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Kapitel 1: Blumensprache

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Alles begann in diesem einen Augenblick. Ich würde ihn nie vergessen können. Diesen Moment, als ich sie in den Händen hielt. In meinen zittrigen Händen: eine orangene Lilie.

Für mich war es wie ein Schlag. Plötzlich spürte ich ein Kribbeln in meiner Brust. Und in den Händen. So ging es immer los. Mein Herz war sofort auf Hochtouren. Es schlug nicht einfach langsam schneller, bis es raste. Es war sofort auf Hochtouren. Scheinbar von einer Sekunde auf die andere. So schlagartig wie das kam, wurde auch meine Atmung schneller. Immer schneller. Mir wurde schwindelig. Mein Brustkorb verspannte sich beinahe so stark, dass es wehtat. Ich konnte nichts dagegen tun, obwohl ich mich bemühte, ruhig durchzuatmen.

Doch dann packte mich die Wut. Eine Wut, die diese Panik zu mindern schien. Ich dachte nicht nach, sondern rannte einfach los. Rannte das Treppenhaus unseres Wohnhauses hinunter, lief auf die Straße und sah mich um.

„Hey!“, rief ich aus. „Ich weiß, dass du hier bist.“

Zum Glück hatten mich die Nachbarn nicht gesehen. Es war noch früh. Sie hätten mich für verrückt gehalten. Ich weiß nicht, ob diese sich anbahnende Panikattacke mich dazu veranlasste, aber ich schrie einfach weiter. Wie ein Irrer. „Komm endlich raus!“, rief ich. Ich stand schreiend um sechs Uhr morgens auf einer ruhigen Spielstraße. Und hielt eine Lilie in der Hand. Eine harmlose, kleine Blume hatte mich in den Wahnsinn getrieben.

„David!“ Franziska eilte zu mir. Als sie dann vor mir stand, als diese wunderschöne Frau vor mir stand und ihre blauen Augen mich besorgt – fast wütend – ansahen, erst da bekam ich mit, was ich gerade eigentlich tat.

Doch anstatt mich zu fragen, was los war oder ob ich nun völlig gestört sei, umarmte sie mich einfach. Das liebe ich an Franziska: Ich muss ihr nichts erklären! Sie versteht einfach, was ich brauche. Mein rasendes Herz donnerte gegen meinen Brustkorb. Sie spürte das bestimmt, als wir uns umarmten. Langsam ließ das Zittern nach und mein Herz kam zur Ruhe, meine Atmung verlangsamte sich.

Als ich fünfzehn war, hatte ich gedacht, es hätte alles ein Ende. Aber in diesem Moment, als Franziska sich von mir löste und sie diese Lilie betrachtete, da wusste ich, dass es erst der Anfang war.

Ich hatte den Kopf in die Hände gestützt und bemühte mich, ruhig zu atmen. Der Schwindel, der die Panikattacke bei mir verursacht hatte, ließ langsam nach.

„David, was ist eigentlich los?“ Franziska nahm eine meiner Hände, sodass ich sie von meinem Gesicht lösen musste. Die Wärme ihrer Hand beruhigte mich. Meine war eiskalt.

Als ich Franziska ansah, kam die Lilie, die vor uns auf dem Tisch lag, wieder in mein Blickfeld. Immer wieder ging mir durch den Kopf, was ich früher im Krankenhaus nach dem Vorfall gegoogelt hatte:

Orangene Lilien stehen laut der japanischen Blumensprache für Hass und Rache.

Ich wusste nicht, was ich Franziska sagen sollte. Ich schüttelte nur den Kopf.

„David, was hat diese Blume zu bedeuten? Und wo hast du sie überhaupt her?“

„Sie lag vor unserer Tür ...“, begann ich.

„Direkt vor der Tür zu unserer Wohnung?“

„Ja. Ich gehe heute nicht auf Arbeit.“

„Was?“

Gerade wollte ich ihr sagen, dass sie besser auch zu Hause bleiben solle, da fiel mir ein, dass sie heute die Prüfung für ihr Referendariat hatte. Das hatte ich in der Aufregung beinahe verdrängt. Sofort bemühte ich mich, ruhiger zu wirken, ich durfte sie nicht noch mehr verrückt machen.

Franziska war bestrebt, ruhig zu bleiben, aber ich spürte, dass sie ungeduldig und wütend wurde. Ich wollte ihr nicht sagen, was es mit der Lilie auf sich hatte. Wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Also ließ ich die Erklärung weg und sagte zunächst nur: „Ich muss zur Polizei.“

„Was, warum? David, sprich jetzt mit mir“, erwiderte sie. „Ich will wissen, was los ist. War da jemand vor unserem Haus oder wen hast du gesucht?“

„Nein, da war niemand.“

„Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.“

Ich zog Luft ein. „Diese Lilie, das hat etwas mit damals zu tun.“ Sie wusste, was ich mit damals meinte, sah mich aber weiterhin fragend an.

„Die Mörder hatten orangene und rote Lilien in dem Keller aufgestellt, in dem ich gefangen gehalten wurde. Orangene Lilien waren die Lieblingsblumen ihrer Schwester. Sie stehen aber auch für Rache.“ Ich hatte ihr das nie erzählt. Eigentlich hatte ich ihr nie Details über diese Zeit – diese 33 Stunden – bei den Geschwistermördern verraten. Nur das, was sie hatte wissen müssen.

Franziska machte ein nachdenkliches Gesicht. „Aber die Täter sind tot. Wovor hast du Angst?“

Mein Herz setzte einen Schlag aus, als sie das sagte. Weil ich selbst nicht wusste, wovor ich Angst hatte. Und gerade das beunruhigte mich, obwohl es keinen Sinn machte. „Da stimmt irgendetwas nicht. Auf jeden Fall war ein Fremder in unserem Wohnhaus.“

„Und wenn es ein Nachbar war? Vielleicht ein Kind, das sich gar nichts dabei gedacht hat.“

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachbarskinder gerade eine orangene Lilie vor unsere Haustür legen?“

Franziska nickte. „Gleich Null vermutlich. Okay, du hast recht.“ Franziska schüttelte verwirrt den Kopf. „Vielleicht wollte sich auch bloß jemand einen schlechten Scherz erlauben.“

„Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Aber die Einzigen, die von den Lilien wussten, sind die Mörder selbst … und meine Schwester.“ Jetzt wusste ich es. Dieser Gedanke, diese Tatsache, die ich soeben ausgesprochen hatte, machte mir eine scheiß Angst.

„Die Polizisten und Sanitäter haben sie auch gesehen“, fügte Franziska hinzu.

„Aber sie können nicht dafür verantwortlich sein. Polizisten und Sanitäter legen keine Drohung vor die Tür. Und Lorena schon gar nicht.“

Franziska nickte. „Wie soll der Täter denn überhaupt hier reingekommen sein?“

Ich überlegte. „Na ja, du weißt ja, dass die Nachbarn öfter mal die Eingangstür offenstehen lassen, um Einkäufe hochzutragen oder Sonstiges. So schwer ist das nicht, wenn man den richtigen Zeitpunkt erwischt.“

Franziska nickte. Sie dachte weiter nach. „Was ist eigentlich mit den Medien?“

Ich konnte ihr sofort antworten. „Als damals über den Vorfall in den Zeitungen berichtet wurde, wurde nie etwas von den Lilien erwähnt. Ich habe die Berichte alle gesehen. Die Leute kennen mein Gesicht und meinen Namen von den Vermissten-Anzeigen, aber kein Fremder weiß, wo ich wohne oder dass diese Lilien eine Rolle gespielt haben.“ Je länger ich über all das nachdachte, desto nervöser wurde ich. „Ich muss Lorena anrufen … oder am besten fahre ich gleich persönlich zu ihr.“

„Okay ...“ Franziska schaute auf die Uhr. „Aber ich muss jetzt los.“ Sie zögerte. „Bleibst du wirklich zu Hause?“

„Ja“, antwortete ich entschlossen. „Ich fahre dann vermutlich zur Polizei. Vielleicht können sie Fingerabdrücke an der Lilie feststellen.“

„Melde dich, wenn du mehr weißt.“

Ich nickte. „Pass auf dich auf. Und viel Erfolg.“ Ich hoffte einfach, dass ich sie jetzt nicht mit all dem durcheinandergebracht hatte. Sie sollte sich auf ihre Prüfung konzentrieren. Ich stand auf, um sie zu umarmen. „Du schaffst das.“

„Danke“, flüsterte sie. Dann legte sie eine Hand in meinen Nacken und zog sich an mir hoch. Franziska war sehr viel kleiner als ich, also stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um meinen Lippen näher zu kommen. Ich legte eine Hand um ihre Taille. Dann berührten sich unsere Lippen. Immer wieder presste ich meine Lippen auf ihre. Ich wollte nicht, dass dieser Moment vorbeiging, wollte sie nicht loslassen. Denn ich hatte Angst, dass ihr irgendetwas zustoßen könnte. Hatte Angst, sie zu verlieren. Schmerzende Leere breitete sich in mir aus, als sie sich schließlich von mir löste. Ich versuchte dennoch, zu lächeln. „Ruf mich an, nachdem du bestanden hast.“

„Okay.“ Sie schüttelte grinsend den Kopf, erfreut darüber, dass ich ihr Bestehen für selbstverständlich hielt. „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Dann trat Franziska aus der Wohnung und schloss die Tür.

Eine Weile stand ich einfach reglos im Flur. Meine Gedanken kreisten, ließen sich nicht ordnen. Meine Hände zitterten noch immer. Ich ging auf den Balkon, um mir eine Zigarette anzuzünden. Aber auch das Rauchen konnte mich kein bisschen runterholen. Unruhig lief ich in der Wohnung auf und ab und schaute dabei aus jedem Fenster. Ich fühlte mich beobachtet. Ich weiß nicht, wie viel Zeit dabei verstrich. Irgendwann rief ich dann auf der Arbeit an, um mich krankzumelden. Dann wollte ich die Nummer meiner Schwester wählen, ließ aber davon ab, weil ich nicht wusste, ob sie überhaupt zu Hause war oder noch schlief. Ich hatte nicht im Kopf, welche Schicht sie heute im Krankenhaus hatte. Also durchforstete ich die Galerie in meinem Handy, um ihren Dienstplan herauszusuchen. Lorena fotografierte ihn jeden Monat für mich ab und schickte ihn mir, damit ich wusste, wann sie erreichbar war. Sie hatte Nachtdienst, das hieß, dass sie erst vor ein paar Stunden nach Hause gekommen war und jetzt schlief. Ich nahm den Ersatzschlüssel zu Tims und Lorenas Wohnung aus der Schublade unserer Flurkommode. Ich würde schauen, ob bei den beiden alles in Ordnung war. Falls ja, brauchte ich meine Schwester nicht zu wecken. Ich wollte sie nicht grundlos in Sorge versetzen. Lorena und ich hatten uns gegenseitig die Ersatzschlüssel unserer Wohnungen gegeben. Für die üblichen Gründe: Falls sich mal jemand aussperrte oder einer von uns im Urlaub war.

Lorena arbeitete als Oberärztin auf der Intensivstation. Immer wieder fragte ich mich, ob sie diesen Berufsweg auch eingeschlagen hätte, wenn all das damals nicht passiert wäre. Ich bin eigentlich überzeugt davon, dass es ihr am Herzen lag, anderen Menschen das Leben zu retten, weil sie ihren eigenen Bruder hatte sterben sehen. Weil sie mich hatte sterben sehen. Sehr wahrscheinlich würde ich nicht mehr leben, wenn sie damals nicht so gute Erste-Hilfe geleistet hätte.

Ich wusste zunächst nicht, was ich mit der Lilie anstellen sollte, die immer noch auf dem Küchentisch lag. Schließlich entschloss ich mich, sie in eine Plastiktüte zu stecken. Ich legte sie auf dem Beifahrersitz ab, als ich ins Auto stieg. Vielleicht würde die Plastiktüte helfen, Spuren nicht zu verwischen, aber vielleicht wäre es ohne sie genauso effektiv. Ich hatte keine Ahnung von solchen kriminalistischen Dingen.

Ich riss mich zusammen, um nicht zu rasen. Widerwillig nahm ich den Fuß vom Gaspedal. Die Fahrt zu meiner Schwester kam mir unendlich lange vor. War sie aber nicht. Sie dauerte dreißig Minuten. Franziska und ich wohnten in Potsdam. Lorena und Tim in Oranienburg. Niemand von uns war dahin gezogen, wo der Mörder gewohnt hatte: Berlin. Ich weiß nicht, ob Lorena ihren Wohnort davon abhängig gemacht hatte, aber ich auf jeden Fall. Ich wollte nicht in der Stadt wohnen, in der ich ermordet worden war. Und Lorena hatte keine Wohnung in der Stadt haben wollen, in der sie beinahe vergewaltigt worden war. Außerdem waren Wohnungen in Berlin unbezahlbar. Zufällig hatten Franziska und ich beide Arbeit in Potsdam gefunden. Sie würde ihr Lehramtsstudium und Referendariat bald abschließen und dann als Deutsch- und Kunstlehrerin an einem Gymnasium unterrichten. Ich arbeitete als Informatiker. Ich brauchte einen Job, bei dem ich mich zurückziehen konnte. Seitdem ich bei den Mördern gewesen war, hatte meine Teamfähigkeit nachgelassen. Ich konnte nicht mehr gut mit anderen umgehen, besonders nicht mit Fremden. Ich war viel zu schüchtern. Das genaue Gegenteil meines alten Ichs, das Gegenteil von dem Jungen, der damals mit dem BMX-Rad von zu Hause abgehauen war.

Als ich vor der Haustür des Wohnhauses meiner Schwester aus dem Auto stieg, fühlte ich mich schon wieder irgendwie beobachtet. Aber diesmal war es intensiver. Ich spürte, was meine Schwester damals auf unserem Nachhauseweg von der Schule gefühlt haben musste. Ich spürte die Blicke in meinem Rücken, spürte mein rasendes Herz. Ich riss mich zusammen, nicht schon wieder herumzuschreien wie vorhin vor meiner Haustür. Stattdessen drehte ich mit weichen Knien eine Runde um das Wohnhaus. Aber wen suchte ich denn eigentlich? In meinen Gedanken tauchten zuerst diese dunklen, hasserfüllten Augen auf – die Augen meiner Mörder. Aber das war völlig absurd. Sie waren tot. Eigentlich sollte ich nach Personen suchen, die bei dem Vorfall damals beteiligt gewesen waren. Aber wem sollte ich das zutrauen? Wem sollte ich zutrauen, Lilien vor meine Haustür zu legen, um mir damit Angst einzujagen? Etwa den Leuten, die mir das Leben gerettet hatten? Den Sanitätern? Oder den Leuten, die mich aus dem Folterkeller befreit hatten? Den Polizisten?

Auf keinen Fall.

Nun ging ich zur Haustür, schloss sie auf und ging ich zügig die wenigen Treppen zu Lorenas Wohnung hinauf. Eigentlich hätte ich es mir denken können: Vor Lorenas Tür lag eine weitere orangene Lilie. Panik kam wieder in mir auf. Ich war wie gelähmt. Das war die endgültige Bestätigung, dass das alles kein Zufall war. Es musste etwas mit dem Geschwistermörder zu tun haben. Mit zittrigen Händen hob ich die Blume auf. Dann atmete ich tief durch, wollte mein rasendes Herz beruhigen. Doch es ließ sich nicht beruhigen. Ich musste mit meiner Schwester sprechen. Also klingelte ich. Es dauerte etwas, bevor Lorena sie öffnete. Sie sah extrem müde aus.

„David?“ Ihre Stimme klang leise.

„Ja“, brachte ich nur hervor.

„Was ist denn los? Ich hatte Nachtschicht.“ Sie klang genervt.

„Sorry. Es ist wichtig“, begann ich, wusste aber nicht, wie ich den Satz weiterführen sollte. Stattdessen ließ ich die Lilien zum Vorschein kommen, die ich bisher hinter meinem Rücken versteckt hatte.

Lorena schien nun sofort hellwach. Sie sah sehr erschrocken aus und schaute mich fragend an.

„Lag hier vor eurer Tür. Und vor unserer lag auch eine, deshalb bin ich hergefahren. Sorry, dass ich einfach ins Haus gegangen bin, aber ich wollte nach dem Rechten sehen und dachte, wenn alles okay ist, bräuchte ich dich nicht zu wecken.“

Lorena schien immer noch wie erstarrt. Das machte mich nervös. Ich dachte, sie würde mich für verrückt halten oder sauer sein, warum auch immer. Aber dann machte sie ganz plötzlich einen Schritt auf mich zu, um mich fest in ihre Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung und streichelte ihren Rücken. Ich wollte sie beruhigen. Ich hatte nicht vermutet, dass sie genauso aufgebracht sein würde wie ich.

„Wie kann das sein?“, flüsterte sie.

Ich schüttelte überfragt den Kopf.

Schließlich löste sich meine Schwester von mir und wir gingen ins Wohnzimmer, um uns zu setzen. Lorena blieb dicht neben mir auf dem Sofa, immer noch geschockt.

„Ich werde gleich zur Polizei fahren“, sagte ich nur.

„Ich komme mit“, war sie entschlossen.

„Ruh dich aus, es reicht, wenn einer von uns das macht. Ich habe mich bei der Arbeit schon krankgemeldet.“

„Trotzdem.“

„Lorena … es kann doch niemand von den Lilien wissen. Außer den Tätern und allen, die bei unserer Befreiung beteiligt waren, oder?“ Ich war gespannt auf ihre Antwort. Hatte ich ein Detail übersehen?

Aber sie nickte. „Ich denke, du hast recht.“

„Ist Tim schon auf Arbeit?“

„Ja.“

„Wann hat er das Haus verlassen?“ Ihm wäre die Lilie sicherlich aufgefallen.

„Genau weiß ich es nicht, ich habe fest geschlafen. Aber normalerweise geht er gegen 6 Uhr 30 raus.“

Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 7 Uhr 15. „Dann kann sie noch nicht lange vor deiner Tür liegen …“ Mein Kopf fühlte sich immer schwerer an. Zufällig schaute ich auf den Kalender an der Wand: Heute war der 18. September 2022. Sofort beschleunigte sich mein Herz. „Heute ist der 18. und ein Mittwoch“, stieß ich hervor.

Lorena schüttelte entsetzt den Kopf. Auch sie wusste, was das zu bedeuten hatte. An diesem Tag war ich gestorben. Und wieder aufgewacht. An diesem Tag hatte sich Lorena den Mördern ausgeliefert, um mich zu retten.

Es regnete, als ich vor der Polizeistation aus dem Auto stieg. Wie passend. Wer auch immer die Lilien vor unsere Türen gelegt hatte, bis auf den richtigen Tag hatte er alles andere verfehlt. Nicht der richtige Monat. Und noch nicht mal die richtige Jahreszeit. Als ich verschwunden war, war Mai gewesen, jetzt hatten wir September.

Es sah sicherlich merkwürdig aus, als ich mit der durchsichtigen Plastiktüte, in der sich die Lilien befanden, schließlich die Polizeistation betrat. „Verdammt, David, musste es eine durchsichtige Tüte sein?“, ging es mir durch den Kopf. Mit einer blickdichten hätte ich nicht ganz so irre ausgesehen.

Ich trat an den Empfang – oder wie man das auch immer bei der Polizei nannte. Ich hatte Lorena überreden können, mich nicht zu begleiten, aber jetzt vermisste ich sie doch. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so hilflos und allein gefühlt wie jetzt.

Eine dickliche, schlecht gelaunte Frau schaute mir entgegen. Ich wurde nervös. Das lag jedoch nicht an ihrem Blick, sondern einfach daran, dass ich sie nicht kannte. So war das immer bei Fremden.

„Hallo,“, begann ich. „Ist Herr Köhler vielleicht zu sprechen?“

In einem abwertenden Ton platzte sie heraus: „Was wollen Sie?“

Das machte es mir nicht gerade einfacher. Meine Handflächen wurden feucht, mein Herz schneller. „Na gut“, dachte ich mir. Wenn sie es so genau wissen wollte. „Ich bin David Winkler. Ich war damals eines der Opfer der Serienmörder. Ich habe heute Morgen eine … eine Art Nachricht erhalten und vermute, dass sie von einem Komplizen des Mörders stammt.“

Erst jetzt sah sie mich richtig an. Sie schaute nun über den Rand ihrer Brille und musterte mich ausgiebig. Ich hatte meinen von Brandnarben übersäten Arm extra nicht auf den Tresen gelegt. Kurz war ich nun in der Versuchung, es zu tun. Ein erschrockenes Gesicht würde ihr besser stehen als ein genervtes.

Doch da reagierte sie. „Setzen Sie sich.“ Aber ohne auf die nicht vorhandenen Stühle zu zeigen. Ich drehte mich vom Tresen weg und sah mich um. „Links“, grölte sie dann.

Ich zuckte leicht zusammen, bevor ich um die Ecke bog. Schließlich entdeckte ich eine Reihe Stühle und nahm Platz. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich daran dachte, dass meine Mutter und Lorena damals auch hier gesessen haben mussten. Vor zehn Jahren, als ich verschwunden war. Als ich mich diesen Mördern auslieferte, um mir von ihnen das Leben zerstören zu lassen. Und nicht nur meins, auch Lorenas und das unserer Eltern. Ich merkte es besonders Mama bis heute noch an, dass sie sich nicht daran gewöhnen konnte, dass ich noch immer mit den Folgen dieses Vorfalls leben musste. Meine Hände begannen zu zittern, als ich mir vorstellte, wie meine Schwester auf diesem Stuhl vor Anspannung hin und her gerutscht war – genauso wie ich jetzt. Irgendwie ertrug ich es nicht, diese Plastiktüte mit der Lilie weiterhin in den Händen zu halten, also legte ich sie auf den Stuhl neben mir.

Keine Ahnung, warum ich so lange warten musste, aber schließlich wurde ich von der pummeligen Frau aufgerufen und in ein Büro geführt. Als ich eintrat, begrüßte mich nicht Herr Köhler, sondern ein anderer Polizist. „Guten Tag, Herr Winkler, ich bin Herr Vogt.“

Ich nickte nur, wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Und ich fragte mich gerade, ob er mich überhaupt ernst nahm. Er schien meinen Namen und daher bestimmt auch die Umstände meines Besuchs von der unfreundlichen Dame erfahren zu haben.

„Setzen Sie sich doch.“

Ich tat es und umklammerte nervös die Tüte mit den Lilien.

„Also, warum sind Sie hier?“

Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Mit zittrigen Fingern gab ich ihm die Plastiktüte. „Heute Morgen habe ich eine Lilie vor meiner Haustür gefunden, die andere vor der Tür meiner Schwester. Die Täter hatten damals orangene Lilien in dem Keller verteilt, in dem ich gefangen gehalten wurde.“

Er sah mich nachdenklich an. „Die Blumen lagen also direkt vor der Tür zu Ihrer Wohnung.“

„Genau.“

„Haben Sie bemerkt, dass ein Fremder in das Wohnhaus eingedrungen ist?“

„Nein, mir ist nichts Weiteres aufgefallen.“ Wieso hatte ich eigentlich nicht auf so etwas wie Einbruchsspuren geachtet?

„Und wie haben Sie von der zweiten Blume erfahren?“

„Ich bin zu meiner Schwester gefahren und habe sie dort entdeckt. Dann habe ich kurz mit Lorena gesprochen und bin hergekommen.“

„Okay. Es scheint Ihnen jemand einen schlechten Scherz zu spielen. Aber so, wie ich es sehe, ist niemand zu Schaden gekommen.“

Ich nickte zögernd. Mir war klar, was er damit meinte. Es wurde niemand verletzt oder gar getötet, aber ich war nun völlig verängstigt und durcheinander. „Meinen Sie nicht, das könnte eine Drohung sein?“, sprach ich meine Gedanken aus.

„Ausschließen kann ich es nicht, aber es bliebe ungeklärt, von wem diese Drohung stammen könnte.“

Ich schaute ihn zögernd an. Er wollte also nichts dagegen tun? „Ich fühle mich zumindest bedroht. Meine Schwester sicherlich auch. Da muss ein Fremder in unseren Wohnhäusern gewesen sein.“

„Na gut. Wir werden die Blumen auf Fingerabdrücke untersuchen, insofern sie noch nicht verwischt wurden. Wir melden uns telefonisch bei Ihnen, sobald die Ergebnisse vorliegen.“

Ich nickte erleichtert. Zumindest nahm er die Situation jetzt einigermaßen ernst.

„Wurden die Blumen sonst noch von jemandem angefasst? Von Ihrer Schwester vielleicht?“

„Nein, niemand sonst hat sie berührt.“

„Okay, das macht die Sache leichter. So muss ich keine weiteren Fingerabdrücke zum Abgleich aufnehmen. Ihre haben wir noch von damals.“

Sofort muss ich daran zurückdenken: Wenige Tage nach meiner Befreiung, sobald ich wieder einigermaßen ansprechbar gewesen war, kamen Polizisten auf mein Krankenzimmer, um mir Fingerabdrücke abzunehmen. Das mussten sie, um den Tatort untersuchen zu können. Später sprach ich ausführlich mit Ihnen, erzählte ihnen alles, was passiert war. Alles, was meine Mörder mir erzählt hatten. Noch immer war mir in Erinnerung, dass ich auch beim Wiedergeben schrecklicher Details damals äußerst unberührt ausgesehen haben musste. Ich war noch viel zu geschockt gewesen. Hatte noch gar nicht kapiert, was passiert war. Dachte vielleicht, es wäre nur ein grauenhafter, langer Albtraum gewesen.

Als ich nun wieder aus meinen Gedanken auftaucht und Herr Vogt fertig mit seinen Notizen war, fragte ich: „Können Sie mir sagen, ob außer den Tätern und beteiligten Polizisten und Sanitätern jemand von den Lilien hätte wissen können?“

„Dieses Detail wurde nie öffentlich gemacht, soweit ich weiß. Man könnte nur davon ausgehen, dass die Täter damals jemandem davon erzählt haben.“

Daran hatte ich zwar noch gar nicht gedacht, aber ich schloss es sofort wieder aus. Wem sollten diese in sich gekehrten jungen Männer, die zu kaum jemandem Kontakt gehabt hatten, so etwas erzählt haben? Ich runzelte die Stirn und nickte. „Ist noch jemand von den Polizisten hier, die damals den Fall betreut haben?“

„Herr Köhler wurde versetzt.“

„Und Herr Lorenz und Frau Roth?“

„Sie arbeiten auch nicht mehr hier.“

Ich runzelte die Stirn. Irgendwie kam mir das merkwürdig vor.

„Na ja, es sind immerhin zehn Jahre vergangen“, antwortete Herr Vogt auf mein Schweigen. „Ach, bevor ich es vergesse, würden Sie mir die Telefonnummer Ihrer Schwester geben, falls ich Rückfragen an sie habe?“

Ich schaute ihn ein wenig verwirrt an, denn ich fragte mich, was er von ihr wissen wollte. Ich war es, der die Lilie vor ihrer Tür entdeckt hatte und nicht Lorena. Aber dann willigte ich ein und gab ihm ihre Kontaktdaten. Dann wollte er sich auch schon von mir verabschieden und reichte mir die Hand. Ich zögerte, denn ich hatte das Gefühl, noch lange nicht alles geklärt zu haben. Aber in diesem Moment wusste ich einfach nichts mehr zu sagen. Also schüttelte ich seine Hand, schaute in seine dunklen Augen und verließ zitternd das Polizeirevier.

Der Abend war der völlige Kontrast zu alledem. Ich blickte tief in die Augen dieser wunderschönen Frau, die ich über alles liebte. Die Frau, die seit diesem Vorfall bei mir geblieben war und alles mit mir durchgestanden hatte. Die mich immer liebte, egal wie schwierig es mit mir war. Denn besonders die ersten paar Jahre nach dem Vorfall waren schwer für mich gewesen. Schwerer, als ich je vermutet hätte. Die Frau, die schon seit zehn Jahren mit mir zusammen war und der ich deshalb vor zwei Monaten einen Heiratsantrag gemacht hatte. Die Frau, die mich mit ihrem „Ja“ überglücklich gemacht hatte. Jetzt strahlte sie mich wieder fast so an wie an dem Tag, an dem ich ihr erklärt hatte, dass ich sie zur Frau nehmen und mich für immer an sie binden wollte. Aber heute strahlte sie, weil wir etwas anderes zu feiern hatten. Franziska hatte ihre letzte Prüfung bestanden, um als Lehrerin arbeiten zu können. Jetzt würde sie berufstätig werden. Würde den Job ausüben, der ihr Traum war. Es war ein Job, der das genaue Gegenteil von meinem war. Franziska arbeitete mit Kindern oder Jugendlichen, ich meist allein. Ich war seit dem Vorfall vor zehn Jahren unsicher und introvertiert und ich konnte das einfach nicht mehr ablegen. Vielleicht lag es daran, weil meine Mörder mir meine Würde und somit auch mein Selbstbewusstsein genommen hatten. Vielleicht lag es auch daran, weil ich ständig dachte, andere würden mein Gesicht oder meinen Namen aus den Vermissten-Anzeigen kennen, obwohl das schon so lange her war. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass ich irgendwie immer die Auffassung hatte, dass mich andere für unnormal oder verrückt hielten. Ich hatte stets das Gefühl, dass ich nur in Franziskas oder Lorenas Gegenwart ich selbst sein konnte – zumindest mein neues Ich – mein altes, wirkliches Ich hatte ich bei meinen Mördern verloren. Sie hatten es mir während der Folter gewaltsam und widerwillig entrissen. Und das, obwohl ich mich selbst die ganze Zeit im Blick gehabt hatte und mich selbst unmöglich hätte vergessen können.

Aber ich hatte es. Und vermutlich war genau das der Fehler gewesen: der Spiegel. Deshalb schaute ich seitdem in keinen Spiegel mehr. Ich konnte mir selbst nicht länger als ein paar Sekunden in die Augen blicken, auch jetzt nicht, nachdem so viel Zeit vergangen war. Natürlich musste ich jeden Tag kurz in den Spiegel schauen, aber ich blickte mir dabei niemals direkt in die Augen. Ich bekam Panik, wenn ich mir in die Augen sah – und das war eigentlich ziemlich armselig und krank. Aber es war so, denn wenn ich mein Spiegelbild sah, blitzte unwillkürlich und schlagartig das Bild des fünfzehnjährigen, blutverschmierten, weinenden Jungen vor meinem inneren Auge auf, das ich einfach nicht ertragen konnte.

Genau deshalb genoss ich es jetzt auch, als ich in die tiefblauen Augen von Franziska schaute, die mir erzählte, wie ihre Prüfung gelaufen war. Sie hatte mich nach der Prüfung kurz angerufen und ich hatte mich riesig für sie gefreut, ihr gratuliert und sie gefragt, ob wir essen gehen wollten. Ich hatte schon einen Tisch bei Joey’s reserviert, ihrem Lieblingsrestaurant. Aber sie meinte, dass es ihr lieber wäre, den Abend zu Hause zu verbringen. Eigentlich hatte ich ihr das nicht geglaubt, aber ich wollte nicht länger mit ihr diskutieren. Ich hoffte nur, dass ihre Ablehnung nicht an den Lilien oder an mir lag. Franziska konnte gut mit Menschen umgehen und hatte ein wahnsinniges Einfühlungsvermögen – nicht nur bei mir. Sie hatte sich bestimmt gedacht, dass ich noch zu sehr aufgebracht war wegen der Lilien am Morgen und deshalb lieber zu Hause bleiben würde.

Aber das stimmte eigentlich nicht, denn als ich sie über die Kerze hinweg ansah, ihr durch die Flamme erhelltes Gesicht wahrnahm, da wusste ich, dass ich mich auch hier in unserer Wohnung nicht mehr sicher fühlte. Denn wer auch immer diese Lilie vor unsere Tür gelegt hatte, er hatte etwas mit den Mördern zu tun und er wusste, wo wir wohnten. Dieser Gedanke ließ mich erschaudern.

Doch von all diesen Bedenken erzählte ich ihr nichts, ich hatte ihr bisher auch nicht erzählt, wie es bei der Polizei abgelaufen war. Sie hatte es am Telefon wissen wollen, aber ich hatte nur gesagt, dass ich es ihr später erzählen wollte. Ich hatte ihr Lieblingsessen gekocht – Spaghetti Bolognese – und servierte nun Mousse au Chocolat zum Nachtisch.

„Das ist viel besser, als essen gehen.“ Sie grinste breit.

Ich versuchte, auch zu lächeln. „Das hast du dir wirklich verdient nach all der Mühe.“ Na ja, und ich war den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen, weil ich mich wegen einer Lilie vor der Haustür krankgemeldet hatte …

„Es ist bestimmt merkwürdig für die Kinder, die ich unterrichte, dass sie mich in einem halben Jahr Frau Winkler nennen müssen.“ Sie lächelte, als sie das sagte, und ich lächelte zurück. Mir wurde so warm ums Herz, wenn sie von unserer Hochzeit sprach. Der Termin stand schon. Ich sah ihr an, dass ich sie mit diesem Antrag zur glücklichsten Frau der Welt gemacht hatte. Vermutlich war das bisher das Einzige in meinem Leben, was ich richtig gemacht hatte.

„Mir gefällt dein Name“, sagte sie grinsend, bevor sie sich den ersten Löffel der Mousse au Chocolat in den Mund schob.

„Mir gefällt mein Name auch an dir.“

Sie lachte. Es war so leicht, sie zum Lachen zu bringen oder glücklich zu machen. Bei mir war das nicht so. Ich dachte lange Zeit, dass ich das Leben durch den Vorfall mehr schätzen gelernt hätte. Das war an manchen Tagen auch so, aber die Zahl der Tage, die ich verabscheut hatte, war im Vergleich dazu viel größer.

Jetzt jedoch wurde Franziskas Miene ernster. „David, ich muss jetzt wissen, wie es bei der Polizei abgelaufen ist. Es tut mir leid, dass ich das so verdrängt habe, aber jetzt haben wir mich genug gefeiert.“ Sie sah mich auffordernd an. „Erzähl.“

Ich zuckte mit den Schultern, denn im Grunde gab es nicht viel zu sagen. „Der Polizist, mit dem ich gesprochen habe, hat keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Sie versuchen, Fingerabdrücke an den Blumen festzustellen, und melden sich dann.“

„Die Blumen?“, fragte sie entsetzt.

Ach so, das hatte ich ihr ja auch noch nicht erzählt. „Vor Lorenas Tür lag auch eine.“

Sie ließ ihren Löffel vor Schreck in die Schüssel zurückfallen.

Sofort bereute ich, ihr das gesagt zu haben. Ich nahm ihre Hand. „War bestimmt nur ein dummer Scherz. Uns wird nichts passieren.“ Doch ich wusste, dass ich log.

Da klingelte das Telefon. Schnell ging ich in den Flur und nahm ab. Franziska beobachtete mich dabei. Mein Herz raste bereits. „Winkler“, meldete ich mich.

„Herr Vogt von der Kripo Potsdam hier. Wir haben beide Lilien untersucht. Wir konnten keine Fingerabdrücke vorfinden außer Ihren eigenen.“

Ich schaute Franziska an, als er das sagte. Und ich brauchte keinen Spiegel. Der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben und übertrug sich auf Franziska. Sie war ein Spiegelbild meiner selbst. Sie schaute mich in diesem Moment genauso erschrocken an wie ich sie. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als die Worte des Polizisten auf mich wirkten. Nicht nur wegen dieser unerklärlichen Tatsache, sondern weil ich den Unterton in seiner Stimme heraushörte. Einen vorwurfsvollen Unterton. So als wäre ich für all das verantwortlich.

Panikherz

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