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Kapitel 2: Training
ОглавлениеSeitdem ich diese Lilie gefunden hatte, waren mir folgende Dinge klar:
Erstens: Irgendjemand, der die Geschwistermörder kannte, bedrohte mich, wollte mich nun völlig zerstören. Sowohl psychisch als auch körperlich.
Zweitens: Ich musste mich darauf vorbereiten.
Drittens, und das war die Tatsache, die mich am meisten beunruhigte: Es konnte eigentlich nur der Geschwistermörder selbst sein.
Wieder schlug ich zu. Wieder und wieder. Mit jedem Schlag wurde meine Wut stärker. Sie wollte sich nicht bändigen lassen. Ich dachte an das Telefonat mit dem Polizisten von letzter Woche zurück, dem Polizisten, der zunächst einen netten Anschein gemacht hatte und nun dachte, dass ich diese Lilien selbst beschafft hätte. Immer wieder ging mir sein Satz durch den Kopf: „Wir konnten keine Fingerabdrücke vorfinden außer Ihren eigenen.“
Und die Frage, die ich ihm dann gestellt hatte: „Dann wurden die Fingerabdrücke vermutlich wieder verwischt?“
„Sieht nicht danach aus.“
„Dann hat der Täter bestimmt Handschuhe getragen.“
„Kann sein.“
Kann sein.
Noch mal schlug ich zu. Diesmal auch mit Ellenbogen und den Füßen. Meine Hände brannten, aber das war mir egal. Mein Schmerzlimit hatte sich seit dem Vorfall sowieso ins scheinbar Unendliche ausgedehnt. Das hier war gar nichts.
Und dann das Gespräch mit meiner Schwester. Meine Schwester, die gerade das Polster hielt, auf das ich einschlug und die meine Wut sah. Aber das war okay, denn sie war genauso wütend wie ich – und das wusste ich.
Dann kam Lorenas verzweifelte Stimme in meinen Kopf, die mich ein paar Minuten nach dem Telefonat mit der Polizei angerufen hatte: „David, ein Herr Vogt von der Kripo hat gerade bei mir angerufen. Er sagte, es wären nur deine Fingerabdrücke auf den Lilien zu finden, und er fragte mich wortwörtlich, ob du psychisch labil seist.“
„Aha, und was hast du ihm gesagt?“ Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Dass alles in Ordnung ist mit dir.“
„Da hast du ja schön gelogen.“
„Ist doch egal, was ich sage. Er kann nicht wissen, dass du in therapeutischer Behandlung bist. Und selbst wenn, nach so einem Vorfall, wer wäre das nicht?“
„Wer wäre das noch nach zehn Jahren?“
Sie holte Luft. „David …“, brachte sie nur hervor.
„Er glaubt also, ich habe das vorgetäuscht, und will nur Aufmerksamkeit auf mich ziehen?“
„Ich weiß nicht.“
„Na klar wollte er das damit sagen.“
„Er hat mir gesagt, dass keine Gefahr besteht.“
„Und das glaubst du?“
Sie antwortete nicht mehr.
„Lorena …“ Mein Herz raste. „Glaubst du, dass ich das war?“
„Nein.“
Mein Herz beruhigte sich, ich kannte meine Schwester gut und ich hörte in ihrer Stimme, dass sie mir ehrlich geantwortet hatte. „Das einzige Dumme ist nur, dass es niemand beweisen kann. Es gibt keine Beweise, die dagegensprechen, dass du es warst.“
Damit hatte sie recht. Noch einen heftigen Stoß versetzte ich dem Schlagpolster. Warum hatte ich mit zwei Lilien in Lorenas Wohnhaus gestanden? Natürlich musste das verdächtig ausgesehen haben. Warum hatte ich Lorena nicht angerufen, bevor ich zu ihr gefahren war? Dann hätte sie die Lilie selbst entdeckt. Warum hatte nur ich diese Lilien angefasst? Noch einige starke Schläge …
„David!“ Lorena brachte mich zurück in die Realität. „Es reicht“, sagte sie halb lächelnd, halb besorgt. „Jetzt bin ich dran. Ich muss mich auch noch warm machen, es geht gleich los.“
Ich sah in ihren Augen, dass sie meine Wut bemerkte und dass sie auch genau wusste, woher sie kam. Und ich sah in ihren Augen, dass sie das alles sehr beunruhigte.
Aber ich ging nicht darauf ein. Also tauschten wir und ich hielt das Schlagpolster. Nun schlug Lorena mehrmals mit Händen, Ellenbogen und Knien darauf ein – ähnlich wie ich zuvor. Lorena und ich gingen jede Woche zusammen zum Kampfsport. Mit 17 hatte ich angefangen. Dann waren meine Verletzungen endlich so gut verheilt, dass ich wieder ernsthaft Sport machen konnte, denn mit meinem Bein hatte ich lange Probleme gehabt – und ich hatte sie auch heute noch. Wenn man davon wusste, sah man, dass ich leicht humpelte, vor allem, wenn ich joggen ging, aber im Alltag fiel es kaum auf. Vielleicht war es ganz normal, dass ich das Bedürfnis verspürt hatte, Kampfsport zu betreiben. Denn ich wollte wissen, wie ich mich am besten verteidigen konnte – etwas, das mir bei den Mördern nie gelungen war – vor allem aber wollte ich stark genug werden. Außerdem war diese Sportart einfach die beste Gelegenheit, sich abzureagieren von all der Wut, von der ich immer viel zu viel in mir trug. Hauptsächlich war ich dabei wütend auf mich selbst. Dass ich von zu Hause abgehauen war, um so eine kranke Story zu erleben, die mich bis heute verfolgte. Wütend darauf, dass ich schlechter damit leben konnte, als ich jemals gedacht hatte. Damals, als ich im Himmel war. Manchmal bin ich sogar wütend darauf, dass ich nicht dortgeblieben war. Dann fragte ich mich, ob ich – wieder einmal – falsch entschieden hatte.
Die ersten Tage im Krankenhaus nach dem Vorfall waren für mich wie ein Schock gewesen. Dann kamen die Schmerzen so stark zurück, dass sie mir Angst machten, ich fühlte mich richtig elendig. Manchmal wollte ich einfach wieder unter der Sonne auf einer Wolke herumhüpfen und mich frei fühlen. Aber dann saßen meine Schwester und Franziska an meinem Bett und überzeugten mich mit ihrer reinen Anwesenheit vom Gegenteil. Dann war ich sicher, dass es richtig war, bei dem Mädchen zu bleiben, in das ich mich verliebt hatte. Und es war richtig, zu meiner Schwester zurückzukehren, bei ihr zu bleiben, mit ihr weiterzuleben. Denn auch sie hatte sich durch diesen Vorfall verändert, und ich wollte für sie da sein.
Nachdem ich anfangs ein paar Mal beim Taekwondo gewesen war, hatte meine Schwester mich gefragt, ob ich einverstanden wäre, wenn sie mitkäme. Ich hatte nichts dagegen gehabt, denn auch ihr tat es gut, zu wissen, wie man sich selbst verteidigen konnte. Und mich beruhigte es zudem, zu wissen, dass sie sich in einer Notsituation selbst helfen konnte. Nachdem wir von zu Hause ausgezogen waren, meldeten wir uns in Potsdam beim Krav-Maga an, einem israelischen Selbstverteidungssystem, bei dem man Bodenkampf, Grifftechniken, aber vor allem auch die Abwehr von Waffen lernte.
Nachdem wir uns aufgewärmt hatten, rief uns der Trainer zu sich. „Heute wollen wir die Messerabwehr weiter vertiefen“, erklärte er, während er ein Holzstück in Form eines Messers in die Höhe hielt. Ein Freiwilliger aus unserer Runde attackierte unseren Trainer nun mit diesem Gegenstand, sodass er uns verschiedene Abwehrmethoden zeigen konnte. Ich versuchte, mir alles gut einzuprägen, und übte schließlich mit Lorena. Jedes Mal, wenn wir so etwas machten – uns zur Übung gegenseitig angriffen – sah ich in ihrem Blick, dass sie sich erinnerte. Besonders an diesem Tag, als es um ein Messer ging, sah ich sie in ihren Augen: die Angst von damals. Die Angst, die wir verspürt hatten, als wir von den Geschwistermördern mit einem Messer angegriffen worden waren.
Aber vielleicht war diese Angst manchmal produktiv, denn Lorena wehrte jeden Angriff von mir ab. Jedes Mal, wenn ich mit dem unechten Messer in der Hand auf sie zu ging, gelang es ihr, meinen Arm wegzudrücken und Abstand zu mir zu bekommen. Vielleicht gerade deshalb, weil sie sich erinnerte. An diesen Schmerz, den wir beide teilten. Der plötzliche, unerträgliche, scharfe Schmerz. Die Luft an den geöffneten Pulsadern …
Mir entging es auch nicht, dass ihr Blick bei den Übungen manchmal auf der Narbe an ihrem rechten Handgelenk hängen blieb. Dieselbe Narbe, die ich auch hatte – und an der ich verblutet war. Vielleicht dachte Lorena, dass wir diese Narben nicht hätten, wenn sie sich damals hätte besser verteidigen können. Machte sie sich wohl Vorwürfe deswegen? Aber dann sah ich auch, wie sie bei den Übungen immer wieder unsere Tattoos ansah. Lorena und ich hatten ein ähnliches Tattoo am linken Handgelenk. Ich weiß noch genau, wie ich an meinem sechzehnten Geburtstag Geschenke ausgepackt hatte. Das war ungefähr ein halbes Jahr nach dem Vorfall gewesen. Die Wunden an meinem Körper waren, so gut es ging, verheilt und ich konnte gerade wieder vernünftig laufen, ohne stark zu humpeln. Aber ich spürte, dass die Narben auf meiner Seele noch lange nicht verheilt waren, und ich war mir damals schon sicher gewesen, dass sie niemals ganz verblassen würden. Beim Auspacken der Geschenke kam mir genau dieser Gedanke. Ich fragte mich einfach, was mich jetzt glücklich machen könnte. Und ob mich überhaupt irgendein materielles Geschenk je wieder glücklich machen könnte. Dabei fiel mir auf, dass dies mein erster Geburtstag war, an dem ich gar nicht so viel Materielles geschenkt bekam, und fragte mich, ob es an dem Vorfall lag. Franziska schenkte mir einen MP3-Player, auf den sie meine Lieblingsmusik geladen hatte, denn sie wusste, dass ich vor dem Einschlafen gerne Musik hörte. Manchmal half mir die Musik beim Einschlafen, manchmal dabei, schlaflose Nächte zu überstehen. Über das Geschenk meiner Schwester war ich überrascht. Sie übergab mir einen Umschlag und ich war irritiert gewesen, als ich wenige Sekunden später einen Gutschein für ein Tattoo-Studio in den Händen hielt. „Was? Ich bin erst sechzehn“, sagte ich sofort. Doch dann gab Mama mir noch einen Umschlag. Ich grinste fassungslos, als ich ihn öffnete und die unterschriebene Einverständniserklärung meiner Eltern sah.
„Nicht euer Ernst.“ Ich sah meine Eltern erstaunt an.
Mama zuckte mit den Schultern. „Lorena hat uns überredet.“
Ich war verblüfft und fragte. „Wie hast du das geschafft?“
„Na ja, eigentlich hatte ich vor, dass wir beide uns zusammen tätowieren lassen.“
„Du auch?“ Damit hätte ich nicht gerechnet.
„Ich habe gedacht, wir könnten uns das hier stechen lassen.“ Meine Schwester gab mir einen Zettel, auf dem stand:
Für David: My sisters protector. Für mich: My brothers keeper.
Ich war sprachlos und wirklich gerührt von ihrem Vorschlag. Denn es passte zu unserem Vorfall. Zu dem Vorfall, der unsere Schicksale für immer verbunden hatte. Und nicht nur das: Es war ein ewiges Versprechen. Ich hatte meinen Mördern keine Hinweise auf Lorena gegeben, weil ich nicht gewollt hatte, dass ihr etwas zustieß. Ich hatte sie beschützen wollen. Und das würde ich auch jetzt sein: der Beschützer meiner Schwester. Meine Schwester war jedoch trotzdem zu den Mördern gegangen, hatte sich einer riesigen Gefahr ausgesetzt, um mir das Leben zu retten. Um über mich zu wachen: die Wächterin meines Bruders. Mit diesem Tattoo versprach sie mir, das auch weiterhin zu tun. Sie würde über mich wachen und ich würde sie beschützen. Bis an unser Lebensende.
„Aber du kannst dir auch gerne was anderes aussuchen. Ich weiß, es ist vielleicht ein bisschen kitschig.“ Lorena sah mich unsicher an.
Ich schüttelte sofort den Kopf. „Nein, es ist perfekt.“ Dankbar fiel ich ihr in die Arme. Vielleicht hatte ich es auch ohne die Tattoos gewusst, aber von dem Tag an, an dem wir das Tattoo-Studio verlassen hatten, hatte ich die feste Gewissheit, dass meine Schwester immer zu mir halten würde.
Deshalb hätte ich eigentlich auch jetzt wissen müssen, dass sie mir glaubte. Dass ich das mit den Lilien nicht selbst gewesen war. Meine Schwester würde ihr Versprechen halten – genauso wie ich. Da war ich mir sicher. Nachdem wir die Lilien vor unseren Türen gefunden hatten und die Polizei uns das Ergebnis der Untersuchung dieser Blumen mitgeteilt hatte, war ich am nächsten Tag bei Lorena und Tim gewesen. Ich hatte Tim gleich angesehen, dass ihm die Situation Sorgen bereitete. Dass er sich um Lorena Gedanken machte und es nicht ertragen könnte, wenn ihr noch einmal etwas passieren würde. Tim und ich teilten nun dasselbe Gefühl der Angst. Er war bei der Polizei gewesen und hatte gesagt, dass er diese Angelegenheit nicht so stehen lassen könne. Obwohl er ziemlich eindringlich mit einem Beamten gesprochen haben musste, hatten sie ihm dasselbe gesagt wie uns: „Wir können nichts tun, solange keine direkte Bedrohung vorliegt oder wir Hinweise haben.“ Aber war die Lilie denn nicht schon Beweis genug?
Am Abend nach dem Training setzte ich mich zu Hause an den Laptop und googelte. Seit dem Anruf der Polizei hatte ich das schon mehrmals vergeblich getan, hoffte aber, dass meine Suche Erfolg haben würde, wenn ich genauer und länger suchte oder die richtigen Stichworte in die Suchzeile eingab. Ich schaute mir Zeitungsartikel an, die über den Vorfall berichtet hatten. Ich wollte einfach herausfinden, ob irgendjemand darin verwickelt gewesen war, der von den Lilien wusste, und ob diese Blumen wirklich nie in einer Pressemitteilung erwähnt worden waren. Eigentlich konnte ich solche Schlagzeilen wie Fünfzehnjähriger stundenlang von Serienmördern gequält, Waghalsige Rettungsaktion: Schwester befreit Bruder oder Verschwinden von Geschwisterpaaren in Jüterbog hat ein Ende nicht mehr sehen, aber ich wollte einfach irgendetwas herausfinden – und eine andere Möglichkeit hatte ich nicht. Am liebsten hätte ich mit einem der Polizisten gesprochen, die in den Vorfall involviert gewesen waren. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich Herrn Köhler kontaktieren konnte, denn laut Google arbeitete er schon nicht mehr bei der Polizei und ich konnte ja schließlich keinen anderen Polizisten nach seiner privaten Rufnummer fragen. Dann würde man mich bestimmt erst recht für verrückt halten – und die Nummer dürfte bestimmt sowieso nicht an mich herausgegeben werden.
Ich erinnere mich oft daran, wie Herr Köhler zwei Tage, nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war, an meinem Bett gesessen, mir einige Fragen gestellt und mich dabei mit einem mitfühlenden, fast schuldvollen Blick angesehen hatte, fast so, als wäre er der Meinung gewesen, dass er all mein Leid von mir, das meiner Schwester und der anderen Geschwistern hätte verhindern können, wenn er anders gehandelt oder eher die richtigen Hinweise gesehen hätte. Aber es gab nichts, was ich ihm übel nehmen konnte. Das aktuelle Problem war, dass ich wusste, dass demnächst noch irgendetwas passieren würde und nun niemand von der Polizei etwas dagegen unternahm oder unternehmen wollte. Und dass Herr Vogt vielleicht irgendwann in seinem Sessel sitzen und sich schuldig für alles halten könnte. Aber auch das konnte ich ihm unmöglich erzählen. Er dachte ja sowieso – zumindest meiner Auffassung nach –, dass ich so psychisch labil sei, dass ich selbst die Lilien verteilt hatte, entweder, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, oder weil ich mich nicht erinnern konnte, es getan zu haben, weil ich Drogen nahm oder eine Wahrnehmungsstörung hatte. So zumindest meine Interpretation seiner Aussagen am Telefon.
Ich hatte auch mit dem Gedanken gespielt, meine Psychotherapeutin – zu der ich schon Jahre ging – zu bitten, Herrn Vogt ein Protokoll über meine seelische Verfassung auszustellen. Aber das kam nicht mehr infrage. Denn vermutlich würde er auch aus einer Diagnose falsche Schlüsse ziehen – und das würde alles nur noch schlimmer machen. Außerdem wusste ich gar nicht, ob meine Therapeutin meine Daten – auch mit meiner Einwilligung – überhaupt herausgeben durfte oder wollte.
Es war nicht schwierig, zu erinnern, wann ich mich entschieden hatte, zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Meine Eltern hatten mir schon am ersten Tag im Krankenhaus – mein erster Lebenstag in meinem zweiten Leben, mein erster Tag nach dem Herzstillstand – gesagt, dass ich mit einem Therapeuten sprechen könne, wenn ich das wollte. Aber ich hatte das zuerst nicht ernst genommen. Hatte gedacht, ich käme alleine klar. Aber eines Tages wusste ich dann, dass ich es nicht allein schaffen konnte, dieses Trauma zu überwinden. Und dass mir meine Eltern, meine Schwester oder Franziska auch nicht mehr zu helfen wussten. Seitdem ich wieder zu Hause gewesen war, litt ich an Panikattacken. Vermutlich, weil ich zur Ruhe kam und die Medikamente mir nicht mehr den Verstand vernebelten. Zuerst hatte ich nur hyperventiliert, hatte grauenvolle Albtäume von meinen Mördern und meist starke Schmerzen. Wenn mich dann jemand weckte – und das war durch die relativ laute Hyperventilation der Normalzustand – war alles wieder gut. Die Schmerzen vergingen, ich konnte wieder durchatmen.
Aber in dieser einen Nacht nicht. Das war ungefähr drei Monate nach dem Vorfall, weil ich meine Schiene am Bein nicht mehr tragen musste, aber immer noch stark humpelte und Krücken brauchte. Mein Traum: Ich lag gefesselt auf dem Tisch. Wie in den meisten Träumen. Meine Mörder starrten mich an. Ich wusste, dass ich träumte. Also stellte ich mich auf Schmerzen ein. Gleichzeitig wusste ich, dass Lorena mich gleich wecken würde, spätestens dann, wenn ich hyperventilierte. Sie schlief seit meiner ersten Panikattacke in meinem Zimmer. Ich dachte im Traum, meine Mörder würden mir Schmerzen zufügen, aber sie schienen auf irgendetwas zu warten. Ich betrachtete mich im Spiegel, wohl wissend, dass ich das nicht tun sollte, weil ich mich dann erschrecken könnte. Weil ich dann sehen könnte, dass ich verletzt war. Aber da war nichts. Ich blutete nicht mal. Doch dann sah ich es: Der Spiegel begann zu zerbrechen. Immer mehr Risse sammelten sich im Glas. Die Scherben fielen auf mich nieder, durchbohrten meine Haut. Ich schrie durch diesen stechenden Schmerz auf. Sofort bereute ich es, in den Spiegel gesehen zu haben, hätte ich es nicht getan, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Vielleicht hätte sich mein Gehirn dann etwas weniger Schlimmes ausgedacht. Vielleicht auch nicht.
Eine Flüssigkeit trat hinter dem Spiegel hervor … Wasser. Der Spiegel beschlug. Es war heißes Wasser. Ich zerrte an den Fesseln, aber ich war wehrlos. Ich wusste genau, was passieren würde. Wusste genau, welche Art Schmerz mich erwartete. Meine Mörder auch. Sie lachten. Dann brach der Spiegel komplett ein. Unmengen kochendes Wasser prasselten auf meinen Körper ein. Der Schmerz durchzuckte meinen Körper, ließ mich beben. Ich wand mich. Ich verbrannte. Am ganzen Körper. Der Schmerz war unerträglich. Es war so ein starkes Brennen, dass man denken konnte, einem würde die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Einfach vom Leib gerissen. Oder als würden meine Gliedmaßen platzen. Den Schmerz konnte man keine Sekunde lang ertragen. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber dann drang das kochende Wasser in meine Kehle, in meine Luftröhre. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich verbrannte und erstickte gleichzeitig. Und es nahm kein Ende. Ich wachte einfach nicht auf. Ich weinte, bettelte darum, erlöst zu werden. Dann hörte das Wasser auf, zu fließen. Ein Rest des Spiegels war noch übrig. Ich sah mich an. Mein Körper war übersät von Blut, Brandblasen und Narben. Sogar mein Gesicht, meine Augen – völlig entstellt. Mir wurde übel. Ich atmete einmal heftig ein, weil ich mich dermaßen vor mir selbst erschrak – vor meinem entstellten Gesicht. Doch ich atmete nicht wieder normal aus. Nun hyperventilierte ich. Meine Atmung ging in kurzen flachen Stößen. Jetzt musste meine Schwester mich hören. „Bitte wach auf, Lorena“, dachte ich nur. „Bitte weck mich.“
Aber es dauerte noch. Also schloss ich die Augen und wartete.
„David!“ Lorena legte eine Hand auf meine Schulter und rüttelte mich wach. Ich riss die Augen auf. Und schrie sofort auf. Viel zu laut. Ich schrie aus ganzer Kraft, krümmte mich vor Schmerzen. Sie waren immer noch da.
„David!“ Jetzt schrie auch Lorena, schrie immer wieder meinen Namen. Wusste nicht, wie sie mir helfen sollte. Doch dann nahm sie einfach meine Hand. Ich drückte sie instinktiv und viel zu doll. Ich schrie weiter, weinte, schluchzte.
„David, du bist wach! Du musst atmen!“, stammelte sie. „Oh Gott, bitte, David, amte!“
Ich hörte ihre Stimme kaum und merkte deshalb auch nicht, dass ich immer noch nicht atmete. Weil die Schmerzen in meinem Brustkorb zu stark waren. Sie machten es unmöglich, ein- oder auszuatmen. Ich verkrampfte mich komplett. Im nächsten Augenblick spürte ich etwas Kaltes, Nasses auf meiner Stirn. Langsam kam ich wieder zu mir. Und holte tief Luft.
„David?“ Diesmal eine andere Stimme. Es war Mama.
„Ich rufe jetzt einen Krankenwagen“, hörte ich Papa sagen.
„Nein“, brachte ich leise hervor. Dann spürte ich die Übelkeit. Ich sah wieder mein verbranntes Gesicht vor mir … und die Gesichter der Mörder. „Ich muss mich übergeben.“ Ich setzte mich hin, so schnell ich konnte, aber alles drehte sich. Mama nahm den Waschlappen von meiner Stirn. Papa rannte wieder weg, vermutlich, um einen Eimer zu holen. Schnell nahm ich eine Krücke und wollte zum Badezimmer stürzen. Lorena stützte mich halb auf der anderen Seite aus Angst, ich könnte umkippen. Irgendwie bekam ich es hin, Abstand von ihr zu bekommen und mich im Bad einzuschließen. Dann kniete ich mich vor die Toilette, darauf bedacht, das verletzte Knie nicht zu sehr zu belasten. Ich wollte mich übergeben, aber es ging nicht. Noch nie hatte ich mich nach meiner Gefangenschaft bei den Mördern so elendig gefühlt. Noch nicht einmal, als ich sofort danach mit wirklich starken Schmerzen im Krankenhaus gelegen hatte. Das hier war viel schlimmer.
Ich versuchte, wieder regelmäßig zu atmen. Doch immer wieder tauchten diese Bilder vor mir auf. Durchzuckten meinen Körper wie schmerzende Stromschläge. Ich verbrannte am ganzen Körper. Einige Scherben des Spiegels steckten in meinem Körper, hatten viel Blut, tiefe Wunden hinterlassen. Ich hörte meine Mörder, die sich über mein Leid lustig machten. Ich krümmte mich vor dem WC, würgte, aber es kam immer noch nichts. Ich konnte die Übelkeit nicht länger ertragen. Irgendwann schaffte ich es, mir den Finger in den Hals zu stecken, obwohl ich dabei ziemlich zitterte. Nun übergab ich mich heftig. Und geräuschvoll. Es ging nicht leiser. Ich versuchte dabei, keuchend weiter zu atmen und nicht vor Schmerzen zu schreien.
Dann war es vorbei. Endlich verging die Übelkeit. Aber dafür wurde mir schwindlig. Ich betätigte die Spülung und legte meine Stirn auf den Rand des WCs – einerseits aus Angst, noch einmal brechen zu müssen, andererseits, um nicht umzukippen. Alles drehte sich. Ich zitterte nun am ganzen Körper.
„David, mach die Tür auf!“, schluchzte meine Schwester. „Bist du noch bei Bewusstsein?“ Sie weinte laut, wimmerte. „Mach auf! Du kannst das nicht immer alles allein durchstehen, verstehst du?“
In dem Moment verstand ich es. Aber nicht, weil ich Angst um mich hatte, sondern um die anderen. In dieser Nacht hatten meine Eltern fast den Verstand verloren und Lorena erst recht. Meine Eltern hatten gar nicht wirklich mitbekommen, was mit mir los gewesen war. Bisher hatte ich nur meiner Schwester von diesen Albträumen erzählt und nur sie wusste auch, dass ich diese Panikattacken bekam. Ich hatte sie gebeten, unseren Eltern nichts zu erzählen, weil ich nicht wollte, dass sie sich sorgten oder mich drängten, zu einem Therapeuten zu gehen. Meine Eltern dachten, Lorena schliefe in meinem Zimmer, damit ich mich nicht so allein fühlte. Sie hatten das auch gar nicht hinterfragt, weil ihnen klar war, dass ich nach diesem Vorfall Unterstützung brauchte und mich Lorena am besten anvertrauen konnte.
Meiner Schwester aber war immer sofort klar gewesen, dass ich nach dem Aufwachen aus einem solchen Traum starke Schmerzen hatte. Unfassbar, wie stark eingebildete Schmerzen sein konnten. Aber meine Therapeutin hatte mir das so erklärt: Es war sogar normal, dass die Schmerzen in Panikattacken stärker waren als in der Realität. Denn all der Schmerz, den ich gespürt hatte, als ich von meinen Mördern gefoltert worden war, hatte sich in meinem Kopf abgespeichert. Immer wenn ich Panik bekam, sammelten sich alle Erinnerungen an den Schmerz und unterbewusst betätigte mein Körper dann alle Schmerzrezeptoren auf einmal. Das war in der Realität gar nicht möglich.
Jedenfalls hatte ich erst verstanden, wie schlimm mein Zustand wirklich war, als ich zur Tür gekrochen war, um sie dann mühevoll zu öffnen. Anschließend ließ ich mich wieder auf den Boden sinken aus Angst, umzukippen. Lorena fiel mir schreiend und weinend um den Hals, weil sie gedacht hatte, ich mache im verschlossenen Badezimmer das Letzte. Papa hatte unterdessen versucht, die Tür aufzubrechen, und Mama hatte vollkommen bewegungslos vor Schock im Flur gestanden. In dieser Nacht hatte ich unendliches Leid auszustehen, aber das machte mir weniger aus, als das Leid der anderen zu sehen – das in den Augen meiner Eltern und meiner Schwester. In dem Moment wusste ich, dass ich so nicht weitermachen konnte.
Als ich aus meinen Erinnerungen auftauchte, starrte ich wieder auf den Bildschirm des Laptops. Voller Wut schloss ich ihn. Es hatte keinen Sinn. Um wirklich etwas herausfinden zu können, müsste ich einen Blick in die Unterlagen der Polizei werfen können. Müsste eine Liste der Personen haben, die den Tatort und somit auch die Lilien gesehen hatten. Aber solche Informationen würde mir niemand geben. Oder ich musste mit jemandem sprechen, der in den Fall verwickelt gewesen war. Aber wer kam infrage? War es vielleicht sogar falsch, dass ich die beteiligten Polizisten und Sanitäter als Verdächtige ausschloss? Wenn sie es nicht waren, wer dann? Sollte ich mich vielleicht nach der Verwandtschaft der Mörder erkundigen? Gab es da überhaupt noch jemanden? Ihre Geschwister waren alle tot und hatten keine Kinder gehabt. Dafür waren sie zu früh gestorben. Herr Köhler hatte mir damals mitgeteilt, dass die Geschichten, die die beiden Mörder mir erzählt hatten, komplett der Wahrheit entsprachen. Was war mit den Eltern? Lebten sie überhaupt noch? Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie jetzt sein könnten, aber sicherlich über sechzig.
Ich hörte Franziskas Schritte näherkommen, bis sie schließlich von hinten die Arme um meinen Brustkorb schlang und mich auf die Wange küsste. „Kommst du mit ins Bett?“
Ich zögerte und schaute auf die Uhr. Ich hatte bei meinen Überlegungen völlig die Zeit vergessen. In einer halben Stunde war es Mitternacht. „Natürlich.“
Mitten in der Nacht wurde ich von einem Geräusch geweckt. Zunächst beunruhigte mich das nicht, denn ich dachte, dass die Schritte, die ich vernommen hatte, vom Treppenhaus unseres Wohnhauses oder von der Nachbarin über uns kommen würden. Das kam öfter einmal vor. Vorsichtig setzte ich mich im Bett auf, weil ich selbst keinen Laut von mir geben wollte. Dann schaute ich neben mich und beobachtete für ein paar Sekunden die schlafende Franziska, die nichts gehört zu haben schien. Plötzlich vernahm ich die Schritte wieder. Deutlicher. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir klar wurde, dass sie hier in der Wohnung zu hören waren. Und immer näher kamen. Kurz überlegte ich, Franziska zu wecken, aber sie würde Angst bekommen und mit mir sprechen und das würde die Schritte vermutlich in unser Schlafzimmer führen. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht bewegen. Panisch sah ich mich im Zimmer nach einem Gegenstand um, mit dem ich mich wehren konnte. Aber das Licht im Zimmer, das nur von einem kleinen Nachtlicht an der Steckdose ausging, war nicht hell genug, um potenzielle Waffen auffindbar zu machen. Trotzdem überlegte ich, was hier im Schlafzimmer so herumlag. Die Vase auf der Fensterbank? Der Kugelschreiber auf der Kommode? Alles zu weit weg, nicht in der Nähe des Bettes. Ich traute mich nicht, aufzustehen, denn ich wollte kein Geräusch machen. Und hoffte, die Schritte würden vielleicht von allein verschwinden.
Dann wurde unsere Schlafzimmertür langsam geöffnet. Mit rasendem Herzen starrte ich auf die Silhouette eines großen Mannes. Der Schatten eines Mannes, der mir unglaublich bekannt vorkam. Ich wusste sofort, wem er gehörte. Jetzt kam mein Mörder direkt auf mich zu. Zum Glück blieb er von Franziska fern, kam aber immer weiter zu mir, bis er vor meiner Bettkante stehen blieb. Ich konnte immer noch nicht reagieren. Meine Angst lähmte mich, denn ich wusste nicht, ob es besser war, sich zu wehren, wegzulaufen oder zu schreien.
Plötzlich holte mein Mörder ein riesiges, langes Messer heraus und rammte es mir mit aller Wucht in den Arm. Als ich vor Schmerz aufschrie, fuhr Franziska im Bett hoch. Sie sah erst das ganze Blut, das ununterbrochen aus meinem Arm strömte, dann den Mörder. Sie schaute ihm sekundenlang direkt in die Augen. Dabei ließ sie einen Schrei los, der mir durch Mark und Bein ging. Dieser Schrei klang nicht nur erschrocken, ich hörte Todesangst aus ihm heraus.
Während mein Blut das weiße Laken durchnässte, schaute mein Mörder nur zu und Franziska schrie noch immer. Sie schrie unendlich laut. Genauso wie ich vor Schmerz. Mein Arm fühlte sich an wie abgetrennt, verbrannt, verätzt. Alles gleichzeitig. Wir schrien beide aus Leibeskräften, aber niemand hörte uns. Niemand kam zu Hilfe. Panisch betrachtete ich das Messer, das immer noch in meinem Arm steckte. Erst da sah ich, dass es meinen Arm durchbohrt hatte. Es war an der Oberseite des Armes eingedrungen, hatte den Knochen durchbohrt und war auf der Unterseite des Armes wieder ausgetreten. Als ich das sah, zog ich vor Schreck Luft ein. Die nächsten Atemzüge gingen nur noch in kurzen, flachen Stößen. Erst als ich hyperventilierte, verstand ich, dass das hier ein Traum sein könnte. Sofort hoffte ich, dass ich wirklich nur schlief. War mir fast sicher, dass Franziska gleich von meiner Hyperventilation wach werden und mich wecken würde.
Aber es passierte nichts, alles schien unendlich anzudauern. Und die Situation veränderte sich einfach nicht. Während ich mich kraftlos in die Kissen sinken ließ und qualvoll verblutete, reagierten weder der Mörder noch Franziska neben mir. Sie schrie immer weiter, weinte, schluchzte laut. Ich hielt den Schmerz nicht mehr aus. Das warme Blut durchnässte das Bett und meine Kleidung. Mir war schwindelig. Ich wusste, meine letzte Stunde hatte geschlagen, aber ich starb auch nicht. Mein Herz schlug einfach weiter. Die Frau, die ich über alles liebte, schrie weiter und weiter – und mein Mörder beobachtete alles. Meine Atmung wurde immer stärker, der Schmerz dehnte sich aus, erdrückte mich.
„David!“ Die Stimme, die meinen Namen rief, wurde beinahe von dem Geschrei übertönt. Dann spürte ich ein Rütteln an meiner Schulter. Sofort stoppte die Hyperventilation und ich atmete hektisch auf. „Du hast nur geträumt“, flüsterte Franziska neben mir und streichelte meinen Rücken. Als sie mein erschrockenes Gesicht sah, nahm sie meine Hand. Während ich weiter keuchend nach Luft schnappte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Aber das Gefühl der Erleichterung dauerte nicht lange an. Denn was, wenn das hier kein Traum gewesen wäre?
Am Morgen weckte mich die Sonne, die durch das Fenster schien. Ich atmete auf, denn ich hatte diese Nacht ohne weitere Panik überstanden. Manchmal hatte ich nämlich mehrere Attacken in einer Nacht. Dann griff ich neben mich – wollte Franziska an mich ziehen – griff ins Leere. Verwundert setzte ich mich auf und versuchte, wach zu werden. Immer wenn ich nachts Panik gehabt hatte, fühlte ich mich am nächsten Morgen so, als hätte ich gar nicht geschlafen. Eigentlich wunderte ich mich darüber, dass Franziska schon aufgestanden war, denn sie stand nie vor mir auf, um mich im Notfall wecken zu können. Aber vielleicht war sie nur auf dem Klo oder machte schon Frühstück. Also stand ich auf, um mich nach ihr umzusehen. Ich hörte das Klappern von Tellern und ging deshalb in die Küche.
Und dann fuhr ich zusammen und sah gleichzeitig in die rachedurstigen Augen meines Mörders, der Franziska festhielt. Sah in das angsterfüllte Gesicht meiner zukünftigen Frau. Er hielt ihr ein langes Messer an die Kehle. Ein Messer, das mir bekannt vorkam. Weil es dasselbe Messer war, das meinen Arm durchbohrt hatte … Nun betrachtete ich das tiefe Loch in meinem Arm, der blutüberströmt war. Erst da bemerkte ich, dass er schon geblutet hatte, als ich aufgewacht war. Eine lange Blutspur führte in die Küche. Während ich auf meinen Arm starrte und mein Herz zu rasen begann, schrie Franziska los. Aber der Schrei hielt nicht an, sondern wurde unterbrochen. Der Mörder hatte ihn unterbrochen. Durch einen Schnitt in Franziskas Kehle. Sie sank zeitgleich mit mir auf den Boden. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, panisch, schauten mich flehend, fast vorwurfsvoll an.
„Warum hast du nichts unternommen?“, konnte ich in ihren Augen lesen.
Meine Atmung wurde schneller. Immer schneller. Mir wurde schwindlig. Alles drehte sich. Der Boden schien unter mir nachzugeben. Meine Welt löste sich auf, brach zusammen. Brach zusammen, als das Blut aus der Kehle meiner Verlobten strömte und ich sie um Luft ringen sah. Als ich sie sterben sah.
„David!“ … „David, wach endlich auf.“ Ein starkes Rütteln an meinem Brustkorb. „Wach auf, mein Schatz.“
Ich schnappte nach Luft, aber mein Herz hörte nicht auf zu rasen. Im Gegenteil. Panisch setzte ich mich hin, berührte erst ihren Hals, dann meinen Arm. Aber da war nichts. Dann schaute ich auf das Bett, suchte Blut. Schaute mich im Raum um, suchte meinen Mörder.
„Was ist los? Es war ein Traum. Du hattest Panik.“ Besorgt sah sie mich an.
Ich stand wortlos auf und schnappte mir den Kugelschreiber, der auf der Kommode lag.
„Was machst du denn da?“, fragte sie aufgebracht.
„Sei still“, flüsterte ich. „Und bleib hier.“
Konnte es sein, dass ich langsam den Verstand verlor? Aber egal, ob ich träumte oder nicht, ich wollte auf keinen Fall, dass sich das alles wiederholte. Ich ging näher zur geschlossenen Schlafzimmertür und lauschte. Aber diesmal war es absolut still. Trotzdem öffnete ich mit rasendem Herzen die Tür und sah mich zuerst im Flur, dann in der Küche um. Dort nahm ich mir ein Messer aus der Schublade – das war besser als ein Kugelschreiber – und durchsuchte die anderen Räume, schaute in jede Ecke, bis ich beruhigt war. Dann ging ich sofort zurück zu Franziska, die noch in genau derselben Position saß wie zuvor. Zumindest nahm sie meine Sorge ernst.
Aber jetzt musste ich ihr wohl erklären, was los gewesen war. „Ich habe zweimal geträumt, dass jemand im Haus ist. Falsches Erwachen“, gab ich als Erklärung ab und legte mich wieder ins Bett. Das Messer, welches ich hinter meinem Rücken versteckt hatte, als ich ins Schlafzimmer getreten war, legte ich nun in meine Schublade. Franziska hatte das bestimmt nicht gesehen, es war zu dunkel im Zimmer. Trotzdem schaute sie mich besorgt an.
„Du hast mich doch nur einmal gerade geweckt, oder?“
„Ja, vorher habe ich nichts bemerkt.“
Ich nickte. Es war ein Traum im Traum gewesen. Auch das war nichts Neues für mich. Nun ließ ich mich tiefer in die Kissen sinken. Aber das war eigentlich sinnlos. „Ich kann heute Nacht nicht mehr schlafen.“
„Es ist erst vier Uhr“, murmelte Franziska. Sie sah todmüde aus.
„Entschuldige, dass ich dir solche Sorgen mache und dich wachhalte. Schlaf wieder. Es ist alles in Ordnung.“
Sie zog mich zu sich heran und ich legte schützend einen Arm und sie.
Seitdem ich diesen Traum gehabt hatte, stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, vor welchen Dingen ich im Moment wirklich Angst hatte. Natürlich hatte ich Angst davor, dass Franziska, meiner Schwester oder jemand anderem von meiner Familie etwas zustoßen könnte. Wenn der Täter es bereits in das Haus geschafft hatte, würde er es demnächst sicherlich bis in die Wohnung schaffen?
An zweiter Stelle stand die Angst davor, dass ich wieder entführt und gefoltert werden könnte. Allein der Gedanke, dass jemand, der mit damals zu tun hatte, wusste, wo wir wohnten, verängstigte mich. Dann fragte ich mich, wie ich mir helfen konnte, wenn es wirklich passieren würde. Wenn jemand mich verschleppen und wieder in einen dunklen Keller einsperren würde. Was ich dann zuerst brauchen würde, war Selbstverteidigung, die ich nun schon seit acht Jahren beim Kampfsport trainierte. Was kam dann? Wenn ich – oder jemand anderes – irgendwo gefangen gehalten würde, dann wäre es doch von Vorteil, Türen und Schlösser aufbrechen zu können, oder?
Genau der Gedanke brachte mich dazu, an diesem Abend Youtube-Videos anschauen und das Gesehene an Franziskas Vorhängeschloss auszuprobieren, das sie früher in der Uni für ein Schließfach benutzt hatte. Schon seit Stunden fummelte ich mit zwei Haarnadeln an diesem Schloss herum. Doch das Schloss ließ sich noch immer nicht öffnen. Immer, wenn ich aufgegeben wollte, kam jedoch diese eine Vorstellung in meinen Kopf. Dieses Gefühl, als ich das erste Mal im Keller meines Mörders aufgewacht war und gemerkt hatte, dass ich gefesselt war. Das Gefühl reinster Panik, als ich die kleinen Schlösser ertastete, die die Ketten an Armen und Beinen zusammenhielten. Und dann kam mir wieder meine Wut über die Polizei in den Sinn, die sich einfach nicht mehr um uns sorgte. Da machte es Klick. Überrascht betrachtete ich das geöffnete Schloss. Jetzt hatte ich Hoffnung und schloss die Tür des Arbeitszimmers von innen ab, um auch hier zu üben.
„Können Sie mir erzählen, was aktuell das schlimmste Gefühl ist, das Sie mit Ihrem Vorfall verbinden?“ Frau Lehmann, meine Psychotherapeutin, saß mir wie jede Woche gegenüber und versuchte, mit mir mein Trauma aufzuarbeiten.
Aber das wollte einfach nicht funktionieren. Mir war klar, dass die Panikattacken nicht einfach verschwinden würden, ganz im Gegenteil, sie würden mich mein Leben lang begleiten, aber ich wünschte mir einfach, dass sie nicht mehr so schlimm wären oder dass ich sie mehr kontrollieren konnte. Ich brauchte nicht lange über diese Frage nachdenken. „Schuld … Schuldgefühle.“
Manchmal bewunderte ich ihr Pokerface, denn sie wusste, dass es mir nicht immer guttat, wenn sie mir durch ihren Gesichtsausdruck ihre Gefühle – so etwas wie Mitleid oder Angst – offenbarte.
„Sie fühlen sich also immer noch selbst für das verantwortlich, was passiert ist?“
„Ja.“
„Können Sie es nicht hinnehmen, dass die Schuld nicht bei Ihnen, sondern bei den Tätern liegt?“, fragte sie vorsichtig.
„Nein. Ich sehe mich als Auslöser, weil ich mich bewusst dazu entschieden habe, von zu Hause wegzulaufen“, antwortete ich überzeugt.
„Glauben Sie wirklich, dass das bewusst passiert ist? Sie waren fünfzehn. Noch halb ein Kind, ein Jugendlicher. Glauben Sie nicht, dass es normal ist, in so einem Alter unüberlegt zu handeln?“ Sie rückte ihre Brille gerade. Ich schüttelte nur langsam den Kopf.
„Also, wenn Sie wirklich der Überzeugung sind, schuld zu sein, meinen Sie nicht, dass es richtig wäre, sich selbst zu verzeihen?“, fragte sie sanft. Darauf wusste ich nichts mehr zu sagen. So hatte ich das noch nie gesehen. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass ich mir selbst etwas verzeihen konnte. Dass es diese Möglichkeit überhaupt gab.
„Ich weiß, das ist nicht einfach mal so erledigt. Es braucht Zeit. Aber ich glaube, all das Leid, das Sie in Panikattacken erfahren, das ist nur eine Verarbeitung von Schmerz, sondern auch innerer Druck. Druck, dem Sie sich aussetzten, indem Sie nicht loslassen. Sich selbst nicht verzeihen.“
Jetzt war ich völlig verstummt. Auch Frau Lehmann sagte nichts mehr. Vielleicht wollte sie mir Zeit lassen, darüber nachzudenken.
„Was wäre denn, wenn ich mir nicht verzeihen könnte?“, brachte ich leise hervor. „Hört die Panik dann nie auf?“
„Ich glaube, irgendwann kann jeder verzeihen. Die Schuldgefühle sind aber sicherlich nur ein Teil, der zu der Panik beiträgt. Es ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren.“
„Können Panikattacken überhaupt ganz verschwinden?“, traute ich mich, zu fragen.
„Ja. Bei manchen Menschen passiert das bei einer Änderung im Leben. Ein neuer Job, eine neue Umgebung. Dann kann es wie ausgelöscht sein. Aber in den meisten Fällen bleiben Panikattacken bestehen, werden aber irgendwann weniger.“
„Ich bin jetzt schon zehn Jahre in Therapie“, begann ich. „Meinen Sie nicht, dass ich etwas anderes probieren sollte? Gibt es nicht auch Tabletten gegen so etwas?“ Es war dieselbe Frage, die ich einst schon meinem Kindertherapeuten gestellt hatte. Ich wusste, wie die Antwort aussehen würde. Warum sollte diese Therapeutin anders antworten? Aber ich stellte sie trotzdem, denn ich war gespannt, wie sie es sehen würde.
„Ja, aber das ist keine gute Alterative und in den meisten Fällen tritt keine ausschlaggebende Wirkung ein.“
Hatte ich es doch gewusst. „Schlimmer kann es ja nicht mehr werden, oder?“
Frau Lehmann zog Luft ein. „Das Schlimme daran ist, dass Tabletten – auch wenn es nur Baldrian ist – Ihnen das Gefühl geben, dass es dann nicht mehr ohne geht. Und vor allem, dass Sie die Panik nicht aus sich selbst heraus überwinden können. Medikamente geben Ihnen immer den Eindruck, dass Sie diese brauchen. Das ist wie mit Drogen. Man ist dann abhängig davon und man kann die Sucht nicht überwinden, wenn man die Drogen nicht absetzt. Also sollten wir erst gar nicht damit anfangen.“ Tja, ungefähr dieselbe Antwort. Aber was wohl schon immer niemand verstanden hatte, war, dass ich nicht mehr mit dieser Panik leben konnte. Ich wollte sie abstellen und war fest davon überzeugt, dass ich es selbst nicht schaffen konnte – wie man nach zehn Jahren ja sah – und auch nicht mit einem Therapeuten. Es wäre eine Erlösung für mich, wenn es ein Medikament gäbe, das die Panik besiegen könnte. Das hatte ich auch damals schon immer gedacht und alles ausprobiert – Alkohol, Zigaretten, Joints und andere Drogen – und mir damit alles versaut. Riesiger Streit mit meinen Eltern, die mich mit 17 rausschmeißen wollten, als sie merkten, dass ich Drogen nahm, natürlich großer Streit mit Franziska und eine Menge peinlicher Momente. Auf Nicos 18. Geburtstag hatte ich mich so volllaufen lassen, dass ich halb komatös im Krankenhaus landete.
Diese Phase entstand bei anderen Jugendlichen aus Abenteuerlust am Ausprobieren und weil sie es nicht besser einschätzen konnten. Ich hatte es einschätzen können, aber ich hatte an manchen Tagen so eine miese Stimmung, dass ich einfach nichts mehr fühlen wollte. Oder dachte, dass ich endlich mal wieder ruhigen Schlaf finden würde, wenn ich irgendwas nahm. Aber am Ende war das alles kontraproduktiv und machte nur noch größeren Ärger. Es war eben nur die pure Verzweiflung. Diese Panikattacken während des Schlafs machten mir so eine Angst, dass ich begann, mich nachts wachzuhalten, was sogar funktionierte, weshalb die Schule aber nicht mehr lief. Irgendwann schlief man dann sowieso ein, wenn man sich tagelang wachhielt. Angst vor der Angst nannte man so etwas. Zusammengefasst hatte ich also alles falsch gemacht, was man als traumatisierter Jugendlicher so falsch machen konnte. Und manchmal hatte ich Angst, dass das im Erwachsenenalter so weitergehen würde. Ich war überzeugt davon, dass ich meinem Leid schon selbst ein Ende gesetzt hätte, wenn ich Franziska nicht an meiner Seite gehabt hätte. Dann hätte ich selbst wieder einen Weg in den Himmel gefunden. Denn sterben war viel leichter, als zu leben.
„Gab es einen bestimmten Anlass, mir diese Frage über Medikamente zu stellen? Oder sind Sie im Allgemeinen frustriert, dass Sie Ihrer Meinung nach keine Fortschritte machen?“, fragte sie dann.
„Na ja, ich bin derzeit ziemlich fertig mit allem“, gab ich zu. Ich hatte ihr den Vorfall mit den Lilien noch nicht erzählt, also tat ich es jetzt einfach. Vielleicht hatte sie ja einen Gedanken, auf den ich zuvor noch nicht gekommen war.
Ihre erste Reaktion war nur: „Das ist ja wirklich eine Menge, mit dem Sie klarkommen müssen.“ Ich nickte nur. „Warum macht Ihnen das alles so eine Angst? Ich meine, es muss bestimmt jemand gewesen sein, der den Tatort gesehen hat. Aber warum denken Sie nicht, dass Ihnen dieser Jemand – warum auch immer – einen schlechten Scherz gespielt hat und es dabei belassen wird?“
„Ich weiß nicht, zunächst war es einfach ein Schock, noch einmal mit Dingen von damals konfrontiert zu werden. Dann hatte ich vorgestern einen ziemlich realen Traum, in dem ich zwei Mal falsches Erwachen und Panik hatte.“ Nun beschrieb ich ihr den Traum.
„Wenn wir den Traum deuten wollen, wie würden Sie ihn sich erklären?“, fragte sie daraufhin.
„Ich kann mir daraus gar nichts erklären. Ich habe nur die Angst, dass es eine Vorahnung sein könnte“, sprach ich meine verrückten Gedanken aus.
„Sie haben recht, es gibt tatsächlich Träume, in denen unser Unterbewusstsein auf etwas hindeuten möchte. Aber ich bin mir sicher, dass es in diesem Fall nicht so ist. Welche Symbole erkennen Sie aus dem Traum?“
Ihre Meinung beruhigte mich irgendwie nicht. „Meine Angst wird deutlich geschildert. Und das Bild meines Mörders in der offenen Tür ist eine Erinnerung an früher. Genauso wie das Messer. Und der Schmerz im Arm natürlich auch.“
„Ja, das hätte ich auch so gesehen. Also eine Menge Elemente, die Sie im Traum einfach verarbeitet haben. Ich sehe darin noch das Motiv der Hilflosigkeit. Sie können sich selbst und Franziska in diesem Traum nicht helfen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und der Passivität hatten Sie bei den Tätern auch, weil Sie gefesselt waren“, stellte Frau Lehmann fest. Ich nickte überrascht über diese Erkenntnis. „Was könnte es noch mit dem Messer auf sich haben?“
Erst als sie mir diese Frage konkret gestellt hatte, wurde es mir klar. „Wir haben beim Krav-Maga Messerabwehr geübt.“
„Ah, okay, dann ergibt also auch dieses Symbol einen Sinn.“ Sie überlegte kurz. „Was ich interessant an dem Traum finde, ist, dass Sie sich zu Hause in Ihrem Bett befinden und nicht im Keller der Täter. Das ist in Ihren Träumen selten der Fall.“
Oh Gott. Darauf war ich gar nicht gekommen. „Ist das eine Art Fortschritt?“
„Man könnte es so sehen. Zumindest haben Sie sich anscheinend gedanklich von diesem Ort befreit.“
Ein Funken von Hoffnung kam in mir auf. Mir tat es gut, mit meiner Therapeutin zu reden. Immer wenn ich dachte, dass ich unnormal wäre, bewies sie mir das Gegenteil. Ich hatte einfach das Gefühl, dass sie mich immer verstand und ernst nahm. Und dass sie mir nichts vorspielte.
Bei der Arbeit konnte ich mich einfach nicht konzentrieren. Das PC-Programm, das ich installieren musste, funktionierte nicht so, wie ich wollte, und ich war sowieso mit meinen Gedanken ganz woanders. Beim Geschwistermörder. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich fuhr zusammen. Mit zittrigen Fingern nahm ich ab. „Winkler?“
„Hallo, Herr Winkler. Hier ist Herr Vogt von der Kripo Potsdam.“
Mein Herz begann zu rasen. Hatte er es sich anders überlegt? Nahm er die Situation jetzt doch ernster?
„Meine Kollegen und ich haben nun alle Nachbarn befragt, die in Ihrem Haus und in dem Haus Ihrer Schwester wohnen. Niemandem ist ein Fremder aufgefallen – weder im Haus noch in der näheren Umgebung. Wir haben außerdem alle gebeten, dass die Haustür ständig verschlossen bleiben soll. Ich denke, das werden nun alle beherzigen. Falls so etwas noch einmal vorkommt, werden wir weitere Maßnahmen in Betracht ziehen.“
„Okay …“ Ich war zu überrumpelt von dieser Information, um noch irgendetwas Bedeutendes sagen zu können. „Vielen Dank.“
„Falls Ihnen noch etwas auffällt, melden Sie sich bitte“, sagte er. „Aber solange keine Hinweise auf einen Einbruch vorliegen, können wir leider nichts für Sie tun.“
„In Ordnung.“
Da hatte er auch schon aufgelegt. Sofort ärgerte ich mich, ihm nicht meine Meinung gesagt zu haben. Ich hätte ihn fragen sollen, warum er sich anmaßte, meine Schwester zu fragen, ob ich psychisch labil sei. Wut kam wieder in mir auf. Ich musste selbst nach Hinweisen suchen. Ich ging auf die Internet-Seite des Telefonbuchs. Meine Hände zitterten, als ich Wolff dort eingab.
Man würde nicht auf den Gedanken kommen, dass es der Nachname eines Mörders war. Überhaupt würde man sich bei diesen harmlosen Vornamen der Geschwistermörder nichts denken. Aber auch Mörder hatten normale Namen. Mir kam das merkwürdig vor, denn ich hatte den einen Mann, der mir die Pulsadern aufgeschnitten und mich getötet hatte, einfach immer meinen Mörder, und seinen Komplizen, der mich die meiste Zeit gefoltert hatte, immer den anderen Täter genannt. Deshalb kam es mir völlig suspekt vor, dass sie normale Vornamen hatten: Arthur und Leon. Meine Schwester und ich waren die Einzigen, die die wahren Namen kannten. In den Berichterstattungen trugen die beiden Täter stets die Namen Thomas und Hendrik K..
Tatsächlich brachte mir das Telefonbuch ein Ergebnis: Eine Andrea Wolff wohnte in Jüterbog. Mein Herz blieb stehen, als ich verstand, dass das passen könnte. Die Täter hatten mir erzählt, dass sie mit ihren zwei anderen Geschwistern und den Eltern in Jüterbog gelebt hatten. Und bei vier Kindern, also sechs Personen, warum sollte die Familie nicht ein Haus gebaut haben? Ein Haus, in dem die Mutter immer noch allein – oder mit Ehemann – leben könnte? Aber es war nur eine Andrea eingetragen, also schien sie allein zu leben. Konnte ich da einfach anrufen und ihr erzählen, wer ich war und was ich nun für Sorgen hatte? Warum war die Polizei nicht auf die Idee zu kommen, jetzt mit ihr zu sprechen? Ich glaubte zwar nicht, dass sie von den Lilien wusste, aber vielleicht konnte sie mir doch weiterhelfen. Sie könnte wissen, wer noch in den Vorfall verwickelt gewesen war. War es sogar jemand aus der Familie, der von den Lilien gewusst hatte? Dem sich die Täter damals anvertraut hatten, aber der nie mit der Polizei gesprochen hatte?
Völlig irritiert von all diesen Fragen verließ ich mein Büro und ging vor die Tür. Dort steckte ich mir eine Zigarette an. Mein Kopf war voller Fragen und ich konnte einfach nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich bildete mir immer ein, Rauchen würde helfen, aber mittlerweile konnte mir wohl gar nichts mehr helfen. Auch vor dem Schlafengehen oder nach einer Panikattacke rauchte ich meistens. Der einzige Grund, warum ich nach dieser letzten kranken Panikattacke nicht auf den Balkon gegangen war, um zu rauchen, bestand darin, dass ich Angst um Franziska gehabt hatte. Ich hatte sie nicht allein lassen wollen in der Wohnung – und das wollte ich eigentlich auch jetzt nicht. Jede Sekunde, die ich nicht bei ihr sein konnte, sorgte ich mich um Franziska. Aber sie schien das alles nicht so ernst zu nehmen wie ich. Vielleicht war ein Grund dafür, dass sie nichts von dem, was damals passiert war, je gesehen hatte. Lorena und ich waren da gewesen, hatten den Folterkeller gesehen, hatten den Mördern und dem Tod ins Auge geblickt.
Als ich den Qualm meiner Zigarette beobachtete, der von Wind und Regen viel zu schnell verschwand, verstand ich, dass ich eine riesige Angst hatte. Seit diese Lilien vor unserer Haustür gelegen hatten, hatte ich eine scheiß Angst – auch um mich selbst. Dass ich wieder zum Opfer werden könnte. Gedankenverloren ließ ich meine Finger in meine Hosentasche wandern und ließ sie die Haarnadel ergreifen, mit der ich hoffte, mich irgendwann mal retten zu können. Ich trug sie, seitdem ich mit ihr geübt hatte, immer bei mir, kontrollierte jeden Morgen, ob ich sie bei mir hatte. Und das alles, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass mir das im Notfall wirklich helfen konnte, viel zu gering war.
Ich hoffte einfach, dass wir nicht noch einmal mit dem ganzen Psychokram konfrontiert würden. Aber immer, wenn ich versuchte, es zu hoffen, übermannte mich die Gewissheit, dass das, was bisher passiert war, noch lange nicht alles gewesen sein würde.