schnepfe machen sie eine Ausnahme? Was stimmt mit der nicht?«, entrüstete sich Aletheia und machte ihrer Wut Luft. Sie war rot angelaufen und hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt.

»Das war Absicht?«, fragte der Mann lauernd, der nur Orion sein konnte, weil er als einziger keine Angst vor den Hunden zu haben schien. Ihren Fehler erkennend, drehte Aletheia sich ertappt weg und lächelte versöhnend, als hätte sie Furcht vor der Reaktion des Hundebesitzers, der zu sehr mit Nicole beschäftigt war, um die Jägerin zusammenzustauchen. »Meine Gefährten hätten das Mädchen umbringen können«, brummte er lediglich und streckte Nicole die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Die Hunde ließen von ihr ab, setzten sich zu den Füßen ihres Herrchens und warteten freudig bellend. Orion musterte die Höllenhexe von Kopf bis Fuß. Am Anfang, um sicherzugehen, dass sie wirklich unverletzt war, doch dann veränderte sich das Glitzern in seinen Iriden, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie gold oder gelb waren. Seine Augen funkelten hell. Sie leuchteten richtig, als hätten sie nie so etwas Schönes wie Nicole gesehen.

»Danke.« Auch die Eisprinzessin starrte ihr Gegenüber unverblümt an und setzte ein aphroditisches Lächeln auf. »Nette Hunde«, säuselte sie, obwohl sie immer noch leicht zitterte und aus ihren Worten ihre Unsicherheit herauszuhören war.

»Das erste Mal, dass ich das höre.«

Eine Gänsehaut bildete sich auf Nicoles Haut beim Klang seiner Stimme und Orion fuhr sanft mit seinem Daumen über ihre Wange, um den Speichel einer seiner Hunde wegzuwischen. »Sie können nicht gut mit Menschen, weshalb sich alle von ihnen fernhalten.« Die beiden standen sich so nah, dass kaum ein Blatt zwischen sie gepasst hätte, und trotzdem schien ihnen das nicht zu reichen. Er war zwei Köpfe größer als sie, doch er senkte den Kopf leicht, um ihr noch näher zu sein. »Genau wie von mir«, setzte Orion hinterher, als er auf gleicher Höhe mit ihrem Ohr war, und zerstörte den Augenblick. Der Klang seiner Worte wurde hart und seine Miene ausdruckslos. Er rückte ein Stück von Nicole ab, die verlegen auf den Boden starrte, und befahl den Hunden sich hinzulegen. Danach holte er sich etwas zu essen vom Buffet, als wäre nichts passiert und tat so, als wären wir gar nicht da. Auch die anderen Jäger schienen sich wieder daran zu erinnern, dass sie Hunger hatten, und griffen nach ihrem Besteck. In kürzester Zeit war der Raum erneut von Stimmen erfüllt, sodass ich die herannahenden Schritte nicht hörte und Hunter erst bemerkte, als er hinter mir stand.

»Read hat seit Wochen keine feste Nahrung mehr zu sich genommen und niemandem von euch könnte etwas zu essen schaden«, sagte er und wollte seine Arme um meine Hüften legen. Ich versteifte mich, sobald er mich berührte, und er zog seine Finger weg, als hätte er sich verbrannt. Es gefiel mir nicht, dass er über mich sprach, als wäre ich nicht da, auch wenn es mich freute, dass er sich um mich zu sorgen schien und endlich anerkannte, dass ich da war.

»Das Essen schadet uns nicht? Da wäre ich mir nicht so sicher, wäre ja nicht der erste Mordversuch heute«, erwiderte Nicole und schüttelte den Kopf. Sie war immer noch bleich im Gesicht, aber ihre Atmung war wieder normal und das Zittern hatte aufgehört. Der liebevolle Blick, den sie den Hunden zuwarf, wiederum blieb ihr.

»Ich kann dein Essen vorkosten, wenn du Angst hast, dass du hier vergiftet wirst«, flüsterte Hunter in meinen Nacken. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut und die Härchen an meinem Körper stellten sich auf, während ich den Kopf leicht zurücklegte, um ihn besser hören zu können. Nicht um ihm näher zu sein. Zumindest war das leichter einzugestehen.

»Kein Interesse. Mit etwas Glück bringt mich die nächste Buttersemmel um und dieser Alptraum ist vorbei.« Meine Stimme klang eiskalt und ich hakte mich demonstrativ bei Nicole unter, die sich ein Tablett schnappte und zwei Salatschüsseln darauf abstellte. Ein wenig wünschte ich, Hunter hätte sich einfach wieder umgedreht und wäre verschwunden, doch er folgte uns und legte uns Besteck neben das Essen. Er selbst sah kein zweites Mal zum Buffet und nahm sich auch keinen Teller, um sich den Bauch vollzuschlagen, obwohl sein Magen leicht knurrte.

»Wenn du nach dem Essen Zeit hast, würde ich gerne mit dir sprechen, Read«, sagte er leise und griff nach meiner Hand, die ich wegzog, noch bevor ich seine Wärme spüren konnte. Hunter verzog gequält das Gesicht und presste die Lippen zusammen, sagte jedoch nichts zu meiner Reaktion, auch wenn sein Blick Bände sprach.

»Sie aber nicht mit dir«, antwortete Nicole für mich und schaufelte sich noch mehr grünen Salat in die Schüssel. Daneben waren Fleisch, Kartoffeln, Reis, Fisch und Soßen angerichtet, aber sie schien sich auf das Grünzeug beschränken zu wollen. Ich konnte mich auch nicht erinnern, dass Nicole abgesehen von fettarmen Joghurt jemals etwas anderes als Salat gegessen hatte, obwohl auch sie deutlich mehr auf den Rippen vertragen würde. Nicole war wohl die Einzige, die sich in so einer Zeit Gedanken über Fett, Kohlenhydrate und Kalorien machte.

»Read?«, bohrte Hunter nach, ignorierte meine Begleiterin und schenkte mir einen flehenden Blick, der für mich tödlich war. Er hatte die Macht, mein Herz schmelzen zu lassen. In meinem Inneren schrie sowieso schon alles nach ihm. Einen Augenblick stand die Zeit still, als ich ihm in die Augen sah. Nichts bewegte sich und kein Ton war zu hören. Als hätte bei einem Film jemand die Pause-Taste gedrückt, um sich etwas aus dem Kühlfach zu holen. Aber statt Eiscreme wütete in meinem Kopf ein Gewirr, das ich nicht entknoten konnte. Ein Staubkorn, das mit dem Wind getanzt hatte, hing in der Luft und die Menschen, die sich über ihr Essen gebeugt hatten, waren eingefroren, als hätte ein Maler sie in einem seiner Kunstwerke festgehalten. Ich wollte ihm ein »Nein« entgegenschreien, aber das Mädchen im Turm aus meiner Erinnerung kam mir wieder ins Gedächtnis. Sie war so unendlich traurig gewesen und hatte nicht gewusst warum. Sie konnte nichts an ihrem Schmerz und der wachsenden Sehnsucht in ihrem Herzen tun, außer ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aber ich wusste, woher meine Trauer kam.

»Später vielleicht«, würgte ich hervor, riss Nicole das Tablett aus der Hand und wollte den nächsten Tisch ansteuern, um wieder klar denken zu können. Hunters bloße Anwesenheit, sein Geruch lösten in meinem Kopf einen Nebel aus, der mich alles vergessen ließ, aber ich musste bei Verstand bleiben. Ich durfte nicht riskieren, dass er mich wieder hinterging, und die derzeitigen Verhältnisse schrien gerade danach. Nicht nur mein Leben hing davon ab, sondern auch das meiner Freunde. Jaimie hätte schon einmal deshalb sterben können.

Die Tische in der Umgebung waren alle voll bis auf einen einzigen. Neben Orion waren alle Stühle frei. Er saß alleine an einem großen Tisch, der einer Tafel glich, obwohl ein Mädchen am Nachbartisch bereits auf dem Schoß ihres Freundes Platz genommen hatte, weil sonst alles besetzt war. Nicole bemerkte mein Zögern, griff nach meinem Handgelenk und ging auf Orion zu, als wäre uns der Tisch zugewiesen worden.

»Zu ihm würde ich mich nicht setzen«, gab Hunter zu bedenken, dem Nicoles rosige Wangen und das Strahlen in ihrem Gesicht nicht aufzufallen schienen. Ich war mir sicher, dass sie an diesem Tisch sitzen wollte. Selbst wenn sonst alle Plätze frei gewesen wären, hätte sie diesen angesteuert.

»Wieso nicht?«, fragte ich und war froh, dass meine Stimme kräftiger klang, als ich mich fühlte. Hunters Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und er sah mich dankbar an, als wäre es das Schönste für ihn, dass ich mit ihm sprach.

»Er ist ein wenig sonderbar. Orion spricht kaum, hat keine Freunde, von seinen Hunden mal abgesehen, und er hält sich aus allem raus, was nicht mit Mord und Totschlag endet. Er ist gefährlich und es gibt nettere Menschen hier, mit denen ihr eure Zeit verbringen könnt. Ich stelle euch gern jemanden vor.« Hunter richtete seine Worte an Nicole und mich, aber er ließ mich nicht aus den Augen. In dem Raum, in dem wir eingesperrt waren, hatte er mich überhaupt nicht angesehen und jetzt das? Wusste er selbst nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte? Warum klang er dann so selbstsicher? Ob er auch diese Erinnerungen hatte?

»Ach ja, welche denn? So eine pfuschende Mörderin oder die gaffenden Schaulustigen? Ich würde sagen, sonderbar ist genau unser Ding. Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht willst.« Nicole klang schnippisch und beschleunigte ihre Schritte. Sie deutete Gänsefüßchen mit ihren Fingern bei dem Wort »sonderbar« an und zog eine Augenbraue hoch, als würde sie Hunter gern vor die Füße spucken, weil er Orion beleidigt hatte. Was war los mit der Eisprinzessin? Hatte der Mann es mit weniger als einer Unterhaltung geschafft, ihr Herz im Sturm zu erobern? Sie schien auf jeden Fall nicht schnell genug bei ihm sein zu können. Nicole ging davon aus, dass ich ihr folgen würde und das tat ich auch, genau wie Hunter trotz seiner Bedenken.

»Nicole, glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?«, fragte ich sie neckend und Alex kicherte hinter mir. Auch sie hatte ein Tablett in der Hand, jedoch hatte sie zum Braten gegriffen und beäugte das Fleisch schon sehnsüchtig.

»Das würde Zeit sparen«, meinte Nicole sachlich und ich verschluckte mich an meiner Spucke, was den Lachanfall von Alexandra anheizte. Einige der Umstehenden sahen uns interessiert an, aber Alex lachte, ohne sich zu schämen, weiter. »Ich will mich einfach bei ihm bedanken, in Ordnung? Wer weiß, was die Hunde getan hätten, wenn er mir nicht geholfen hätte.« Sie hätten Nicole wahrscheinlich zu Tode gekuschelt, aber diese Bemerkung verkniff ich mir, weil sich in diesem Moment ein Mädchen vom Nebentisch erhob und Hunters Namen rief. Sie war rothaarig und war von kleiner Statur. Trotzdem hatte sie mit ihren grauen Augen eine Ausstrahlung, die sich mir bis heute ins Gedächtnis brannte, Mel. Die schmalen Lippen, die blasse Haut – ich hatte sie schon einmal gesehen. Sie hatte auf einem Thron gesessen, in dem sie fast versunken war, und in die Flammen gestarrt, die meinen Gemahl umgebracht hatten. Dass sie nicht dieselbe Frau sein konnte, war mir klar. Schließlich hatte diese Königin vor Jahrhunderten gelebt, doch sie sah ihr zum Verwechseln ähnlich und das allein reichte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen.

»Setzt du dich zu uns? Deine Mutter möchte etwas mit dir besprechen«, säuselte das Mädchen und krallte ihre Finger in Hunters Hemd, der sich perplex mitziehen ließ. Er drehte seinen Kopf zu mir um, aber ich war zu beschäftigt damit, das Ebenbild einer Verstorbenen mit meinen Blicken zu Asche zu verbrennen, statt zurückzusehen. Sie betatschte und begrapschte Hunter von oben bis unten und hörte damit auch nicht auf, als sie sich zu zweit setzten.

»Wer ist die Schlampe?«, fragte Nicole geradeheraus, als wir bei Orion ankamen, der mürrisch von seinem Essen aufsah und eine grimmige Miene aufsetzte, als die Höllenhexe einen Stuhl zurückzog und sich setzte. Ich stellte das Tablett ab und ließ mich auf den Sessel neben ihr fallen.

»Darf ich fragen, was an ‚Alle halten sich von mir fern‘ so schwer zu verstehen war? Ich will meine Ruhe haben.« Netter Zeitgenosse. Vielleicht hatte Hunter doch recht und wir hätten uns besser auf den Boden setzen sollen. Ein Blick über meine Schulter ließ mich den Gedanken sofort wieder verwerfen. Die Rothaarige hatte eine Hand auf Hunters Oberschenkel gelegt und rieb leicht über den Stoff seiner Hose. Bevor ich mich in ihre Nähe setzte, ließ ich mich lieber von Orion beleidigen. Der Jäger senkte wieder den Kopf und aß weiter, als hätte er alles gesagt und wir würden Leine ziehen, aber Nicole hatte andere Pläne. Sie griff nach einer Gabel, stocherte in den grünen Blättern und stopfte sie sich in den Mund. Ihr Kauen war demonstrativ laut und sie schluckte unbekümmert, bevor sie Orion antwortete.

»Lass mich überlegen.« Nicole machte eine stilvolle Pause. »Alles. Beim Rest muss ich Angst haben, dass sie uns umbringen wollen und du hast schon bewiesen, dass du uns nicht tot sehen willst.« Orion legte mit einem Knall ein großes Messer auf den Tisch und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

»Ich will nicht, dass meine Hunde als Mörder missbraucht werden. Das ist ein Unterschied«, erklärte er und zog einen Mundwinkel gehässig nach oben, als er Alexandra nervös auf die Klinge starren sah. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und suchte unauffällig den Raum nach einem Ausgang ab, um im Ernstfall fliehen zu können.

»Schön. Wir verschwinden, wenn du uns sagst, was wir wissen wollen, großer, böser Wolf. Also, wer ist die Schlampe?« Obwohl Nicole versuchte, witzig zu sein, hörte ich den verletzten Unterton in ihrer Stimme und ihr Grinsen erreichte ihre Augen nicht, als sie sich über den Tisch lehnte und gespannt auf Orions Antwort wartete.

»Wir nennen sie Bloody Mary«, sagte er schließlich, als ihm klar wurde, dass Nicole nicht nachgeben und er erst wieder seinen Frieden bekommen würde, wenn er ihr Rede und Antwort stand. Trotzdem schien er es nicht für notwendig zu halten, ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken und kaute weiter an seinem Steak, zu dem er eine Portion Fleischbällchen aß. Keine Nudeln, keine Kartoffeln, kein Reis. Als wären Beilagen für ihn ein Fremdwort.

»Bloody Mary? So wie der Cocktail und das Gespenst im Spiegel?«, hakte ich nach und erinnerte mich an die Geschichten, die mir erzählt wurden, als meine Klasse vom Sommercamp wiederkam, auf das ich nicht mitfahren durfte. Irgendwer hatte den Hokuspokus verbreitet, dass eine Mörderin im Badezimmerspiegel erscheinen würde, wenn man dreimal ihren Namen rief. Daraus entwickelte sich schnell eine Mutprobe, die viele zum Heulen brachte und für schlaflose Nächte sorgte. Im Nachhinein war die gruselige Geschichte nicht mehr als lustig gewesen.

»Eher Letzteres und das auch nicht wirklich. Sie hat sich nach Maria der Ersten benannt, weil sie ihr mit den roten Haaren und dem hässlichen Gesicht ähnlich sieht. Angeblich ist sie mit ihr verwandt. Darauf bildet sie sich etwas ein, weil es heißt, dass die Königin die erste Jägerin war.«

Toll, Mel. Damit hatten wir noch eine, die sich für eine Herrscherin hielt, obwohl sie keine war und eine Besessenheit für Hunter hatte. Warum wollten alle regieren? Für mich hatte der Gedanke etwas Abschreckendes, für eine Bevölkerungsgruppe verantwortlich zu sein.

»Ich dachte, die Jäger stammen von Jagdhunden ab«, warf Jeremy mit vollem Mund ein und kassierte von Nicole einen angewiderten Blick. Dem Schmatzen nach zu urteilen, schmeckte es meinen Freunden, weshalb ich die zweite Salatschüssel von Nicoles Tablett nahm und zur Gabel griff. Ich unterdrückte ein Stöhnen, als das kühle Dressing auf meine Geschmacksnerven traf und ich zu kauen begann. Es schmeckte gut. Vielleicht nicht außergewöhnlich, aber nach der Pampe, die Nathalia mir vorgesetzt hatte, war es himmlisch.

»Warum wundert es mich nicht, dass ein Hexer das glaubt?«, schnaubte Orion und sah auf, als einer seiner Hunde bellte. Der größte von ihnen war aufgesprungen, weil jemandem eine Kartoffel vom Teller gerutscht und sie vor seiner Schnauze gelandet war. Das hatte ihn geweckt und er wollte, dass alle seinen Unmut mitbekamen, den er durch ein Knurren signalisierte. Orion schätzte die Situation ab, entschied aber, dass er nicht eingreifen musste, solange niemand auf die Idee kam, die Kartoffel zu holen. »Die offizielle Geschichte ist, dass Maria das Ungleichgewicht zwischen den Protestanten und der katholischen Kirche ausnutzte, um so viele Hexen wie möglich zu töten, nachdem ihre Halbschwester Elisabeth gebrandmarkt wurde. Maria war der Meinung, dass Elisabeth ein Monster war, weil sie sich selbst dafür hasste, eine Hexe zu sein und Angst hatte, sich fortzupflanzen, weil sie den Fluch nicht weitergeben wollte. Als Elisabeth sich mit ihrem Schicksal abfand und gerne eine Hexe war, hat sie sich mit Maria Stuart verbündet, die Elisabeth vom Thron stürzen wollte, um die Welt aus den Fängen der magischen Missgeburten zu befreien.«

Nicole gab einen Laut der Empörung von sich und ließ eingeschnappt ihre Gabel fallen.

»Ihre Worte, nicht meine«, murmelte Orion und griff nach dem Krug, der auf dem Tisch stand, um Wasser in ein Glas einzuschenken, das er vor Nicole abstellte und sie auffordernd ansah. Es sollte eine Entschuldigung darstellen, auch wenn er es nicht sagte, aber das wäre gar nicht notwendig gewesen. Alles in seinem Gesicht zeigte, dass er Nicole auf keinen Fall für eine Missgeburt hielt. »Aber wie wir alle wissen, wurde Maria Stuart hingerichtet, weil sie ihren Hass zu offen gezeigt hatte und ihr Enkel übernahm den Thron, der im Gegensatz zu seiner Großmutter geschickter seine Absichten verschleierte und andere Jäger konsultierte, um im Geheimen Jagd nach den Hexen zu machen.«

Könige, Familienfäden und Unschuldige, die deshalb sterben mussten. Kommt mir bekannt vor. Aber das erklärte wenigstens, warum Hunter in einem seiner alten Leben verbrannt wurde.

»Und die inoffizielle Version?«, bohrtest Du nach und zogst meine Aufmerksamkeit damit auf Dich. Du hattest Dich auf die andere Seite von mir, auf der Nicole nicht saß, gesetzt und schaukeltest lässig mit dem Stuhl, während Deine Hand in Deinem Schoß lag. Auf Orion musste es wirken, als wärst Du entspannt, aber Deine gefrorenen Fingerspitzen zeigten, dass Du jederzeit mit einem Kampf rechnetest.

»Meiner Meinung nach waren beide Marias nur sauer, dass sie selbst keine Hexen waren und haben deshalb alle getötet, die das Glück hatten, mit dieser Gabe gesegnet worden zu sein.« Orion klang immer noch gelangweilt, aber mit seiner Aussage weckte er erneut Jeremys Interesse, der gerade vom Buffet zurückkam, weil er sich noch mehr Fleisch geholt hatte, auf das er sich ausgehungert stürzte: »Gabe? Ich dachte, alle Jäger hassen Hexen.«

»Negativ. Zugegeben, einige haben einen Hass gegen eure Art, beispielsweise wenn sie an euch einen Verwandten oder eine nahestehende Person verloren haben. Aber es gibt viele Gründe, ein Jäger zu werden. Einige werden hineingeboren wie Mary, deren ganzes Leben nur aus jagen, Leute quälen und kämpfen bestanden hat, weshalb sie keine anderen Freizeitbeschäftigungen kennt.« Er machte eine kurze Pause, sodass er sich noch ein Fleischbällchen in den Mund schieben konnte, das er ohne zu kauen hinunterschlang. »Andere haben Angst, gebrandmarkt zu werden.«

»Das ist nicht mehr möglich, wenn man ein Jäger ist?«, wollte ich verwirrt wissen und aß eine Gabel meines Salates. Das Brennen in meinem Magen, von dem ich bis eben nicht mitbekommen hatte, dass es überhaupt da war, verschwand und der beißende Hunger machte schon nach wenigen Bissen einem Sättigungsgefühl Platz.

»Na ja«, begann Orion zögerlich und schien kurz gedanklich abzudriften, »bis vor ein paar Wochen hätte ich Nein gesagt, aber zwei Tage nachdem Morena hier alles übernommen hat, wurde eine Jägerin plötzlich zur Hexe.«

»Und warum bist du Jäger geworden?« Nicole versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, weil ihm das Thema sichtlich unangenehm war. Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und sein Ton war wieder mürrischer geworden.

»Du bist überhaupt nicht neugierig, was?« Orion schnaubte und verdrehte die Augen. »Ich wollte das Gleichgewicht zwischen Hexen und Menschen erhalten. Meine Schwester wurde gebrandmarkt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wegen ein paar albernen Tätowierungen plötzlich zum Monster wird, deshalb habe ich sie gesucht, nachdem sie von zuhause abgehauen ist. Sie war immer noch dieselbe. Außerdem darf man sich selbst einen Namen geben, wenn man Jäger wird.«

»Ist deine Schwester auch hier?« Wieder kassierte Jeremy von Nicole einen Todesblick und auch Du schlugst ihm gegen den Oberarm für seine Frage. Wahrscheinlich war er zu sehr mit dem Essen beschäftigt gewesen und hatte nur mit halbem Ohr zugehört, aber allen anderen war die Vergangenheitsform, die Orion verwendet hatte, aufgefallen. Die Stimmung am Tisch schlug um. Sie war vorher schon nicht ausgelassen gewesen, aber nun schien sie mich zu erdrücken. Orion biss die Zähne zusammen und das Jaulen der drei Hunde ertönte, als wüssten sie genau, dass irgendwer ihren Besitzer verletzt hatte.

»Sie ist tot«, sagte er scharf. »Sie hat den Angriff von Rabiana auf ihre Schule nicht überstanden.« Seine Miene wurde ausdruckslos und er fuhr sich durch die Haare, um seinen Händen etwas zu tun zu geben, nachdem er das letzte Stückchen Fleisch verzehrt hatte.

»Also Orion wie das Sternenbild?« Ich wusste, dass es ein kläglicher Versuch von Nicole war, das Gespräch noch mal zu kippen, aber es nutzte nichts. Orions Gesichtszüge wollten sich nicht mehr entspannen und seine Stimme klang gepresst: »Nein, wie der Geliebte von Artemis.« Orion schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

»Wie war dein Name, bevor du dich den Jägern angeschlossen hast?«, bohrte Jeremy wenig feinfühlig nach und diesmal sah ich Orion mitleidig an, obwohl er nicht wie der Typ wirkte, der Mitleid wollte. Er war am Gehen und unsere Fragerei verhinderte das.

»Ein paar Geheimnisse sollten geheim bleiben, aber wenn es dich interessiert, Mary hieß vor ihrer Ernennung zur Jägerin Diethilde. Kannst du gern gegen sie verwenden, wenn sie dir dumm kommt, und glaub mir, das wird sie. Der Name macht sie rasend.« Auch wenn Jeremy gefragt hatte, galt seine Antwort mir, bevor er sein Messer vom Tisch wieder in seine Gürteltasche steckte und auf seine Hunde zuging. Er machte seine Gefährten los und verschwand mit ihnen durch die Tür, als wäre er nie da gewesen.

»Entschuldigt mich«, sagte Nicole hastig, ließ ihren halben Salat stehen und folgte Orion so schnell, dass niemand von uns sie aufhalten konnte. In ihrer Eile rannte sie beinahe Hunter nieder, der auf dem Weg zu unserem Tisch war und gerade noch ausweichen konnte. Im Schlepptau hatte er Aletheia, die uns angepisst betrachtete und die Nase erhoben hatte, als würden wir stinken.

»Gutes Essen?«, fragte er, um das Eis zu brechen, aber niemand antwortete ihm, sodass ich leicht nickte, damit keine unangenehme Stille entstand. Wenig erfolgreich, Mel. Sein aufgesetztes Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er streckte mir fragend die Hand entgegen. »Hast du eine Minute?« Wieder nickte ich, weil ich meiner Stimme nicht traute. Ich wollte nicht mit ihm reden und schon gar nicht mit ihm allein sein, aber ich brauchte Antworten und Hunter schien sich bestens auszukennen. Wenn Nicole recht hatte und Morena Morgan uns hier mit Absicht festhielt, müsste er es wissen. »Aletheia zeigt euch eure Zimmer«, sagte Hunter bestimmt, als ich ihm die Hand reichte und er mich hinter sich herzog. Gekonnt dirigierte er mich durch die Gänge zwischen den Tischen und führte mich aus dem Raum. Aber er hielt nicht an, sondern bog an der Ecke ab, um mich in ein anderes Zimmer zu ziehen. Es war kleiner als der Aufenthaltsraum, aber nicht weniger beeindruckend. Die Bibliothek von St. Ghidora war wunderschön, aber diese Ansammlung von Büchern übertraf alles, was ich bis jetzt gesehen hatte. Regale reihten sich aneinander, dicke Wälzer waren aufeinandergestapelt, Leselichter hingen an den Wänden, Podeste, auf denen besonders wertvolle Bände zu liegen schienen, waren im ganzen Raum verteilt und überall standen Hocker, auf denen man sich niederlassen konnte. Ich verlor mich in diesem Paradies für Leseratten, sodass ich nicht bemerkte, wie Hunter meine Hand losließ und ich meine Deckung fallen ließ. Er trat einen Schritt näher. Zu nah. Die Armlänge Abstand war nicht mehr gegeben und das machte es schwer, mir Fragen zurechtzulegen. Die Nähe zwischen uns legte meinen Verstand lahm und mein gebrochenes Herz wurde angreifbar. Automatisch trat ich einen Schritt zurück, um mehr Distanz zwischen uns zu bringen. Vielleicht würde sich der Sturm aus Gefühlen, der sich in meinem Inneren zusammenbraute, legen, wenn ich nur weit genug von ihm wegkam. Doch die Möglichkeit war nicht gegeben. Ich saß in der Falle. Eingeschlossen zwischen ihm und dem Bücherregal, das ich angestarrt hatte wie den Heiligen Gral. Blöd wie ich war, hatte ich nicht aufgepasst und der Ausgang lag weit von mir entfernt und wurde mir von Hunters Körper versperrt. Kurz legte sich ein Grinsen auf seine Lippen, bevor er mich umdrehte, sodass ich ihn ansehen musste, sich mit beiden Armen an den Büchern hinter mir abstützte und mich nicht von der Stelle ließ. Ich konnte nicht weg. Wie ein unvorsichtiges Reh, das den Jäger erst spürte, als er die Pistole an seine Stirn hielt. Eigentlich hätte ich nun Panik bekommen sollen oder den Drang verspüren wegzulaufen, aber mein klopfendes Herz und meine schweißnassen Hände hatten nichts mit Angst zu tun. Ich wollte mich befreien, ihn wegstoßen, ihn treten oder anspucken. Ich hätte nach Hilfe schreien und ihm die Augen auskratzen sollen, aber mich überkam das Bedürfnis, mich näher zu ihm lehnen zu wollen, seine Haut an meiner zu fühlen, meine Lippen an seine zu schmiegen und seinen unvergleichlichen Duft einzuatmen. Göttin sei Dank hatte ich noch genug Selbstbeherrschung, keiner dieser Dummheiten nachzugeben und mir einen Rest Würde zu bewahren, anstatt mich anzubiedern wie ein williges Flittchen.

»Rede mit mir«, flüsterte Hunter an mein Ohr und senkte den Kopf, sodass seine Stirn meine berührte und ich die Wärme in mich aufnehmen konnte, die er ausstrahlte.

»Was hattest du mit Jaimies Entführung zu schaffen?«, fragte ich schroff und lehnte mich gegen die Bücher, um den letzten Rest meiner Rückzugsmöglichkeit auszukosten und so viel Abstand zwischen uns zu bringen wie möglich.

»Nicht darüber«, erwiderte er mit rauer Stimme und musterte mich eingehend, als würde er meine Gefühlslage abschätzen. Ob er damit rechnete, dass ich einen Nervenzusammenbruch bekam? Oder wollte er nur nicht den Moment verpassen, indem ich ausrastete und ihm das Gesicht wegbrannte?

»Ich wüsste nicht, worüber wir reden sollten, wenn du nicht über Jaimie sprechen möchtest. Dann habe ich dir nämlich nichts zu sagen«, zischte ich, aber ich klang längst nicht so bissig wie beabsichtigt. Eher spiegelte mein Ton meine Empfindungen wider. Müde. Kraftlos. Gebrochen. Verletzt.

»Doch, das weißt du und du weißt auch, dass ich dir nichts tun könnte. Das habe ich bewiesen, als ich lieber selbst gestorben wäre, als dir ein Leid zuzufügen. Und ich weiß, dass du das, was du gerade fühlst, bei niemandem anderen je fühlen wirst. Du gehörst zu mir.« Damit war wohl geklärt, ob er die Erinnerungen auch sehen konnte. Waren es die gleichen oder sah er uns in anderen Jahrhunderten?

Ja. »Nein. Vielleicht war das Schicksal der Meinung, dass wir zusammengehören, aber du hast alles zwischen uns zerstört, obwohl du mir alles bedeutet hast. Du bist ein Verräter und ich werde nicht zulassen, dass mich das umbringt, falls das einer von Rabianas perfiden Plänen gewesen sein sollte. Ich empfinde gar nichts mehr für dich. Überhaupt nichts.« Lüge. Ich war eine Lügnerin, Mel, sonst würde mein Herz nicht wie wild klopfen und in meinen Augen würden keine Tränen schwimmen, die deutlich machten, dass ich doch nicht so eiskalt war, wie ich gerne gewesen wäre.

»Schwachsinn! Du liebst mich. Gerade bist du verletzt, weil ich Scheiße gebaut habe, aber das Strahlen in deinen wunderschönen Augen jedes Mal, wenn wir uns ansehen, zeigt mir, dass du mich liebst. Sag mir, dass ich dich küssen darf. Lass mich dir beweisen, dass ich dich genauso sehr liebe wie du mich.«

Stark bleiben! Wie ein Mantra sagte ich es mir immer wieder, aber Hunter klang so traurig, fast verzweifelt und ich war erschöpft. Das ewige Kämpfen machte mich müde und laugte mich aus. Mein Herz stockte und ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wenn nicht bald etwas passierte. Mir wurde alles zu viel. Als wäre die Wahnsinnige, die mich jagte, nicht Strafe genug. Nein, da musste mir das Schicksal auch noch einen Strich durch die Rechnung machen und mir einen Lügner zur Seite stellen, bei dem ich es einfach nicht schaffte, ihn zu hassen. Ich konnte nicht verhindern, dass eine Träne sich aus meinem Augenwinkel löste und mir heiß die Wange hinunterlief, während seine Nase an meiner rieb. Er hatte recht. Aber was sollte ich tun? Ich konnte ihm nicht vergeben. Dafür war zu viel passiert. Nathalia, Rabiana und jetzt anscheinend diese Mary, die sich an ihn heranschmiss wie eine Schmeißfliege und er bemerkte es nicht einmal oder es kümmerte ihn nicht, obwohl ich ihr die Augen auskratzen wollte, wann immer sie ihn berührte.

»Nein.« Es war nur ein kleines Wort, doch es verlangte mir alles ab. Meine Zunge war verkrampft und meine Nase gekräuselt, meine Gesichtsmuskeln angespannt. Jede Faser meines Körpers hätte am liebsten lauthals »Ja« geschrien, aber ich schaffte es, mich dagegen zu wehren. Meine Stimme klang belegt, als würde sie meine Trauer transportieren, aber zumindest brach sie diesmal nicht mitten im Satz und zeigte meine Schwäche. Ich musste stark sein. Jetzt mehr denn je. Doch ich schaffte es einfach nicht. In meiner Brust war ein unbändiger Druck, den ich nicht loswurde. Ich wollte schreien, weinen, lachen und schweigen. Am besten alles auf einmal, aber es ging nicht. In dem Bruchteil einer Sekunde, wo Hunter schwieg und seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, brach ich zusammen, weil ich Angst hatte vor seiner Reaktion. Was war, wenn er ging? Wenn er sich jemand anderen suchte, den er küssen konnte? Jemand, der nicht auf seinen Fehlern herumritt. Jemanden wie Mary. Ich sank auf die Knie und hielt mir die Hände auf die Ohren. Ich wollte nicht hören, was er noch zu sagen hatte. Ich konnte nicht mehr. Rabiana hatte mich zerstört und Hunter hatte ihr dabei geholfen. Aber wie hieß es so schön? Selbst ein Knicklicht muss erst brechen, um zu leuchten. Und ich würde nun heller strahlen als irgendjemand sonst. Ich musste nur die Krone meiner Familie finden und aufhören, mich wie eine pubertierende Schülerin zu benehmen. In der Theorie klang das gut, oder Mel? Fast einfach.

Auch Du hattest gelogen, aber Dir hatte ich noch im gleichen Moment, in dem ich es erfahren hatte, vergeben. Warum fiel es mir dann bei meinem Gemahl so schwer? Vielleicht weil ich gehofft hatte, dass wir nach Nathalia nicht noch mehr durchmachen müssten oder alles leichter wird, wenn er nicht weiter unter dem Einfluss eines Tranks steht. Doch nun zu erfahren, dass er mich schon davor belogen hatte, war mehr, als ich gewillt war, zu verkraften. Tief atmete ich durch, bevor ich mich vom Boden abstieß, um wieder Auge in Auge Hunter gegenüberzustehen. Ich schluckte die Tränen hinunter und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein«, wiederholte ich und diesmal klang ich stark, als würde ich wirklich hinter meinen Worten stehen.

»Ich hasse es, wenn du weinst. Überhaupt, wenn ich der Verursacher dieser Tränen bin«, flüsterte er mehr zu sich selbst und tat, als hätte ich nichts gesagt. Verwirrt sah ich ihn an, bis mir auffiel, dass mir immer noch Tränenflüssigkeit über die geröteten Wangen lief. Verdammt! Konnte mein Körper einmal tun, was ich von ihm wollte? Der Schwarzhaarige griff nach meinen Fingern und führte sie an seinen Mund, während er mit der anderen Hand mein Gesicht entlang wischte, um es von den Tränenspuren zu befreien. Sacht küsste er meine Fingerknöchel und ich schloss die Augen, um wenigstens nicht dabei zusehen zu müssen. In seinem Blick lagen so viele unausgesprochene Versprechen und ich konnte es einfach nicht ertragen, die Liebe zu sehen, die sich in seinen Iriden spiegelte. Sie schienen so vieles sagen zu wollen.

»Jaimie?«, fragte ich hart und versuchte, meine Trauer in Wut umzuwandeln. Damit konnte ich besser umgehen. »Hast du ihn gefoltert? Hast du ihn persönlich zu Rabiana gebracht oder hast du uns nur abgelenkt, damit Jaimie allein ist, wenn sie ihn holen kommt?« Verbitterte, alte Hausfrauen waren ausgeglichener als ich, Mel. Als gäben meine Stimmungsschwankungen nicht genug Grund zur Sorge, dass ich verfrüht in die Wechseljahre kam – nein, ich war auch noch frustriert und hatte Hitzewallungen.

»Nein«, schrie Hunter entrüstet und schloss die Augen, als würde er sich schämen, dass ich so etwas von ihm glauben konnte. »Ich hab den Schutzwall der Schule an manchen Tagen auf Rabianas Wunsch lahmgelegt, aber bitte glaub mir, ich hatte keine Ahnung, dass sie es an diesem Tag auf Jaimie abgesehen hatte und es war das letzte Mal, dass ich irgendetwas für diese Frau getan habe.« Meine Knie zitterten unaufhörlich, als Hunter seine Lippen langsam auf meine senkte. Ich hatte ihm noch nicht vergeben. Vielleicht konnte ich es nie, aber für heute hatte ich genug gekämpft und ich hatte meine Antwort bekommen. Hunter hatte Jaimie nicht wissentlich verletzt und war das nicht auch etwas wert? Ich wollte ihm glauben und festgehalten werden. Nur für einen Augenblick. Niemand konnte mir so viel Halt geben wie Hunter. Ich wusste nicht, was aus uns werden würde, und wahrscheinlich war es egoistisch von mir, ihn in dem Glauben zu lassen, dass zwischen uns wieder alles gut werden würde, aber er hatte Schlimmeres getan, als mich in Sicherheit zu wiegen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, als ich meinen Mund leicht öffnete und keuchte. Seine Zunge leckte über meine obere Zahnreihe und glitt in meine Mundhöhle. Ich hatte diesen Geschmack vermisst, genauso wie das Kribbeln in meinem Bauch, das sich anfühlte, als würden tausende Raupen sich zu Schmetterlingen verwandeln. Hunter vergrub seine Hand in meinem Nacken und ich legte meine Arme um seine Mitte. Die Ecke eines Bücherrückens drückte sich gegen meinen Kopf, als er sein Gewicht auf mich lehnte und seinen Körper an meinen presste. Es tat weh und ließ sich nicht ignorieren, auch wenn ich mich auf Hunters lustvolle Geräusche konzentrierte. Einen Moment löste ich mich von ihm, um meine Position zu verändern, als ein Schnauben erklang. Erschrocken fuhren wir auseinander und sahen uns nach dem Störenfried um.

»Lasst euch nicht stören«, zischte Mary, die den Raum betrat, und holte Hunter und mich aus unserer Blase. Sie zog arrogant eine Augenbraue nach oben und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen, um uns weiter zu beobachten. Hunter drehte den Kopf in ihre Richtung, entschied aber, dass sie keine Gefahr darstelle und wollte einfach wieder seine Lippen auf meine drücken. Ich zuckte zurück und rückte von ihm ab. Ich war nicht scharf darauf, mich von ihr bespannen zu lassen, während Hunter mich küsste. Mein Gemahl schien das zu bemerken und runzelte die Stirn.

»Mary, würdest du uns bitte alleine lassen?«, fragte mein Gemahl freundlich und drehte seinen Kopf in ihre Richtung. Trotzdem blieb seine Hand in meinem Nacken und streichelte meinen Haaransatz. Obwohl seine Stimme keinen Groll erahnen ließ, zeigten seine Augen, dass Mary unerwünscht war. Sie schienen Funken zu sprühen und er drückte seinen Körper näher an mich, um zu signalisieren, dass er nicht gewillt war aufzuhören, um ihr mehr Beachtung zu schenken.

»Das würde ich zu gern, aber deine Mutter schickt mich«, säuselte Mary und ich sah mich nach einem Buch um, das schwer genug war, damit die Jägerin starb, wenn ich es ihr für diese Lüge an den Kopf warf. Sie würde sich lieber beide Augen ausstechen und sie anschließend essen, statt uns allein zu lassen. Sie hasste mich. Jeder Blinde konnte das sehen. Ich war wie ein Dorn in ihrer Haut. Ich schmerzte, verursachte gerötete Stellen und wäre ihrer Meinung nach am besten operativ entfernt worden.

»Egal, was sie mit mir zu besprechen hat, es kann warten«, antwortete Hunter ungeduldig und senkte seinen Kopf wieder. Er leckte sich verheißungsvoll über die Lippen, als sie über meinen schwebten, und wollte sie gerade sinken lassen, als Mary uns abermals unterbrach.

»Was kann wichtiger sein, als Rabianas Sturz zu planen?«, hinterfragte Mary spitz und mein Gemahl seufzte schwer, während ich die Augen verdrehte. Noch nie hatte ich eine Person kennengelernt, die derart penetrant war wie diese hochnäsige Jägerin.

»Das darf nicht wahr sein«, murmelte er flehend, als würde er die Göttin persönlich bitten, Mary in Rauch aufgehen zu lassen, aber als das nicht passierte, sah er auf. »Dass es Read gut geht, dass niemand meiner Freunde verletzt ist, dass sie alle mir wieder vertrauen, dass ich die schönste Frau der Welt im Arm halten und sie um den Verstand küssen kann. Wenn du mich so fragst, würden mir eine Menge Dinge einfallen.« Das Streicheln in meinem Nacken stoppte und Hunter fuhr meine Schultern entlang und meinen Arm hinunter, bis er bei meiner Hand ankam und sie mit seiner verschränkte, als würde er seine Worte unterstreichen wollen. Marys Gesichtszüge entgleisten einen Augenblick, bevor sie sich wieder fasste und die Lippen zu einem dünnen Strich verzog. Hatte Hunter sich beim Essen wirklich überrumpeln lassen und die Flirterei nichts zu bedeuten?

»Morena will nichts von dir. Sie bittet deine Freundin zum Gespräch«, verkündete Mary und grinste hämisch, als ich Hunter verunsichert ansah. Was seine Mutter wohl von mir wollte? »Ich soll Read in ihr Büro bringen und du solltest zu deinem Bruder gehen. Er will immer noch nicht mit Morena sprechen, aber er hat sich bereit erklärt mit dir zu reden.« Noch bevor Mary ihren Satz beendet hatte, hatte Hunter meine Wange geküsst, mich fragend angesehen und war nach einem Nicken meinerseits aus dem Raum gestürzt. Die beiden Brüder würden die Zeit brauchen, sich auszusprechen, während ich mit Bloody Mary allein war, die mich anstarrte, als wäre ich die Ausgeburt der Hölle. Ich schwöre, wenn sie plötzlich aus den Augen geblutet hätte, wäre ich schreiend vor ihr weggelaufen, Mel. Aber das tat sie nicht. Auch wenn das schöner gewesen wäre, als ihr boshafter Gesichtsausdruck. Sie hatte etwas Gruseliges an sich, das mich an hinterlistige Mörderinnen aus Filmen erinnerte und an Horrorclowns, die lächelten und es trotzdem schafften, dass man das Gefühl hatte, gleich sterben zu müssen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich sie scheinheilig und stemmte die Hände in die Hüften, wobei ich meinen Hüftknochen mit den Fingern ertasten konnte. Angriff war die beste Verteidigung, richtig? Vielleicht konnte ich meine Unsicherheit überspielen, indem ich sie mit der Wahrheit konfrontierte: Ich war die Königin und Hunter gehörte mir. Bei normalen Menschen hätte es funktioniert, Mel. Aber Mary war nicht normal. Sie begann schallend zu lachen und hielt sich den Bauch, als hätte ich einen Witz gemacht. Ob sie den Verstand verloren hatte?

»Du stimmst hier nicht«, entgegnete sie. Schlagartig wurde sie wieder ernst und jeder Ausdruck von Belustigung war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ob Schizophrenie in ihrer Familie weit verbreitet war?

»Dass Hexen bösartig sein können, war mir schon immer klar. Einige wie Morena haben mir gezeigt, dass es nicht alle sind, aber du gehörst zur schlimmsten Sorte. Vier Wochen hatten deine Freunde Ruhe vor dir. Hunter hat sich auskuriert, nach dem, was du ihm angetan hast, er hat seiner Mutter geholfen und war nett zu mir. Zwischen uns entwickelte sich etwas und kaum schlägst du deine Augen auf, war unsere Mühe, ihn aufzubauen, umsonst. Wie ein Hund hechelt er dir hinterher und du nutzt es schamlos aus. Zum Glück bist du ab morgen nicht mehr unser Problem. Morena erwartet dich in fünf Minuten. Ich würde sie nicht warten lassen. Viel Spaß beim Suchen.«

Mary machte auf dem Absatz kehrt, warf mir ihre Haare ins Gesicht und stolzierte davon. Wow! Ich wusste, dass ich in Panik verfallen oder mich wenigstens ärgern sollte, weil ich keine Ahnung hatte, wo dieses Büro lag, aber ich tat es nicht. Weil mich die Bitte von Morena Morgan nicht interessierte und ich Bissigkeit von Nicole gewohnt war, doch die Eisprinzessin war kälter, gemeiner. Sie wusste, wie man die Schwachstelle von jemandem gegen einen verwendete. Sie hatte es jahrelang perfektioniert. Mary hingegen hatte zwar eine hübsche Tirade gehalten, aber sie hatte sich im Grunde selbst heruntergeputzt, indem sie zugegeben hatte, dass ich Hunter wichtiger war als sie und das stärkte meine Selbstachtung auf eine Weise, die die Jägerin vermutlich nicht nachvollziehen konnte. Trotzdem hinterließen ihre Worte einen faden Beigeschmack, weil es mir wieder unter die Nase rieb, dass Hunter und ich nicht gut füreinander waren und ich nicht wusste, was in den vier Wochen passiert war, in denen ich unbeweglich im Bett gelegen hatte. Anstatt den Gedanken in meinen Kopf sickern zu lassen, setzte ich mich in Bewegung und verließ die Bibliothek. Auf jeden Fall wollte ich wieder zurückkehren, um eins der Bücher zu lesen, oder am besten alle. Aber das würde ich nicht, Mel. Dazu würde es nicht mehr kommen, doch das muss ich Dir ja nicht erzählen.

Ich schlenderte durch die Gänge, die wie ausgestorben waren, in der Hoffnung jemanden zu finden, der mir den Weg zeigen konnte, aber ich kam an niemandem vorbei und ich fand auch nicht zurück zum Aufenthaltsraum. Vielleicht hätte ich doch darauf achten sollen, wohin Hunter mich führte, anstatt mich von seinem Geruch berauschen zu lassen. Verstehe mich nicht falsch, Mel. Es war nicht so, dass ich unbedingt Hunters Mutter kennenlernen wollte, aber diese Frau konnte Nicoles Theorie entweder widerlegen und meine Sorgen zerstreuen oder sie bestätigen. Und ich wusste nicht, was mir lieber war. Gerade als ich die Suche abblasen wollte, hörte ich nicht weit entfernt Stimmen. Sie klangen wütend und traurig. Jemand schluchzte und ich verlangsamte meine Schritte, weil sich in meiner Magengegend ein komisches Gefühl ausbreitete. Es war nicht unangenehm und schmerzte auch nicht, aber es war wie ein Drängen, das erst besser wurde, als ich mit einem großen Sicherheitsabstand an einer Wand verborgen in den Schatten stehen blieb. Der Druck in meinem Bauch führte dazu, dass meine Beine am Boden festgewachsen waren und ich nicht gehen konnte, als ich erkannte, dass ich meine Freunde belauschte.

»Wieso sagst du es mir nicht? Ich soll einfach so tun, als wären die letzten Monate nicht passiert, aber das kann ich nicht. Ist das so schwer für dich zu verstehen, dass es für mich schwierig war? Ich war dir einfach egal und jetzt interessiert es dich anscheinend wieder nicht, was ich fühle. Also warum können wir nicht einmal darüber reden und es dann hinter uns lassen?« Über das Gesicht Deines Bruders liefen Tränen und seine Lider waren gerötet, weil er sich mit den Fingern in regelmäßigen Abständen über die Augen fuhr, um etwas sehen zu können, Mel. Er saß mit dem Rücken an einer Mauer und sah böse zu Jonathan auf, der unter seinem Blick klein wurde. Zumindest nahm ich an, dass er erzürnt wirken wollte, jedoch hatten die großen Hundeaugen und der Schmollmund den gegenteiligen Effekt und ich hätte Jaimie gern in den Arm genommen, wie ein Kind, das man trösten musste.

»Du wärst sauer auf mich und das will ich nicht. Ich will nicht schon wieder, dass wir einander anschweigen und nebeneinander her leben, ohne zu wissen, wie es dem anderen geht. Außerdem geht es dich letztendlich nichts an. Das war eine Sache zwischen Alex und mir.« Jona hatte die Arme vor der Brust verschränkt, aber das Zittern seiner Lippen und die geweiteten Pupillen verrieten, dass er nicht so ruhig war, wie er tat. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und ging den Gang ein paar Schritte auf und ab, als er Jaimies stechenden Blick nicht mehr aushielt.

»Ich bin jetzt sauer auf dich. Alex ist meine Freundin und du bist mein bester Freund, deshalb geht es mich sehr wohl etwas an. Überhaupt … wenn sie mir vorwirft, dass ich schuld bin, dass ihr euch getrennt habt und ich nichts erwidern kann, weil ich keine Ahnung habe … Wir haben früher über alles geredet und jetzt beschränken wir uns auf das Wetter und die Gesamtsituation mit Rabiana, als wären unsere Gefühle nicht existent. Machst du mich auch für das Ende eurer Beziehung verantwortlich? Ist es das? Ich hab wirklich versucht, mich mit eurer Beziehung abzufinden und damit klarzukommen, dass du weniger Zeit für mich hast. Ich wollte nicht, dass ihr euch trennt. Du mochtest sie. Es tut mir leid, wenn ich es vermasselt habe.« Jaimies Stimme wurde leise, bis sie brach und er legte seine Arme um seine angewinkelten Knie, um sein Kinn darauf abstützen zu können. Wieder rollte eine Träne über seine Wange und er zitterte leicht, obwohl es im ganzen Gebäude angenehm warm war. Er starrte an Jona vorbei an die Wand und schluchzte, als eine bedrückende Stille entstand, die von Jona unterbrochen wurde, der hart schluckte, als würde ihm Jaimies trauriger Anblick körperliche Schmerzen bereiten.

»Es ist nicht deine Schuld. Es ist meine«, meinte Jonathan und seine Worte hörten sich unangenehm laut an, sodass Jaimie und ich zusammenzuckten. Er sagte es mit einer Intensität, die keinen Widerspruch zuließ. Er griff nach Jaimies Arm und zog seinen Freund auf die Beine, sodass sie sich gegenüberstanden und Jaimie der Blick auf die Mauer versperrt wurde. Er war gezwungen, Jona anzusehen.

»Aber wieso? Sie liebt dich und ihr könntet, wenn dieser Wahnsinn endlich vorbei ist, Kinder haben und ins Haus deiner Familie nach Bellone ziehen. Wir werden Rabiana besiegen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet.« Unschuldig sah Jaimie zu Jona auf und es zerbrach mir das Herz, als mir klar wurde, dass Dein Bruder es ernst meinte. Er wünschte sich das für Jona, weil er ihn liebte. Was die beiden hatten, ging weit über Freundschaft hinaus. Es war viel tiefer. Sie waren eine Familie. Die Bereitschaft zu haben, auf sein eigenes Glück zu verzichten, um jemand anderen glücklich zu sehen, ist etwas, das nicht viele tun würden. Schon gar nicht, wenn es ihnen selbst das Herz in Stücke riss, und Jaimie war anzusehen, dass das bei ihm der Fall war.

»Ich will nichts davon. Aus dem gleichen Grund, warum du mich nicht mit ihr teilen wolltest.« Jaimie schniefte, als Jona ihn anlächelte. Auch in Jonathans Augen schwammen Tränen, die nicht zu seinen Gesichtszügen passen wollten, doch er wirkte selig, mit sich selbst im Reinen, als hätte er nach langem Überlegen, eine Entscheidung getroffen, mit der er leben konnte. Aber es war mehr als das. Er wollte damit leben. Die Anspannung, die ihn die letzten Monate begleitet hatte, war von ihm abgefallen und er strahlte Jaimie grinsend an.

»Weil wir beste Freunde sind?« Jaimies Stimme war nicht mehr als ein Hauch. Gerade laut genug, dass ich es verstehen konnte. Und wieder hatte ich das Bedürfnis, ihn zu umarmen, weil er die Veränderung bei Jona nicht sehen konnte und sich unnötig sorgte.

»Sind wir das? Ist es das, was du denkst, wenn du mich ansiehst?«, fragte Jonathan und seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, der mir sagte, dass er die Antwort schon wusste. Das Verhalten der beiden ließ mich lächeln. Sie wirkten wie schüchterne Kinder, die in unterschiedlichen Ecken standen und nicht wussten, ob sie aufeinander zugehen und miteinander spielen sollten.

»Natürlich.« Erschrocken atmete Jaimie ein und schlug sich die Hände vor den Mund, als ihm klar wurde, dass er viel zu schnell und zu laut reagiert hatte, um glaubwürdig zu erscheinen. »Ich weiß nicht«, murmelte er, um seinen Ausbruch abzuschwächen, aber Jona lachte schallend und strich Jaimie zärtlich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht.

»Ich hab dein Tagebuch gefunden«, erklärte Hunters Bruder zusammenhanglos und ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, während Jaimies Augen größer und größer wurden, bis nichts mehr außer seinen Pupillen zu sehen war, hinter denen Rädchen sich drehten und Jaimie daran erinnerten, was er in sein Tagebuch geschrieben hatte.

»Was?«, schrie Dein Bruder und neue Tränen stiegen in seinen Augen auf. Ein Schluchzen brach aus seiner Kehle hervor und er begann Silben zu stottern, die keinen Sinn ergaben. Er fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf, als könnte er Jonathan damit zwingen, alles zu vergessen, was er gelesen hatte. Um zu verhindern, dass Jaimie sich weiter in seine Panik hineinsteigern konnte, unterbrach Jona ihn und hielt seine Hände fest, die wild gestikulierten: »Bevor ich Alex verlassen habe, musste ich einfach wissen, dass ich es mir nicht einbilde und ich nicht am Ende euch beide verletze, weil ich ein Idiot bin und mir Zeichen erträume, die gar nicht da sind. Aber deine Texte und die ganzen Tränen …« Jonathan brach ab und diesmal schüttelte er verzweifelt den Kopf, als könnte er die Bilder von seinem verzweifelten Freund so aus seinem Kopf verbannen. »Du hast gelitten. Ich mag Alex, versteh das nicht falsch und sie hat es nicht verdient, dass ich nicht dasselbe fühle wie sie, aber die Aussicht, dass ich, ohne es zu merken, dein Herz brechen könnte …« Wieder ließ er das Ende des Satzes offen. Ich wusste nicht, ob er es tat, weil ihm die Worte fehlten oder er es nicht schaffte, es auszusprechen.

Jona fuhr Jaimies Wangen mit dem Handrücken entlang und ließ seine Hand auf der Schulter seines Freundes liegen, während er ihn eindringlich ansah. Jaimie hing gebannt an Jonathans Lippen und knabberte nervös an der Innenseite seiner Backe. Er hielt den Atem an, um kein Wort zu verpassen. »Ich hätte alles getan, um das zu verhindern und dir den Schmerz zu ersparen. Uns. Ich konnte nicht länger so tun, als wäre nichts, wenn ich schwarz auf weiß habe, dass ich nicht der Einzige mit diesen Gefühlen bin. Ich hatte solche Angst, mir einzugestehen, dass …« Jona stöhnte frustriert und fuhr sich mit der freien Hand durch die widerspenstigen Haare, bevor er noch mal zum Sprechen ansetzte. »Streich das! Alex ist nicht du und nur einen von euch liebe ich. Das ist das Einzige, was zählt.« Jaimie zog erschrocken die Luft ein und gab einen Laut der Überraschung von sich. Seine Gesichtszüge entgleisten und seine Tränen versiegten schlagartig, weil sein ganzer Körper für einen Moment aufhörte, sich zu bewegen. Ob sein Herz ebenfalls kurz den Dienst versagte, um das Gehörte zu verarbeiten?

Ich musste in der Zwischenzeit an mich halten, um nicht auf und ab zu springen und freudig zu schreien. Aber ich wollte die beiden nicht stören. Wer wusste, wann sie wieder Zeit für sich haben würden. Sie sollten es genießen dürfen. Wollte mir das die Göttin damit sagen? Kam der Drang in meinem Inneren von ihr? Hätte ich diesen Moment unmöglich gemacht, wenn ich an ihnen vorbeigegangen wäre?

»Du hast also mein Tagebuch gelesen?«, bohrte Jaimie nach und ein schelmisches Grinsen legte sich auf seine Lippen, als er sich über das Gesicht wischte, um die Tränenspuren loszuwerden. Trotzdem erinnerten seine geröteten Wangen immer noch an das Desaster aus Gefühlen in ihm und die Tränen, die vor wenigen Sekunden Jaimies Welt eingenommen hatten.

»Von meinem Vortrag ist nur das hängen geblieben? Wirklich? Was ist damit, dass ich dich liebe?« Jona klang bestürzt, doch sein Lächeln zeigte, dass es gespielt war, und wieder dachte ich daran, dass es genau so sein sollte. Gerade war alles ernst gewesen, als ginge es um Leben und Tod, und keine Minute später konnten sie miteinander lachen. Jaimie stellte sich auf die Zehenspitzen und schloss die Lücke zwischen sich und Jona. Er sah seinen besten Freund neckend an.

»Ich wollte es dich einfach noch einmal sagen hören«, feixte Jaimie und kicherte, nachdem er Jona die Zunge entgegengestreckt hatte. Verspielt kniff er in Jonathans Seite, doch der Ältere ging nicht darauf ein, sondern umfasste das Gesicht Deines Bruders liebevoll mit beiden Händen und wiederholte immer wieder: »Ich liebe dich.« Er küsste Jaimies Stirn und seine Schläfen. »Ich liebe dich.« Seine Wangen, sein Kinn und den Ansatz seines Halses. Er sah Jaimie tief in die Augen und senkte seine Lippen auf die Deines Bruders. »Fuck, ich liebe dich«, hauchte er, bevor er seinen Mund mit Jaimies verschloss, der seinen Nacken packte, um Jona näher zu sich zu ziehen.

»Süß die zwei, oder?« Ich erstarrte und hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien, wobei ich mir nicht sicher war, ob Jona und Jaimie in ihrer Seligkeit meinen Schrei überhaupt bemerkt hätten. Mein Herz raste und ich glaubte einen Augenblick, einen Herzinfarkt zu bekommen. Ein fremdes Mädchen hatte mir von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt, an deren Fingern verschieden große Silberringe hingen, die alle geformt waren wie wunderschöne Drachen. Schnell drehte ich mich zu ihr um und blickte in braune Augen, die mich an die Farbe von flüssigem Karamell erinnerten. Hinter ihr waren ein grünes und ein blaues Augenpaar zu erkennen, worüber ich froh war, da ich sonst vermutet hätte auf Drogen zu sein und alles dreimal zu sehen. Vor mir standen drei Mädchen in schwarzer Kleidung. Sie alle hatten kinnlange, braune Haare und waren einen Kopf größer als ich. Auch Orion war ein Riese. Gaben die Jäger irgendetwas ins Essen, dass sie schneller wuchsen?

Außer der Augenfarbe waren die Mädchen nicht auseinanderzuhalten. Ihre Gesichtszüge waren identisch und auch ihre Haltung war aufeinander abgestimmt. Bewegte eine sich, bewegten sich die anderen mit. Als wären sie eine Symbiose. Doch eine Kleinigkeit unterschied die Braunäugige von ihren Gefährtinnen. Auf ihrem Schlüsselbein prangte das Brandmal der Hexen. Der dreizehnzackige Stern leuchtete mir entgegen und faszinierte mich. Er wollte nicht zu den Runen passen, die in ihre Kleidung eingestickt worden waren. »Selten so ein süßes Paar gesehen. Die sind den ganzen Monat umeinander herumgeschlichen, während sie darauf gewartet haben, dass du aufwachst. Es freut mich, dass es doch noch zwischen ihnen geklappt hat.« Die Stimme der Hexe hatte einen hellen Klang und war freundlicher, als ihr grimmiges Gesicht vermuten ließ. Sie beobachtete Jaimie und Jona, bis die beiden gemeinsam den Gang hinunterliefen und aus unserer Sichtweite verschwanden. Ihr Lachen war noch eine ganze Weile zu hören und sandte Stiche durch mein schutzloses Herz. Würde es bei Hunter und mir jemals so sein? Vermutlich nicht. Es wurde einfach nicht leichter.

»Komm, wir sind spät dran! Morena wartet schon«, murmelte die Hexe enthusiastisch. Na toll! Wie lange hatte ich schon an der Wand gestanden, wenn Jonathans Mutter es bereits für notwendig gehalten hatte, noch jemanden als meine Eskorte zu schicken? Oder hatte sie gewusst, dass Mary mir keine große Hilfe sein würde? Dann kannte sie ihre Jäger schon ziemlich gut.

Schnell folgte ich den dreien und war froh, dass die Hexe ununterbrochen redete, damit ich die peinliche Stille nicht füllen musste, die zwischen mir und ihren Gefährtinnen herrschte. Außerdem erfuhr ich eine Menge über Megaira, die Jägerin, die gebrandmarkt wurde und keine Luft zum Reden brauchte, und ihre Schwestern, Tisiphone und Alekto, die die unfreundlichste aus dem Trio war. Als Megaira mir erzählte, dass sie sich vor über fünf Jahren den Jägern angeschlossen hatten, weil sie eine Schwester im Krieg gegen Amazonen verloren hatten, fragte ich, ob es wirklich Amazonen gab oder ob ich mich verhört hatte. Böser Fehler! Prompt kassierte ich eine pampige Antwort von Alekto: »Was? Dachtest du, ihr hättet ein Patent dafür, die einzigen Monster auf der Welt zu sein?«

Dass sie damit nicht nur mich niedermachte, sondern auch ihre Schwester beleidigte, war ihr wohl nicht bewusst. Megaira sagte nichts darauf, doch sie stockte einen Moment beim Gehen und der Enthusiasmus aus ihrer Stimme verschwand, als sie weitersprach. »Daraufhin sind wir den Jägern gefolgt, die uns gerettet haben, und sind in Draven, der Stadt der Jäger, gelandet, wo wir uns nach den drei Moiren benannt haben.«

»Wieso?«, warf ich ein, als Megaira endlich Luft holte, und hätte mir gleich danach gegen den Kopf schlagen können, als Alekto zu einer Antwort ansetzte: »Weil wir gerne stricken.« Diesmal reagierte ihre Schwester und warf ihr einen bösen Blick zu, den sie gekonnt ignorierte und genervt schnaubte. Was war ihr denn über die Leber gelaufen? Sie war zickiger als Nicole an ihren schlechten Tagen.

»Weil wir Rache für unsere Schwester geschworen haben, aber das ist unwichtig. Was wollte ich erzählen? Richtig! Nach den Angriffen der bösen Hexe wurden wir hier zum Stützpunkt nach Viatrix versetzt, um Schadensbegrenzung zu leisten und zu versuchen, alles von den Menschen fernzuhalten. Ein Glück, dass wir dich und deine Freunde gefunden haben, bevor euch ihre Anhänger töten konnten. Sieh nur! Wir sind da.« Das Mädchen hatte die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege, sodass es anstrengend war, ihr über längere Zeit zuzuhören. Ich war froh, dass sie aufhörte zu reden. Gedanklich machte ich mir eine Notiz, in welcher Stadt wir waren. Der Name sagte mir nichts, aber Nicole oder Cassandra würden bestimmt wissen, wo wir uns befanden.

Ohne dass ich es bemerkt hatte, waren wir vor einer großen Tür stehen geblieben, die sich schon nach dem ersten Klopfen von Megaira öffnete, die mich aufgeregt über die Schwelle in das Zimmer schob, das dem alten Büro meines Ziehvaters glich. Die Wände kahl, die Kästen staubig und in der Mitte ein riesiger Schreibtisch, der viel zu groß für den Raum wirkte. Oder für die Person, die dahinter saß und beinahe unter dem Holz verschwand. Morena Morgan hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich in ihrem Sessel zurückgelehnt. Sie saß, weshalb ich ihre Größe nicht genau abschätzen konnte, aber sie durfte nicht größer sein als 1,50 m. Trotzdem sah sie nicht zierlich aus. Muskeln bedeckten ihren Körper und formten sie, als würde sie pausenlos trainieren. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen, der schwarze, akkurat gebundene Pferdeschwanz und die ausdruckslose Miene taten ihr übriges, damit ich mich unter ihrem Blick unwohl fühlte. Ihrer Aura fehlte die Wärme, die Jona umgab und sie hatte auch nicht das Strahlen, das die Menschen dazu brachte, Hunter sofort zu mögen. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit ihrem Mann, als mit ihren Kindern. Starr, ernst, berechnend. Jede ihrer Bewegungen schien kontrolliert und steif, als hätte sie keine Ahnung, wie man losließ oder Spaß hatte.

»Setzen!«, befahl sie und ich sah die drei Schwestern überfordert an, die nach einem scharfen Zischen von Morena den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen. Zögerlich ließ ich mich auf der anderen Seite des Tisches auf einem Stuhl nieder und versuchte, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Ich wusste nicht, was es war, Mel, aber ich wusste schon, bevor Hunters Mutter den Mund aufmachte, dass sie mich nicht mochte. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass sie mit Mary zu Mittag gegessen hatte oder an der Art, wie sie mich ansah. Vielleicht auch daran, dass sie die drei Moiren weggeschickt hatte, die so schnell verschwunden waren, dass sie sich nicht mal bei mir verabschieden konnten.

»Ich hasse Schwäche«, begann Morena und tippte mit ihrem Zeigefinger gegen ihren Oberarm, als wäre sie ungeduldig. Aber ich verstand nicht, weshalb. »Deshalb habe ich Caleb Morgan geheiratet und mit ihm Kinder bekommen. Er zeigte keine Schwäche und er hat mich gelehrt, es auch nicht zu tun.« Keine Schwäche? Redete sie von Gefühlen? Ich hatte mir schon gedacht, dass Caleb kein liebevoller Mann oder Vater war, aber so, wie Morena es beschrieb, klang sie als würde sie das Verhalten von ihm gutheißen. »Für meine Kinder wollte ich dasselbe, damit sie nicht verwundbar sind, und eine sehr lange Zeit hat meine Arbeit gefruchtet. Obwohl Jonathan sonderbar war, hat er sich an die Regeln seines Vaters gehalten und sich von allen abgekapselt und Hunter hatte in Nicole eine Partnerin gefunden, die genau wie ich für Caleb perfekt gewesen wäre, weil sie eine Kämpferin war und sich von niemandem zerstören ließ.«

Wie konnte man als Mutter das für seine Kinder wollen? Ein trostloses Leben ohne Gefühle, gefangen in Einsamkeit und einer lieblosen Ehe.

»Und dann kamst du.« Morena machte eine Pause, als wollte sie, dass ich etwas sagte, doch ich wusste nicht, was. Ich hatte keine Ahnung, was mir die Frau mitteilen wollte. Machte sie mich für die Trennung von Nicole und Hunter verantwortlich? Oder für den Tod ihres Mannes? Bei Letzterem war ich nicht mal anwesend und ich war mir sicher, dass Nicole Hunter schließlich doch verlassen hätte, wenn er sie nicht davor in die Wüste geschickt hätte. Irgendwann wäre Nicole auch ohne Rabiana klar geworden, dass ihre Fassade ihr nichts als Leid und Feinde brachte, und sie hätte sich für die Liebe entschieden. Spätestens wenn sie Orion begegnet wäre, aber den Kommentar verkniff ich mir lieber, bevor er das nächste Ziel von Morena wurde. »Du bist schwach und ziehst alle in deiner Umgebung mit in den Abgrund. Wie ein Anker, der sich an freie Schiffe hängt und sie nicht mehr loslässt. Erbärmlich. Aber ich werde nicht zulassen, dass meinen Kindern etwas zustößt. Jona hast du erfolgreich um den Finger gewickelt, aber für Hunter besteht noch Hoffnung, auch wenn er dir nachläuft und den Boden küsst, auf dem du stehst. Weiß die Göttin, was er an dir findet.«

Ungläubig fiel mir die Kinnlade hinunter und ich sah Morena mit aufgerissenen Augen an, die mich weiterhin kalt musterte. Die Göttin wusste genau, was Hunter an mir fand, aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden. Wie konnte sie es wagen, Diana in ihre verrückte Weltanschauung zu ziehen und sie infrage zu stellen? Das Schicksal hatte Hunter an mich gebunden, und ob gut oder schlecht, es war nicht zu ändern. Aber statt das zu akzeptieren und sich das Beste für ihren Sohn zu wünschen, saß sie selbstgefällig in ihrem Stuhl und betrachtete mich, als wäre ich den Sauerstoff nicht wert, den ich verbrauchte. Eiskalt machte sie mich für alles verantwortlich, das schiefgelaufen war. Als hätte ich nicht versucht, St. Ghidora allein zu verlassen, um Jaimie zu finden oder meine Freunde gebeten, in Sicherheit zu bleiben, statt mir zu folgen. Ich hatte sie auch nicht gezwungen, nach mir zu suchen, als Rabiana mich gefangen genommen hatte. Das taten Freunde füreinander, ohne aufgefordert worden zu sein. Weil sie mich beschützen wollten. Weil ich ihnen wichtig war. Aber ich würde nicht versuchen, Morena das zu erklären. Auf eine verdrehte, kranke Weise schien sie zu glauben das Beste für ihre Söhne zu tun, was mehr war, als man von Caleb Morgan behaupten konnte. Leider glaubte sie auch genau zu wissen, was sie anzustellen hatte, um Jona und Hunter ihre Lebensweise aufzuzwingen.

»Ich bin nicht schwach«, sagte ich verteidigend und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, der meine Worte Lügen strafte. Meine Stimme klang fest, auch wenn ich mich wie ein Schulmädchen fühlte, das zum Direktor zitiert wurde, weil es zum ersten Mal ungehorsam war.

»Doch bist du. Ich wollte Hunter glauben, der seine Hand dafür ins Feuer legen würde, dass du uns rettest, aber du schaffst es nicht einmal, dich gegen Mary durchzusetzen, sonst hättest du sie dazu gebracht, dich herzubringen. Sie ist eine Jägerin. Sie ist stark, setzt sich durch und sie passt perfekt zu Hunter. Er wird das auch noch begreifen. Wenn du so stark wärst, wie er dich hält, würdest du für dich selbst kämpfen, anstatt deine Freunde in Gefahr zu bringen. Aber das wirst du nicht, richtig? Du wirst sie weiter als lebendige Schutzschilde verwenden und das kann ich nicht zulassen. Das verstehst du doch sicher, oder?«

Mel, kennst du die Szenen in Filmen, wenn die Farben dunkler werden, die Musik leiser, der Takt schneller und sich die Atmosphäre ändert, weil dem Zuschauer klar werden soll, dass etwas Wichtiges passiert? Der Schauspieler atmete absichtlich schneller und man konnte lautes Herz klopfen hören, bevor die Erkenntnis in den Verstand der Zuschauer tropfte. So einen Moment hatte ich gerade. Ich befeuchtete meine ausgetrockneten Lippen mit meiner Zunge, sah auf das sprudelnde Glaswasser, das vor Morena stand und dessen Prickeln überlaut in meinen Ohren klang. Hunters Mutter schluckte und ihre Augen drehten sich immer wieder unauffällig auf den Kalender, der neben einer Mappe stand, auf der ein kleiner Rabe an der oberen Ecke aufgezeichnet war und der nächste Tag rot eingekreist war. Der Vogel hatte die Flügel gespannt und starrte in meine Richtung. Und plötzlich wusste ich ganz sicher, dass Nicole recht hatte. Morena hatte gar nicht vor zu kämpfen. Sie würde hierbleiben und abwarten, bis alles vorbei war. Sie kooperierte, um ihre Söhne zu schützen. Sie sperrte uns ein, bis Rabiana mich holen kam.

Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht

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