Читать книгу Litersum - Musenfluch - Lisa Rosenbecker - Страница 6
Kapitel Eins
ОглавлениеDie letzten Augenblicke vor dem Betreten einer Buchwelt waren immer die schönsten.
Sobald ich mich von der Gruppe der Buchblogger und Leser löste, die sich auf dem Bürgersteig vor dem Buchladen Books by Bea versammelt hatten, und auf die Tür zuging, verstummten alle und richteten die Blicke auf mich. Nahezu greifbare Aufregung lag in der Luft. Ich drehte mich noch einmal zu ihnen um, die Klinke schon in der Hand. Sie machten einen vorsichtigen Schritt auf mich zu, die Augen glitzernd vor Vorfreude. Meine Mundwinkel zuckten, die Begeisterung war ansteckend. Doch ich musste die Kontrolle behalten. Ich atmete einmal tief durch.
»Denkt an die Regeln«, sagte ich. »Ihr habt genau eine Stunde, um euch umzusehen, dann treffen wir uns am Ausgangspunkt wieder. Ihr könnt mit den Charakteren reden und alles, was nicht anders ausgeschildert ist, anfassen. Aber es ist verboten, irgendwas aus den Kulissen, die ihr gleich betreten werdet, mitzunehmen oder etwas von euch dort liegen zu lassen.« Eine junge Frau aus der Gruppe hob die Hand. Ich wusste genau, was sie fragen wollte. »Nein, es gibt keinen Souvenirshop. Ihr dürft aber so viele Fotos schießen, wie ihr möchtet.« Mit enttäuschtem Ausdruck senkte sie den Arm. Ja, es war verschenktes Potenzial, keine Andenken zu verkaufen, aber das ließ sich nicht ändern.
Ich sah die dreizehn Anwesenden nacheinander an, doch es gab keine Fragen mehr. Mit einem Nicken drehte ich mich um. Gut. Sie waren eine ruhige Gruppe und würden hoffentlich keinen Ärger anrichten. Ich straffte die Schultern, dachte an die Buchwelt, in die ich wollte, und öffnete die Tür zum Buchladen. Nicht der Verkaufsraum des Ladens wartete dahinter auf uns, sondern die Bibliothek eines Schlosses aus einer anderen Welt. Der leicht muffige, aber unverwechselbare Duft von vergilbtem Papier strömte uns entgegen und vermischte sich mit der Londoner Stadtluft.
Hinter mir keuchte die Gruppe auf. Ich lächelte.
»Folgt mir.« Die Dielen knarzten unter mir, als ich einen Fuß auf den alten Bodenbelag setzte. Ich hielt die Tür auf und die Gruppe strömte an mir vorbei in die heiligen Hallen des Gemäuers. Noch vor einem halben Jahr hatte man uns weismachen wollen, dass Körperkontakt nötig war, um Menschen in das Litersum zu führen. Aber das war, wie vieles andere, eine Lüge gewesen.
Meine »Kunden« wagten sich zunächst nur zögerlich vor, dann wich ihre Scheu der Neugierde und ihre Bewegungen wurden selbstsicherer. Sie rissen die Augen auf, schauten sich in der Bibliothek um, die sie nur aus dem Buch The Last Dragonheart kannten, das gerade so angesagt war. Ausrufe des Staunens, teilweise auch des Unglaubens, hallten durch den Saal. Vergessen waren die Fotos und Stories, die sie hatten machen wollen. Sie genossen den Moment und ich schmunzelte darüber, als ich die Tür hinter uns schloss.
Jemand trat neben mich.
»Wie ist das möglich?«, fragte eine der Bloggerinnen, deren Account in den sozialen Netzwerken Heather Reads hieß. Der Name prangte in großen Lettern auf ihrem Shirt. »Von draußen wirkte das Haus so klein, wie kann es hier drinnen so riesig sein?«
Ich blickte hinauf zu der Decke der Bibliothek, die unerreichbar schien. Sie hing noch höher als die der ZwiBi und dort war der Anblick schon atemberaubend. Aber das hier …
»Magie«, antwortete ich und zwinkerte der jungen Frau zu.
Sie grinste und nickte. »Ich sehe schon, Zauberer verraten nie ihre Tricks.« Mit großen blauen Augen gesellte sie sich zu den anderen zurück, die durch die Gänge zwischen den Regalen streiften und sich gegenseitig versicherten, dass sie wirklich hier waren und auch dasselbe sahen.
Dabei wussten sie nicht einmal, wo »hier« war. Sie dachten, sie wären in einer unfassbar gut gemachten Pop-up-Buchwelt gelandet, die sich auf die Räumlichkeiten aus einem aktuellen Bestseller spezialisiert hatte. Doch in Wirklichkeit waren sie im Litersum – und mitten in der Geschichte, die sie so liebten. Ein Raunen ging durch die Gruppe, als sich die vermeintlichen Schauspieler zeigten. Dabei waren es die echten Charaktere aus dem Buch. Nun, so echt man als Fiktion eben sein konnte. Die Mädchen kreischten begeistert und auch die Jungen, die heute hergekommen waren, betrachteten die Charaktere staunend. Nun wurden doch die Handys gezückt und Selfies geschossen. Interessanterweise war es bei diesen wie bei den Buchcharakteren selbst – sowohl in »echt« als auch auf den Fotos sahen sie unterschiedlich aus. Je nachdem, wie sich der Betrachter einen gewissen Charakter vorstellte. Diese Tatsache war mir zumindest zum Teil schon durch meine Gespräche mit anderen Anti-Musen wie mir bekannt gewesen. Dass es sich auch auf die Fotos auswirkte, hatte ich später in den Foren erfahren, über die ich die Termine für die nächste Pop-up-Buchwelt verkündete. Dort gab es hitzige Diskussionen über das Aussehen der »Schauspieler«. Fast so ausschweifend wie vor ewigen Zeiten bei einem gewissen Kleid, das für manche weiß-gold und für andere blau-schwarz war. Zum Glück bohrten meine Kunden bei mir nicht tiefer nach und akzeptierten darüber hinaus ein paar Dinge, die unerklärlich waren, um sich selbst die Illusion nicht zu zerstören. Wie zum Beispiel, warum man den Innenraum des Ladens erspähte, wenn man kurz vor dem Besuch der Pop-up-Welt durch das Fenster nach drinnen blickte, und nicht das, was einen dann hinter der Tür erwartete. Oder wieso es ebenjener Buchladen war, der nur fünf Minuten nach den Besuchen wieder durch die Tür betreten werden konnte, während von der anderen Welt nichts mehr zu sehen war.
Vor den Terminen sorgte Lauren, die Inhaberin, dafür, dass der Eingang abgeschlossen war und sich keiner vorab in den Laden verirrte und noch verwirrter war, wenn er anschließend direkt in die Pop-up-Welt eintauchte. Eigentlich war es schade, dass die Menschen ihren Glauben an Magie selbst dann nicht zuließen, wenn sie direkt von ihr umgeben waren. Ich stieß sie mit der Nase darauf, und trotzdem suchten sie in allem die Logik oder speisten sich selbst mit fadenscheinigen Erklärungen ab. Hauptsache, nichts gefährdete ihre Realität. Dafür zogen sie sich dann doch lieber in Bücher und Geschichten zurück. Vielleicht behalf sich das Litersum aber auch mit einem kleinen Trick und pflanzte diese Zweifel an der Existenz von Magie selbst in den Köpfen der menschlichen Besucher ein, um sich zu schützen. Wer wusste schon, was geschehen würde, wenn die Menschen tatsächlich erkannten, dass es Magie wirklich gab? Nein, es war vermutlich besser so, wenn meine Kunden mit diesen schönen Lügen leben konnten.
Während sich die Buchverrückten mit den Charakteren unterhielten, die diese Besuche dank der sich bietenden Abwechslung guthießen, zog ich mich in eine Regalreihe zurück und zückte meine Geldbörse. Ich steckte die losen Scheine aus meiner Jackentasche hinein und zählte dabei sicherheitshalber noch mal nach. Doch es war alles da, jeder der heute Anwesenden hatte seine zwanzig Pfund bezahlt. Damit würde ich über die nächsten Wochen kommen.
Ich gähnte. Vielleicht sollte ich mir mal wieder eine richtige Cola gönnen, um die Müdigkeit zu vertreiben, die sich seit Wochen an mich klammerte wie eine nervende Klette. Der Konkurrenzdrink, den ich während meiner Schichten im Heartbreak Hotel zu mir nahm, war einfach nicht damit zu vergleichen. Ich überschlug kurz die noch anstehenden Kosten für die Woche und lächelte zufrieden, als mein Budget einer guten Cola zustimmte.
»Hallo, Riley«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Ich drehte mich um. River Heart, einer der Helden des Romans, in dessen Welt wir uns befanden, war wie aus dem Nichts aufgetaucht und lehnte neben mir an einem der Regale. Die Arme vor der Brust verschränkt, schaute er freundlich zu mir herab. Seine hellblonden, fast schon weißen Haare glänzten im Sonnenlicht. Kein Wunder, dass so viele der Leserinnen und Leser ihm verfallen waren. Ich kannte das Buch nicht, aus dem er stammte, hatte kein eigenes Bild von ihm, daher erschien er mir so, wie sich die Autorin ihn erdacht hatte. Bereits bei unserer ersten Begegnung waren mir seine schönen blauen Augen aufgefallen. Darauf achtete ich bei jedem, den ich traf, als Erstes. Sie enthüllten die wahre Natur einer Person. Ob Mensch oder Buchcharakter. Denn so gut Charaktere auch von ihren Schöpfern ausgearbeitet worden waren, ihren Augen fehlte doch dieses gewisse Etwas. Bei den Bureal-Kindern, die eine Mischung aus beiden darstellten, war das nicht der Fall.
»Hi«, grüßte ich zurück. »Hast du schon genug von deinen Verehrerinnen?« Ich beugte mich vor und schaute an ihm vorbei. In ein paar Meter Abstand warteten einige der Mädchen mit gezückten Handys darauf, dass er sein Gespräch mit mir beendete. Ob ihnen auffiel, dass sie hier keinerlei Empfang hatten?
»Habe ich nie«, gab River säuselnd zurück. »Ich wollte nur fragen, ob du gedenkst, deinen Teil der Abmachung einzuhalten.« Er streckte die Hand aus.
»Wie konnte ich das nur vergessen?« Ich wühlte im Chaos meiner Tasche herum, bis ich fand, was er verlangte. Er grinste, als ich ihm den Schokoriegel überreichte. Genauso wie es verboten war, Dinge aus dem Litersum in die echte Welt zu bringen, war es untersagt, Dinge aus der echten Welt in einer Buchwelt zu hinterlassen. Von einigen Ausnahmen mal abgesehen. Aber hey, es war ebenfalls verboten, Scharen an Buchverrückten in das Litersum zu führen, also machte ein Schokoriegel mehr oder weniger auch keinen Unterschied. River hatte seine Vorliebe für das süße Zeug bei seinem letzten Besuch in der echten Welt entdeckt, hatte ohne Geld und sonstige Bekannte dort aber Schwierigkeiten, ranzukommen. Deswegen hatten wir einen Deal ausgehandelt. Sein Schweigen über meine Aktivitäten in seiner Buchwelt im Gegenzug für ein paar Schokoriegel. War nur fair. Und wesentlich leichter zu erfüllen als die teilweise wahnwitzigen Forderungen anderer Charaktere aus Buchwelten, bei denen ich die Besuche dann leider nicht umsetzen konnte.
Denn auch nach den Vorkommnissen vor einem halben Jahr, bei denen eine Anti-Muse eine Buchwelt gerettet und damit unseren Ruf aufpoliert hatte, waren die Vorbehalte gegenüber den Bureal-Kindern wie mir noch immer da. Nicht jeder wollte sich mit uns abgeben, und noch weniger würden meine halb-legalen Besuche im Litersum toleriert werden, die ich seitdem aufgenommen hatte. Wobei der legale Teil daran lediglich meine Anwesenheit war. Dass ich Menschen dafür Geld abknöpfte … Es war besser, niemand erfuhr davon. Vor allem jetzt, da Mnemosyne, ich nannte sie die Herrscherin über das Litersum, und Mrs Patton von der Musenagentur eine Einheit aufbauten, die wie eine Art Polizei das Geschehen im und um das Litersum beobachtete und im schlimmsten Fall auch sanktionierte. Die dazu gegründete und im Knotenpunkt angesiedelte Taskforce META, die unter der Schirmherrschaft von Emma Holmes und Thia Watson stand, steckte noch in den Kinderschuhen, pflegte aber bereits jetzt Kontakte zur Polizei der echten Welt, um für die Zukunft gut aufgestellt zu sein. Zudem wurde sie aktuell von Bureal-Kindern und Buchcharakteren unterstützt, die Seite an Seite arbeiteten, um welten- und universenübergreifende Angelegenheiten, quasi auf der Metaebene, zu regeln. Für das Litersum hatte diese Entwicklung nur Vorteile, für jemanden wie mich eher nicht.
»Ich danke dir«, sagte River, ohne den Blick von dem Schokoriegel zu lösen. Er steckte ihn in die Tasche seiner Leinenhose, tippte sich kurz an den Kopf und zog von dannen. Seine Bewunderinnen erwarteten ihn schon. Die Mädchen wechselten sich damit ab, gemeinsam Fotos mit ihm zu schießen.
Genau eine Stunde ließ ich den Buchliebhabern, dann trommelte ich alle zum Aufbruch zusammen. Traurig, aber mit einem begeisterten Glitzern in den Augen fanden sie sich wieder vor der Tür ein, durch die wir gekommen waren. Ich zählte sie kurz durch, kam auf dreizehn und scheuchte sie zurück in die echte Welt. Sie unterhielten sich aufgeregt, zeigten sich ihre Fotos und kamen aus dem Schwärmen über die Schauspieler, die voll in ihren Rollen aufgegangen waren, gar nicht mehr heraus. Wenn sie wüssten …
»Wann gibt es wieder freie Termine?«, fragte ein Blogger, als ich die Tür hinter mir zuzog und die Verbindung zur Buchwelt kappte. Sofort verstummten alle und richteten die Blicke auf mich. Sie gingen davon aus, dass ich heute noch weitere, bereits ausgebuchte Gruppen in die Pop-up-Buchwelt führte, weshalb man nicht noch einmal spontan einsteigen konnte. Und davon, dass es pro Besuch nur dreizehn Teilnehmer sein durften, die nur eine Stunde Zeit hatten, bevor der nächste Termin anstand. Doch das waren Lügen, Vorwände, um die Besichtigungen einzugrenzen. Mein Alltag ließ einfach nicht mehr zu, die Dreizehn war meine Lieblingszahl und zu viele Besichtigungen an einem Tag erhöhten möglicherweise die Gefahr, entdeckt zu werden. Und davon hätte niemand etwas.
In Gedanken ging ich meinen Terminplan durch.
»Vielleicht in zehn Tagen«, antwortete ich. »Ihr werdet es im Forum erfahren. Ich hoffe, ihr hattet Spaß?« Erneut versanken sie in Schwärmerei und Vorfreude auf das nächste Mal. Sehr gut. So würde die Kasse weiter klingeln. Ich sah ihnen hinterher, als sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Ein paar von ihnen wollten noch etwas zusammen essen gehen.
Apropos essen … Das Heartbreak Hotel wartete auf mich. Trotz der Aussicht auf noch mehr Arbeit schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Der alte Diner mit dem Rockabilly-Charme war einer meiner liebsten Orte in London. Die pastellfarbenen Bänke und Metalltische, die alten Radios und die Jukebox, die nur noch diesen einen Song von Elvis spielen konnte – sie strahlten Vertrautheit aus. Seit Jahren war die Atmosphäre gleich, hieß mich willkommen, egal, wie sehr ich mich verändert hatte. Oder die Welt um mich herum.
Meine Schürze lag schon hinter dem Tresen bereit, als ich im Diner ankam. Sophia, die an diesem Abend mit mir die Schicht übernahm, hatte sie mir rausgelegt. Sie grüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. Es war mir ein Rätsel, wie sie es nach einem langen Tag an der Uni noch auf die Reihe brachte, zu arbeiten und fröhlich auszusehen. Mich kostete es alle Anstrengung, die Gäste mit der vorgeschriebenen Freundlichkeit zu empfangen. Denn auch wenn ich den Diner liebte, lag mir das dauernde Reden mit den Gästen nicht. Das Aufnehmen der Bestellungen, die kurzen Small Talks und die Verabschiedungen gepaart mit dem Dauerlächeln schlauchten mich. Meine kurzen Unterredungen mit den Bloggern, die sich die meiste Zeit um sich selbst kümmerten, glichen im Vergleich dazu einer Erholung. Die Müdigkeit ließ meine Muskeln jetzt schon aufstöhnen und ich hatte noch acht Stunden Arbeit vor mir, in denen die grelle Neonröhrenbeleuchtung mir in den Augen brennen würde. Ab und zu zwang ich mich hinter dem Tresen zu einem Moment der Ruhe, trank einen Schluck der Cola-Konkurrenz und atmete tief durch. In einem dieser Augenblicke gesellte sich Sophia zu mir. Sie stellte einen Stapel dreckiges Geschirr vor die Durchreiche zur Küche, wo es von den Aushilfen in Empfang genommen wurde. Mit schnellen Griffen zapfte sie sich ein Wasser aus dem Hahn und lehnte sich neben mich an die Schränke. Ich bewunderte ihre dunkelblaue Jeans, die an manchen Stellen große Löcher hatte. Es gab nicht viele, denen das stand, aber Sophia war eine von ihnen. Gepaart mit dem am Bauch zusammengeknoteten karierten Hemd passte sie ganz hervorragend zum Flair des Diners, weshalb unser Chef ihr diesen Stil durchgehen ließ. Andere Restaurantbesitzer wären an die Decke gegangen. Auch bei mir, weil ich mit einem grauen Strickpullover, schwarzen Hosen und lavendelfarbenen Chucks nicht wirklich wie eine Kellnerin aussah. Aber zum Heartbreak Hotel passte es.
Sophia deutete mit dem Kopf auf den Innenraum. »Ganz schön viel los heute.«
Ich nickte. »Man könnte meinen, wir wären die Einzigen, die heute offen haben. Als gäbe es im Rest der Stadt nichts mehr zu essen.«
»Das sind die Apfel-Pancakes. Die locken alle hierhin«, sagte Sophia und lachte. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Mein Magen knurrte wie aufs Stichwort. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, erkundigte sie sich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Keine Ahnung. Mir reicht erst mal die Cola.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Natürlich. Ich frage Joey mal, ob er ein paar Reste für uns übrig hat. Vielleicht sind wieder ein paar Pfannkuchen missglückt.«
Tatsächlich kam sie wenig später mit einem Teller voller Pancakes samt karamellisierten Apfelstücken zurück.
»Die sehen aber nicht angekokelt aus«, stellte ich fest, als ich einen ersten Bissen nahm. Sophia steckte sich schmunzelnd ein Stück Obst in den Mund. Ihre grünen Augen blitzten wissend auf. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Joey hatte die Pancakes extra für uns gemacht. Von wegen Reste … Ich holte Luft, doch Sophia ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Ich gehe heute Abend mit ein paar Freunden noch etwas trinken. Hast du Lust, mitzukommen?«
Meine To-do-Liste blinkte vor meinem inneren Auge auf. Die Grafikaufträge warteten … Ganz zu schweigen von den Kosten für einen Drink in London. »Sorry, aber heute ist es echt schlecht.«
Sophia verzog den Mund zu einer missmutigen Schnute. »Das ist es immer.«
»Ich wünschte wirklich, es wäre nicht so. Entschuldige.« Ein Paar in einer Sitzecke winkte mir zu. Ich schluckte den letzten Bissen hinunter, legte die Gabel neben den Teller und wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Die Pflicht ruft.«
Am Ende meiner Schicht taten mir die Füße weh und ich sehnte mich nach meinem Bett. Doch der Tag beziehungsweise die Nacht war noch lang. Ich legte meine Schürze in den Schrank im Hinterzimmer, bedankte mich bei Joey für das Essen und machte mich auf den Weg nach Hause. Vor der Tür zog ich meine Jacke fester um mich. Es wurde immer kälter, und schneller, als mir lieb war, würde der Winter kommen, und mit ihm die dunklen Tage, die nie zu enden schienen.
Zurück bei der Buchhandlung, durch deren Tür ich am Mittag die Buchverrückten geführt hatte, stellte ich erstaunt fest, dass im Verkaufsraum noch Licht brannte. War Lauren etwa noch immer hier? Statt zur Haustür zu gehen, die in meine Wohnung über der Buchhandlung führte, klopfte ich an die Tür von Books by Bea. Ich wollte nur kurz schauen, ob alles in Ordnung war. Vielleicht war Lauren auch wieder in einer Geschichte abgetaucht und hatte die Zeit vergessen.
Es dauerte nicht lange, bis sie nach vorne kam und mir öffnete. Ihre dunkelbraunen Haare thronten in einem losen Knoten auf ihrem Kopf. Lauren war nur ein paar Jahre älter als ich, Mitte zwanzig, und führte die Buchhandlung nun schon seit drei Jahren. Ihr Vater war überraschenderweise sehr krank geworden und er und ihre Mutter Bea, nach der der Laden benannt war, hatten die Arbeit dort aufgeben müssen. Er aus gesundheitlichen Gründen, sie, weil sie ihn pflegte. Wenn Not am Mann war, half Bea aus, ansonsten aber war Lauren mit ihren drei Mitarbeiterinnen auf sich allein gestellt ‒ und handhabte es wunderbar. Sogar jetzt, nach einem langen Tag, hatte sie noch ein Lächeln für mich übrig, als sie mir die Tür aufhielt.
»Was machst du denn noch hier?« Sie ließ mich rein und schloss hinter uns ab.
»Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast doch schon seit Stunden Feierabend.«
Laurens Augen glänzten und sie rieb sich die Hände. »Die neuen Bücher für diesen Monat sind gekommen, ich dekoriere gerade den Tisch, damit der Verkauf direkt morgen starten kann. Hast du Lust, zu helfen?«
Die To-do-Liste … Doch Lauren überließ mir die möblierte Wohnung über dem Laden zu einer Miete, die weit unter dem Niveau vom Rest der Stadt lag. Sie verlangte nie etwas als Gegenleistung, doch ich war ihr etwas schuldig. Ab und an auszuhelfen, musste drin sein.
»Klar«, sagte ich und zog meine Jacke aus. Im Laden war es angenehm warm und das Schleppen von Büchern dadurch schweißtreibender, als man meinte. Lauren trug nur ein blassrosa kurzärmeliges Shirt über der dunklen Jeans. Sie winkte mich mit sich in den hinteren Teil des Ladens in die Jugendbuch-Ecke. Auf einem Rollwagen lagen die Novitäten und warteten darauf, auf einem runden Tisch in der Mitte platziert zu werden. Lauren deutete darauf.
»Die High-Fantasy-Titel kommen auf diesen Tisch, die anderen dort drüben hin, damit bin ich aber schon fast fertig. Du kannst die übrigen Bücher stapeln und den Rest ins Regal stellen …«
»Alphabetisch sortiert nach dem Nachnamen der Autorinnen und Autoren, ich weiß.«
Sie grinste. »Sehr gut, du hast es dir gemerkt. Dann lasse ich dich kurz allein und hole die Deko. Ich habe ganz tolle Sachen auf Etsy gefunden.«
Sie verschwand im Nebenraum und ich machte mich an die Arbeit. Ob ich wollte oder nicht, ich blieb immer wieder an den Klappentexten jener Bücher hängen, deren Cover mir gefielen. Einige der Geschichten klangen sehr vielversprechend. Aber der Preis und die Zeit zum Lesen, die man nicht mit dazukaufen konnte, schreckten mich ab. Vielleicht irgendwann mal …
»So.« Lauren war zurückgekehrt, in den Händen hielt sie eine große braune Pappschachtel. Darin funkelte und blitzte es. Dolche aus Plastik, goldbesprühte Federn, glitzernde Kristalle … Sie hatte keine Kosten und Mühen gespart. Einige der Dekorationen waren bereits älter und öfter verwendet worden, andere jedoch nigelnagelneu. Die Auslage würde am Ende ein Hingucker sein. Lauren hatte immer hervorragende Ideen, um Bücher in Szene zu setzen. Sie erläuterte mir bereits ihre Pläne, während wir die Bücher vom Rollwagen auf dem Tisch platzierten. Das schmückende Beiwerk stellte sie drum herum. Ja, es sah wirklich toll aus. Dann aber hievte sie den Stapel eines Titels auf den Tisch, der keineswegs neu war. Das Cover, auf dem eine Pik-Bube-Spielkarte mit zwei identisch aussehenden Kerlen aufgedruckt war, kannte ich mittlerweile schon gut. Es ging dabei um zwei junge Zwillingsbrüder aus einer High-Fantasy-Welt, der eine ein böser Magier, der andere ein guter König.
»Lauren.«
»Ja?«, fragte sie zuckersüß und verriet damit, dass sie genau wusste, worauf ich anspielte.
»Das ist keine Neuerscheinung.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber das Buch ist noch immer zu unbekannt. Alle sollen es lesen! Das ist die Gelegenheit, um den Verkauf noch mal anzukurbeln. Es passt wunderbar zu den Neuheiten.« Sie nahm eines der Hardcover vom Stapel und strich über den Einband. »Du weigerst dich ja auch beharrlich, obwohl wir die Buchwelt schon besucht haben und sie dir gefallen hat.«
Ja, ich hatte Lauren einen Einblick in die Welt ermöglicht, die sie so verehrte. Zugegeben, auch ich war beeindruckt gewesen, aber die Zeit … Lauren hielt mir das Buch unter die Nase. »Lies es. Bitte. Ich schenke es dir. Probier es wenigstens mal.«
Zähneknirschend nahm ich ihr das Buch ab. Ich wollte keine Geschenke. Doch Laurens flehender Blick brachte mich ins Wanken. Als wir damals in der Welt von The Silver Throne gewesen waren, hatte sie mit Informationen um sich geschmissen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ihr fehlte jemand zum Austausch. Jemand, mit dem sie von diesem komischen Magier schwärmen konnte, der eigentlich der Bösewicht war, aber irgendwie auch nicht … Sie nannte ihn einen Loki-Verschnitt. Getroffen hatten wir ihn nicht, was vermutlich besser war, sonst wäre Lauren bestimmt in Ohnmacht gefallen. Wie bei dem anderen Typ aus Shadow & Fire. Oder dem aus Kingdom of Hell and Fury. Alle waren von demselben Kaliber, demselben Klischee. Bad Boys und dunkle Prinzen waren gerade in. Ein bisschen konnte ich es sogar verstehen, ich war Lucifer aus der gleichnamigen Serie verfallen … Aber bei seinem Anblick hysterisch kreischen? Nein … Vielleicht sollte ich Lauren beim nächsten Mal ein paar der Blogger und Bloggerinnen vorstellen. Unter ihnen befand sich sicherlich der eine oder andere Fan ihres Lieblingsbuchs.
»Danke«, presste ich hervor und legte den Titel beiseite. Ich freute mich wirklich. Ein neues Buch hatte ich das letzte Mal gekauft vor … Ewigkeiten. Ich nahm mir fest vor, es zu lesen, es zumindest anzufangen, sollten sich ein paar Minuten dazu finden.
Lauren klatschte in die Hände. »Lass dir nicht allzu lange Zeit, bis du anfängst. Es warten ja noch zwei weitere Bände auf dich.«
Ich schnaubte. Na super, dann würde ich vielleicht in drei Jahren mit der Trilogie durch sein …
Wir platzierten die restlichen Bücher auf dem Tisch, bis Lauren mit der Anordnung zufrieden war. Meine Arme schmerzten, meine Füße spürte ich mittlerweile gar nicht mehr.
»Wie lief es heute mit den Bloggern? Ich habe einen kurzen Blick auf sie erhascht, als ihr zurückgekommen seid. Sie sahen sehr glücklich aus.« Lauren platzierte einen Stein mit glatten Kanten und roségolden besprühte Mosaiksteinchen auf dem Tisch neben ihrem Lieblingsbuch.
»Sie haben sich artig verhalten und die Charaktere nicht angeleckt«, sagte ich und grinste. Und ja, es hatte einmal einen Vorfall in dieser Richtung gegeben. Seitdem hatte ich dort Buchwelten-Hausverbot. Lauren wusste von meinem Dasein als Anti-Muse, was eigentlich auch gegen die Regeln verstieß. Doch der Tag, an dem ich mir die Wohnung über dem Laden angesehen hatte, war kein guter gewesen. Meine Laune stand damals auf einem Tiefpunkt, ich hatte gerade einen Kuss-Auftrag versemmelt und meine Schwester … Jedenfalls rutschte es mir heraus, als Lauren mich mit mitfühlendem Blick fragte, ob es mir gut gehe. Schluchzend erzählte ich ihr alles und sie hörte mir zu. Und dann vermietete sie mir die Wohnung über dem Laden. So viel Glück hatte ich noch nie gehabt. Aber sie war so ein Mensch ‒ viel zu gut für jemanden wie mich. Oder ich ihrer nicht würdig genug, je nachdem, wie man es betrachtete. Denn ich hatte ihr nicht viel zurückzugeben. Wäre es nur nach ihr gegangen, hätte ich trotz fehlendem Abschluss und nicht vorhandener Ausbildung einen Job in Books by Bea bekommen. Ihre Mutter hatte allerdings ihr Veto eingelegt und das verhindert. Dass sie mir die Räumlichkeiten über dem Laden vermieteten, war wohl auch nur Lauren zu verdanken, ebenso meine heutige Einnahmequelle. Nach unserem ersten gemeinsamen Ausflug ins Litersum, mit dem ich mich direkt nach meinem Einzug bei ihr bedankt hatte, waren wir auf die Idee mit den Pop-up-Buchwelten gekommen und sie hatte mir ihre Buchhandlung bereitwillig als Treffpunkt und die Tür für den Übergang in das Litersum zur Verfügung gestellt. Seither kamen auch mehr Kunden her, die von den Pop-up-Welten gehört hatten und hofften, abseits der offiziellen Termine einen Blick darauf erhaschen zu können, was für Lauren gut war, weil diese Leute dann in ihrer Buchhandlung strandeten und mir ein bisschen meiner Schuld ihr gegenüber abnahmen. Redete ich mir zumindest ein.
Ich schnappte mir meine Jacke, und Lauren begleitete mich in den vorderen Verkaufsraum.
»Willst du noch einen Tee?«, fragte sie. »Oder einen Kaffee für eine Nachtschicht? Du hast ja immer was zu tun. Du könntest mir auch noch etwas über den heutigen Besuch erzählen.«
Ich lächelte matt. »Danke, aber ich brauche nichts mehr. Vermutlich gehe ich gleich ins Bett.«
»Das wäre das Beste. Du siehst echt müde aus. Dann vielleicht morgen Abend?«
»Vielleicht«, antwortete ich.
Ihren Augen sah ich an, dass sie mir das nicht abkaufte. »Oh, Moment«, sagte sie und verschwand nach hinten. Kurze Zeit später kam sie mit The Silver Throne zurück und drückte es mir in die Hand. »So leicht kommst du mir nicht davon.«
Ich nahm es ihr ab. »Das war keine Absicht.«
»Sicher.« Sie zwinkerte mir zu. »Doch an Elian kommst du nicht vorbei. Und auch Kaden und Darren warten noch auf dich! Es gibt so viele tolle Reihen zu entdecken! Und jetzt ab ins Bett mit dir.«
Ich rollte mit den Augen, verabschiedete mich und ging in meine Wohnung über dem Laden. Wobei Wohnung übertrieben war. Das winzige Einzimmerapartment war verwinkelt und voller Schrägen, aber das Einzige, was ich mir in dieser Gegend Londons leisten konnte. Und das auch nur dank Laurens Großzügigkeit. Ich legte das Buch auf das Tischchen neben dem Sofa, das auch gleichzeitig mein Bett war. Das Kissen und die Decke lagen noch genauso zerknüllt da, wie ich sie am Morgen zurückgelassen hatte. Und dennoch wirkten sie so einladend wie nie zuvor. Meine Tasche stellte ich auf den kleinen Esstisch, den ich vor allem als Ablagefläche nutzte, streifte Jacke und Schuhe ab und warf beides neben die Wohnungstür. Ich streckte mich und meine Muskeln protestierten. Doch es waren meine Füße, die mich anflehten, mich hinzulegen. Ich sah auf die Uhr. Verdammt, schon so spät. In ein paar Stunden musste ich wieder aufstehen. Mein Blick fiel auf den Boden vor der Wohnungstür. In der Unordnung hatte ich gar nicht bemerkt, dass Post gekommen war. Der Postbote hatte sie durch den Schlitz an der Tür geworfen. Ich hob einen braunen Umschlag sowie einen Brief auf.
Auf dem Umschlag stand lediglich mein Vorname in der mir bekannten Handschrift von Alexandra. Meine Mentorin aus der Musenagentur hatte mir Unterlagen für einen Auftrag vorbeigebracht. Seit den Vorfällen vor einem halben Jahr durften auch die Anti-Musen die Agentur betreten und die Akten selbst entgegennehmen, doch es war auch möglich, den alten Ablauf mit einer Mentorin als Vermittlerin beizubehalten. Da ich kaum Zeit hatte, nutzte ich diesen Service. Ich sah dann zu, dass ich den Kuss-Auftrag ausführte, wenn ich Zeit hatte, und meldete mich bei ihr, sobald sie die Unterlagen wieder abholen konnte. So vergeudete ich keine Sekunde für Botengänge durch das Litersum. Darüber hinaus hatte ich mit Alexandra kaum Kontakt, wir lagen nicht unbedingt auf einer Wellenlänge.
Eine Woche hatte ich nun Zeit, den angehenden Autor oder die Autorin zu küssen und eine Idee auszulöschen. Hoffentlich wohnte er oder sie nicht so weit weg oder in der Nähe einer Buchhandlung und ich bekam es ohne Probleme in meinem Terminplan unter.
Der zweite Brief steckte in einem Umschlag aus dickem cremeweißen Papier. Meine Adresse war in dicken Lettern aufgedruckt, oben rechts prangte ein weiß-goldenes Logo, das mir nichts sagte. Keine Briefmarke, kein Absender. Merkwürdig. Ich riss den Umschlag auf und zog den gefalteten Bogen heraus.
Es war eine Einladung für die an die Musenagentur gekoppelte Akademie, die im Sommersemester des nächsten Jahres für alle Bureal-Kinder ihre Pforten öffnen würde. Bisher waren nur die Erfinder und die Musen dort ausgebildet worden, in Zukunft sollten auch alle anderen dort aufgenommen werden. Man würde uns nicht nur bei den Aufträgen unterstützen, sondern uns auch die Geschichte des Litersums lehren sowie Inhalte, die uns in der echten Welt voranbrachten. So zumindest hieß es in dem Schreiben. Um uns einen Eindruck von den Angeboten zu verschaffen, würden wir bereits im bevorstehenden Wintersemester Schnupper- und Orientierungskurse belegen können, bevor wir uns dann für unseren weiteren Weg entschieden. Neben der Akademie oder der Rückkehr zu seinem »alten« Leben gab es auch noch andere Optionen.
Die Bureal-Kinder nutzten ihre Gaben, bis sie dreißig wurden, dann verebbte die Magie, nur die Fähigkeit zum Wandeln durch die Welten blieb bestehen. Die meisten von ihnen nahmen bereits davor oder danach normale Jobs an und suchten das Litersum später nur noch privat auf. Durch das so entstandene Netzwerk der älteren Bureal-Kinder konnten die neuen Generationen quasi überall auf der Welt einen Job finden, auch schon weit vor der dreißig. Egal in welcher Branche. Vorausgesetzt, man eignete sich dafür und besaß die entsprechenden Kompetenzen. Fürs Faulenzen wurde man nicht belohnt. Auch ich hätte möglicherweise von diesen Kontakten profitieren können, doch das stand für mich außer Frage. Ich wollte mich nicht auf andere verlassen. Ich wollte mit meinen eigenen Fähigkeiten, meinen eigenen Qualitäten – so karg sie auch sein mochten – überzeugen und mich aus eigener Kraft um mich kümmern. Und bei einem Job, den ich schlussendlich nur über das berühmte Vitamin B bekommen hätte, wäre das nicht der Fall. Damit würde ich mich nicht gut fühlen und das war es mir nicht wert. Zumal ich bezweifelte, dass mein Werdegang für irgendetwas ausgereicht hätte.
Ich las mir das Schreiben zwei Mal durch. Dort stand, dass der Besuch der Akademie angeblich nichts kostete, aber nichts darüber, wie lange eine Ausbildung dauerte. Es wurde auf eine Infoveranstaltung verwiesen, die in einem Monat stattfinden sollte. Dort werde man alle weiteren Fragen beantworten und genauer auf die Pläne für die Zukunft eingehen. Man freue sich auf uns und werde sich um uns kümmern.
Ich faltete den Brief zusammen und ging zur Küchenzeile. Die Post legte ich auf dem Tisch ab. Aus dem Kühlschrank holte ich mir eine Dose Cola, öffnete sie und trank einen Schluck. An die schmale Theke gelehnt betrachtete ich die Einladung.
Es waren viele Versprechungen, die sie machten. Große. Ob sie sie einhalten würden … zweifelhaft. Versprechen glitten schnell über die Lippen, bauten Erwartungen auf. Und wenn sie gebrochen wurden und die Hoffnung verpuffte, rissen sie mehr als das mit sich. Ein Stück Herz. Ein Stück Vertrauen.
Ich trank die Cola leer und ließ den Brief links liegen.
Unter meiner Bettdecke fand ich meinen Laptop, der beim Hochfahren aus dem letzten Loch pfiff.
»Lass mich nicht im Stich, Thor.« Das alte Gerät sprühte ab und an ein paar Funken, wenn ich das Ladekabel anschloss, daher der Name. Er hatte sich schon so verhalten, als ich ihn im Secondhandladen kaufte.
Doch der Gott des Donners fuhr ohne Murren hoch. Ich checkte meine Mails und fand zwei neue Grafikaufträge vor: ein Flyer für eine Party sowie eine Save-the-Date-Karte für ein junges Paar. Die Party war bereits in einer Woche, das Design brauchte der Käufer idealerweise bis zum nächsten Tag. Für die besonders eiligen Sachen bekam ich mehr Geld und ich grinste. Dann schaute ich auf die Uhr und stöhnte. Die Mail war von gestern.
Er benötigte den Flyerentwurf heute. Ich startete das Designprogramm, das ewig zum Laden brauchte, und holte mir in der Zwischenzeit noch eine weitere Cola. Es würde noch eine lange Nacht werden. Auf meinem Rückweg zum Sofa kam ich an dem Beistelltisch vorbei, auf dem das Buch lag.
»Irgendwann klappt es noch mit uns beiden. Oder damit, etwas trinken zu gehen. Oder mit dem belanglosen Geplauder bei einer Tea Time. Irgendwann.« In einer anderen Zeit. Einem anderen Leben. Ich nahm einen Schluck aus der Dose und machte mich an die Arbeit.