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Kapitel Vier

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Clints Rüge über mein Zuspätkommen fiel kurz, aber heftig aus. Er ließ mich mit einer Warnung davonkommen, weil sonst auf mich Verlass war. Noch nie war ich zu einer meiner Schichten oder einem anderen Job zu spät erschienen und es würde ganz sicher nicht noch mal vorkommen. Das schlechte Gewissen sowie die Angst, dass ich damit alles aufs Spiel setzte, waren viel zu groß. Ich nahm mir fest vor, in Zukunft nie wieder die Zeit aus den Augen zu verlieren.

An diesem Tag strengte ich mich im Diner besonders an. Ich schenkte den Gästen ein Lächeln, streute hier und da ein paar Komplimente in die Gespräche ein und gönnte mir außer ein paar kurzen Trinkpausen keine Auszeit. Clint sollte nicht auf die Idee kommen, dass er mit jemand anderem besser beraten wäre als mit mir. Sophias sorgenvolle Blicke entgingen mir nicht, aber ich ignorierte sie. Wenn ich ihr erklärte, wieso ich zu spät gekommen war, würde sie mir ohnehin nicht glauben. Ganz zu schweigen davon, dass ich damit einen weiteren Regelbruch begehen würde, den ich mir nicht leisten wollte. Die ganze Sache mit den verschwundenen Bloggerinnen war schlimm genug und jeder weitere Fehltritt wäre meine eigene Schuld. Nein. Es reichte. Ich musste das alles abhaken und darauf bauen, dass Noah und George des Rätsels Lösung fanden. Und das Mädchen. Wo sich Anna wohl gerade aufhielt? Vielleicht war sie sogar in einer Buchwelt, die sie mochte? Vielleicht sorgten wir uns unnötig und sie machte gerade eine wunderbare Erfahrung? Schön wäre es … Aber es war nicht richtig. Und ich hatte doch irgendwie schuld daran, da sie nur meinetwegen überhaupt in Kontakt mit dem Litersum gekommen war.

»Woran denkst du?« Sophia tauchte neben mir auf, als ich gerade ein paar Gläser in die Spülmaschine hinter dem Tresen räumte.

»Daran, dass ich so ein Industrie-Teil auch zu Hause gebrauchen könnte. Nur zwei Minuten und alles ist supersauber.« Quietschend gab die Klappe der Maschine dem Druck meiner Hände nach und rastete mit einem Klicken wieder in geschlossener Position ein.

»Aha. Und woran denkst du wirklich?«

»An den Dienstplan für die nächsten Tage. Ich hoffe, dass ich am Mittwoch Frühdienst oder frei habe.«

Sophia hob die Augenbrauen. »Du und das Wort ›frei‹ in einem Satz? Dass ich das noch erleben darf! Was hast du denn vor?«

»Das Straßenfest bei mir zu Hause findet wieder statt. Und Lauren hat mich darum gebeten, ihr im Laden auszuhelfen. Ich wollte zumindest mal nachfragen. Aber nach der Pleite heute traue ich mich nicht. Jetzt kann ich nur noch hoffen.«

»Soll ich mal mit Clint reden?«

»Das ist lieb, aber nein danke. Das muss ich schon selbst ausbaden.«

Schulterzuckend sagte Sophia: »Wenn du meinst.«

Die restliche Schicht verlief zum Glück ereignislos. Meine Wangen schmerzten von dem ständigen Lächeln und ich fragte mich, wie andere Menschen das freiwillig dauerhaft aushielten. Meine Füße reihten sich in das Klagen meiner Muskeln ein und ich hätte mich am liebsten sofort auf den Boden des Diners geschmissen und geschlafen, als meine Pflichtstunden vorbei waren. Da ich die verlorene Zeit hinten dranhängte, endete meine Schicht später als sonst und die Müdigkeit zermürbte mich. Ich schaffte es gerade noch so, die Schürze in den Wäschekorb zu werfen und mich bei der Küchenmannschaft zu verabschieden, ehe ein langes Gähnen Besitz von mir ergriff.

Mit hängenden Schultern machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich bemerkte erst spät, dass ich bei den jungen Frauen, die mir dabei begegneten, nach dem Gesicht von Anna suchte. Vielleicht war sie ja doch schon wieder aufgetaucht?

Zu Hause angekommen, verlief mein erster Gang wie immer zum Kühlschrank. Der Deckel der Cola-Flasche gab zischend nach und ich trank einen schnellen Schluck daraus, ehe ich sie auf dem Beistell­tisch neben dem Sofa abstellte. Ich ließ mich in die Kissen fallen und kramte nach Thor, der nach kurzem Flackern meinem Willen nachgab und hochfuhr.

Die Seite des Forums war noch immer im Browser geöffnet, ein Klick und sie frischte sich auf. Doch die neuen Kommentare, die sich unter dem Beitrag gesammelt hatten, lieferten nicht das gewünschte Ergebnis. Ganz im Gegenteil. Anna war noch immer weg und ihre Freundin auf der Suche nach ihr. Die Eltern hätten sich schon mit der Polizei in Verbindung gesetzt, die allerdings erst drei Tage nach einem vermeintlichen Verschwinden aktiv wurde. Einen Tag noch also, bevor auch die reale Welt anfing, nach Anna zu suchen – und vermutlich ins Leere laufen würde. Natürlich konnte es sein, dass Anna aus freiem Willen abgehauen und den Kontakt zu Freunden und Familie abgebrochen hatte. Aber die Tatsache, dass bereits zwei andere Bloggerinnen, die ebenfalls mit mir in Kontakt gestanden hatten, zeitweise auch wie vom Erdboden verschluckt gewesen waren, machte das doch unwahrscheinlich. Ich griff nach der Cola und hielt mir das kühle Glas der Flasche an die Stirn. Ein Schauder überlief meinen Rücken, und meine angespannten Muskeln protestierten angesichts dieser Anstrengung. Wie um alles in der Welt konnte so etwas nur passieren? War das vielleicht alles nur ein Traum und ich würde jeden Moment aus einem Zuckerschock erwachen, unter einem Berg voll Arbeit, der mich unter sich begraben hatte? Ich rieb mit meiner freien Hand über den Sofabezug und tippte im Anschluss mit dem Zeige­finger auf Thor. Ein winziger Funken blitzte auf und verpasste mir einen kleinen Schlag. Sonst passierte nichts. Ich war also tatsächlich wach. Aus meiner hinteren Hosentasche zog ich das zusammen­gefaltete Foto von Anna, das ich von Noah bekommen hatte. Ich breitete es auf dem Tisch aus und fuhr die Faltlinien mit dem Finger nach. Annas Augen schienen meinen Bewegungen zu folgen.

»Wo bist du nur?« Keine Antwort. Wie auch, ich lebte schließlich nicht in Hogwarts, wo es sprechende Bilder gab. In diesem Moment hätte ich aber so ziemlich alles dafür getan, an die Karte des Rumtreibers für das Litersum zu kommen, um Anna zu finden. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Aber irgendwie ist es meine Schuld, dass du verschwunden bist, oder?« Wieder keine Reaktion. Nur das Gluckern des Kühlschranks, das Bitzeln meiner Cola und die Geräusche der Straße plätscherten auf mich ein. War Anna so allein wie ich in diesem Moment? Fühlte sie sich einsam? Wie musste es für sie sein in einem Universum, in dem es nichts Vertrautes gab wie das wässrige Gemurmel eines alten Kühlschranks, der manchmal unter Schluckauf litt? Mein Herz zog sich zusammen, als sich vor meinen Augen das Bild eines Mädchens manifestierte, das sich in eine Decke geschlungen in einer Ecke eines dunklen Zimmers zusammenkauerte und wartete. Auf etwas, irgendetwas, was die Dunkelheit durchbrach und sie fortbrachte. Irgendwohin, nur weg von hier. Nein, das war nicht Anna, aber so könnte sie sich fühlen, in genau diesem Moment. So wie ich mich damals gefühlt hatte …

Dein Selbstmitleid kannst du dir sparen, tadelte ich mich. Diese Zeit, dieses Verhalten war vorbei. Anna war es, der geholfen werden musste. Ich stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Nur nicht zurückwerfen lassen. Immer nach vorne sehen. Ich nahm das Foto und hängte es mit ein paar Klebestreifen, die ich in einer Schublade in der Küche aufbewahrte, an die Wohnungstür. Ich wollte mir ihr Gesicht einprägen, damit ich sie zwischen anderen wiederfand, falls ich sie sehen sollte. Egal ob in der echten Welt oder im Litersum. Ihre Augen kamen auf dem Bild nicht so schön zur Geltung, das war bei Fotos immer schwer, aber ich würde sie bestimmt wiedererkennen. Falls ich sie denn jemals wiedersah. Ich drückte ihr und auch Noah und George die Daumen, dass sie sie bald gesund und munter fanden.

Meine Augen waren trocken, trotzdem setzte ich mich noch an den Laptop und arbeitete einige Grafikaufträge ab, die sich angesammelt hatten. Als ich ununterbrochen zu blinzeln anfing und das Gähnen zum Dauerzustand wurde, gab ich auf. So machte es auch keinen Sinn. Ich schaltete mein Handy ein, um den Wecker zu stellen, und entdeckte eine Nachricht von Sophia, die schon ein paar Stunden alt war. Es ging um die Schichten im Diner, an die ich gar nicht mehr gedacht, geschweige denn nachgesehen hatte, als ich gegangen war.

Clint hat den neuen Arbeitsplan vorhin aufgehängt und mir auch per Mail geschickt, weil ich schon weg war. Schon gesehen? Du hast am Mittwoch die Frühschicht. Mit dem süßen Mike. ;)

Das waren ja ausnahmsweise mal gute Nachrichten. Und zwar nur das mit der Frühschicht. Mit Mike konnte ich nichts anfangen, auch wenn alle anderen Mädels ihn so toll fanden. Egal ob Angestellte oder Gast. Und seine Augen waren bei Weitem nicht so schön wie die von …

Stopp. Diesen Gedanken führst du nicht weiter aus. Das ist die Müdigkeit, vielleicht träumst du schon. Bei klarem Verstand wäre dir das jetzt nicht in den Sinn gekommen. Zu kraftlos, um den Schlafanzug anzuziehen, kroch ich unter die Decke und schlief augenblicklich ein.

Wäre ich Dornröschen und mein Wecker der Prinz in schimmernder Rüstung – ich hätte ihm nach seinem Kuss eine reingehauen. Viel zu früh und viel zu unsanft riss er mich mitten aus einem Traum, an den ich mich direkt nach dem Aufwachen schon nicht mehr erinnern konnte. Ein paar Sekunden lang kämpfte ich darum, die Orientierung zurückzugewinnen, dann wankte ich ins Bad. Halbwegs wach schlüpfte ich in frische Klamotten. Und täglich grüßte das Murmeltier. Die Zeitungen trugen sich nicht von allein aus. Beim Rausgehen erschrak ich kurz, als ich das Foto von Anna entdeckte. Dann fiel mir wieder ein, wieso es dort hing. Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildete.

»Pass bloß auf dich auf.«

Der kalte Wind pfiff mir um die Ohren, als ich auf die Straße trat. Ich fasste meine langen Haare zu einem lockeren Zopf zusammen und zog meine Mütze über. Schnell stopfte ich die letzten losen blonden Strähnen unter den Stoff, damit sie mich nicht kitzelten. Das machte mich auf Dauer wahnsinnig. Ich rieb mir über das Gesicht und meine müden Augen brannten, als ich sie wieder öffnete. Im angelaufenen Spiegel hatte ich mich nicht wirklich gesehen, trotzdem überraschte es mich nicht, als sich Fred an diesem Tag einen Kommentar nicht verkneifen konnte. Er schob gerade einen Wagen voller Zeitungen aus dem Lager und rollte ihn mir vor die Füße. Ohne mich aus den Augen zu lassen, wischte er sich die tintenbefleckten Hände an seiner alten Jeans ab.

»Du siehst ziemlich fertig aus.«

»Danke, sehr reizend von dir.«

Aus einem Ordner auf einem kleinen Beistelltisch zupfte er den Routenplan für heute raus und streckte ihn mir hin. Wer zu spät kam, für den blieben nur noch die unbeliebten Strecken mit den schwierigen Kunden, allerhand kratzbürstigen Hunden und schwer zugänglichen Vorgärten und Briefkästen. Heute allerdings war es mir egal, welche Straßen ich abklappern musste, Hauptsache, es war schnell wieder vorbei. Kurz bevor ich den Plan in die Finger bekam, zog Fred ihn weg.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht? Hast du was genommen? Brauchst du Hilfe?« In seinen grauen Augen lag Sorge. Aber eher von jener Art, die man sich um zu ersetzende Mitarbeiter machte, nicht solche, die man aus Empathie zu anderen empfand.

Ich schüttelte den Kopf. »Hör zu. Wenn du willst, pinkele ich dir in einen Becher. Außer zu hohe Werte an Koffein und Zucker wirst du darin nichts finden.«

Fred verzog angewidert das Gesicht. »Danke, ich verzichte. Aber sollte ich mitbekommen, dass du lügst und vielleicht andere da mit reinziehst, kannst du gleich zu Hause bleiben. Haben wir uns verstanden? Ich kann keine Drogen in meiner Firma gebrauchen.«

Hatten sich alle gegen mich verschworen? Das war nun schon die dritte Warnung in wenigen Tagen. Oder war ich gerade einfach nur furchtbar gut darin, mich in Schwierigkeiten zu bringen? Ich atmete tief durch, ehe ich etwas von mir gab, was ich bereuen würde.

»Tut mir leid. Ich verspreche dir, ich konsumiere keine Drogen. Und ich handele nicht damit. Es ist nur Müdigkeit.« Bevor er es sich anders überlegen konnte, nahm ich den Griff des Zeitungswagens in eine Hand und streckte die andere aus. Fred fuhr sich mit den Fingern durch den dichten Bart und verteilte etwas von der Tinte darin.

»Na gut«, sagte er. »Ich glaube dir. Aber du solltest dringend mal schlafen, Mädchen.« Er hielt mir das Blatt hin, ich schnappte es schnell, ehe er es sich anders überlegen konnte.

»Sobald mich jemand dafür bezahlt, mache ich das.«

Kopfschüttelnd wandte sich Fred ab und ich begab mich auf meine Route, die heute fast doppelt so lang war im Vergleich zu sonst, aber auch entsprechend mehr Geld brachte.


Meine Finger waren eisig, als ich Stunden später zu meiner Wohnung zurückkehrte. Mittlerweile war es später Morgen, doch hartnäckige Wolken verdeckten die Sonne, als wollten sie deren wärmende Strahlen ganz für sich allein. Wenn der Winter kam, würde die Kälte Alltag werden. Vielleicht sollte ich dann endlich mal meine Magie anwenden und an ganz schlimmen Tagen in andere Länder flüchten, in denen Sommer herrschte. Neuseeland zum Beispiel. Möglich wäre es. Ich konnte jederzeit dorthin. Doch die Arbeit mitzunehmen war nicht drin, und die Grafikaufträge allein würden mich niemals über Wasser halten. Und Auswandern … Nein. Unmöglich. Ich hatte es bisher nicht mal weiter als ein paar Blocks von meinem alten Zuhause geschafft, obwohl ich theoretisch überall hätte hinziehen können. Der Plan war ursprünglich ein anderer gewesen. An meinem achtzehnten Geburtstag wollte ich eigentlich so weit wie möglich weg von meinem alten Zuhause und meiner Mutter fliehen … Aber als der Tag dann kam, konnte ich es nicht durchziehen. Ich brachte es nicht über mich, sie im Stich zu lassen, und wenn ich zu weit weg war, fühlte es sich genau so an. Obwohl ich ihr nichts schuldig war, wollte ich in der Nähe sein, falls es einen Notfall gab. Und der würde früher oder später eintreten, so wie meine Mutter lebte … Die entsprechenden Stellen hatten meine Nummer und konnten mich kontaktieren. Keine Ahnung, was mich damals geritten hatte, sie ohne das Wissen meiner Mutter zu verteilen, aber nun war es so und ließ sich nicht mehr ändern. Ich hatte mir selbst ein paar Fesseln angelegt, jetzt musste ich damit leben.

Aber ein Ausflug könnte drin ein. Gerade jetzt, da die Pop-up-Buchwelten nicht mehr zur Verfügung standen.

Wofür du auch immer noch einen Ersatz brauchst.

Manchmal hasste ich mein Gewissen. Fast genauso sehr wie meinen Wecker.

Wie um sich für diesen Gedanken zu rächen, ratterte mein Hirn eine Liste von Dingen herunter, die es noch zu tun gab. Grafikaufträge. Schichten im Diner. Aufräumen. Den Kuss-Auftrag. Lauren beim Straßenfest unterstützen.

Ich brauchte eine Cola. Ganz schnell. Doch vorher wollte ich Lauren noch die guten Nachrichten überbringen. Der Laden war mittlerweile geöffnet, doch so früh verirrten sich kaum Kunden hierher. Erst in und nach der Mittagspause wurde es voller. Umso überraschter war ich, als ich Lauren im Laden im Gespräch mit zwei Kunden vorfand, die mit dem Rücken zum Eingang standen. Beim Läuten der Türklingel drehten sich alle drei um.

»Ich bin gleich bei Ihnen … Oh, Riley! Du kommst wie gerufen!« Lauren schob sich an den beiden Männern vorbei und kam zu mir. Doch ich achtete gar nicht auf sie, denn erst jetzt erkannte ich die beiden Lederjacken … Noah und George waren zurück. Ihre Gesichter zeigten kaum eine Regung, als sich unsere Blicke trafen. Lediglich Noahs Miene verfinsterte sich, als er mich von oben bis unten musterte. Dann schob sich Lauren in mein Sichtfeld.

»Deine Lippen sind ganz blau«, sagte sie vorwurfsvoll und griff nach meiner Hand. »Und deine Finger auch. Wieso hast du deine Handschuhe nicht mitgenommen? Es wird morgens doch stetig kälter. Hier, trink erst mal einen Tee.«

Lauren zog mich mit sich zur Kasse. Auf einem Beistelltisch stand ein Tablett, darauf ein Stövchen mit einer Kanne. Sie schenkte mir eine dunkelbraune, herb riechende Brühe in eine Tasse und drückte sie mir in die Hände. Erst fühlte es sich fürchterlich heiß an, dann gewöhnte ich mich dran und genoss die wunderbare Wärme, die meinen Fingern wieder Leben einhauchte.

»Trink!«, forderte sie mich auf und ihr zuliebe kam ich der Aufforderung nach. Es schmeckte ganz widerlich, aber erfüllte seinen Zweck. Der Tee wärmte mich von innen wie von außen. Noah und George verfolgten das Ganze schweigend. Nichts an ihnen verriet, warum sie hier waren. Ob es gute oder schlechte Gründe hatte.

»Hi«, sagte ich deshalb nur, als ich meine Finger wieder spürte. Sowohl George als auch überraschenderweise Noah ließen sich zu einem kleinen Lächeln hinreißen, als sie meine Begrüßung erwiderten. Unsicher darüber, was ich als Nächstes tun sollte, nahm ich einen weiteren langen Schluck der braunen Brühe, die sich wohl Darjeeling schimpfte. Das zumindest behauptete der Aufkleber auf dem goldenen Päckchen, das neben der Kanne auf dem Tablett stand.

»Wir sind wegen Lauren hier«, meinte George.

Mein Herz sackte mir in die Knie. »Wie… Wieso das?«

Lauren legte eine Hand auf meinen Rücken. »Keine Sorge, sie brauchen nur meine Hilfe.«

Ich sah zwischen den dreien hin und her. »Wobei?« Wollten sie Lauren über mich ausfragen? Um doch noch einen Grund zu finden, damit sie mir die Schuld an allem geben konnten?

Noah streckte seine Hand aus. Auf der Innenfläche lag ein merkwürdiges Ding. Ein schmales Glasröhrchen, ungefähr so lang wie Noahs Zeigefinger, eingefasst von gravierten Metallscheiben auf beiden Seiten. In dem Röhrchen schwappte eine klare Flüssigkeit, die je nach Einfall des Lichts in schillernden Farben glitzerte. »Das kann uns vielleicht dabei helfen, Anna zu finden.«

»Was ist das?«

»Es hat keinen Namen.«

Stirnrunzelnd sah ich zu ihm auf. »Und woher hast du es?«

»Von Malou.«

»Du meinst die Anti-Muse, die vor einem halben Jahr quasi alles auf den Kopf gestellt hat?«

»Wenn du es so nennen willst.«

»Und wo hat sie das Ding her? Geklaut?«

Noah hob das Kinn und zog die Brauen zusammen. Schmeckte ihm der Witz etwa nicht? Dabei hatte er selbst noch vor ein paar Tagen darauf angespielt, dass die Anti-Musen, die man früher auch Diebinnen genannt hatte, Dinge entwendeten und verschwinden ließen. Er schien nicht gerade ein Fan von uns zu sein. Dass er in so einer wichtigen Sache dann doch eine Anti-Muse um Hilfe bat, war umso seltsamer, wobei ja auch die Taskforce aktuell von einer Anti-Muse geleitet wurde. Wir starrten uns an wie zwei Kinder, die sich ein Blickduell lieferten. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Jetzt bot sich für ihn die Gelegenheit, rauszuhauen, was ihn an den Anti-Musen störte. Ich wollte es hören, ihm Widerworte geben. Ihm all das vor den Latz knallen, was ich all jenen sagen wollte, die mich arrogant ansahen, mich aber nie getraut hatte. Ich biss mir auf die Lippe, um die Worte zurückzuhalten, die mir schon auf der Zunge lagen. Noahs Blick huschte zu meinem Mund, nur für eine Sekunde. Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir wurde auf eine ganz andere Art warm. Ich ertrug das herausfordernde Funkeln seiner Augen nicht mehr und drehte den Kopf weg.

Lauren grinste breit, wohingegen George mit übertriebener Intensität das Etikett der Teeverpackung neben der Kanne untersuchte.

»Sie hat es zusammen mit Mnemosyne entwickelt«, sagte Noah mit belegter Stimme. »Es handelt sich dabei um Wasser aus der Quelle Hippokrene aus der Heimat der Musen, dem Berg Helikon. Es besitzt wohl magische Eigenschaften, die durch die Symbole auf der goldenen Fassung steuerbar sind. Mithilfe des Quellwassers lässt sich ›Falsches‹ aufspüren.« Es gefiel mir nicht, wie er mich dabei ansah. Zum Glück sprang Lauren mir zur Seite.

»Was genau bedeutet das?«

»Es bedeutet«, mischte sich George ein, »dass wir damit in der Lage sind, Auren aufzuspüren, die sich in den falschen Welten befinden. Gib mal her.« Er nahm Noah das Ding ab und drehte an den Scheiben der Fassung.

»Halt!« Ich streckte die Hand aus und legte sie auf die von George. Der sah überrascht auf, hielt aber in der Bewegung inne. »Können wir das vielleicht im hinteren Verkaufsraum machen? Wo uns nicht jeder von draußen aus sieht?«

George blinzelte, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, dass es noch andere Menschen gab außer uns. »Natürlich. Entschuldigung.«

Lauren deutete mit dem Daumen in die Richtung des kleinen Büros hinter der Kasse. »Wenn ich es richtig verstanden habe, wird dieses Experiment den ganzen Tag in Anspruch nehmen, oder? Dann sage ich den Mädels kurz Bescheid, dass sie den Laden heute ohne mich schmeißen müssen.«

»Experiment?«, hakte ich nach.

»Das werden die beiden dir sicher gleich erklären. Geht schon mal vor.«

Hinten angekommen stellte ich erfreut fest, dass sich der Tisch mit den Neuerscheinungen schon gut geleert hatte. Die neuen Bücher schienen gut zu laufen. Ob ich mir wieder den Dolch oder den Stein schnappen sollte? Nur zur Sicherheit? Wer weiß, was für ein »Experiment« sich die beiden Möchtegern-Detektive da ausgedacht hatten?

»Wie seid ihr beide eigentlich bei der Taskforce gelandet?«, fragte ich.

»Wir haben uns freiwillig auf einen Aufruf gemeldet«, antwortete George. »Ich war beziehungsweise bin in meinem Buch nur ein langweiliger Stubenhocker und dachte, ich ändere mal was dran. Die Worte von Tom Almon, der vor einem halben Jahr in einer fremden Geschichte gestorben ist, haben mich nachdenklich gemacht und mich dazu inspiriert, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, soweit möglich.«

Noah sah nicht so aus, als ob er etwas ergänzen wollte, also redete ich weiter.

»Kanntet ihr euch vorher schon?«

George grinste. »Nein. Aber dazu ist die Taskforce ja da. Um Brücken zwischen den Bewohnern des Litersums und der echten Welt zu bauen. Wir verstehen uns echt gut. Nur wenn man ihm seine Skittles wegisst, wird Noah ungehalten.«

»Skittles, mhm?«, neckte ich und musste schmunzeln. »Na ja, ich würde meine Cola auch nicht mit jedem teilen, ich kann das schon verstehen.«

Noah warf George einen selbstgefälligen Blick zu. Bevor ich ihn noch mal fragen konnte, warum er bei der Taskforce war, kam Lauren zurück.

Sie war ganz in ihrem Element und stieß mitsamt Tablett und Tee zu uns. Sie drückte mir eine weitere volle Tasse in die Hand und flüsterte, sodass nur ich es hören konnte: »Wann hast du das letzte Mal etwas Anständiges gegessen? Du bist fürchterlich blass.«

Ich nahm ihr die Tasse ab. »Gestern Abend im Diner«, log ich. Ehrlich gesagt erinnerte ich mich nicht. Ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie mir nicht glaubte, und wollte sie beruhigen. »Sobald die halbe Boyband wieder weg ist, koche ich mir was. Versprochen.«

Sie grunzte zufrieden. Das Loch in meinem Magen wurde noch größer. Aber nicht vor Hunger. Ihr Verhalten war dem meiner Schwester Jamie manchmal so ähnlich. Es erinnerte mich an Zeiten, die gleichzeitig schlechter und besser gewesen waren als heute. Die mich immer wieder in ein Wechselbad der Gefühle abtauchen ließen, wenn ich an sie dachte. Am Ende aber stand ich doch immer noch allein da und nichts hatte sich geändert.

»Also«, sagte ich, »was habt ihr mit dem Ding ohne Namen und seiner geheimnisvollen Magie vor?«

George drehte erneut an den Scheiben und stellte eine mir nicht verständliche Reihenfolge der Symbole ein. Er beobachtete Laurens Reaktion und lächelte stolz, weil sie seinen Bewegungen fasziniert folgte. Anschließend streckte er die Hand aus und balancierte das Ding auf der Innenfläche. Zunächst passierte nichts, dann kam Bewegung in die Flüssigkeit. Wie ein in Glas gebannter Sturm tobte sie in ihrem kleinen Gefängnis, schlug in Wellen gegen die Wände und schäumte. Von einer Sekunde auf die andere verfärbte sich das Wasser. Die nun indigoblaue, fast schwarze Flüssigkeit hüllte Georges Hand in Schatten. »Ich gehöre nicht in diese Welt, in dieses Universum. Und das Wasser kann es anhand meiner Aura ›spüren‹ und reagiert darauf.«

»Wow«, hauchte Lauren und starrte mit großen Augen auf das magische Ding. »Darf ich mal?«

George reichte den Gegenstand an Lauren weiter. Kaum lag er auf ihrer Hand, wurde das Wasser im Glas wieder farblos.

»Oh nein! Habe ich es kaputt gemacht?«

»Nein«, beruhigte George sie und drückte sie kurz am Arm. »Du bist in dieser Welt hier genau richtig, deswegen erkennt es dich nicht als ›falsch‹. Um genau das – und etwas anderes – zu testen, sind wir hier.« Er fuhr mit den Fingern über die Drehscheiben und positionierte sie neu. Dabei berührten seine Finger ihre Haut. Lauren wurde regungslos, ihre Wangen röteten sich. George bekam das nicht mit oder ließ es sich jedenfalls nicht anmerken. Er zog die Hände zurück, als er neue Symbole auf dem Gegenstand eingestellt hatte. Doch nichts passierte. Wie gebannt starrten wir auf die Flüssigkeit, die sich nicht regte.

»So wie es sein soll«, murmelte Noah. Mir dämmerte, wieso sie hier waren. Wieso sie Laurens Hilfe brauchten und wozu das magische Ding gut sein sollte.

»Ihr wollt sie mit ins Litersum nehmen und testen, ob man ihre Aura dort auslesen kann. Und gegebenenfalls auch verfolgen.«

Noah nickte mir anerkennend zu. »Richtig. Das hier ist ein Proto­typ, den Malou gemeinsam mit Mnemosyne und Mrs Badham, der Bibliothekarin der Londoner ZwiBi, entwickelt hat. Er soll beim Aufspüren von Buchcharakteren in der echten Welt helfen. Nachdem wir gestern über die Auren gesprochen haben, ist mir wieder eingefallen, dass an so etwas gearbeitet wird. Und ich dachte mir, vielleicht kann man es auch andersherum nutzen. Um Menschen im Litersum zu finden.«

Breit grinsend klopfte George ihm auf die Schulter. »Ist eben ein Erfinder, der Gute.«

Noah rollte mit den Augen, aber einer seiner Mundwinkel zuckte verdächtig.

»Die Musen stehen bestimmt bei dir Schlange, um an eine Idee von dir zu kommen, oder?« Lauren kicherte und wurde dann rot. »Oh … ähm. Also das sollte jetzt nicht irgendwie zweideutig klingen oder so.« Hilfe suchend sah sie zu mir.

Ich hob abwehrend die Hände. »Ich habe keine Ahnung, wie das läuft. Sorry.« Schmunzelnd blickte ich zu Noah, weil ich gegen meinen Willen neugierig war, ob das der Wahrheit entsprach. Seine Lippen waren zusammengepresst, die sonst so schönen Augen schimmerten unheilvoll. Jeglicher Kommentar blieb mir angesichts des finsteren Ausdrucks im Hals stecken.

»Alle Musen sind Diebinnen, auf die eine oder andere Art«, presste er hervor. Bevor jemand weitere Fragen stellen konnte, hatte er sich umgedreht und lief Richtung Ausgang. »Wir sollten gehen, jede Minute zählt. George, du nimmst Lauren, wir treffen uns im Hauptquartier«, befahl er seinem Kollegen. Wenige Augenblicke später erreichte er die Ladentür, zog sie ohne Umschweife auf und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Total perplex verharrten wir an Ort und Stelle. Er hatte uns einfach stehen lassen. George schüttelte den Kopf. »Im einen Moment ist er so schlau, im nächsten vergisst er jegliche Gesetzmäßigkeiten«, murmelte George und nahm Lauren das magische Ding ab. »Ich kann Lauren nicht mitnehmen. Ich selbst kann ja nicht mal ohne Hilfe ins Litersum zurück, wenn ich ohne Ticket unterwegs bin. Vorerst bin ich für meine Arbeit bei der Taskforce noch auf Noah angewiesen, bis eine andere Lösung gefunden wurde.« Er griff in seine Jackentasche und zog ein Handy hervor. Lauren sah fragend zu mir.

»Ich kann euch mitnehmen«, warf ich ein und George ließ das Handy sinken. »Ich werde Lauren ins Litersum bringen. Und später wieder nach Hause. Sie geht mit mir rein und auch mit mir wieder raus.« Ich trat an die Seite meiner Freundin und sie lächelte mich dankbar an. Ich hätte sie ohnehin nicht der halben Boyband überlassen. Meinetwegen steckte sie überhaupt hier mit drin, also würde ich mich auch darum kümmern, dass ihr nichts passierte. Ein Nicken war die einzige Antwort. Ich öffnete die Tür und wir folgten George in den Knotenpunkt.

Litersum - Musenfluch

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