Читать книгу Mami Staffel 10 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 6
Оглавление»Guten Morgen, Marion. Ich habe Brötchen geholt, willst du?«
»Dann komm doch gleich rein und frühstücke mit mir.«
Kristin tat gar nicht erst so, als habe sie nicht genau diese Einladung bezweckt. Sie betrat den Flur der Nachbarwohnung und folgte Marion in die Küche.
»Na, wie war es gestern abend? Hast du den tollen Mann wiedergetroffen?«
»Ja, allerdings.«
Kristin verzog das Gesicht. Es war nicht ganz so gelaufen, wie sie erwartet hatte.
»Hat er nicht angebissen?«
»Nein, er war mit einer anderen da. Die hat ihn gehütet wie ihren Augapfel. Keine Chance. Abgesehen davon, wenn die sein Typ ist, habe ich sowieso keine guten Karten.«
»Wieso? Wie sah sie denn aus?«
Kristin hielt ihre Hände gut zwanzig Zentimeter vor ihren Busen.
»So sah sie aus. Dolly Buster ist nichts dagegen.«
»O Gott. Dann gehört er wohl zu den Männern, die besser sehen als denken können. Vergiß ihn.«
»Schon geschehen. Soll ich den Tisch decken?«
»Mach ruhig. Ich muß Johannes aus dem Bett fischen. Wenn er jetzt so lange schläft, bekomme ich ihn mittags nicht ins Bett.«
Marion ging hinaus. Kristin öffnete den Kühlschrank und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Wenn ihr Kühlschrank je so gut bestückt wäre… Irgendwie vergaß sie immer einzukaufen. Das war allerdings nicht weiter schlimm, denn sie mußte ja auch niemanden versorgen. Das Single-Leben hatte seine Vor- und Nachteile.
Marion und sie waren erst seit einem guten Vierteljahr Nachbarinnen. Kristin hatte hier eine kleine Buchhandlung übernehmen können, aber die Fahrt von dem kleineren Ort außerhalb von Hamburg hierher war einfach zu weit, um sie jeden Tag anzutreten. Mit viel Glück hatte sie die hübsche Neubauwohnung neben Marion bekommen und sich fast sofort mit ihrer Nachbarin angefreundet. Sie waren im gleichen Alter, nämlich sechsundzwanzig, aber damit hörten auch schon alle Ähnlichkeiten auf.
Während Marion dunkle lange Haare hatte und zu ihrem Kummer ein bißchen mollig war, fand sich Kristin fast zu zierlich bei ihrer Größe. Ihre Haare gefielen ihr allerdings gut, sie waren rotblond und von Natur aus lockig. Sie hatte viel Temperament und fuhr sich manchmal mit den Fingern durch das Haar, wenn sie etwas erklärte oder ungeduldig war. Bei dieser Frisur sah es trotzdem gut aus. In der Buchhandlung konnte sie schließlich nicht herumlaufen, als sei ihr Fön explodiert.
Der Tisch war fertig gedeckt, der Kaffee lief durch und in der Pfanne brutzelten Eier und Speck, als Marion mit dem zweijährigen Johannes auf dem Arm wieder zurückkam.
Kaum hatte er Kristin gesehen, streckte er die Arme aus. »Titin!«
»Guten Morgen, mein Schatz. Na, hast du du gut geschlafen?«
»Auch das.« Er deutete auf die Eier in der Pfanne. Das würde wieder eine Diskussion geben. Marion achtete streng darauf, daß Johannes nur das bekam, was für ihn richtig und gesund war. Meistens war es nicht so, was Johannes wollte.
»Nein, Johannes, das ist nichts für dich. Du bekommst dein Müsli. Hmm, das schmeckt lecker.«
Johannes sah das ganz anders. Kaum saß er in seinem Hochstühlchen und hielt den Löffel in der Hand, forderte er noch energischer Eier mit Schinken.
»Da, haben!«
Sein dicker Finger bohrte sich in den Bauch seiner Mutter, die zwischen ihm und dem begehrten Objekt stand, so daß er es nur riechen, aber nicht sehen konnte. Sie schüttelte den Kopf und stellte die Schüssel mit dem fein geschroteten Müsli vor ihn hin. Kaum war die Milch dazugefüllt, haute Johannes mit dem Löffel hinein, daß es spritzte.
»Johannes! Du gehst gleich wieder ins Bett, wenn du so ungezogen bist.«
»Und wenn wir ihm ein kleines bißchen geben? Nur, daß er den Geschmack hat? Vielleicht ist er dann zufrieden«, schlug Kristin zögernd vor.
Sie wußte, daß solche Ratschläge von Müttern nur sehr ungern gesehen wurden. Ihre Schwester Sabina hatte drei Kinder und fuhr Kristin jedesmal über den Mund, wenn sie einen Vorschlag zur Güte machte.
»Was ist das für eine Erziehung, wenn man ständig nachgibt, weil man den Konflikt nicht aushält?« fragte Marion streng.
»Na, ich würde sagen, es ist ein bißchen entspannender für beide. Ich wette, Johannes muß noch nicht auf Cholesterinwerte achten…«
Sie hoffte, daß Marion lächeln würde, aber statt dessen verzog ihre Freundin das Gesicht und sah einen Moment ziemlich ärgerlich aus.
Kristin nahm sich vor, ihr nicht mehr hineinzureden. Von einem entspannenden Frühstück könnte jetzt zwar keine Rede sein, da Johannes nun brüllte und seine Müslischale an den äußersten Rand des kleines Tischchens vor sich schob, während seine Mutter sich mit verbissenem Gesicht bemühte, ihr Ei und den Schinken schmackhaft zu finden und sein Schreien auszublenden, aber was hatte sie erwartet? Es war letzten Sonntag dasselbe gewesen.
Vielleicht mußte Marion einfach mehr raus. Sie konnte nicht mehr ausgehen, seit es Johannes gab, weil sie zu den sogenannten alleinerziehenden Müttern gehörte und auch niemanden hatte, der Johannes am Freitag oder Sonnabend mal zu sich nahm, damit sie ins Kino, essen gehen oder einfach einmal allein sein konnte. Kristin hatte es ihr bereits mehrere Male angeboten, aber sie hatte den Eindruck, daß Marion ihr Johannes nicht anvertrauen wollte. Wahrscheinlich befürchtete Marion, daß er dann jede Menge Eier, Schinken und Schokolade zu essen bekäme. Schokolade war nämlich ein absolutes Tabu.
An eine Unterhaltung war nütürlich nicht zu denken, solange Johannes schrie. Kristin bewunderte Marions Geduld. Sie hätte ihm bereits ihren Teller hingestellt, nur damit er endlich still war. Am besten, sie schaffte sich vorsichtigshalber keine Kinder an. Für die Arterhaltung hatte ihre Schwester mit den drei Kindern ja eigentlich auch schon gesorgt, soweit es ihre Familie betraf. Außerdem liebte Kristin ihren Beruf über alles. Wenn sie von den Büchern umgeben mit Kunden sprach, gab es nichts, was ihr fehlte. Saß sie dann abends zu Hause, fiel ihr allerdings schon das eine oder andere ein. Sie hatte eine kurze, feste Partnerschaft hinter sich. Zwei Jahre war sie auf Zehenspitzen gegangen, um das mimosenhafte Wesen ihres Freundes nicht zu belasten, indem sie unüberlegte Worte von sich gab. Dann war sie schließlich so mit den Nerven fertig gewesen, daß eine Kleinigkeit genügt hatte, um ihn zum Ex-Freund werden zu lassen. Den Abend würde sie nie vergessen. Jens hatte sich hinter seinen Computer verschanzt wie jeden Abend, während sie den Abwasch machte. Als das Telefon klingelte, war es einer seiner Computerfreunde gewesen. Eine geschlagene Stunde hatte er am Telefon gesessen, vor sich den Bildschirm, und pausenlos gequatscht und gelacht. Eigentlich hatten sie zusammen einen Film sehen wollen, aber Kristin wußte, wenn sie ihn daran erinnern würde, wäre er sofort wieder auf hundertachtzig und hätte behauptet, sie gönne ihm seine Freunde nicht. Also hatte sie allein geschaut und allein gekocht – vor Wut.
Er hatte das Gespräch schließlich beendet und war fünf Minuten später in der Tür erschienen.
»Ich gehe noch mal zu Björn. Er hat da ein kleines Problem mit dem Computer.«
Plötzlich hatte Kristin ihre Situation glasklar gesehen. Jens lebte sein Leben, wie es ihm gefiel, während sie pausenlos Rücksicht nehmen sollte. Wenn er jetzt ging, würde er vor zwei Uhr nachts nicht erscheinen, dabei hatte sie gerade heute gehofft, daß er sich auch einmal wieder ihrer annehmen würde. Sex wurde nicht mehr sehr groß geschrieben in ihrer Beziehung. Morgen hatte er sowieso eine Verabredung. Sie saß hier herum, kochte und machte den Haushalt, und Jens hielt sie wie ein Haushälterin.
»Am besten fragst du ihn gleich, ob du dort für eine Zeit wohnen kannst. Ist doch sowieso praktischer, dann spart ihr das Telefongeld.«
»Was soll denn das heißen? Dir wäre es wohl am liebsten, wenn ich keine Freunde hätte, was?« fuhr er sie sofort an.
»Doch, mir ist das sehr lieb, daß du Freunde hast. Dann sitzt du ab morgen wenigstens nicht auf der Straße.«
»Wovon redest du, zum Teufel?«
»Es ist aus mit uns. Davon rede ich.«
»Also wirklich, Kristin, das ist ja wohl ein schlechter Scherz, oder? Du bist wieder mal überreizt.«
»Allerdings, weit überreizt. Und deshalb ist ja auch Schluß. Ich möchte wieder allein sein. Ungestört Fernsehen, und wenn das Telefon klingelt, ist es für mich. Das war’s, jetzt kannst du gehen.«
Wutentbrannt war er verschwunden. Als er dann in der Nacht gekommen war, um zwei, wie sie geahnt hatte, war er sofort zärtlich geworden. Kristin hatte sich kerzengerade im Bett aufgesetzt und ihm dann noch einmal unmißverständlich klargemacht, daß es damit vorbei sei. Am nächsten Morgen hatte sie seine Sachen zusammengepackt und spätestens, als sie begann, die Kabel von seinem Computer und dem Zubehör aus den diversen Steckdosen zu ziehen, war er aus dem Bett gesprungen. Sein Spielzeug durfte sie nicht anfassen.
Das war es dann gewesen. Seitdem achtete Kristin streng darauf, daß die Männer, die sie kennenlernte, als Hobby nicht etwa »Computer« angaben. Allerdings wurde es damit immer schwerer, denn alle Welt schien vernetzt oder verkabelt zu sein.
Eine Zeitlang hatte sie ein bißchen gelitten, aber inzwischen fand sie den Zustand, allein zu leben, recht angenehm. Es bedeutete ja nicht, daß es keine Männer in ihrem Leben gäbe. Sie wurde oft eingeladen und nahm manche Einladung ins Kino, Theater oder zum Essen auch an. In der Buchhandlung lernte sie eine Menge Menschen kennen, darunter auch den einen oder anderen akzeptablen männlichen Mensch. Ihre Computerecke mit der Fachliteratur war beliebt und gut sortiert. Wenn sich jedoch ein Kunde für Geschichte, Reisen oder ähnliches interessierte, wurde sie aufmerksamer. Vielleicht war einmal einer dabei, der sie davon überzeugen konnte, ihr Alleinsein aufzugeben.
Bei Marion verhielt es sich dagegen viel komplizierter. Sie hatte sich vor fünf Jahren in einen Mann verliebt, und zwar so erdbebenmäßig, daß auch sein spätes Geständnis, er sei verheiratet, sie nicht mehr von ihm abbringen konnte. So führte sie das Leben einer heimlichen Geliebten, die darauf wartete, daß er seiner Frau endlich zumuten konnte, die Wahrheit zu erfahren und die versprochene Scheidung einreichte. Für Kristin war klar, daß das erst am St. Nimmerleinstag passieren würde, aber Marion glaubte weiterhin an ihren Derrik. Selbst die Tatsache, daß er mit Marion zusammen einen Sohn hatte, schien ihn nicht dahingehend zu beeinflussen, seine kinderlose Ehe endlich zu beenden. In Kristins Augen war er ein ausgemachter Schuft, und das hätte sie ihm zu gern einmal gesagt. Aber Marion achtete streng darauf, daß sie sich nicht über den Weg liefen. Ihre rotgeweinten Augen konnte sie dagegen nicht so gut vor Kristin verbergen. Es mußte echt stressig sein, ständig auf Anrufe oder heimliche Besuche zu warten. Mit den Sorgen, wenn Johannes krank war, stand sie sowieso allein da. Sie konnte Derrik ja nicht einmal zu Hause anrufen.
Kristin mußte sich bei diesem Thema immer noch viel mehr zusammenreißen als bei der Erziehung von Johannes. Sie hatte Marion schon das eine oder andere Ratgeberbuch geschenkt, das dieses Thema ausführlich behandelte, denn laut Statistik wurden die heimlichen Geliebten nur äußerst selten geheiratet, aber Marion ließ sich nicht hineinreden. Blauäugig glaubte sie weiterhin, daß Derrik eines Tages ganz zu ihr kommen würde.
Johannes stellte sein Schreien ein, als die beiden Frauen die Eier und den Schinken gegessen hatten. Kristin dröhnten die Ohren, aber Marion bestrich sich seelenruhig einen Toast mit Butter und Marmelade und gab ihrem Sohn ein Stück ab. Er schob es in den Mund und kaute strahlend, so als habe er einen Sieg davongetragen. Vielleicht war Marions Methode doch nicht ganz falsch.
*
Am Montag hatte Kristin alle Hände voll zu tun in der Buchhandlung. Sie würde heute sicherlich nicht vor neun Uhr abends nach Hause kommen, wie sie es einschätzte. Die neue Ware mußte ausgepackt, ausgezeichnet und einsortiert werden. Wenn sie das ihrer Verkäuferin überließe, würde sie hinterher nichts mehr wiederfinden. So gut Frau Schneider mit Kunden zurechtkam, so unfähig war sie, Bücher nach Sachgebieten und obendrein noch nach dem Alphabet einzusortieren.
Kristin trug heute eher praktische Kleidung, weil sie bei dieser Tätigkeit immer ein bißchen staubig wurde. Sonst achtete sie darauf, sich chic zu machen, weil sie hier im Laden Gelegenheit dazu hatte. Zu Hause lief sie dagegen meistens in Jeans und T-Shirt herum, weil sie dort sowieso kaum jemand sah.
Sie kam gerade aus dem Lager, als sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, der einen Schritt rückwärts machte, um eine Frau mit einem Kinderwagen vorbeizulassen.
»Hoppla… oh, entschuldigen Sie. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht weh getan.«
Kristin blickte in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte.
»Nein, gar nicht. Schon in Ordnung.«
»Wo ich Sie gerade umrennen wollte… können Sie mir vielleicht helfen? Ich suche ein Fachbuch.«
Kristin lachte. Er hatte Humor. Sein Lächeln war ansteckend. Hoffentlich war sein Gebiet nicht gerade Informatik…
»Es ist ein Informatik-Fachbuch. Hier, ich habe den Titel aufgeschrieben. Den kann man nämlich sonst nur pfeifen.«
Schade. Damit schied er aus. Es sei denn, er wollte das Buch für einen Freund haben, als Geschenk…
»Ich studiere nämlich Informatik, und brauchte es ganz dringend. In zwei Buchhandlungen könnte man es mir besorgen, aber ich brauche es möglichst sofort.«
Na, das hatte ja gerade noch gefehlt. Der Computer war nicht nur sein Hobby, sondern sogar sein Beruf.
Pech gehabt, die blauen Augen würden jemand anderen bezaubern, sie jedenfalls bestimmt nicht.
»Ich kenne das Buch. Wenn Sie Glück haben, steht es sogar noch da«, gab Kristin schon etwas weniger begeistert zurück.
»Das wäre ja umwerfend. Ich werde sofort alle meine Kommilitonen zu Ihnen schicken.«
»Dann bekommen Sie sogar Prozente.«
Immerhin, Freundlichkeit schadete nicht. Er war ein netter Kunde.
Das Buch stand tatsächlich noch im Regal. Begeistert blätterte er darin herum. »Sie können sich gern dahinten setzen und sich einen Tee einschenken. Das gehört bei mir zum Service.«
»Mein Gott, ein Engel hat mich zu Ihnen geführt.«
Er strahlte sie an, daß Kristin ein Kribbeln im Magen verspürte. Vielleicht vergaß ja
nicht jeder Mann, daß es
noch mehr gab außer diesen verdammten Bildschirmen mit Tastatur und Vernetzungsmöglichkeit…
»Ich finde, es gehört einfach dazu, in Büchern auch stöbern zu können. Allerdings hatte ich am Anfang etwas Mühe, die Leute wieder loszuwerden, die hier regelmäßig ihre Teepause einlegten, bevor sie weiterzogen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Aber Sie erscheinen mir energisch genug, um sich nicht ausnutzen zu lassen.«
Gut, daß er das gleich erkannte. Kristin nickte.
»Ja, wenn man ein Geschäft führt, muß man das können. Aber jetzt muß ich Sie allein lassen. Ich habe noch eine Menge zu tun.«
»Sie sind hier die Inhaberin, ja? Sagen Sie mir Ihren Namen? Ich heiße übrigens Frederik Holl.«
»Angenehm, Kristin de Bruhs.«
»Was für ein schöner Name.«
»Mein Vater ist Holländer. Daher kommt er.«
»Dann sind Sie also nicht verheiratet.«
»O nein, Gott sei Dank nicht.«
Er grinste. Kristin fand ihre Antwort ein bißchen übertrieben, weil sie keineswegs deutlich machen wollte, daß sie ehefeindlich war.
Eigentlich hatte sie ihm nur durch die Blume zu verstehen geben wollen, daß sie frei war. Na, nun war es keine Blume, sondern eher ein Zaunpfahl gewesen.Er würde schon nicht glauben, daß sie ihn anmachen wollte.
Frederik hielt sich noch eine gute Viertelstunde in der Leseecke auf, bis es ihm dort zu lebhaft wurde, weil eine Mutter ihre zwei Kinder dort geparkt hatte, die sich gegenseitig etwas »vorlasen«, und dabei in Streit gerieten. Er bezahlte sein Buch, versprach, bald wiederzukommen und drehte sich an der Tür noch einmal um, um zu winken. Kristin ging wieder ins Lager zurück und überließ Frau Schneider den Verkauf.
Am Nachmittag machte sie eine Pause. Sie brauchte täglich einen Cappuccino und war in dem Bistro in der Nähe ihrer Buchhandlung Stammkundin. Sie mußte gar nicht mehr extra bestellen, kaum hatte sie Platz genommen, wurde ihr der Cappuccino serviert. Sie trank ihn mit Sahne statt mit geschäumter Milch, was natürlich ein Sakrileg war. Aber der Besitzer des Bistro, ein Italiener aus Umbrien, verzieh es ihr, weil er gern ein bißchen mit ihr flirtete.
»Signorina de Bruhs, wie schön, Sie zu sehen.«
Das sagte er jeden Tag, außer am Sonntag, weil dann hier geschlossen war. Kristin begrüßte ihn ebenfalls und dankte ihm für den Cappuccino. Meistens nahm er sich einen Moment Zeit, um mit ihr zu plaudern, aber heute war viel zu tun. Draußen regnete es, und es saßen hier mehr Leute als sonst.
Kristin war das ganz lieb. Sie dachte noch immer an den Mann mit den blauen Augen. Offenbar hatte sie mal wieder einen kleinen Notstand. Vielleicht sollte sie Markus’ Einladung ins Kino doch endlich annehmen. Er nervte sie schon seit drei Wochen damit. Markus war eine Art Notnagel, was er natürlich nicht wußte. Er hielt sich für den besten Fang, den eine Frau machen könnte. Aber im Vergleich mit Frederik Holl schnitt er noch schlechter ab als so schon. Sie mußte sich nur vorstellen, den ganzen Abend mit seinen Heldentaten unterhalten zu werden. Markus war Rechtsreferendar, aber ihm zufolge hielt sich die Kanzlei nur durch seine überragende Leistung überhaupt so gut. Kristin kannte alle Fälle, die dort je bearbeitet worden waren, davon war sie überzeugt. Markus ließ nichts aus, um zu prahlen. Nein, das tat sie sich lieber nicht an. Dann lieber zu Hause auf der Couch liegen und weiter träumen. Vielleicht kam Frederik ja bald wieder, um die Bekanntschaft fortzusetzen. Kristin war sicher, daß sie ihm auch gefallen hatte.
Wie immer fand sie ihre Pause viel zu kurz. Sie mußte wieder zurück in die Buchhandlung, sonst würde sie heute noch später nach Hause kommen. So schön war es nicht, spät abends allein im Geschäft zu bleiben. Geräusche klangen anders, unheimlicher, und ihr Auto stand in der Tiefgarage, die um diese Zeit sämtliche Horrorvorstellungen in Kristin weckte, wenn sie es holen mußte.
Vor der Buchhandlung traf sie Marion. Johannes saß in der Karre und lutschte hingebungsvoll an einem Traubenzuckerlolly.
»Hallo, wolltest du zu mir?«
»Ja. Ich dachte, ich besuche dich mal. Das heißt, könntest du einen Moment auf Johannes aufpassen? Ich muß etwas einkaufen und kann ihn da so schlecht mit hineinnehmen. Die… Umkleidekabinen sind so eng.«
»Was willst du denn kaufen?«
»Äh… Unterwäsche. Ich brauche dringend etwas Neues.«
Also stand vermutlich Derriks Besuch an. Kristin unterdrückte eine Bemerkung dieser Art und nickte.
»Klar. Kommst du zu mir, Johannes? Wollen wir die Mama in Ruhe einkaufen lassen?«
Johannes verstand zwar nicht, worum es ging, aber er ließ sich gnädig von ihr in den Laden schieben. Marion versprach sich zu beeilen und hastete los. Kristin empfand Mitleid mit ihr. Es mußte wirklich frustrierend sein. Was immer Marion tat, es reichte nie, Derrik für sich zu gewinnen.
Sie schob die Karre in die Leseecke und holte ein Kinderbuch unter dem Tisch hervor. Es war nicht zum Verkauf bestimmt, sondern sollte die Kleinen unterhalten, solange die Eltern aussuchten. Johannes interessierte sich im Moment aber mehr für seinen Lolly und beachtete das Häschen gar nicht, das Kristin ihm zeigte.
Als sie aufschaute, begegnete sie dem Blick eines Mannes, der an der Kasse stand und sie offenbar interessiert beobachtet hatte. Er lächelte leicht, doch nun ging Frau Schneider zu ihm, um zu kassieren und das Buch einzupacken. Er drehte sich zu ihr um.
Kristin fühlte sich für einen Moment etwas verwirrt. Warum hatte er sie so angesehen, als…
Ja, wie eigentlich? Der Blick ging über das normale Maß von Interesse hinaus, das Kristin von vielen Männern kannte. Er war eindringlicher gewesen, irgendwie… besonders. Sie beobachtete ihn weiter, aber jetzt schien er sich nicht noch einmal zu ihr umdrehen zu wollen. Schade eigentlich. Es hätte sie interessiert, ob sie sich getäuscht hatte.
»Da, haben!« verlangte Johannes und deutete auf das Buch. Den Stiel von seinem Lolly warf er einfach auf den Boden.
»Erst muß ich dir die Finger abputzen. Warte.«
Sie zog ein Tempotaschentuch aus der Hosentasche und bemühte sich, das klebrige Zeug von seinen kleinen Fingern zu entfernen. Wieso so ein Ding nun gesünder sein sollte als ein Stückchen Schokolade, war ihr ein Rätsel. Es klebte wie Pech.
Nachdem Johannes zufriedengestellt war, war der Mann bereits gegangen. Kristin hatte das komische Gefühl, eine Chance verpaßt zu haben. Sie stellte lakonisch fest, daß ihr Hormonhaushalt offenbar ziemlich durcheinander sein mußte, wenn sie heute schon zwei Männern nachtrauerte.
*
Marion hatte Johannes früh ins Bett gesteckt, so daß sie sich in Ruhe auf Derrik vorbereiten konnte. Heute würde er bis nach Mitternacht bei ihr bleiben können, das hatte er ihr jedenfalls versprochen. Sie haßte es, wenn er so schnell wieder verschwand, wofür Derrik kein Verständnis hatte.
»Aber Schatz, ich liebe dich doch! Du darfst nicht denken, daß es mir nicht recht ist. Aber Maren fühlte sich heute nicht gut. Ich hätte eigentlich gar nicht kommen dürfen…«
So oder ähnlich lauteten dann seine Antworten.
Was interessierte sie, wie es Maren ging? Fragte er eigentlich je danach, wie es ihr ging, wenn sie dauernd allein war, vor allem an Feiertagen oder zu besonderen Gelegenheiten? Sie konnten nicht einmal miteinander ausgehen aus lauter Angst, daß jemand sie mit Derrik sah.
Jedesmal nahm sie sich vor, ihm ein Ultimatum zu stellen, denn ganz so dumm, wie Kristin zu glauben schien, war Marion auch nicht. Aber wenn er dann da war, sie lieb in den Arm nahm und anlächelte, war das nicht mehr wichtig. Außerdem war er Johannes’ Vater, und der Kleine hatte ein Recht auf ihn. Im Moment war das vielleicht noch nicht so wichtig, aber wenn Johannes größer wurde…
Nachdem sie geduscht und sich eingecremt hatte, nahm sie den neuen BH und den Slip aus der hübschen Verpackung. Leuchtend rot, es sah toll aus zu ihrer hellen Haut. Wahrscheinlich würde Derrik die Luft wegbleiben, wenn er das sah. Das Geld war es wert, obwohl Marion sehr rechnen mußte. Derrik konnte nicht regelmäßig zahlen, damit es seiner Frau nicht auffiel. Gott sei Dank verdiente sie meistens ausreichend, obwohl sie nicht mehr soviel tun konnte, seit es Johannes gab. Als selbständige Grafikerin war sie jedoch in der glücklichen Lage, zu Hause zu arbeiten, so daß sie sich wirklich gut um ihr Kind kümmern konnte. Vielleicht würden sie eines Tages doch eine Familie sein und dann…
Ach was, sie sollte jetzt nicht daran denken, sonst würde sie gleich wieder mit Forderungen kommen, sobald Derrik da war. Damit hatte sie schon mehr als einmal Schiffbruch erlitten. Ein paarmal war Derrik gleich wieder gegangen. Das wollte sie zumindest heute nicht riskieren. Sie hatten sich drei Wochen nicht gesehen, weil Derrik mit Maren verreist gewesen war. Na gut, es war nicht direkt eine Urlaubsreise gewesen, sie hatten ihre Mutter besucht, die kränkelte, aber für Marion machte das kaum einen Unterschied. Der Gedanke, daß er Tag und Nacht mit seiner Frau zusammen war… gräßlich.
Manchmal, in klaren Momenten, hatte sie alles so furchtbar satt…
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es höchste Zeit wurde, sich fertig anzuziehen. Sie mußte das Essen noch fertig machen. Es gab Spaghetti mit einer tollen Sauce, ein kompliziertes Rezept, das sie sich da ausgesucht hatte. Dazu sollte es noch Salat geben, und den mußte sie noch waschen und anrichten. Die Spaghetti brauchten ja nicht lange.
Marion war gerade damit beschäftigt, dem Tisch den letzten Schliff zu geben, als es klingelte. Derrik hatte einen Schlüssel, aber den vergaß er oft im Auto.
»Hallo, mein Schatz. Schön, dich zu sehen.«
Er umarmte sie. Marion hielt vergeblich nach Blumen Ausschau. Er wußte, daß sie solche Gesten mochte. Aber wahrscheinlich hatte Derrik keine Zeit gehabt, sie noch zu besorgen.
»Hmm, du duftest gut… Ich habe Appetit auf dich…«
»Erst einmal essen wir?«
»Ich habe schon gegessen. Böse?«
Ihre Enttäuschung machte sich in einem harten Knoten im Magen bemerkbar. Er wußte doch, wie gern sie für sie beide kochte! Warum beachtete er das eigentlich nicht?
Oh, heute war kein guter Abend. Marion spürte ihre Gereiztheit. Sie mußte sich zusammenreißen, damit es keinen Krach gab. Wem wäre damit geholfen? Niemandem. Sie wollte so gern wieder einmal in den Arm genommen werden und sich einbilden können, daß sie eine normale Partnerschaft führten.
»Na, vielleicht probiere ich noch ein bißchen«, lenkte er ein. Natürlich schmeckte es ihr auch nicht besonders, weil Derrik ihr gegenüber saß und in seinem Essen herumstocherte.
»Laß es stehen. Du mußt ja nicht.«
»Es schmeckt wunderbar. Du hast dir soviel Mühe gegeben… Hätte ich das gewußt…«
»Du wußtest es«, rutschte es Marion heraus.
Er runzelte die Brauen.
»Was willst du damit sagen?«
»Ach, Derrik, du weißt, daß ich gern für uns koche. Das ist doch nicht neu.«
»Entschuldige, aber ich habe mich unter großer Mühe für heute abend frei gemacht. Aber ich habe keine Lust, mir jetzt Vorwürfe anzuhören. Das kann ich zu Hause.«
Zu Hause. Damit wollte er natürlich sagen, daß hier kein Zuhause für ihn war. Marion preßte die Lippen zusammen.
»Nun komm, lächel doch mal wieder. Wie geht es Johannes? Schläft er schon?«
»Ja. Hast du ihm etwas mitgebracht?«
Wenn ihr schon nicht, dann doch wohl seinem Sohn…
»Nein, dazu blieb keine Zeit. Außerdem weißt du viel besser, was er braucht.«
»Mein Gott, wenn du dich öfter kümmern würdest, wüßtest du das auch.«
War sie verrückt geworden? Sie wußte, daß sie mit solchen Bemerkungen alles aufs Spiel setzte! Wozu die teure Wäsche, wenn sie ihn jetzt vergraulte. Marion hoffte, daß er jetzt nicht gleich aufstehen würde. Sie wollte sich jetzt zusammenreißen.
»Ich fürchte, so wird das nichts.«
»Tut mir leid. Es war ein harter Tag.«
Das wollte er hören. Sein Lächeln kehrte zurück. Marion entspannte sich.
Nach dem Essen setzten sie sich ins Wohnzimmer. Derrik legte den Arm um sie und zog sie an sich. Er begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern, die Einstimmung für mehr. Aber komisch, diesmal wollte es einfach nicht wirken. Kein Kribbeln, kein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, gar nichts. Marion war verwirrt. Sie zwang sich, seine Küsse zu erwidern.
»Du bist heute komisch.«
Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an, obwohl er wußte, daß Marion das nicht mochte.
Sie unterdrückte eine Bemerkung und nahm es hin. Warum empfand sie nur diese merkwürdige Apathie? Wurde sie krank? Oder war sie einfach nur so voller Erwartung gewesen, die durch den unglücklichen Beginn jetzt in sich zusammengefallen war?
»Ich glaube, wir versuchen es ein andermal, okay? Dann kann ich noch ein bißchen aufarbeiten…«
»Warum können wir uns nicht einmal unterhalten? Ich meine, kommst du nun her, um mit mir zu schlafen?«
»Also, entschuldige, bisher hast du das von mir erwartet! Ich hätte dich sehen mögen, wenn ich es nicht versucht hätte!«
Stimmte das? Wahrscheinlich. Marion wurde immer unsicherer. Sie sollte jetzt aufhören zu reden und… Aber nein. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. In ihrer Beziehung stimmte etwas nicht. Sie sollten darüber sprechen, was es war.
Sie setzte sich ein Stück seitwärts und drehte sich ihm zu.
»Wie lange soll es noch weitergehen, Derrik? Wirst du eigentlich je mit deiner Frau sprechen? Was ist mit Weihnachten? Johannes sieht den Tannenbaum dieses Jahr schon viel bewußter. Es wäre schön, wenn sein Vater auch dabei wäre.«
»Ich komme am ersten oder zweiten Feiertag für zwei, drei Stunden. Das weißt du doch.«
»Nein, das genügt mir nicht.«
»Also, sei mir nicht böse, Marion, aber ich lasse mir nicht
die Pistole auf die Brust setzen.«
»Nach fünf Jahren? Nennst du das die Pistole auf die Brust setzen? Habe ich nicht genügend Geduld bewiesen?«
»Im Grunde schon. Aber Maren…«
»Deine Maren! Immer nur Maren! Ich kann es nicht mehr hören! Wenn du sie so schützen mußt, warum betrügst du sie denn überhaupt? Ich meine, du tust uns doch beiden Unrecht, ihr und mir! Was ist denn das für eine Liebe?«
Sie war aufgestanden, weil es sie nicht mehr auf der Couch hielt. Jetzt fühlte Marion so eine Wut, daß sie bereits wußte, was als nächstes passieren würde.
»Müssen wir jetzt über Liebe diskutieren? Wenn du mir nicht glaubst, daß ich dich liebe, dann laß es. Dann erspare ich mir diesen Streß in Zukunft.«
»Es ist also nur Streß?«
»Na ja, wenn du dich aufführst…«
»Darf ich keine eigene Meinung haben? Darf ich keine Forderungen stellen? Nur weil ich eine heimliche Geliebte bin? Was wäre wohl, wenn ich mal mit deiner Frau spräche? Vielleicht ist sie gar nicht so ahnungslos, wie du glaubst, sondern will nur nicht auf die Versorgung verzichten? Warum machst du nicht endlich Nägel mit Köpfen?«
»Und wenn ich mich für sie entscheiden würde?« fragte er lauernd.
Für einige Sekunden stockte Marion bei dieser Vorstellung der Atem. Aber nun war sie soweit gegangen, daß sie nicht einfach einen Rückzieher machen konnte. Heute schien der Tag der Entscheidung zu sein.
»Das mußt du selbst wissen. Ich habe dir dann offenbar nicht viel bedeutet all die Jahre. Johannes auch nicht, aber das merke ich schon daran, daß du weder für ihn zahlst noch ihm Geschenke machst.«
»Das reicht, Marion. Du hörst von mir.«
Er stand auf und ging in den Flur hinaus. Um seinen Mantel anzuziehen, brauchte er ganz schön lange. Er wartete vermutlich darauf, daß sie ihm um den Hals fiele und sich entschuldigte. Nein. Das würde sie nicht tun. Offenbar hatte sie ihre Fähigkeit, die Beine zu bewegen, verlassen. Marion stand stocksteif da und konnte kaum atmen.
Schließlich schlug die Tür zu. Derrik hatte wirklich noch gewartet, ob sie es sich anders überlegen würde. Sie hätte sich wortreich entschuldigen müssen, vielleicht ein paar Tränchen dazu, und alles wäre erst einmal wieder in Ordnung gewesen.
Plötzlich erschien ihr dieses Verhältnis zu Derrik so armselig, so verlogen, daß sie den Gedanken kaum ertragen konnte. Was ließ sie da bloß mit sich machen? Kein Wunder, daß Derrik sie gar nicht mehr ernstnahm! Sie hatte sich als Persönlichkeit ja selbst längst aufgegeben!
Heulend warf sie sich auf die Couch. Ihr war hundeelend zumute. Mit Derrik mußte es vorbei sein. Entweder er entschied sich jetzt für sie, oder es war zu Ende.
Irgendwann schlief sie auf der Couch ein. Als sie wach wurde, war ihr Körper total verkrampft, der Kopf schmerzte, die Augen waren verschwollen. Marion schlich ins Badezimmer, zog sich aus, ohne auch nur einen Blick in den Spiegel zu werfen und ging dann ins Bett. Es war frisch bezogen. Sie hatte sogar das Laken ein wenig parfümiert…
Nun lag sie allein hier.
*
Kristin öffnete, als es Sturm klingelte. Wer kam um diese Zeit und dann noch mit diesem Drive zu ihr? Natürlich fand sie ihren Bademantel wieder mal nicht. Das Nachthemd war eher bequem, sie konnte ruhig so die Tür öffnen…
Draußen stand Marion. Sie sah völlig fertig aus.
»Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?«
»Ich muß dich um Hilfe bitten. Ich habe um elf einen Termin, der ganz wichtig ist. Aber jetzt hat mein Babysitter abgesagt. Könntest du…?«
»Na klar. Ich nehme ihn mit ins Geschäft und dann kannst du ihn da abholen.«
»Danke, ich bin dir sehr dankbar.«
»Sag mal, willst du nicht einen Kaffee mit mir trinken? Du siehst nicht gut aus.«
»Ich habe mit… Derrik Schluß gemacht. Glaube ich.«
»Glaubst du? Was heißt denn das?«
»Ich habe ihn vor die Wahl gestellt. Er ist gegangen. Ich weiß nicht, ob er noch einmal wiederkommt. Ich hätte den Termin normalerweise sausen lassen, aber jetzt, wo ich nicht mehr damit rechne, daß er … zurückkommt, muß ich mich glaube ich, mehr um meinen Job kümmern. Ich möchte mehr Geld verdienen. Ich muß… mal raus. Mit Johannes verreisen. Irgend etwas…«
Das klang nun wirklich ernst. Kristin zog ihre Nachbarin herein. Marion zögerte, weil Johannes allein war. Aber er schlief noch fest und konnte nicht allein aus dem Bett klettern. Gegen einen Kaffee war sicher nichts zu sagen. Zumal sie jetzt gar nicht gern allein sein wollte. Kristin hatte zwar nie einen Hehl daraus gemacht, was sie von ihrer Art der Partnerschaft hielt, aber sie war ehrlich und hatte auch einige Menschenkenntnis. Vielleicht konnte sie abschätzen, wie Derrik entscheiden würde.
Zuerst mußte Marion erzählen, was überhaupt passiert war. Sie gab es so genau wie möglich wieder. Schließlich sollte Kristin die Situation ja beurteilen können.
Mehrmals verzog Kristin angewidert das Gesicht, aber sie enthielt sich jeder Unterbrechung.
»Ja, und dann hat er eine ganze Weile gebraucht, um sich den Mantel anzuziehen. Er hat natürlich gedacht, ich würde kommen und mich entschuldigen. Aber das konnte ich irgendwie nicht. Es ging einfach nicht, verstehst du? Als wäre ich auf den Fleck gebannt, auf dem ich stand.«
»Und das war auch gut so. Du hast ihm endlich einmal eine Seite gezeigt, die er an dir nicht kennt. Ich bin richtig stolz auf dich.«
Kristin sah sie an wie eine Mutter ihr Kind, das eine große Tat vollbracht hatte.
»Aber wenn es jetzt nichts bringt?«
»Du hast es ja gar nicht in der Absicht getan, daß es etwas bringt. Merkst du das nicht? Du hattest echt die Nase voll. Wirklich und wahrhaftig. Und das finde ich so gut. Wenn du so anfängst, wirst du dir auch in Zukunft nicht mehr soviel gefallen lassen. Er wird sich anstrengen müssen, wenn er dich nicht verlieren will.«
»Aber ich will ihn nicht verlieren. Jedenfalls nicht wirklich…«, gab Marion kleinlaut zurück.
Kristins Einschätzung erschreckte sie plötzlich. Das hatte sie nicht hören wollen.
»Du weißt es nur noch nicht, aber dein Unterbewußtsein ist aufgewacht. Und das ist ganz toll. Es geht aufwärts. Paß auf, bald wirst du entdecken, daß es auch noch andere Männer gibt, solche, die nicht verheiratet sind.«
»Kristin, ich will das nicht.«
»Willst du ewig die Geliebte bleiben? Das kannst du mir nicht erzählen. Dann würdest du dich nicht beschweren, nicht heulen, sondern dein Leben genießen wie es ist. Logo?«
Dem konnte Marion nicht unbedingt widersprechen.
»Na also. Dann bleib jetzt auf dieser Linie. Er muß wirklich glauben, daß du lieber auf ihn verzichtest, als so wiederzumachen. Nur dann hast du noch eine Chance, daß sich etwas ändert. Das bist du eigentlich auch Johannes schuldig. Ich meine, er hat doch nichts von einem Vater, der sowieso nicht anwesend ist.«
Damit war Kristin Marions letztem Argument zuvorgekommen. Und auch das klang logisch.
»So, nun mach nicht so ein Gesicht. Trink deinen Kaffee, richte dich toll her, zieh die neue Unterwäsche an und sei erfolgreich. Das gibt dir Selbstbewußtsein.«
Bei der Erwähnung der neuen Unterwäsche empfand Marion einen schmerzhaften Stich. Die hundert Mark hatte sie umsonst ausgegeben.
»Weißt du, daß ich mich immer style, wenn ich ins Geschäft gehe? Nicht für die anderen, einfach für mich. Ich fühle mich gut, wenn ich eingecremt bin und weiß, daß ich Seidenwäsche trage. Ein sinnliches Vergnügen«, fuhr Kristin vergnügt fort.
»Willst du damit behaupten, daß du nicht auf Mr. Right wartest? Ich mag nicht gern allein leben.«
»Wenn man den richtigen Mann findet, ist das okay. Aber wieviel Frösche mußt du geküßt haben, um zu wissen, daß die meisten eben kein Prinz werden? Ich glaube, daß man erst dann Glück hat, wenn man gelernt hat, auch gut zu sich selbst zu sein. Kannst du nachlesen. Warte mal, wo habe ich das Buch…«
Kristin stand auf. Im Wohnzimmer standen an allen Wänden Bücherregale. Marion hörte sie herumlaufen und vor sich hinmurmeln. Sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, Kristin davon abhalten zu wollen, das Buch zu suchen. Sie trank schon einmal ihren Kaffee aus, weil sie langsam unruhig wurde. Wenn Johannes aufwachte, wollte sie zu Hause sein.
»Hier. Lies das mal. Ist gut.«
»Danke. Ich schaue später mal rein. Ich bringe dir Johannes in einer halben Stunde, ja?«
»Gut, dann kann ich noch duschen. Und vergiß die Unterwäsche nicht.«
»Für die kurze Zeit braucht er keine neue… ach so, du meinst mich…«
»Ja, eben. Vergiß dich nicht immer.«
Marion beschloß, Kristins Rat einfach einmal zu folgen. Schaden konnte es nicht, und dann wurde die sündteure Wäsche wenigstens getragen.
Johannes war bester Laune, als ihn Kristin übernahm. Sie mußten noch den Babysitz für das Auto befestigen, dann lud sie die Karre hinten in den Kombi und fuhr zur Buchhandlung. Kristin liebte es, den Laden morgens aufzuschließen. Sie begrüßte die Bücher wie Freunde, aber das mußte ja keiner wissen.
Frau Schneider kam zehn Minuten später. Sie war entzückt, daß Johannes hier war und spielte hingebungsvoll mit ihm, während Kristin alles für den Tag vorbereitete. Johannes krabbelte auf dem Teppichboden herum und spielte Eisenbahn. Frau Schneider immer hinterher. Ein wahrhaft ergötzender Anblick.
Das mußte auch der erste Kunde denken, der den Laden betrat. Es war Frederik Holl.
»Nanu, habt ihr hier auch einen Kinderhort?«
»Nein, nicht direkt. Hallo.«
Johannes landete vor Kristins Füßen und wollte auf den Arm. Frau Schneider erhob sich etwas mühsam und klopfte sich den Rock ab. Sie war rot geworden.
»Danke, Frau Schneider. Sie können jetzt erst einmal eine Pause machen, wenn Sie wollen.«
»Soll ich ihn mitnehmen?«
»Nein. Ich behalte Johannes hier.«
»Ist das Ihr Kleiner?« wollte Frederik wissen.
»Und wenn?« stellte Kristin eine Gegenfrage.
»Oh, nichts. Es gibt unter meinen Kommilitoninnen eine Menge Mütter.«
»Mögen Sie Kinder?«
»Ja, schon. Aber ich kenne mich nicht besonders gut aus mit ihnen.«
Johannes beäugte Frederik neugierig. Vielleicht überlegte er, ob sich der Versuch lohne, das zu ändern.
Plötzlich schoß er auf Kristins Arm vor. Sie hätte ihn fast fallenlassen vor Schreck, aber Frederik hatte schon die Arme ausgestreckt, um Johannes abzufangen.
»Mein Lieber, du hast ein Temperament…«
»Johannes, mach das nicht noch mal. Wenn du jetzt gefallen wärest…«
»Da. Haben«, wandte der Kleine seinen etwas beschränkten Wortschatz an und deutete auf den Kugelschreiber, der in Frederiks Tasche steckte.
»Den kannst du nicht haben. Damit schmierst du nur alles voll. Nimm das Bilderbuch.«
Johannes wollte kein Bilderbuch, er wollen einen Kugelschreiber. Und das tat er jetzt mit Stufe 1 auf seiner Schreibskala kund.
»O Gott, bitte gehen Sie ihm aus den Augen. Sonst schreit er so lange, bis er den Kugelschreiber bekommt.«
»Ich wollte mich noch mal bei den Büchern umsehen.«
»Ja, tun Sie das. Ich bin dort hinten, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Kristin bedauerte zutiefst, daß sie gerade heute die Ehre hatte, auf Johannes aufzupassen. Sonst wäre sie dem blauäugigen Frederik nicht von der Seite gewichen. Er gefiel ihr heute noch besser als gestern. Sein blaues Hemd betonte die Farbe seiner Augen noch. Ob er das wußte oder es extra angezogen hatte? Aber wahrscheinlich dachten nur Frauen in solchen Bezügen.
»Johannes, du hörst jetzt sofort auf zu schreien, sonst setze ich dich in die Karre und schieb dich einfach in die Ecke.«
Die Drohung richtete gar nichts aus. Johannes verrenkte sich den Hals nach Frederik. Er hatte den Kugelschreiber keineswegs vergessen, auch wenn er ihn jetzt nicht sehen konnte.
Frau Schneider half schließlich. Sie fand die Lösung, indem sie in ein Schreibwarengeschäft ging und einen dicken Buntstift und einen Block kaufte. Sie setzte Johannes an eines der Kindertischchen und zeigte ihm, wie man malen konnte. Johannes war schlagartig ruhig. Kristin ging zu Frederik, der sich in die Bücher vertieft hatte, wie es schien.
»Wenn ich Ihnen helfen kann…«
»Oh, ist der kleine Tiger gebändigt? Ich bewundere Ihre Geduld. Ich glaube, ich will keine Kinder haben.«
»Ich auch nicht.«
»Aber…«
Leider betraten gleich zwei Kunden das Geschäft und sahen sich suchend nach Hilfe um. Kristin mußte Frederik stehen lassen, weil Frau Schneider bei Johannes saß. Heute war entschieden nicht ihr Glückstag. Aber sie war ziemlich sicher, daß er bald wiederkommen würde.
Ein paar Minuten später winkte er ihr zu und ging hinaus. Sie nahm es ihm nicht übel. Wie lange sollte er noch warten? Sicher mußte er schnellstens in die Uni.
Als Marion kam, um ihren Sohn abzuholen, strahlte sie über das ganze Gesicht. Sie sah überhaupt bemerkenswert gut aus mit dem roten Kostüm. Wie eine richtige Powerfrau und nicht wie jemand, der heute morgen noch verheult vor Kristins Tür gestanden hatte.
»Es hat geklappt. Ich habe einen dicken, fetten Auftrag an Land gezogen. Mein Gott, dein Tip heute morgen war Gold wert.«
»Das freut mich.«
Daß ihr Sohn Kristins Chancen dagegen möglicherweise zunichte gemacht hatte, erzählte sie Marion nicht. Wenn Frederik etwas an ihr lag, würde er wiederkommen. Auch wenn er glauben mußte, daß Johannes ihr Sohn sei.
»Ich möchte dich heute abend zum Essen einladen, okay? Mit Wein und allem drum und dran.«
Kristin vermutete, daß Marion das Essen auftischen würde, das gestern für Derrik bestimmt war und freute sich darauf, denn Marion war eine gute Köchin. Ganz im Gegensatz zu ihr.
»Ja, ich komme gern. Danke. Für den Wein sorge ich aber.«
»Okay, wie du meinst. Dann um acht, ja?«
Kristin wollte schon fragen, was sie machen sollte, falls Derrik überraschend auftauchte. Aber dann ließ sie es. Es wäre sogar ganz reizvoll. Derrik würde sich vermutlich wundern, daß seine Geliebte sich nicht etwa Asche aufs Haupt gestreut hatte und seinetwegen Bäche von Tränen vergoß, sondern vergnügt mit einer Freundin zusammensaß.
Johannes protestierte lautstark, weil er weitermalen wollte. Schließlich bestand Kristin darauf, daß er den Buntstift mitnahm. Marion war so guter Stimmung, daß sie nicht widersprach. Es herrschte himmlische Ruhe im Geschäft, nachdem Johannes weg war. Nur Frau Schneider bedauerte es, denn es hatte ihr noch mehr Spaß gemacht, auf Johannes aufzupassen als Kunden zu bedienen.
Marion hatte noch immer gute Laune, als Kristin dann am Abend vor der Tür stand.
»Komm herein, ich bin gleich fertig. Du hast bestimmt Hunger.«
Kristin hatte immer Hunger, wenn es so gut duftete wie hier. Sie fragte, ob sie noch etwas helfen könne.
»Nein, alles klar. Du kannst den Wein öffnen.«
Sie setzten sich zu Tisch. Das Essen war hervorragend. Derrik mußte verrückt sein, sich das entgehen zu lassen. Kristin sparte nicht mit Lob.
»Es ist ganz gut gelungen, stimmt. Wenn ich als Grafikerin keinen Erfolg mehr habe, könnte ich Haushälterin werden.«
»Ja, bei einem reichen Witwer. Alt muß er auch sein. Dann kochst du ihn tot und genießt das Geld.«
»Kristin!« Marion mußte lachen.
»Das habe ich gerade in einem ziemlich schwarzen Krimi gelesen. Was meinst du, wie viele Ehefrauen zu so einem Mittel greifen? Ich bin sicher, das gibt es wirklich.«
Zu spät merkte sie, daß sie das Thema Ehefrauen vielleicht nicht hätte beginnen sollen. Marions Lächeln wurde verklemmter.
»Marion, bezieh das nicht auf dich. Du wirst einen fabelhaften Ehemann finden. Ich bin ganz sicher. Du siehst nämlich echt toll aus, so wie du heute im Geschäft ankamst.«
»Wirklich? Ich bin zu dick.«
»Nein, bist du nicht. Du bist ein echtes Vollweib.«
Marion lachte wieder. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Sie erstarrte mitten in der Bewegung.
»Das… ist er bestimmt.«
»Ich denke, er hat einen Schlüssel.«
»Den vegißt er meistens. Was soll ich machen?«
Kristin schoß durch den Kopf, daß die Liebe nicht sehr groß sein konnte, wenn er den Schlüssel vergaß.
»Mach auf. Und lächel weiter. Glaub nicht, daß ich jetzt gehe.«
»Nein, das sollst du auch nicht…«
Kristin empfand fast Mitleid mit Marion, die völlig verunsichert wirkte. Aber sie blieb eisern. So leicht sollte Marion ihre jetzt viel stärkere Position nicht aufgeben.
»Hallo, Derrik«, hörte sie sie gleich darauf sagen. »Ich wollte noch mal in Ruhe mit dir sprechen«, erwiderte er streng.
Kristin ärgerte sich. Er sprach mit Marion, als wäre sie ein bockiges Kleinkind.
»Tut mir leid… , aber ich habe Besuch. Kristin ist da.«
»Dann schick sie bitte weg. Ich habe einiges anstellen müssen, um weg zu können.«
Kristin wartete gespannt, was Marion jetzt wohl antworten würde.
»Das geht nicht. Ich habe sie extra eingeladen.«
»Dir scheint es ja gutzugehen«, kam es spitz zurück.
Oh, Marion, werd’ jetzt nicht schwach, betete Kristin innerlich.
»Ich bin es ja gewöhnt, allein zu sein. Warum sollte es mir nicht gutgehen?«
»Na bitte. Wenn du dich immer noch nicht beruhigt hast und meinst, mir eine Szene machen zu müssen, kann ich ja wieder gehen.«
»Du kannst auch ein Glas Wein mit uns trinken, wenn du möchtest.«
Marion klang jetzt ganz wie die vorbildliche Gastgeberin. Kristin schmunzelte. Wie es schien, lernte ihre Freundin schnell.
»Ich lege keinen Wert auf die Gesellschaft deiner Nachbarin.«
»Tja… dann tut es mir leid.«
Ohne Abschied ging Derrik. Marion war ein bißchen bläßlich, als sie wieder hereinkam.
»Das hast du wunderbar gemacht. Er hängt am Haken, ich bin ganz sicher.«
»Ich weiß nicht… Er hat mich so angesehen, als wüßte er gar nicht mehr, was er einmal an mir gefunden hat«, antwortete Marion kläglich und ließ sich mit einem Plumps auf den Stuhl nieder.
»Natürlich. Muß er doch, weil er nicht das Gesicht verlieren will.«
»Meinst du, er kommt wieder?«
»Jetzt wird er dich vermutlich erst einmal zappeln lassen.«
»Ich hätte ihn vielleicht nicht so einfach gehen lassen sollen. Ich meine, er hat sich doch die Mühe gemacht…«
»Wer klein denkt, muß sich nicht wundern, wenn er nur Kleines bekommt«, verkündete Kristin eine Lebensweisheit, auf die sie aus Erfahrung selbst gekommen war.
»Ach, deine Sprüche nützen mir jetzt auch nichts…«
»Marion, du mußt wissen, was du willst. Wenn du dir das alles weiter gefallen lassen willst, dann fall ihm das nächste Mal um den Hals und entschuldige dich. Aber dann hör auf zu jammern.«
Kristin klang jetzt streng, und das war auch beabsichtigt. Sie war überzeugt, daß Marion etwas Besseres verdiente als diesen Macho, der glaubte, sich zwei Frauen »halten« zu können. Jetzt, wo sie gehört hatte, wie er mit Marion sprach, verachtete sie ihn nur noch mehr. Wie konnte man so einen Mann lieben?
»Ich weiß ja, daß du ihn nicht magst. Aber er hat auch seine guten Seiten…«
»Die er allerdings selten zeigt. Marion, wir trinken jetzt noch eine Flasche Wein und reden von etwas anderem. Sonst liegt mir das Essen im Magen. Außerdem wollten wir deinen Auftrag feiern.«
Sie schaffte es, ihre Freundin zu einem Lächeln zu bringen. Mehr konnte man wohl nicht erwarten.
Zwei Tage später erschien Frederik Holl wieder in der Buchhandlung. Diesmal wurde Kristin durch nichts abgelenkt und hatte die feste Absicht, das auch nicht zuzulassen, selbst wenn jetzt ein Kunde käme, der ihren Bestand aufkaufen wollte. Sie hatte seine blauen Augen noch immer nicht vergessen.
Er kam gleich zu ihr und begrüßte sie wie eine alte Freundin.
»Hallo, heute ohne Kind?«
»Ja, heute ohne Kind.«
Sollte sie das Mißverständnis aufklären? Doch er sprach schon weiter.
»Ich wollte noch ein Buch kaufen und dann gleich einmal fragen, ob wir nicht einmal zusammen essen gehen wollen.«
»Ja, gern.«
»Oh… das ist schön.«
Er sah so überrascht aus, als hätte er eine Absage erwartet. Doch das klärte sich gleich auf.
»Können Sie denn jederzeit weg? Ich meine, brauchen Sie keinen Babysitter oder so?«
»Nein, warum?«
»Lassen Sie den Kleinen allein?«
Kristin lachte. Es wurde Zeit, ihm zu sagen, daß sie weder Mann noch Kind noch sonstige Verpflichtungen hatte, die sie davon abhalten konnten, mit ihm essen zu gehen.
»Es ist nicht mein Sohn. Er ist der Sohn meiner Nachbarin, und gelegentlich mein Pflegekind.«
»Ach so… Na ja, süß war er ja. Aber so ist es mir eigentlich auch lieber.«
Er hatte also ernstere Absichten. Kristin war sehr zufrieden mit der Entwicklung.
Sie verabredeten sich für den nächsten Abend. Frederik wollte sie hier nach Feierabend abholen, damit es nicht zu spät würde. Für Kristin bedeutete das, sich hier im Laden zurechtzumachen und umzuziehen, aber das stellte kein Problem da. Ein Abendkleid war sicher nicht gefragt.
Sie eilte in Gedanken weit voraus, bis es endlich soweit war. Im Geiste hatte sie ihn bereits in ihre Wohnung eingeladen und… Na ja. Offenbar wurde es Zeit, wieder einmal die starken Arme eines Mannes zu spüren. Vermutlich hatte Marion sie angesteckt mit ihrer Liebessehnsucht.
Dort gab es noch nichts Neues. Marion hielt Kristin auf dem laufenden. Derrik hatte sich noch nicht gemeldet, er ließ sie schmoren, wie Kristin es prophezeit hatte.
Frederik erschien in der unkomplizierten Aufmachung, in der Kristin ihn kannte. Sie war froh, daß sie kein eleganteres
Outfit gewählt hatte, sondern eine schicke Hose und einen passenden Pulli trug, der allerdings einen sehr schönen Ausschnitt hatte und hin und wieder bei geschickter Bewegung eine Schulter freilegte.
»Sie sehen toll aus, Kristin.«
»Danke, Frederik. Wohin gehen wir?«
»Italienisch? Chinesisch? Oder etwas anderes?«
»Italienisch ist immer gut.«
»Das finde ich auch. In der Nähe gibt es einen, wo ich hin und wieder esse. Wollen wir?«
Kristin kannte das Restaurant ebenfalls. Sie bekamen sogar einen schönen Tisch am Fenster. Zuerst bestellten sie, bevor sie sich langsam an das Kennenlernen herantasteten.
Kristin erfuhr, daß Frederik eigentlich aus München stammte, aber in Hamburg einen Studienplatz ergattert hatte und sich hier nun sehr wohl fühlte. Er wohnte mit einem Kommilitonen zusammen in der Nähe der Uni und las in der Freizeit viel, ging im Sommer Segeln oder Schwimmen, im Winter bedauerte er allerdings die fehlende Möglichkeit des Skilaufens. Dafür lief er Schlittschuh. Sehr sportlich also, stellte Kristin fest. Das paßt nicht so sehr gut, denn sie war meistens zu bequem, sich aufzuraffen. Und wenn es einmal sein mußte, dann fuhr sie mit dem Rad herum, bis ihr Bewegungsdrang wieder gestillt war.
Frederik schien das nicht zu stören. Bücher waren eine starke Verbindung. Dann gab es noch die Leidenschaft für Filme und gutes Essen. Damit konnte man schon etwas anfangen, stellte er lächelnd fest.
»Wir sollten dann auch wirklich einmal ins Kino gehen. Den Film können Sie aussuchen.«
»Gut. Machen wir.«
Sie strahlten sich an. Im Kerzenlicht wirkten seine Augen dunkler, geheimnisvoller. Sie gefielen Kristin immer besser. Das Essen war hervorragend. Sie ließen nichts aus, von Antipasta bis zum Nachtisch. Schließlich waren sie beide so satt, daß Frederik einen Spaziergang vorschlug. Das Wetter war nicht gerade verlockend, aber dann konnte man vielleicht näher zusammenrücken beim laufen, um den Wind ein wenig abzuhalten…
Kristin war der Meinung, daß ihr Kennenlernen gute Fortschritte machte. Deshalb lud sie Frederik zu sich zu Hause ein, vor dem geplanten Kinoabend.
»Wir könnten bei mir essen und dann ins Kino fahren.«
»Das ist eine sehr gute Idee. Ich freue mich darauf. Dann also am Freitag.«
»Ja, abgemacht. Allerdings schaffen wir dann nur die Spätvorstellung. Sonst müßten wir am Sonnabend gehen.«
»Macht doch nichts, oder?«
»Nein, mir nicht. Ich gehe nie früh schlafen.«
Noch eine Übereinstimmung.
*
Kristin hatte sich von Marion das Rezept für die tolle Spaghettisauce geben lassen wollen, merkte aber schon beim Aufzählen der Zutaten, daß sie ihre Kochkünste damit überschätzte. Also kaufte sie am Freitag auf dem Markt Antipasti, getrocknete Tomaten in Olivenöl, geschmorte Auberginen, Oliven und Ähnliches, dann für jeden ein saftiges Steak, die Zutaten für Salat und ein fertiges Dressing. Dazu würde es italienisches Weißbrot geben. Ein gutes Essen, das ihrem Gast sicher schmeckte.
Sie verließ die Buchhandlung um halb sechs, um genügend Zeit zu haben für die Vorbereitung des Essens und – noch wichtiger – ihrer selbst. Kristin war aufgeregt. Es war lange her, daß sie einen Mann in ihre Wohnung eingeladen hatte. Würden sie wirklich ins Kino gehen? Oder wäre es so gemütlich… Na ja, daran dachte sie nicht wirklich. So leicht wollte sie es Frederik auch nicht machen. Schließlich sollte es kein kurzes Abenteuer werden. Die blauen Augen wären sicher in ein paar Jahren auch noch reizvoll.
Bei diesem Gedanken zuckte Kristin zusammen. Dachte sie etwa an Heirat? Der »Marion-Virus« schien sie voll erwischt zu haben, dabei kannte sie Frederik ja kaum.
Trotzdem pfiff sie vergnügt vor sich hin, während sie die Antipasti auf einem weißen Porzellanteller anordnete, das Brot in den Backofen schob und den Tisch deckte. Nachdem das alles geschehen war, wollte sie an ihre eigene »Aufrüstung« gehen, als es klingelte.
»Mist…«, murmelte sie vor sich hin, ging aber trotzdem zur Tür. Hoffentlich war das nicht schon Frederik, der sich mit der Zeit geirrt hatte.
Es war eine strahlende Marion.
»Gut, daß du da bist.«
»Ich habe aber eigentlich keine Zeit. Ich bekomme Besuch.«
»Oh, das macht nichts. Ich wollte dich nur bitten, Johannes bei dir schlafen zu lassen. Stell dir vor, eben hat Derrik angerufen! Er will mit mir essen gehen…«
Ihre Augen leuchteten wie Scheinwerfer. Das war ja auch ein Ereignis, denn wie Kristin wußte, war er bisher noch nie mit ihr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Er mußte ganz schön Angst haben, daß Marion nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Nur paßte es gerade jetzt nicht so gut…
»Aber ich will mit Frederik noch ins Kino…«
»Oh, bitte, Kristin, bitte, bitte… ich flehe dich an… Laß mich nicht im Stich! Ich bin dann um halb zehn wieder hier, dann kannst du ja noch gehen. Ich glaube sowieso, daß Derrik und ich es dann sehr eilig haben werden, herzukommen…«
Sie errötete sogar.
Kristin war hin und her gerissen. Natürlich könnte sie das machen, um Marion zu helfen. Johannes schlief meist fest, wenn er abends ins Bett kam. In seinem Reisebettchen könnte er später hinübergetragen werden, eigentlich kein Problem…
»Ich weiß, was ich dir zumute, Kristin, aber es ist mir so wichtig… Derrik sagte, er will mir einen Vorschlag machen…«
Konnte sie dem Glück ihrer Freundin im Wege stehen? Nein, sie hätte den ganzen Abend ein schlechtes Gewissen.
»Na gut. Dann bring ihn rüber. Aber sei bitte wirklich um halb zehn wieder hier.«
»Du bist ein Schatz! Das werde ich dir nie vergessen.«
Marion umarmte sie stürmisch.
»In einer halben Stunde bringe ich Johannes. Er hat dann gegessen und ist fertig zum Schlafen. Müde ist er sowieso schon.«
»Gut, dann kann ich mich vorher noch schnell fertigmachen.«
Jetzt wurde es Zeit. Kristin merkte, daß sie sich doch ein bißchen überrumpelt fühlte, doch nun hatte sie einmal zugesagt. Hoffentlich suchte sich Johannes nicht gerade diesen Abend aus, um seine Gewohnheiten zu ändern.
Es ließ sich gut an. Johannes schlief fest, als seine Mutter das Bett über den Flur rollte. Er sah aus wie ein kleiner Engel, kaum zu glauben, wie hartnäckig er sein konnte, wenn er etwas wollte…
»Derrik kommt gleich. Bis später dann. Wenn er eine neue Windel brauchen sollte, weißt du ja, wo alles liegt. Aber das wird sicher nicht passieren.«
Warum erwähnte sie es dann? Kristin beäugte das schlafende Kind mißtrauisch. Johannes grunzte einmal und schob einen Daumen in den Mund.
Kristin ließ die Schlafzimmertür einen Spalt offenstehen, damit sie hören konnte, falls er erwachte. Dann wartete sie auf ihren Gast. Das Essen war vorbereitet, sie mußte nur noch die Steaks braten. Der Tisch sah
hübsch aus, sie machte sicher den Eindruck der perfekten Hausfrau. Allerdings war Kristin nicht ganz sicher, daß sie das auch wollte. Jedenfalls nicht vordringlich…
Frederik brachte Blumen und Wein mit. Er umarmte sie sogar zur Begrüßung und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Kristin lächelte.
»Bitte, setz dich. Wir können gleich anfangen.«
Für Johannes war es offenbar auch eine Aufforderung. Plötzlich hörte sie ein leises Weinen aus dem Schlafzimmer.
Frederik schaute sie leicht irritiert an.
»Was ist denn das?«
»Johannes. Tut mir leid, aber meine Nachbarin mußte plötzlich weg und… Sie holt ihn aber um halb zehn wieder. Warte mal kurz, ich bin gleich wieder da.«
Dieses kleine Monster! Warum gerade heute? Er schrie, und es klang irgendwie jämmerlich, nicht wie sonst, wenn er bockig war.
Kristin roch schon, was das bedeuten mußte, als sie sich über sein Bettchen beugte. Johannes hatte die Windeln voll. Und sie die Nase, denn bisher hatte sie mit solchen Dingen nie zu tun gehabt. Sie wußte nicht einmal, wie man jetzt fachmäßig vorging.
»Ich muß mal eben rüber und eine frische Windel holen. Tut mir leid, Frederik. Wie wäre es, wenn du schon mal anfängst?«
»Nein, ich warte. Mach dir keinen Streß, das ist schon in Ordnung.«
Er sah tatsächlich noch einigermaßen gespannt aus. Kristin atmete auf. Hoffentlich behielt er seinen Humor. Sie war schon nahe daran, ihn zu verlieren. Wenn sie sich jetzt doof anschickte beim Windelwechsel, würde das das Bild der perfekten Powerfrau sicher ein wenig ankratzen. Eigentlich sollte doch jede Frau in der Lage sein, eine Windel zu wechseln. Ob Männer so dachten?
Alles wurde schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Johannes hatte Durchfall, er war bis zum Hals vollgeschmiert und mußte komplett umgezogen werden. Da Kristin ihn auf ihre Überdecke gelegt hatte, bekam auch die etwas ab, weil Johannes sich mit Schwung umdrehte und fortkrabbeln wollte. Kristin würgte bereits an einem Brechreiz. Ohne Hilfe von Frederik würde sie hier nicht fertig werden.
Notdürftig wischte sich Johannes’ Po ab und legte ihn wieder ins Bettchen, um frische Kleidung für ihn zu holen. Er schrie sofort wie am Spieß.
Frederik sah nicht mehr ganz so gelassen aus. Inzwischen stank es auch schon im Wohnzimmer.
»Du hast da etwas an der Bluse…«
Na prima, das hatte gerade noch gefehlt. Ihre beste Seidenbluse, die sie nicht selbst waschen konnte…
»Ich… es tut mir echt leid. Ich muß noch eben Wäsche für ihn holen…«
»Kann ich irgendwie helfen?«
Sie mußten beide ziemlich laut sprechen, um das Geschrei zu übertönen.
»Nein, ich schaff’ das schon«, gab sie tapfer und wenig überzeugend zurück.
Wo war die Wäsche? Kristin öffente Schubladen und Schränke, bevor sie alles zusammengesammelt hatte, was sie vielleicht brauchte. Marion würde sich allerhand einfallen lassen müssen, um das wieder gutzumachen! Sie hatte wohl gewußt, daß ihr Sohn nicht ganz in Ordnung war, warum sonst hatte sie auf die Windeln hingewiesen?
Kristin wußte, daß sie ein wenig ungerecht war, aber es tat im Moment gut, einen Schuldigen zu haben. Schließlich gelang es ihr, den zappelnden und laut schluchzenden Johannes wieder einigermaßen sicher zu verpacken. Richtig waschen konnte ihn seine Mutter, das würde ihr dann auch ein wenig die Pläne verderben und wäre nur gerecht. Vielleicht half Derrik ihr ja, seinen Sohn zu baden. Das Bett würde warten müssen.
»O Gott, jetzt muß ich mich ja noch umziehen. Nur noch eine Sekunde.«
Frederik nickte ergeben.
Inzwischen war es kurz nach neun, als sie mit dem Essen beginnen konnten. Kristin war der Appetit allerdings vergangen, die Wohnung roch durchdringend nach Johannes’ Malheur, trotz der geöffneten Fenster. Frieren oder ersticken, eine andere Wahl blieb nicht.
Wenigstens schien es Frederik zu schmecken. Sogar das Steak war genau richtig durch, als sie es servierte. Die Uhr zeigte jetzt halb zehn. Das Kino würde wohl ausfallen, aber möglicherweise war das gar nicht so schlimm. Sie waren bereits wieder im Stadium des Flirtens, und Johannes schlief.
Um Viertel vor zehn klingelte es. Kristin vermerkte es auf der imaginären Schuldenliste ihrer Freundin. Halb zehn war ausgemacht gewesen.
Vor der Tür stand eine heulende Marion.
»Mein Gott, was ist nun wieder los?« raunzte Kristin sie an.
Ihr Bedarf an Tränen und Katastrophen war reichlich gedeckt. Es war klar, daß sie Marion jetzt nicht einfach das Kind in den Arm drücken und sie in ihre Wohnung schicken könnte. Good bye, Glück zu zweit…
»Entschuldige…, aber ich… es war so schrecklich…«
»Komm rein, Mensch, Marion, diesen Abend kann man echt in die Tonne treten.«
»Ist dein Besuch nicht gekommen?«
»Doch. Und eigentlich könnte es sogar nett gewesen sein.«
Diese Antwort konnte Kristin Marion nicht ersparen, sie wäre daran erstickt. Aber Marions eigener Kummer wog schwerer. Sie ging nicht darauf ein.
»Darf ich vorstellen? Frederik Holl, Marion Altmann, Johannes’ Mutter.«
Marion schniefte noch einmal, wischte sich über die Augen und streckte Frederik mit einem kleinen, verlegenen Lächeln die Hand entgegen.
Kristin war es, als hörte sie deutlich das Zusammenschließen zweier chemischer Kreise. Marion und Frderik sahen sich an, und die Zeit blieb stehen.
Na, das war ja wohl die Höhe! Sie wurde rot und wußte nicht, was sie tun oder sagen sollte. Noch immer rührten sich ihre Gäste nicht. Als wäre sie gar nicht vorhanden! Und das mitten in ihrem Wohnzimmer, nachdem sie aus lauter Gutmütigkeit alle Schwierigkeiten für Marion aus dem Weg geräumt hatte! Da wagte diese Schlange es, ihr hier vor ihren Augen den zukünftigen Liebhaber auszuspannen?
Und Frederik? Er könnte schließlich auch mal wieder checken, daß er bei ihr zu Besuch war, gerade ihr teures Essen konsumiert und eben noch tief in ihren Augen gesehen hatte!
»Also…«, begann sie.
Beide drehten sich wie auf Kommando zu ihr um. Sie sahen aus wie frisch vom Mond gefallen, mit einem unläubigen, träumerischen Ausdruck in den Augen, der Kristin die Sprache raubte. Sie hätte sowieso nicht gewußt, was sie sagen sollte.
»Ich… glaube, ich gehe dann mal. Danke, daß du auf Johannes aufgepaßt hast.«
Seit wann sprach Marion mit dieser leicht rauhen, kurzatmigen Stimme?
»Er hat Durchfall, und war voll bis zum Hemdkragen!«
Das war deutlich und nahm der Romantik den Glanz. Marion schluckte und schlüpfte wieder in die Mutterrolle, die Kristin auch sehr viel angezeigter fand.
»O Gott, also doch… Ich war nicht sicher…«
»Du hast es also gewußt und ihn mir trotzdem gebracht. Vielen Dank.«
Kristin spürte Wut und Gemeinheit in sich. Sie wollte verletzen. Sie wollte allen klarmachen, daß man so nicht mit ihr umspringen konnte.
»So schlimm war es doch auch nicht, Kristin«, mischte sich Frederik zu allem Überfluß ein.
»Hab ich ihn saubergemacht oder du? Es stinkt noch immer.«
Frederik sah sie an, als habe er plötzlich ein Monster mit zwei Köpfen vor sich und schwieg. Kristin war es egal, der Abend war verdorben.
»Er steht im Schlafzimmer.«
Marion ging hinüber und zog das Bettchen durch die Tür. Sofort sprang Frederik ihr bei und trug es mit Marion zusammen hinüber. Am liebsten hätte Kristin die Tür hinter ihm geschlossen. Sie wußte, wo er jetzt lieber wäre als bei ihr.
Natürlich wahrten sie alle die Form. Marion winkte von der Tür aus noch einmal. Frederik kam zurück und setzte sich. Er trank einen Schluck Wein und sah aus, als wäre er weit weg.
»Ich glaube, du solltest jetzt gehen. Fürs Kino ist es sowieso zu spät und ich bin… etwas müde.«
Was sollte das? Warum sollte sie ihn aufhalten, wo er doch augenscheinlich gar kein Interesse mehr an ihr hatte? Vielleicht war es ganz gut so. Seine Augen waren viel zu blau, um treu zu sein. Für Marion zeigte sich vermutlich die nächste Liebespleite ab, wenn sie sich tatsächlich in Frederik verliebt hatte.
Mit diesem nur zum Teil befriedigendem Gedanken ging Kristin schlafen.
*
Drei Tage ging Kristin ihrer Freundin aus dem Weg. Sie war noch immer sauer, wenn sie inzwischen auch zugeben mußte, daß Marion Frederik keine schönen Augen gemacht oder sonst irgendwie versucht hatte, ihn ihr auszuspannen. Eigentlich müßte sie ihm viel mehr böse sein. Aber wenn die beiden buchstäblich der Blitz getroffen hatte, konnte sie auch das nicht. So etwas gab es ja wohl, wenn Kristin auch lieber gesehen hätte, daß sie das »Opfer« dieses Blitzes gewesen wäre.
Eine leichte Schadenfreude empfand sie bei dem Gedanken, daß Frederik sich jetzt wohl mit Ersatzvaterpflichten herumplagen müßte. Dabei war er darauf nicht gerade erpicht, wie sie wußte. Möglicherweise hatten die beiden sich gar nicht wiedergesehen, und sie machte sich umsonst Gedanken, daß sie Frederik nun dauernd bei Marion antreffen würde.
In die Buchhandlung kam er nicht. Also ging sie davon aus, daß auch er sie mied. Hatte er ihr gegenüber wenigstens ein schlechtes Gewissen? Recht geschah ihm. Sie hatte sich soviel Mühe gegeben, ihm ein schönes Essen vorzusetzen, und das war nun der Dank…
Langsam beruhigte sie sich. Was hatte es für einen Sinn, böse zu sein? Viel schlimmer wäre es gewesen, wenn sich Marion und er getroffen hätten, nachdem sie mit ihm etwas angefangen hatte. So war nicht viel passiert außer einem freundschaftlichen Kuß. Das war doch wenigstens eine Beruhigung.
Wie es Marion wohl erging? Eigentlich könnte sie ja auch einmal klingeln. Doch Kristin wartete vergeblich darauf, obwohl sie wußte, daß ihre Freundin – oder sollte Ex-Freundin heißen? – Zu Hause war.
Schließlich wurde es ihr zu dumm. Was nützten die Spekulationen? Entweder sie blieben Freundinnen, oder es war vorbei, aber wissen wollte Kristin es
nun.
Sie nahm ihren Mut zusammen, versuchte den leichten Ärger, den sie schon wieder empfand, als sie hier bei Marion vor der Tür stand, zu unterdrücken und klingelte.
Einen Moment geschah gar nichts. Dann hörte sie eine sehr fröhliche Marion rufen, daß sie sofort an die Tür käme. Kristin war sicher, daß sie jemanden erwartete – und das war bestimmt nicht sie.
Am liebsten wäre sie schnell in ihre Wohnung zurückgegangen. Aber so albern konnte sie nicht wirklich sein. Standhaft blieb sie in Warteposition.
»Ach, ich freue…«
Marion erkannte, daß es nicht der erwartete Besucher war und wurde rot.
»Du bist es…«
»Ja, ich bin es nur.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht. Entspann dich. Es war dir deutlich anzusehen. Kann ich mit dir sprechen?«
»Natürlich. Komm herein. Allerdings kommt… Frederik gleich.«
»Ach, soweit seid ihr schon? Ich wundere mich nur, daß du mir nicht Johannes zum Aufpassen bringst?«
Das war natürlich gemein. Kristin wußte es, noch bevor sie das betroffene Gesicht ihrer Freundin sah. Aber eine Entschuldigung brachte sie nicht über die Lippen.
»Tut mir leid, wenn du böse auf uns bist. Ich verstehe es sogar, deshalb mochte ich mich noch gar nicht melden. Ich weiß nämlich nicht, was ich… dir sagen soll.«
»Wie wäre es damit, daß es dir leid tut?«
»Ja, sicher tut es mir leid. Sehr leid sogar. Aber ich wollte das ebensowenig wie er. Übrigens sehen wir uns heute das erste Mal, nachdem ich ihn bei dir getroffen habe.«
»Wirklich? Warum denn das?«
Kristin war wirklich neugierig, warum die beiden eine solche Zurückhaltung übten. Gleichzeitig entspannte sie sich endlich. Geschehen war geschehen und so richtig heftig verliebt war sie ja glücklicherweise nicht gewesen. Sonst würde sie jetzt bestimmt mehr leiden.
»Weil… wir beide Hemmungen hatten, glaube ich. So starke… Gefühle hatte ich noch nie.«
»Was? Nicht mal bei deinem Derrik?«
»Nein, das ist anders. Oder war anders, sollte ich wohl sagen.«
»Was ist eigentlich an dem Abend passiert? Warum hast du geheult?«
Marion warf einen vorsichtigen Blick auf die Uhr. Kristin tat so, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie wollte erst einmal ihre Neugier befriedigen, bevor sie sich dezent zurückzog. Und heimlich hoffte sie darauf, auch Frederiks Verlegenheit noch genießen zu können, wenn er
kam.
»Er ist mit mir in so eine kleine Klitsche gegangen, in die sich bestimmt niemand von seinen Bekannten verirren könnte. Das Essen war furchtbar. Un dann wagte er mir vorzuschlagen, daß ich doch weiter wegziehen könnte, damit er mich freier besuchen und Johannes regelmäßig sehen kann.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Kristins Empörung schien Marion zu freuen. Sie lächelte.
»Ich glaube, in dem Moment bin ich wach geworden. Ich bin einfach aufgestanden und dann noch eine Weile draußen herumgelaufen, bis ich endlich ein Taxi fand in dieser gottverlassenen Gegend. Deshalb bin ich auch zu spät gekommen. Vor ihm habe ich übrigens nicht geheult.«
»Du lernst in einem Affenzahn.«
»Na ja, jetzt ist ja sowieso alles ganz anders…«
Ihre Augen begannen zu leuchten. Kristin begrub auch den Rest ihres Frustes und lächelte ebenfalls.
»Ich gönne es dir. Ein paar Tage brauchte ich halt, um wieder zu mir zu kommen.«
»Ach, Kristin, ich bin so froh! Ich hätte es nicht ertragen, deine Freundschaft zu verlieren. Bist du Frederik denn auch nicht mehr böse? Ich meine, ich weiß nicht, wie weit es mit euch schon war, aber…«
Für eine Sekunde dachte Kristin, daß sie Marion mit der Antwort vielleicht ein bißchen zappeln lassen könnte, aber dann fand sie das doch ziemlich gemein.
»Keine Bange, wir hatten nichts miteinander. Soweit ist es gar nicht gekommen.«
»Gott sei Dank.«
Ja, so hätte Kristin im umgekehrten Fall auch gedacht.
»Ich gehe dann mal wieder. Viel Spaß. Hat sich Johannes wieder erholt?«
»Ja, es war schon am nächsten Tag wieder gut. Tut mir leid, daß er…«
»Der Abend ist ganz schön in die Hose gegangen.«
Sie kicherten. Kristin wandte sich zum Gehen, und Marion hielt sie natürlich nicht zurück. Sie bat Kristin nur darum, sich an einem der nächsten Abende für sie Zeit zu nehmen. Kristin versprach es.
Sie bezwang ihren Impuls, Frederik wenigstens durch den Türspion kommen zu sehen. Langsam entwickelte sie sich ja wohl zu einer alten Jungfer, die nur aus zweiter Hand lebte! Das war entschieden nicht die Rolle, die sie spielen wollte. Und um das gleich zu demonstrieren, zog sie sich ein aufregendes Schlauchkleid an, schminkte sich ein wenig mehr als sonst und ging zum Essen.
Bei »ihrem« Italiener herrschte an diesem Abend nicht viel Betrieb. Das hatte den Vorteil, daß sie anstandslos einen Tisch bekam und den Nachteil, daß kaum alleinstehende Herren hier waren, mit denen sie ein bißchen flirten und ihr Selbstbewußtsein aufpolieren konnte. Zwei Männer waren in ein angeregtes Gespräch vertieft und beachteten sie gar nicht, aber Kristin tröstete sich mit dem Gedanken, daß die beiden vielleicht sowieso nicht an Frauen interessiert waren. Ein Herr saß allein an einem Tisch, und sogar in ihrer Blickrichtung, aber der schaufelte die Spaghetti auf so unappetitliche Weise in sich hinein, daß sogar der Kellner ihn leicht irritiert ansah.
Nun, wenn schon nicht der richtige Mann in der Nähe war, dann wollte Kristin es sich wenigstens schmecken lassen. Sie bestellte sich das beste Essen, das auf der Karte verzeichnet war. Jedenfalls ließ der Preis vermuten, daß es das beste war.
Natürlich durfte auch Wein nicht fehlen. Sie nippte und trank dann einen ordentlichen Schluck. Wenn sie allein in einem Restaurant war, hatte sie immer das Bedürfnis sich an irgend etwas festzuhalten. Da war das Weinglas ebensogut geeignet wie eine Zigarette. Da sie aber nur noch ganz wenig rauchte, wollte sie nicht gerade jetzt damit anfangen.
Ihr Essen wurde serviert. Es duftete herrlich. Kaum hatte sie zur Gabel gegriffen, kam ein Mann an ihr vorbei, der ihr sofort bekannt vorkam. Und richtig, es war derjenige, der an dem Tag in der Buchhandlung war, als sie Frederik kennengelernt hatte.
Er war allein. Er setzte sich sogar ganz in die Nähe. Zwar konnte sie ihn nur von der Seite bewundern, aber wenn sie sich ganz auf ihn konzentrierte, würde er sich vielleicht umdrehen und sie anschauen…
Nein, entweder reichte ihre Konzentration nicht, oder er war überhaupt nicht an seiner Umgebung interessiert. Sein Blick auf die Uhr ließ Kristin zudem vermuten, daß er verabredet war und das dann sicher mit einer atemberaubenden schönen Frau. Soviel zu ihrem Glück bei Männern.
Es kam eine Frau, aber atemberaubend schön war sie nicht. Kristin stellte sogar befriedigt fest, daß sie viel besser aussah, als jene, die allerdings mit einer herzlichen Umarmung und einem Kuß begrüßt wurde. Sie mußte sich ein wenig zusammenreißen, um ihr Essen noch immer so schmackhaft zu finden. Irgendwie war der Wurm in ihrem Liebesleben.
Erst als sie zahlen wollte, drehte sich der Mann einmal kurz zu ihr herum. Seine Augen weiteten sich leicht, er hatte sie also auch erkannt. Und er sah natürlich, daß sie hier allein saß. Das war Kristin plötzlich gar nicht so recht, aber nicht zu ändern. Als Ausgleich strahlte sie den Kellner so an, daß der wohl glatt
auf sein Trinkgeld verzichtet hätte.
Schade, daß sie jetzt gehen mußte. Es hätte Kristin interessiert, ob er noch einmal den Versuch gemacht hätte, zu ihr herüberzuschauen. Wenn ihr Frederik ausgespannt worden war, warum sollte der Begleiterin dieses Mannes nicht Gleiches passieren? Verliebt wirkten die beiden nicht unbedingt. Vielleicht waren sie ja auch nur Freunde…
Oder es war seine Ehefrau, und er war ein großer Langweiler. Ja, das mochte ebensogut sein. Die Vorstellung tröstete Kristin schließlich, bis sie zu Hause war und ihn sowieso vergaß, weil sie aus der Wohnung nebean lautes Kinderweinen hörte.
Johannes war offenbar bestrebt, seiner Mutter den Abend mit dem neuen Lover zu verderben. So etwas nannte man dann wohl ausgleichende Gerechtigkeit.
*
Marion fühlte sich wie im siebenten Himmel. Sie fand es zwar ein wenig komisch, das Kristin so ungeschminkt zu erzählen, aber Kristin reagierte entspannt.
»Das freut mich für euch. Sag Frederik, daß ich ihn nicht auch noch als Kunden verlieren will. Er soll sich ruhig mal wieder sehen lassen.«
»Ich glaube, es ist ihm wirklich ein bißchen peinlich. Dabei mag er dich wirklich sehr gern.«
Ach, wie tröstlich, dachte Kristin ein wenig spöttisch, aber sie sprach es nicht aus.
»Ich sag ihm noch einmal, daß er seine Bücher weiterhin bei dir kaufen kann.«
»Das klingt ja so, als verlange ich das zum Ausgleich. Sag lieber gar nichts und überlaß es ihm.«
»Ich muß jetzt gleich zur Vorsorge. Stell dir vor, Frederik ist zu Hause und paßt auf Johannes auf. Er hat extra seine Vorlesung sausen lassen.«
»Wie nett von ihm. Kommt er denn gut klar mit Johannes?«
»Na ja, noch ein bißchen ungeübt, aber das wird noch.«
»Mag er denn Kinder? Ich meine, habt ihr darüber gesprochen?«
Was hatte er Marion wohl erzählt?
»Er sagt, er kann sich noch kein Urteil erlauben, weil er nie mit ihnen zu tun hatte. Aber weil er so… verliebt in mich ist, liebt er auch Johannes.«
»Dann ist es ja gut. Wollt ihr zusammenziehen?«
»Soweit sind wir noch nicht. Aber ich hoffe es. Endlich ein Mann, der frei ist und nicht irgendwo eine Ehefrau sitzen hat. Ich bin so froh…«
»Das kannst du auch sein. Schon allein, daß du von diesem Ekel Derrik frei bist…«
»Ich muß los. Ich wollte nur kurz reinschauen. Komm doch mal wieder rüber.«
Kristin ersparte es sich, ihre Freundin darauf hinzuweisen, daß sie es war, die nie mehr Zeit hatte.
Marion mußte sich wirklich beeilen. Sie wußte, daß Frederik nicht ganz freiwillig gekommen war, um auf Johannes aufzupassen, und sie wollte ihn nicht überfordern. Aber er hatte natürlich sofort eingesehen, daß sie Kristin im Moment nicht schon wieder fragen konnte.
Ihr Frauenarzt hatte noch drei Patientinnen vor ihr zu behandeln, wie die Sprechstundenhilfe Marion mitteilte. Sie setzte sich also geduldig ins Wartezimmer. Nach einer halben Stunde fragte sie nach, wie lange sie noch warten müsse.
»Es ist ein Notfall dazwischengekommen. Es wird noch ein wenig dauern.«
»Kann ich kurz telefonieren. Ich muß dem Babysitter Bescheid sagen.«
Man schob ihr das Telefon hin. Marion wählte ihre Nummer. Es dauerte einen Moment, bis sich Frederik meldete. Er klang atemlos.
»Ich bin es. Du, ich weiß nicht genau, wann ich wiederkomme. Ich bin noch nicht dran gewesen.«
»Na ja, dann läßt sich das nicht ändern.«
Begeistert klang es nicht. Marion kämpfte mit einer kurzen Panik. Wenn e r sich nun überfordert fühlte und sich wieder von ihr trennte? Das wäre unerträglich…
»Hallo? Mach dir keine Gedanken, wir kommen schon klar.«
»Wirklich? Ich meine, sonst lasse ich es und komme…«
»Nein. Das mußt du wirklich nicht tun. Alles in Ordnung.«
»Du bist wirklich ein Schatz.«
»Ich weiß«, gab er zurück und lachte.
Marion legte auf. Ihr Herz klopfte schneller, wie immer wenn sie mit Frederik sprach, aber auch schon, wenn sie nur an ihn dachte. Was hatte sie nur für ein Glück! Ein solcher Mann, fröhlich, gut aussehend mit diesen unglaublich blauen Augen, zärtlich, ein guter Liebhaber und dann noch kinderlieb. Mehr konnte keine Frau erwarten. Daß er noch eine Weile studieren würde, machte nichts. Sie verdiente genug, wenn sie ganz genau rechnete. Natürlich wäre dann kein Urlaub mehr drin und neue Kleidung bestimmt auch nicht, aber sie hatte doch eigentlich auch genug anzuziehen…
»Frau Altmann, bitte.«
Na endlich. Voller Ungeduld betrat sie das Sprechzimmer. Wenn sie hier bald fertig war, hätte Frederik vielleicht noch ein bißchen Zeit, bevor er los mußte. Johannes würde dann seinen Mittagsschlaf halten…
Dr. Huber war immer sehr gründlich. Und bei Marion besonders, denn sie hatte die letztjährige Untersuchung einfach immer wieder verschoben, bis nun zwei Jahre daraus geworden waren. Zuletzt war sie vor Johannes’ Geburt zur Krebsvorsorge gewesen, wie er nachrechnete.
»Ich fühle mich sehr wohl. Da wird wohl nichts sein.«
»Hmm. Dann wollen wir mal sehen.«
Er machte einen Abstrich, tastete herum – es zwickte ein bißchen, aber das schien normal zu sein – untersuchte auch rektal, was der Grund war, warum Marion diese Krebsvorsorge absolut abscheulich fand, wenn sie auch einsah, daß es sein mußte.
»Gut, das sieht ganz gut aus. Natürlich können wir erst Näheres sagen, wenn das Ergebnis da ist. Nun noch die Brust.
Er tastete ihre Brüste ab. Dabei schloß er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Jedenfalls hoffte sie, daß das der Grund war. Gleich rügte sie sich selbst wegen ihrer Gedanken. Seit sie Frederik kannte, war sie beträchtlich lockerer geworden.
Plötzlich stockte Dr. Huber, öffnete die Augen, warf ihr einen kurzen Blick zu und tastete noch einmal fester. Das tat weh.
»Au…«
»Tut es weh? So auch?«
Er schob die gestreckten Finger von unten gegen die Brust und strich langsam nach oben. Marion zuckte zusammen.
»Ja, das tut auch weh. So fest haben Sie letztes Mal nicht gedrückt.«
»Doch, so fest drücke ich immer. Da scheint mir eine kleine Verhärtung zu sein. Auf jeden Fall muß das näher untersucht werden.«
Marion wurde flau. Sollte das vielleicht heißen, daß sie… Nein, das war unmöglich. Das konnte und durfte nicht sein. Niemals. Nicht sie. Sie nicht…
Bitte…
»Frau Altmann? Setzten Sie sich und atmen Sie tief durch. Noch heißt das überhaupt nichts.«
»Aber… es könnte…«
»Ich möchte weder Spekulationen abgeben noch Sie beunruhigen. Um das klar zu bekommen, werde ich Sie sofort zur Mammographie schicken.«
»Ich will das nicht. Ich habe gelesen, daß es oft mehr schadet als nützt.«
»Das mag sein, wenn es um eine reine Routineuntersuchung geht, aber in diesem Fall ist es begründet. Es muß abgeklärt werden. Wir machen auch eine Röntgenaufnahme. Und wenn dann nicht alles ganz klar ist, möchte ich Sie in die Klinik einweisen.«
Er wollte sie nicht beunruhigen? Als nächstes würde er ihr erklären, wie der Schnitt bei einer Amputation gelegt würde!
»Tut mir leid, aber ich möchte mich erst kundig machen.«
Jetzt sah er sie scharf an, und blinzelte dann.
»Entschuldigen Sie, Frau Altmann, ich habe Sie wohl doch ein wenig überfordert. Aber wir müssen das wirklich abklären. Sie haben doch ein kleines Kind, und das braucht eine gesunde Mutter, nicht wahr?«
Wie gemein von ihm, sie an ihre Verantwortung zu erinnern! War es schon so ernst? War er schon so sicher, daß man etwas finden würde, das keine vergrößerte Milchdrüse war.
Ich habe keinen Krebs. Das gibt es nicht in meiner Familie, sagte sich Marion auf dem Weg zur Röntgenpraxis pausenlos. Aber es nützte nicht viel. Die Angst hatte sich in ihrem Bauch festgebissen. Und die Brust tat jetzt auch weh.
Wieder mußte sie warten. Eigentlich sollte sie Frederik anrufen. Wenn sie nach Hause kam, hatte er mit Sicherheit auch die wichtige letzte Vorlesung versäumt. Sie könnte ihn bitten, Johannes zu Kristin zu bringen. Aber komischerweise war sie nicht so erpicht darauf, die beiden zusammenzubringen. Dazu war ihre Beziehung noch zu neu. Vielleicht funktionierte diese Liebe auf den ersten Blick auch rückwirkend. Dann könnte sich Frederik fragen, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hätte, zumal er sicher gereizt wäre, weil er so lange aufpassen mußte…
Nein, sie wüßte sowieso nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie schliefen jetzt erst seit ein paar Tagen zusammen. Wie konnte man so einem Mann denn sagen Du mußt noch länger aufpassen, weil mein Frauenarzt glaubt, daß ich Brustkrebs haben könnte? Das war einfach nicht vorstellbar!
*
»Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Frau de Bruhs. Der junge Mann, der schon mehrmals hier war. Und er hat Johannes dabei.«
Frau Schneider mußte Kristin aus dem kleinen Büro holen, wo sie gerade am Computer saß und die Buchführung vervollständigte. Jetzt sah Kristin alarmiert auf.
»Sind Sie sicher?«
»Ja, ich kenne Johannes doch.«
Kristin wollte nur einige Sekunden Zeit gewinnen, wie sie merkte. Was wollte Frederik hier? Und warum brachte er Johannes mit? Dachte er etwa, sie könne den Kleinen übernehmen, weil es ihm zuviel wurde? Nun, dann gewöhnte er sich besser gleich daran. Wenn er mit Marion leben wollte, gehörte Johannes dazu.
»Ich komme sofort.«
Frau Schneider ging wieder hinaus. Kristin schaute schnell in den Spiegel. Alles in Ordnung, sie sah aus wie immer. Keine Spur von Blässe oder Unsicherheit. Immerhin sah sie Frederik heute das erste Mal nach dem verunglückten Rendezvous wieder.
Die beiden warteten bei der Sitzecke auf sie. Kristin lächelte, wenn auch nicht so strahlend wie früher.
»Guten Tag, Frederik. Hallo, Johannes. Was kann ich für euch tun?«
Das klang doch ganz passabel.
»Entschuldige, Kristin, daß ich einfach so herkomme… Aber ich mache mir etwas Sorgen um Marion…«
Verdammt. Es war immer noch komisch. Kristin hatte Mühe, das Lächeln auf ihren Lippen zu halten. Sie atmete etwas schneller.
»Sie wollte um halb zwölf spätestens zurück sein. Jetzt ist es schon eins. Angerufen hatte sie mich kurz von der Praxis aus, daß es ein wenig länger dauert, aber so lange…«
»Vielleicht hatte der Arzt einen Notfall. Es wird schon nichts passiert sein.«
Eigentlich ein starkes Stück, daß er hierherkam, um sich auszuweinen.
»Ich finde, es sieht ihr nicht ähnlich, nicht noch einmal Bescheid zu sagen. Mein Termin war wichtig, das wußte sie.«
»Das tut mir leid.«
Wie wollte Frederik wissen, was Marion ähnlich sah und was nicht? Er kannte sie doch genauso wenig wie er Kristin gekannt hatte…
»Na ja, es hätte ja sein können, daß sie hier wäre. Dann gehe ich mal wieder.«
Plötzlich tat er Kristin leid. Er machte sich wirklich Sorgen, das sah sie. Es war und blieb ihre Rolle – sie mußte großmütig verzeihen und ihm jetzt auch noch Trost zusprechen. Na ja, versuchen konnte sie es ja mal.
»Soll ich Johannes hierbehalten? Würde dir das helfen?«
»Nein, nein, für die Vorlesung ist es jetzt sowieso zu spät. Ich warte dann zu Hause auf Marion. Der kleine Spaziergang war für Johannes ja ganz gut.«
»Wie du meinst. Ich würde dir aber sonst gern helfen.«
»Du bist eine tolle Frau, Kristin. Es tut mir leid, daß alles ein bißchen anders als geplant gekommen ist.«
Na also, er erkannte ihre großartige Haltung wenigstens an. Da fiel es schon nicht mehr ganz so schwer.
»Schon gut. Marion ist meine Freundin und du jetzt ihr Freund. Bleibt ja in der Familie.«
Sie schaffte sogar ein kleines, fröhliches Lachen. Frederik beugte sich vor und gab ihr einen dankbaren Kuß auf die Wange.
Kristin war froh, als er sich gleich danach umdrehte und die Karre wieder Richtung Tür schob. Als sie ihm nachsah, erkannte sie den Mann, der neulich im Restaurant gesessen hatte und auch schon einmal hier im Laden gewesen war. Er sah zu ihr herüber, wandte den Blick aber gleich ab und schaute angelegentlich auf den Buchtitel im Regal.
Hatte er gesehen, daß Frederik ihr einen Kuß gegeben hatte? Bestimmt. Jetzt glaubte er sicher, daß Frederik ihr Mann sei. Johannes war ja auch neulich hier bei ihr gewesen.
Aber warum tat ihr das jetzt so leid? Er hatte doch auch eine Frau oder Freundin oder was immer diese Dame gewesen war, mit der er beim Essen gesessen hatte. Sie mußte sich damit abfinden, ihr Liebesglück war gleich null. Sie würde die gute Tante werden, die man immer mal mit einlud, um kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man sie als Babysitter einspannte. Prost Mahlzeit, was für eine Vorstellung! Kristin wußte nicht, welche Rolle ihr weniger gefallen konnte.
Sie nahm sich vor, den Stier bei den Hörnern zu packen. Frau Schneider war mit einem anderen Kunden beschäftigt, also ging sie zu dem Mann hinüber, der noch immer Buchrücken studierte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er drehte sich zu ihr um. Sein Blick war reserviert. Kristin fand ihn aus der Nähe noch interessanter. Er war älter als Frederik, hatte kleine Fältchen um die Augen und graue Augen statt blauer. Ansonsten wirkte er markanter. Ein Mann mit Erfahrung.
»Ich suche einen guten Atlas. Mit Zusatzinformationen. Und außerdem brauche ich ein Buch für eine Dame. Einen Roman. Vielleicht etwas Spannendes.«
»Einen Psycho-Thriller vielleicht? Es gab da eine Reihe hervorragender Autorinnen, sowohl englische als amerikanische oder deutsche.«
»Ich verlasse mich da ganz auf Ihre Empfehlung.«
»Das ist nett. Dann schauen wir erst einmal nach dem Atlas. Kommen Sie mit dort hinüber?«
Seine Stimme gefiel Kristin ausnehmend gut. Auch seine Art, sich zu bewegen. Sie merkte, daß ihre Gedanken nicht ganz bei der Sache waren. Er wollte schließlich kein Buch über Erotik, sondern einen Atlas.
Ihrer Empfehlung folgte er auch hier. Er nahm den teuersten Atlas, den sie im Laden anbot, obwohl sie ihm auch die anderen gezeigt hatte. Bei den Romanen schlug sie ihm langatmig die verschiedensten vor, die in etwa in die gewünschte Richtung gingen. Kristin wollte seinen Einkauf so lange wie möglich auskosten. Wer wußte schon, wann sie ihn wiedersehen würde?
Wahrscheinlich wäre jeder andere Kunde inzwischen schon nervös geworden. Bei ihm hatte Kristin den Eindruck, daß er es überhaupt nicht eilig hatte. Er las hier ein Stückchen, schaute sich interessiert Umschlagbilder und Klappentexte an und tat so, als gäbe es nichts Wichtigeres als dieses Geschenk.
»Also, welches würden Sie nehmen?« fragte er schließlich, als die Möglichkeiten sich langsam erschöpften.
»Dieses hier.«
Das hätte sie ihm von Anfang an empfohlen, wenn es nicht so einen Spaß gemacht hätte, ihn zu beraten.
»Gut. Könnten Sie es als Geschenk einpacken?«
»Ja, gern. Kommen Sie bitte mit zur Kasse? Den Atlas ebenfalls als Geschenk?«
»Nein, der ist für mich.«
Er interessierte sich also für die Welt. Fein…
Was er wohl beruflich machte? Kristin war so neugierig, daß sie am liebsten gefragt hätte. Aber möglicherweise war er zur Zeit ohne Arbeit, weil er immer tags-über hierhergekommen war. Dann könnte es ihm peinlich sein, diese Frage zu beantworten.
Kristin verpackte das Buch mit aller Sorgfalt. Er schaute ihr auf die Finger, was sie ein bißchen hektisch machte. Andererseits wußte sie, daß sie schöne Hände hatte, mit gepflegten Nägeln und ohne Ringe. Auch keinenTrauring – er übrigens auch nicht, das hatte sie sofort gesehen. Aber leider hieß das heute ja auch nichts mehr.
»So, das macht dann einhundertfünfundachtzig Mark…«
»Nehmen Sie Kreditkarten?«
»Selbstverständlich.«
O wie schön, nun würde sie gleich seinen Namen erfahren… Dr. Claudius Bachner, ein wunderbarer Name. Er hatte also einen Doktortitel, aber leider ging aus der Karte nicht hervor, welcher Art der war. Von Mediziner bis… oje, da gab es viele Möglichkeiten.
»Bitte schön, Herr Dr. Bachner, wenn Sie hier unterschreiben würden…«
»Danke…«
Er unterschrieb schwungvoll, aber leserlich. Damit schied schon fast aus, daß er Mediziner war. Jedenfalls nach Kristins Erfahrung.
Leider gab es nichts mehr zu tun oder zu sagen. Sie wünschte ihm noch einen schönen Tag, was von ihm mit einem Lächeln erwidert wurde und schon ging er zur Tür.
Dann drehte er sich um und kam wieder zurück.
»Ach, Frau…«
»Kristin de Bruhs. Ich bin die Inhaberin hier.«
»Angenehm, Frau de Bruhs. Was ich noch fragen wollte, können Sie auch Bücher besorgen, die nicht so geläufig sind?«
»Alles, was noch verlegt wird. Jeden Titel.«
»Das ist wunderbar. Dann werde ich in den nächsten Tagen noch einmal vorbeikommen. Ich muß die Titel erst zusammenstellen.«
»Sehr gern. Ich bin eigentlich jeden Tag hier. Das machen wir am besten zusammen. Frau Schneider ist keine Fachkraft.«
»Ich würde mich auch gern an Sie wenden können.«
Für einige Sekunden hielt er ihren Blick fest. Kristin wurden die Knie weich, doch dann war es schon vorbei und er ging wirklich hinaus.
Sie mußte sich erst einmal setzen und über das eben Erlebte nachdenken. Irgend etwas verband sie, aber was? Und wohin sollte es führen? Sie war nicht daran interessiert, Marions Fiasko mit Derrik nachzuerleben. Ein verheirateter Mann schied für Kristin von vornherein aus. Also sollte sie sich vielleicht nicht allzu intensiv mit ihren Gefühlen befassen, sondern seine Bekanntschaft einfach als das nehmen, was sie war – sie hatte einen netten neuen Kunden gewonnen.
So ein Mist. Es war sehr unbefriedigend, so denken zu müssen.
All das war vergessen, als sie am Abend nach Hause kam. Sie hatte ihre Tür noch gar nicht geöffnet, als Marion im Flur erschien.
»Kristin, kann ich dich mal kurz sprechen?«
»Mein Gott, wie siehst du denn aus? Ist etwas passiert?«
Marion war geisterbleich mit dunklen Schatten unter den geröteten Augen. Welche Katastrophe war jetzt wieder passiert?
»Kann ich mich erst kurz umziehen und eine Scheibe Brot essen? Ich falle um vor Hunger und war noch nicht einmal in der Wohnung.«
»Ja sicher. Kommst du dann gleich?«
»Ist Frederik nicht da?«
»Nein.«
Das Gesicht der Freundin verschloß sich wie eine Auster.
Aha. Es hatte also Streß zwischen den beiden gegeben, und Kristin mußte sich das nun alles anhören wie vorher die Geschichten über Derrik. Lust hatte sie dazu eigentlich nicht, aber danach war ja auch nicht gefragt. Ein Freundschaftsdienst stand an, den sie kaum ablehnen konnte. Vielleicht brauchte sie Marion noch einmal irgendwann.
»Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.«
»Danke, Kristin.«
Die Stimme von Marion war ebenfalls zum Gruseln. Als käme sie aus einem Brunnenschacht. Während sich Kristin umzog und eine Scheibe Brot mit Butter und Teewurst bestrich, überlegte sie die ganze Zeit, was wohl passiert sein mochte zwischen Frederik und Marion. War er sauer, weil sie so spät gekommen war, so daß er sein Seminar versäumt hatte? Ein Grund wäre das schon, denn immerhin war das seine »Arbeit«. Er hatte ja auf Johannes nicht aus eigenem Antrieb aufgepaßt, sondern war darum gebeten worden. Da hätte Marion schon ein bißchen Dampf machen können bei ihrem Arzt.
Sie würde es gleich erfahren. Und die richtigen Trostworte kämen dann sicher von allein. Sie war in psychologischer Literatur sehr bewandert und würde sicher auch das passende Buch zur Verfügung stellen können.
Als sie klingelte, sah Marion immer noch nicht besser aus. Im Gegenteil, jetzt weinte sie auch noch.
»Mensch, Marion, was ist denn bloß passiert? Du siehst ja schlimm aus…«
»Es ist auch schlimm. Komm herein. Ich muß Johannes nur noch ins Bett legen.«
Als spürte der Kleine, daß etwas Ungewöhnliches mit seiner Mutter geschehen war, ließ er sich ohne Theater ins Bett stecken. Kristin gab ihm auch noch einen Gute-Nacht-Kuß, dann setzten sich die beiden in die gemütliche Küche ihrer Freundin, wie immer, wenn es Probleme zu besprechen gab.
»Soll ich uns einen Tee kochen?« bot Kristin an.
»Wie du willst. Ich mag nicht.«
Schlechtes Zeichen, ganz schlechtes Zeichen. Sonst besprachen sie Katastrophen immer bei einem Becher starken süßen Tees. Kristin kochte sich aber trotzdem einen. Sie fühlte sich ein bißchen hilflos und konnte sich so wenigstens am Becher festhalten.
»Also, nun erzähl mal. Hat Frederik Streß gemacht? Er war kurz im Laden mit Johannes, weil er dich gesucht hat.«
»Mit Ferderik ist es aus.«
»Aber warum denn das? Ich meine, ein Streit wäre wohl normal gewesen, das kann ich schon verstehen, aber auf mich wirkte er eher besorgt als wütend.«
»Ich habe ihn weggeschickt. Es ist aus. Darüber brauchen wir nicht zu sprechen.«
Das klang so entschieden und so untypisch für Marion, daß es Kristin die Sprache verschlug. Ungläubig schaute sie ihre Freundin an, der noch immer Tränen über die Wangen rollten und von ihrer Kinnspitze auf den Tisch fielen. Marion nahm nicht einmal eines der Papiertaschentücher zu Hilfe, die hier überall griffbereit herumlagen, weil Johannes ein Meister im Schmieren war.
»Was heißt, darüber brauchen wir nicht zu sprechen? Ich dachte, deshalb bist du in diesem Zustand.«
»Nein, es ist viel ernster, Kristin. Ich brauche jemanden, der sich für vierzehn Tage um Johannes kümmert. Und ihn vielleicht später ganz zu sich nimmt. Und mir fällt niemand ein außer dir.«
Sie wollte ihr Kind weggeben? Das wurde ja immer bunter! Kristin starrte Marion noch immer sprachlos an.
»Kristin, ich frage dich nicht ohne Grund. Ich habe… vermutlich Brustkrebs.«
Hätte sie eine Bombe geworfen, könnte die Wirkung nicht verheerender sein. Kristin schnappte nach Luft und stieß einen leisen Schrei aus. So etwas passierte niemandem, den sie kannte. So etwas las man, aber es ging nicht an, daß die Freundin hier vor einem saß und den Alptraum in das eigene Leben schleuderte.
Brustkrebs. Einfach so.
»Ich weiß, es ist ein Schock. Tut mir leid. Ich habe es selbst noch nicht begriffen. Es ist nur so, daß ich sofort in die Klinik muß. Der Knoten soll entfernt und untersucht werden. Eventuell müssen sie gleich die Brust entfernen. Keine Ahnung.«
»Aber Marion… seit wann… ich meine, wieso bist du so sicher? Du warst doch erst heute morgen beim Arzt…«
Es darf gar nicht wahr sein. Man mußte es von sich wegschieben, vielleicht war alles nur ein Irrtum. Ärzte konnten sich irren, das passierte oft genug.
»Es sieht nicht gut aus. Ich habe das schon an der Reaktion von Dr. Huber gemerkt, und der Röntgenarzt sagte mir ganz klar, daß ich mich darauf einrichten müsse, daß es nicht gutartig sei. Ich weiß nicht genau, woran er das erkannt hat. Sie haben da wohl ihre Merkmale. Er hat mir auch alles mögliche erklärt, aber ich war so durcheinander…«
»O Gott, das tut mir so leid…«
Kristin konnte die Tränen auch nicht zurückhalten. Sie stand auf und umarmte Marion. Vergessen war alles, was sie hätte trennen können, auch Frederik spielte keine Rolle mehr. Aber Moment… Frederik…
»Sag mal, hat er vielleicht bescheuert reagiert? Frederik, meine ich?«
Marion schüttelte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander.
»Was ist? Nun sag schon.«
»Er weiß es nicht. Ich will nicht, daß er es weiß und glaubt, aus Mitleid bei mir bleiben zu müssen. Wir haben uns gerade erst kennengelernt, wie du weißt. Nein, das ist vorbei.«
»Aber vielleicht würde er dir gern helfen? Ich dachte, ihr liebt euch…«
»Ich kann jetzt nur an Johannes denken. Frederik ist zwar lieb zu ihm, aber er hat keine Ahnung von kleinen Kindern. Und er kann nicht gezwungen sein, sich um Johannes zu kümmern.«
»Ich soll ihn nehmen, während du im Krankenhaus bist?«
»Ginge das? Ich meine, ich kann dir Geld für einen Babysitter geben und alles andere, aber ich will doch nicht, daß er ins Heim muß…«
Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
Die Vorstellung war auch wirklich zu schrecklich. Johannes war ein kleines Monster und trampelte manchmal ganz schön auf den Nerven herum, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, aber er war dann auch wieder so lieb wie ein kleiner Engel und sein Lächeln warf einen sowieso um.
»Natürlich nehme ich ihn.«
»Wirklich? Geht das in Ordnung?«
»Na klar geht das.«
Sie würde Frau Schneider einfach zur Kinderpflegerin umfunktionieren. Wenn sie hinten im Büro eine Spielecke einrichtete und das Reisebett aufstellte, könnte sie sich um die Kunden kümmern, während Frau Schneider sich mit Johannes beschäftigte. In der Nähe der Buchhandlung gab es einen kleinen Park, so daß er auch genügend an die frische Luft käme. Frau Schneider würde diese Aufgabe mit Feuereifer erfüllen, da war Kristin sicher. Auch Johannes mochte sie, so daß es von daher auch keine Probleme geben dürfte.
»Ich werde noch ein Schriftstück aufsetzen, daß Johannes bei dir bleiben soll, ich meine, daß du seine Betreuerin sein sollst, falls mir etwas passiert. Ich habe mich schon erkundigt, wie man das macht.«
»Daran solltest du aber gar nicht denken, Marion. Ich bin sicher, daß alles gut werden wird. Ich meine, der Knoten kann doch erst ganz klein sein.«
»Es gibt verschiedene Formen von Krebs. Manche sind besonders bösartig, andere wachsen langsam, können aber längst Metastasen gebildet haben. Ich kann von gar nichts ausgehen. Aber es wäre mir eine große Beruhigung, wenn ich wüßte, daß du dich um Johannes kümmerst.«
»Ich verspreche es dir.«
Kristin wußte, was sie da sagte. Aber es konnte nur diese eine Antwort geben. Alles andere wäre undenkbar für sie.
Sie sprachen noch die halbe Nacht weiter, beleuchteten alles von dieser und jener Seite, stellten Pläne auf, und verwarfen sie wieder bis Kristin schließlich fast die Augen zufielen.
»Wir sollten jetzt schlafen gehen. Ich komme morgen früh rüber, hole dich und Johannes und bringe dich in die Klinik. Ich brauche für morgen früh eine Tasche mit Kleidung und Windeln, Spielzeug und das Reisebett. Johannes wird mit ins Geschäft genommen, und Frau Schneider kann sich um ihn kümmern. Nachts schlafe ich hier, wenn es dir recht ist, damit er sein vertrautes Zimmer hat.«
»Du bist ein Schatz, Kristin. Ohne dich wäre ich absolut aufgeschmissen. Aber du mußt mich nicht ins Krankenhaus bringen.«
»Natürlich tue ich das. Ich muß doch sehen, ob du dort gut untergebracht bist.«
Marion war zu schwach, um zu widersprechen. Sie umarmten sich und dann gingen sie schlafen. Wobei an Schlaf allerdings kaum zu denken war. Marion war von Angst besessen, Kristin gepackt von ihrem Entsetzen über das Gehörte.
*
Frau Schneider reagierte genauso, wie Kristin erwartet hatte. Sie war angesichts der Tragödie, die Johannes’ Mutter durchmachen mußte, natürlich entsetzt, aber sie freute sich sehr, daß sie sich um den Kleinen kümmern sollte.
Tatkräftig begann sie, das Büro umzugestalten, während Kristin Johannes bewachte, der durch die Regalreihen lief und immer wieder versuchte, Bücher herauszuziehen. Daß sie es ihm verbot, stachelte seinen Ehrgeiz nur an. Kristin war allerdings auch nicht streng genug, was er natürlich merkte.
Sie war noch immer bei Marion, die sie heute morgen in die Klinik gebracht hatte. Marion hatte eine Zusatzversicherung, so daß sie ein Einzelzimmer beziehen konnte. Es war hell und freundlich, auch die Schwestern schienen nett zu sein. Aber Krankenhaus war Krankenhaus, und um eine simple Blinddarmentzündung handelte es sich leider auch nicht.
»Ich komme heute abend wieder und bringe Johannes mit«, hatte sie Marion zum Abschied versprochen. »Wenn du etwas brauchst, ruf an.«
Es war so schrecklich. Auch daß Marion sich von Frederik getrennt hatte, war nicht weniger schlimm. Die beiden hatten doch an die große Liebe geglaubt! Sollte die das nicht aushalten? Andererseits wußte Kristin, daß sie genauso reagiert hätte. Die Angst, daß der Liebste sich verpflichtet fühlte, bei ihr zu bleiben, lag nach so kurzer Zeit eben doch nahe. Und dann würde er es nicht durchhalten, das war klar. Was nichts anderes hieße, daß er dann zu einem späteren Zeitpunkt gehen würde, wo man es vielleicht noch viel schwerer ertrug.
Weil Kristin das nachvollziehen konnte, versuchte sie auch nicht, Frederik anzurufen und ihm zu erzählen, warum Marion ihn weggeschickt hatte. Er mußte ja ganz schön durcheinander und irritiert sein, daß er hatte gehen müssen, nachdem er so schön auf Johannes aufgepaßt hatte… Aber es ging sie nichts an. Sie durfte Marion nicht in den Rücken fallen.
»So, Frau de Bruhs, ich bin dann soweit. Es ist zwar alles ein bißchen eng, aber so wird es Johannes gefallen. Ich nehme ihn jetzt.«
»Danke, Frau Schneider. Falls Sie ein bißchen mehr Geld haben möchten…«
»Ich bitte Sie! Es ist mir doch ein Vergnügen…«
Dann war das also auch geklärt. Kristin konnte sich wieder um die Kunden kümmern.
Der erste Kunde, der erschien, war Dr. Bachner. Kristin wußte, daß sie heute nicht gerade vorteilhaft aussah. Die Nacht ohne ausreichenden Schlaf und die traurige Pflicht, Marion ins Krankenhaus zu bringen, waren an ihr nicht spurlos vorübergegangen.
Aber bitte, es spielte eigentlich keine Rolle. Zum Flirten war ihr sowieso nicht zumute.
»Guten Morgen, Frau de Bruhs. Ich habe die Liste mitgebracht. Vielleicht können Sie Ihr Glück versuchen…«
Es kamen noch zwei Kunden herein, die sich suchend umschauten. Kristin würde keine Zeit haben, sich mit Dr. Bachner zu unterhalten. Dabei hätte es sicher Gelegenheit gegeben, mit ihm die Titel einzeln durchzugehen. Außerdem wäre sie gespannt gewesen, warum er welches Buch bestellte…
»Ich bin heute allein hier im Verkauf, leider…«
»Oh, ich sehe schon. Natürlich. Ich nehme an, daß Sie mit der Liste zurechtkommen? Sonst rufen Sie mich vielleicht an?«
»Ja, sicher, das mache ich gern. Sagen Sie mir Ihre Nummer?«
»Die steht auf der Liste.«
Er zog sie aus der Tasche, legte sie auf den Thresen und wandte sich zum Gehen.
»Ich melde mich auf jeden Fall, ob ich die Bücher alle bekomme«, rief sie ihm hinterher.
»Danke, das wäre nett.«
Und schon war er hinaus. Kristin fühlte sich, als hätte sie einen Verlust erlitten.
Sie hatte nicht einmal Zeit, die Liste anzuschauen. Der erste Kunde wollte ein Geschichtsbuch und mäkelte an den Preisen herum. Der zweite tat sich furchtbar wichtig mit seinen Computerkenntnissen, die er durch ein entsprechendes Fachbuch zu ergänzen suchte. Er kam Kristin gerade richtig. Schließlich hatte sie sich seine Angeberei lange genug angehört, zumal von hinten aus dem Büro Johannes’ Geschrei erklang.
»Tut mir leid, ich kann Ihnen offenbar nicht helfen. Entweder Sie schauen selbst oder versuchen es woanders.«
»Ich dachte, Sie sind eine Fachverkäuferin!«
»Ich bin die Inhaberin der Buchhandlung und habe Literatur studiert, nicht aber Informatik. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.«
Er musterte sie so unverschämt, daß sie ihm am liebsten noch einen Schubs gegeben hätte. Manche Männer waren eine Heimsuchung. Und für Dr. Bachner hatte sie keine Zeit gehabt…
Johannes wollte unbedingt an ihrem Computer spielen, wie Frau Schneider ihr erklärte. Deshalb schrie er jetzt und warf sein Spielzeug, das Frau Schneider ihm immer wieder anbot, durch die Gegend. Schließlich verließ Kristin auch hier die Geduld. Wenn sie das vierzehn Tage ertragen sollte, mußte er begreifen, daß es so nicht ging!
»Hör mal zu, Johannes. Du wirst jetzt brav mit deinen Sachen spielen. Sonst ist Schluß, dann mußt du hier weg!«
Ihr Ton ließ keine Zweifel aufkommen, daß sie genau das meinte, was sie sagte. Zwar wußte Kristin nicht, wohin sie ihn bringen sollte, aber das wußte ja Johannes nicht.
Das Wunder geschah. Er sah sie groß an, in seinem Blick lag der ganze Weltschmerz einer gequälten Kinderseele, aber dann stellte er sein Schreien ein und ließ sich seine großen Legosteine in die Hand geben. Kristin drehte er den Rücken zu, aber Frau Schneider bekam ein Lächeln.
»Das hat aber gewirkt. Ich wußte gar nicht, daß Sie so gut mit Kindern umgehen können und wissen, wie man sie bändigt.«
»Das wußte ich auch nicht. So schnell lernt man«, erwiderte Kristin noch immer ein wenig verblüfft.
Am Abend fuhr sie mit einem müden Johannes ins Krankenhaus. Als er seine Mutter sah, strahlte er und streckte die Arme aus. Sie zog ihn an sich, und schaute über seinen Kopf hinweg Kristin an.
»Ich werde morgen schon operiert.«
»Gott sei Dank. Das ist doch besser, als noch ewig zu warten.«
»Es dauert aber eine Weile, bis sie ein genaues Ergebnis haben. Nur ob es bösartig ist oder nicht, können sie mir dann schon sagen.«
»Das ist doch, was du wissen mußt.«
»Ich mußte unterschreiben, daß ich auch mit einer Amputation einverstanden wäre…«
»Das ist doch nur Routine, Marion. Mach dich nicht verrückt. Ich habe ein bißchen nachgelesen. Paß auf, morgen abend lächelst du schon wieder.«
Sie glaubte selbst nicht so recht daran, und deshalb konnte sie auch Marion nicht überzeugen. Es blieb nichts zu tun außer abzuwarten. Um Marion ein bißchen abzulenken, erzählte sie von dem, was Johannes heute alles erlebt hatte. Frau Schneider war mit ihm Enten füttern gegangen, er hatte mittags sein Gemüse ohne zu murren aufgegessen, sogar eine Stunde geschlafen und wartete jetzt nur noch auf sein Bad und sein Bett.
»Du machst das wunderbar, Kristin. Ich wußte, daß Johannes es gut bei dir hat. Und wenn du ihm mal Schokolade geben willst, habe ich auch nichts dagegen…«
Kristin nickte. Sie erzählte allerdings nicht, daß Johannes am Nachmittag nur mit einem Stück Kinderschokolade davon abzubringen gewesen war, in Kristins Ordnern herumzukritzeln.
Als Johannes dann endlich friedlich schlafend im Bett lag, kam auch Kristin dazu, sich ein wenig zu entspannen. Sie trug noch immer die Liste von Dr. Bachner mit sich herum. Morgen früh wollte Kristin seine Bücher bestellen, heute war sie einfach nicht dazu gekommen. Es dauerte sicher noch ein bis zwei Tage, bis sie einen neuen Rhythmus gefunden hätte, der Johannes’ Bedürfnisse integrierte.
Sie gönnte sich eine kurze Dusche in ihrer Wohnung. Viel Zeit nahm sie sich nicht, falls Johannes wach wurde. Wie angebunden man mit so einem Kind war, wurde ihr jetzt erst bewußt. Bei aller Freude, die der Kleine machte, wußte sie nicht, ob das auf Dauer etwas wäre für eine Frau wie sie. Aber noch ging Kristin davon aus, daß Marion wieder gesund werden würde. Dann mußte sie darüber ja auch nicht nachdenken, denn für vierzehn Tage konnte sie sich gut einschränken.
Nachdem sie sich etwas zu essen gemacht und sich überzeugt hatte, daß Johannes fest schlief, setzte sich Kristin mit der Liste auseinander. Es waren sehr unterschiedliche Bücher, die Dr. Bachner haben wollte. Daraus könnte sie bestenfalls entnehmen, daß sein Interessengebiet weit gestreut war. Wieder wuchs ihre Neugier. Wenn sie ihn das nächste Mal sah, wollte sie ihn doch einmal fragen, ob er die Bücher beruflich brauchte…
Am nächsten Tag gelang es Johannes, das Kabel vom Computer zu erwischen und aus der Steckdose zu ziehen, was einen Absturz des Systems bedeutete. Gott sei Dank schaffte Kristin es, alles wieder in Ordnung zu bringen. Es war vielleicht doch gar nicht so schlecht gewesen, einen kundigen Freund gehabt zu haben. Einiges war hängengeblieben.
Am Nachmittag schlug Frau Schneider vor, mit Johannes in ihre Wohnung zu gehen. Kristin könnte ihn dort abholen, nachdem sie seine Mutter im Krankenhaus besucht hatte. Das war ein guter, nervenschonender Vorschlag, jedenfalls für Kristin. Ob Frau Schneider danach immer noch begeistert war, würde sich zeigen. Auf keinen Fall sollte Johannes seine Mutter nach der Operation sehen.
Marion sah wirklich erschütternd aus. Sie war zwar schon wieder wach, aber voller Angst. Der Knoten hatte sich als bösartig erwiesen, aber die Brust hatte erhalten bleiben können.
»Es tut mir leid, Marion, daß es doch Krebs ist. Aber vielleicht hast du doch Glück und es nicht die schlimmste Form. Hat der Arzt denn noch gar nichts sagen können?«
»Sie müssen erst die feingewebliche Untersuchung machen. Das dauert eben seine Zeit.«
Ihre Stimme klang, als hätte sie bereits mit allem abgeschlossen. Aber vielleicht war Marion auch voller Beruhigungsmittel.
»Jetzt verlier nicht die Hoffnung. Dein Sohn braucht dich. Ich bin bestenfalls eine gute Tante für ihn.«
»Du machst deine Sache bestimmt großartig. Er mag dich.«
»Ich ihn auch. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon. Sag mal, soll ich nicht doch Frederik…«
»Nein, auf keinen Fall. Ich will ihn nicht sehen.«
Das klang so entschieden, daß Kristin es aufgab.
Marion war schnell erschöpft, deshalb verabschiedete sich Kristin nach einer Viertelstunde. Sie war auch nicht böse darum. Der Krankenhausgeruch und die schicksalsergebene Art, wie Marion ihre Erkrankung annahm, machten ihr schwer zu schaffen. Wann war sie eigentlich zuletzt zur Vorsorge gewesen? Als sie gestern beim Duschen ihren Busen abgetastet hatte, waren überall Knoten gewesen. Soweit zu ihrer Phantasie. Am besten wäre es, sie ließe das ihren Arzt entscheiden, doch im Moment hatte sie keine Zeit, ihn aufzusuchen.
Frau Schneider war noch immer begeistert von Johannes, also würden sie es am nächsten Tag wieder so machen. Ab Mittag wollte Frau Schneider mit ihm nach Hause gehen. Kristin war dankbar. Vielleicht hätte Frau Schneider Kindergärtnerin werden sollen bei diesem Talent.
Zwei weitere Tage verstrichen. Langsam gewöhnte sich Kristin an das Tempo, mit dem sie im Moment organisieren und leben mußte. Johannes schien es gut zu bekommen.
Marion erholte sich von dem Eingriff. Etwas Neues wußte sie jedoch immer noch nicht. Kristin fand es fast unerträglich, daß man sie so lange warten ließ. Sie wußte nicht einmal, ob noch eine Chemotherapie folgen mußte oder vielleicht Bestrahlungen, weil es auf die Art des Tumors ankam.
Heute konnte sie Dr. Bachner anrufen. Ein Buch hatte sie noch nicht bekommen, die drei anderen lagen abholbereit. Sie hatte es vermieden, sich für diesen Tag besonders zurechtzumachen, obwohl sie am Morgen noch darüber nachgedacht hatte. Er spukte ihr im Kopf herum, aber die Vernunft siegte schließlich.
Er meldete sich sofort, nachdem sie seine Nummer gewählt hatte. Jetzt könnte sie sich einbilden, daß er bereits sehnsüchtig auf ihren Anruf gewartet hatte. Das war vielleicht sogar richtig, aber nur, weil er die Bücher haben wollte. Kristin legte geschäftsmäßig Sachlichkeit in ihre Stimme.
»Guten Tag, Herr Dr. Bachner. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß die Bücher da sind. Bis auf eines, allerdings. Das dauert noch eine Weile.«
»Das ist ja wunderbar. Dann komme ich gleich vorbei und hole sie ab.«
Kristin durchzuckte eine völlig unangebrachte Freude bei dem Gedanken, ihn gleich wiederzusehen.
»Ja, tun Sie das gern. Sie liegen an der Kasse bereit, falls ich nicht dasein sollte.«
Warum machte sie solche Spielchen? Wollte sie jetzt, daß er danach fragte, wann er sie persönlich anträfe? Sie konnte den Laden doch gar nicht verlassen, denn Frau Schneider paßte auf Johannes auf und sie mußte die Kunden bedienen.
»Vielen Dank für Ihre Mühe.«
Das hatte sie verdient. Kristin legte auf und kämpfte einen Moment mit dem Gedanken, daß sie sich vielleicht in diesen interessanten Mann verliebt haben könnte. Als gäbe es nicht genug Probleme!
Sie bediente gerade eine alte Dame, die sie sehr gern mochte, als Dr. Bachner erschien. Kristin spürte, daß sie rot wurde. Offenbar mutierte sie zum Teenager.
»Wenn Sie bitte einen Moment warten können? Ich bin gerade allein im Laden«, rief sie ihm zu.
»Natürlich, gern.«
Gerade heute konnte sich die alte Dame überhaupt nicht entscheiden, ob sie nun einen Krimi oder doch lieber einen Liebesroman nehmen sollte. Kristin bewahrte mühsam ihre Geduld, bis die Entscheidung schließlich zugunsten des Liebesromans gefallen war.
Dann hatte sie allerdings das Glück, allein mit Dr. Bachner zu sein. Am liebsten hätte sie die Tür hinter Frau Schmolle abgeschlossen, damit sie nicht doch noch gestört wurden.
»So, jetzt bin ich für Sie da. Tut mir leid, daß Sie warten mußten.«
»Das macht nichts. Ich habe Zeit.«
Also war er vielleicht doch ohne Arbeit? Kristin beschloß, ihn lieber nicht nach seinem Beruf zu fragen. Und natürlich noch weniger, ob er verheiratet war, obwohl sie das brennend gern gewußt hätte…
»Hier habe ich Ihre Bücher. Eine interessante Auswahl…«
»Gefällt sie Ihnen? Ich brauche sie beruflich.«
Jetzt oder nie, Kristin…
»Darf ich fragen, was Sie machen?«
»Ich bin Dozent an der Universität. Kunstgeschichte.«
»Oh, das ist sicher eine wunderbare Arbeit.«
Kristin, du redest Schwachsinn. Natürlich ist es wunderbar, fällt dir nichts Gescheiteres ein?
»Ja, es macht Spaß. Und darüber hinaus schenkt es mir genügend Zeit für andere Dinge.«
Kristin lächelte unermüdlich, obwohl sie eigentlich tausend Fragen stellen wollte, damit er noch bliebe.
»Können Sie mir eine Rechnung schreiben?«
Offenbar fiel ihm auf, daß sie nichts zu sagen wußte. Sicher dachte er, sie wollte ihn jetzt wieder los werden. Warum erzählte sie nicht irgend etwas… Kristin hatte das Gefühl, daß der Platz, wo vorher ihr Gehirn gesessen hatte, gähnend leer war. Sie wußte nicht einmal, wo sie den Quittungsblock hingelegt hatte. Hektisch begann sie zu suchen.
»Suchen Sie den?«
Er deutete auf den Block, der direkt vor ihr lag. Kristin wurde blutrot und rettete sich in ein albernes Lachen.
»Entschuldigen Sie, ich bin heute ein bißchen durcheinander. Im Moment geht alles drunter und drüber…«
»Ich kann mir vorstellen, daß es nicht leicht ist, wenn man ein kleines Kind zu versorgen hat…«
»Nein, überhaupt nicht.«
Zu spät ging ihr auf, daß er wieder glauben mußte, Johannes sei ihr Sohn. Aber nun hatte er sich schon abgewandt, um noch ein paar Bücher anzuschauen, während sie seine Quittung ausfüllte. Sie konnte doch jetzt nicht seinem Rücken erklären, daß Johannes der Sohn ihrer Freundin war…
Als reiche es noch nicht, öffnete sich die Tür und Frederik erschien. Und er kam auch gleich um den Thresen herum, um sie mit einem Kuß auf die Wange zu begrüßen. Kristin fühlte sich total überfordert. Sie mußte jetzt etwas klarstellen, vielleicht war es die letzte Gelegenheit… Immerhin stand Dr. Bachner noch so nah, daß er hören konnte, was sie sagte.
»Oh, Frederik, was willst du denn hier?«
Nicht sehr geschickt. Das könnte auch nach einem vorangegangenen Ehestreit klingen… Kristin wurde der Hals eng. Das konnte nicht nur Verliebtheit sein, diese Angst, Dr. Bachner aus den Augen zu verlieren… Aber es war doch absolut idiotisch! Mit keinem Wort und keiner Geste hatte er ihr je zu verstehen gegeben, daß er sich für sie persönlich interessierte? Außerdem wartete zu Hause vielleicht die Ehefrau mit vier Kindern?
»Was ist denn das für eine Begrüßung? Ich wußte nicht, daß ich mich bei dir auch nicht mehr sehen lassen darf.«
»Ach, entschuldige. Ich bin einfach… ich weiß auch nicht. Natürlich kannst du herkommen.«
»Wie geht es… Marion?«
»Sie erholt sich langsam. Warte bitte einen Moment, ja?«
»Du weißt, daß sie mit mir Schluß gemacht hat, oder? Weißt du auch warum?«
Kristin sah, daß Dr. Bachner ein Stück näher heranrückte.
Plötzlich schien Frederik zu begreifen, was Kristin gesagt hatte.
»Moment, was heißt, sie erholt sich langsam?«
»Sie ist krank, Frederik. Aber ich soll dir das eigentlich gar nicht sagen. Am besten gehst du kurz nach hinten. Johannes ist dort bei Frau Schneider. Ich komme dann.«
Frederik sah aus, als wolle er sie am liebsten schütteln. Der arme Kerl! Er litt wirklich unter der Trennung. Aber einen Moment würde er sich gedulden müssen. Kristin würde ihm die Wahrheit sagen, denn irgendwie hatte er doch ein Recht darauf. Egal, wie Marion es sah, er sollte seine Entscheidung, ob er zu ihr stehen wollte oder nicht, allein treffen können. Immerhin hatte sie ihn nicht hergebeten, also durfte Marion ihr auch nicht böse sein.
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Bachner. Ich bin gleich fertig.«
»Das ist in Ordnung. Ich dachte, es sei Ihr Mann…«
Ach, wie wunderbar! Kristin hätte ihn am liebsten geküßt vor Freude. Er war doch interessiert, denn sonst hätte er diese Frage wohl kaum gestellt.
»Ich bin nicht verheiratet. Er ist der Freund meiner Freundin. Die beiden haben im Moment Probleme. Der kleine Junge, den Sie hier gesehen haben, ist ihr Sohn. Der meiner Freundin, meine ich.«
»Sie haben kein… Kind?«
»Nein. Und ich bin auch nicht sicher, ob ich mich dafür eigne. Der Kleine ist ziemlich anstrengend.«
»Das glaube ich. Um so bewundernswürdiger, daß Sie sich so gut um ihn kümmern.«
Ja, nicht wahr? Bin ich nicht bewundernswürdig? Wie wäre es, wenn du mir das in regelmäßigen Abständen sagst? Kristin fühlte sich fast übermütig vor Freude. Seine Fragen zeigten deutlich, daß ihn ihre Antworten sehr zufriedengestellt hatten. Blieb eigentlich nur noch zu klären, ob er verheiratet war.
»Vielleicht könnten wir uns einmal zu einem… Kaffee treffen? Ich würde mich gern in Ruhe mit Ihnen unterhalten… Ich meine natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Oh, das ist mir sehr recht. Gern…«
Sie konnte ihn unmöglich fragen, ob er seine Frau mitzubringen gedacht. Aber wie sollte sie herausfinden, ob es wirklich einen Grund zur Freude gab? Oder ob er nur einfach an ihrer Bekanntschaft interessiert war, weil sie Bücher liebte – genau wie er?
»Dann vielleicht morgen abend? Oder geht es wegen des Kindes nicht?«
»O doch, das wird schon zu machen sein.«
Zur Not würde sie Johannes zu Frederik bringen. Niemand könnte ihr verübeln, wenn sie diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen wollte.
»Schön. Vielleicht könnten wir auch essen gehen. Sie werden ja hungrig sein, nachdem Sie den ganzen Tag hier im Geschäft gestanden haben.«
Er sorgte sich um sie… Kristin war hingerissen. Sie sah ihn so glücklich an, daß er schon blind sein mußte, um nicht zu merken, was mit ihr los war.
Dr. Bachner war nicht blind. Er war glücklich, daß diese Frau, die ihm auf den ersten Blick als etwas Besonderes erschienen war, keinen Ehemann und kein Kind hatte, die eine nähere Bekanntschaft unmöglich machen würden. Zwar gab es einige Frauen, die ihm gern Gesellschaft leisten würden, aber Claudius Bachner war sehr wählerisch. Ihn interessierte ein schönes Gesicht und eine gute Figur weniger als die inneren Werte. Fast war er sich mit dieser Einstellung ein wenig antiquiert vorgekommen im Kreise seiner männlichen Freunde, aber letztendlich wußte er, daß er es richtig sah. Schönheit konnte vergehen, ebenso die tadellose Figur, aber wenn jemand Humor und Herzlichkeit, Geist und Esprit besaß, waren das unvergängliche Werte. Vielleicht lag es auch an seinem Studienfach, daß er dieser Meinung war. Die Werke der großen Künstler waren und blieben unvergänglich, einfach weil sie von ihrem Können und ihrem Geist belebt waren. Kristin de Bruhs hatte ein Lächeln, das ihn bezauberte und ihre Art, mit den großen und kleinen Kunden umzugehen, zeigte, wie gut sie sich auf Menschen verstand. Daß sie außerdem sehr hübsch war – nun, dagegen hatte er natürlich nichts. Ihre Liebe zu Büchern verband sie außerdem. Er war sicher, daß sie noch mehr Übereinstimmungen finden würden.
»Dann bis morgen?«
»Ja, bis morgen…«
Sie sah ihn an. Er schaute ihr einen Moment länger in die Augen, als es gut für sie beide war. Die Luft um sie herum begann zu knistern. Leider kam ein Kunde herein und zerstörte diesen unwiederbringlichen Augenblick.
Kristin hatte Mühe, wieder zu sich zu kommen. Sie mußte zweimal nachfragen, was der Kunde wollte, weil sie irgendwo im siebten Himmel schwebte, wo es bestenfalls Liebesromane gab. Er dagegen fragte nach dem Werk eines modernen deutschen Literaten, den Kristin sowieso nicht lesen mochte.
Nachdem der Kunde gegangen war, fiel ihr ein, daß auch Frederik noch auf sie wartete. Also schloß sie kurz ab, hängte das Schild ins Fenster, daß sie gleich zurück käme und ging nach hinten ins Büro.
Frederik spielte mit Johannes, Frau Schneider kochte Kaffee und betrachtete die beiden wohlgefällig.
»Frau Schneider erzählte mir, daß Johannes schon eine ganze Weile hier ist. Was ist mit Marion los?« fragte Frederik Kristin, nachdem er Johannes einen dicken Buntstift in die Hand gedrückt hatte.
»Sie ist ziemlich krank. Das heißt, jetzt ist das Schlimmste wahrscheinlich schon überstanden. Und sie wollte nicht, daß du es weißt. Sie wollte dich damit nicht belasten.«
»Aber das ist doch Quatsch! Ich meine, wie kommt sie darauf, daß sie mich nicht belasten darf? Ich hatte gedacht, wir waren uns über unsere Gefühle einig…«
»Das mußt du selbst mit ihr klären, Frederik. Ich kann dir nicht mehr sagen. Aber verstehen tue ich es schon. Sie hatte wohl Angst vor einer Enttäuschung. Immerhin handelt es sich nicht um einen Schnupfen.«
»Sie hat doch… nicht Krebs?«
»Bitte, Frederik, zwing mich nicht, darüber zu sprechen. Sie wird stocksauer auf mich sein.«
»Also ist es das. Du hättest sonst einfach nur nein sagen müssen.«
Kristin schwieg, womit sie seinen Verdacht natürlich bestätigte. Frederik war blaß geworden. Er rang sichtlich um seine Fassung. Aber Kristin spürte, daß es nicht die Frage war, ob er zu Marion halten sollte oder nicht, die ihn jetzt beschäftigte
»Meine… Tante ist an Krebs gestorben, als ich ein Junge war. Sie hat die letzten Monate bei uns gewohnt. Ich möchte jetzt wissen, wo Marion ist.«
Seine Stimme klang sehr klar und entschieden. Kristin bewunderte seine Haltung. Er zögerte nicht, auch jetzt zu Marion zu stehen, obwohl er wußte, was so eine Erkrankung bedeuten konnte. Für ein paar Sekunden bedauerte sie noch einmal sehr, daß nicht sie es war, die er liebte. In der Krise schien er stark zu sein. Aber ihr Herz hatte ihr schon einen anderen Weg gewiesen, und ihre Gefühle für Dr. Bachner waren ungleich stärker, als sie je für Frederik gewesen waren.
»Also gut. Sie liegt in der Uni-Klinik auf der Frauenstation. Die Operation ist schon vorüber, sie wartet nur noch auf die Ergebnisse.«
»Ich fahre gleich zu ihr. Und danach komme ich wieder und hole Johannes.«
»Aber dein Studium…«
»Ich wüßte erstens nicht, was jetzt wichtiger wäre, als euch zu entlasten und zweitens, Marion zu zeigen, daß sie sich auf mich verlassen kann. Das kann ich am besten dadurch, daß ich mich um ihren Sohn kümmere. Er muß sich an seinen neuen Vater gewöhnen. Und ich mich an ihn«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.
»Du bist schon ein toller Kerl, Frederik. Wenn Marion jetzt immer noch nein sagt, hat sie selber schuld.«
Kristin brachte Frederik zur Tür. Sie war aufgeregt und überlegte, ob sie Marion vorwarnen sollte. Aber das war vermutlich gar nicht so klug, denn ein Überraschungsbesuch nahm ihr die Möglichkeit, sich schon auf Abwehr vorzubereiten. Wenn Frederik einfach in der Tür stand, würde sie die wahren Gefühle verraten.
*
Marion erschien jede Stunde endlos, während sie immer noch darauf wartete, daß ihr der Oberarzt das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchung mitteilte. Das Schlimmste waren die anderen Patientinnen mit ihren Krankengeschichten. Einige erzählten, daß es bei ihnen zuerst auch ganz harmlos ausgesehen hätte, aber dann waren doch Metastasen entdeckt worden. Eine brüstete sich sogar damit, daß man ihr gerade die zweite Brust abgenommen habe, als sei das ein persönliches Heldenstück. So blieb sie lieber in ihrem Zimmer, als auf dem Flur herumzuspazieren oder in den Aufenthaltsraum zu gehen. Sie wollte keine Krankengeschichten mehr hören und auch nicht gefragt werden, warum sie denn hier sei.
Aber das Alleinsein hatte natürlich den Nachteil, daß sie viel Zeit zum Nachdenken hatte. Sie vermißte Johannes, aber auch an Frederik dachte sie unentwegt. War es richtig gewesen, ihm die Entscheidung für oder gegen sie zu nehmen? Hätte sie ihn ruhig damit belasten dürfen? Nun würde sie nie wissen, ob er stark genug gewesen wäre…
Sie hatte ihre Freundin. Kristin hatte ihr versprochen, sich um Johannes zu kümmern, wenn sie sterben müßte. Und genau das würde Kristin tun, darauf konnte Marion sich mit Gewißheit verlassen. Kristin tat zwar immer so, als nervte Johannes sie, aber wenn Marion sah, wie ihre Augen voller Zuneigung auf den Kleinen gerichtet waren, wußte sie, daß das nicht stimmte. Es war eine große Erleichterung, sich darauf verlassen zu können.
Es klopfte. Wahrscheinlich wieder eine Schwester, die Blut abnehmen, Puls fühlen oder Fieber messen wollte. Das teilte den Tag ein, mehr Abwechslung gab es im Moment nicht. Einige Schwestern waren auch wirklich sehr nett und schienen zu wissen, wie es in Marion aussah. Sie versuchten, ihr Mut zu machen und kannten auch genügend Fälle, wo alles gut ausgegangen war.
»Ja, bitte…«
Die Tür öffnete sich. Marion erstarrte.
»Du?«
»Ja, ich. Und ich sollte eigentlich böse sein, daß du glaubst, ich ließe dich im Stich.«
»Hat… Kristin dich angerufen?«
»Nein. Ich bin zu ihr gegangen. Sie hat mir auch nicht alles gesagt, nur, daß du krank bist. Und wenn es nichts Ernstes wäre, hättest du ja auch keine Hilfe gebraucht. Also, jetzt möchte ich vernünftig mit dir sprechen. Und glaub nicht, daß ich mich noch einmal wegschicken lasse.«
»Aber du hast keine Ahnung, was ich… habe.«
»Du wirst es mir ja gleich sagen. Ich vermute, daß es sich um etwas sehr Ernstes handelt. Sonst wäre es ja wohl nicht nötig gewesen, mich wegzuschicken. Ist es Krebs?«
Marion zuckte zusammen. Wie konnte er das so locker aussprechen?
»Ja. Ich habe… Brustkrebs.«
»Wie meine Tante. Meine Mutter hat sie gepflegt, bis sie starb.«
»Findest du es gut, mir das… zu erzählen?« fragte Marion mit zitternden Lippen.
Sie war so schrecklich empfindlich. Die Art, wie Frederik vom Tod seiner Tante sprach, erschien ihr grob.
»Ja, natürlich. Weil ich dir damit sagen will, daß ich mit Krankheit zu tun hatte. Ich habe jeden Tag bei ihr am Bett gesessen und ihr aus der Zeitung vorgelesen. Und ich war dabei, als sie starb. Ich habe keine Angst, Marion. Ich glaube sowieso nicht an den Tod als Ende allen Lebens. Auch darüber brauchen wir jetzt nicht zu sprechen, du wirst wieder gesund werden. Und alles, was ich dazu tun kann, werde ich tun.«
»Aber… hast du dir das auch gut überlegt? Ich meine, ich weiß noch nicht mal, ob ich noch eine Nachbehandlung brauche… Ich werde noch Angst vor jeder Untersuchung haben. Schon jetzt heule ich dauernd und bin gar nicht mehr ich selbst. Außerdem kennen wir uns doch kaum.«
»Wir lieben uns, stimmt’s? Das ist doch erst einmal die Hauptsache. Und daß deine Nerven bloßliegen, kommt sicher auch von deinem falsch verstandenen Heldentum, weil du mich weggeschickt hast. Man braucht doch Menschen um sich, wenn man in Not ist. Verdammt, Marion, ich sollte dir eigentlich böse sein. Du zwingst mich ja, mich genauso zu verhalten, falls ich einmal so krank würde.«
»Ich würde dich nie im Stich lassen«, protestierte sie sofort.
Er lächelte.
»Na also. Und wieso glaubst du, daß ich das tue?«
Sie begann zu weinen, aber es war keine Verzweiflung, die sie dazu brachte, sondern eine große Erleichterung, von seiner Stärke zu profitieren.
»Ist ja gut, mein Schatz. Komm, laß dich mal in den Arm nehmen.«
Vorsichtig legte er die Arme um Marion. Sie schniefte noch einen Moment an seiner Schulter, dann ließ sie sich küssen und hatte das Gefühl, daß die Angst immer weiter zurückwich. Mit Frederik zusammen würde sie es schaffen. Sie wollte leben, für ihn und für Johannes. Und sie würde leben. Wie hatte der Oberarzt gesagt? Der Knoten war so früh entdeckt worden, daß sie wirklich sehr gute Chancen hätte. Warum sollte er eigentlich gelogen haben, wie sie bisher angenommen hatte? Stand in dem Buch, daß Kristin ihr mitgebracht hatte, nicht ausdrücklich, daß man positiv denken und sich alles Schöne gönnen sollte, um das Immunsystem zu stärken, damit die Krebszellen keine Chance hatten? Sie würde sofort damit anfangen. Die Küsse, die Frederik ihr gab und die sie jetzt mit Inbrunst erwiderte, waren die beste Medizin.
»Alles in Ordnung, Liebes? Kannst du jetzt schon wieder ein bißchen lächeln?« fragte Frederik zärtlich, als er sie schließlich losließ.
»Ja… ich… liebe dich. Und ich bin froh, daß du gekommen bist.«
»Ich bin auch froh. Wenn ich nachher gehe, hole ich ein paar Sachen aus meiner Wohnung und ziehe zu dir, damit ich mich um Johannes kümmern kann. Er und ich werden das schon machen. Wenn du nach Hause kannst, haben wir schon eine echte Vater-Sohn-Beziehung.«
Marion lachte leise. Frederik sah wild entschlossen aus. Johannes konnte auch so schauen, wenn er etwas unbedingt wollte. Die beiden waren sich gar nicht so unähnlich.
»Ihr schafft das bestimmt.«
»Natürlich tun wir das. Und morgen besuchen wir dich zusammen.«
Marion lächelte noch immer, nachdem Frederik wieder gegangen war. Sie war glücklich, trotz der Krankheit. Jetzt hatte sie genügend Mut, um sich allem zu stellen, egal, was da noch auf sie zukommen mochte.
Am späten Nachmittag erschien der Oberarzt. Er lächelte, als er sich auf den Stuhl neben dem Bett setzte.
»Gute Nachricht, Frau Altmann. Wie ich schon vermutete, hat die Untersuchung ergeben, daß Sie noch sehr viel Glück gehabt haben. Wir werden eine Chemotherapie machen, eine kleine Serie von sechs Behandlungen, und damit sollte es dann gut sein. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, nichts anderes, falls wir noch irgendwelche Mikrometastasen übersehen haben. Wir fangen gleich morgen an. Die weiteren fünf Behandlungen können Sie dann ambulant bekommen. Und haben Sie keine Angst vor Übelkeit oder Haarausfall. Sie werden nichts dergleichen haben. Die Medikamente sind heute so gut verträglich, daß Sie selbst mit dem Auto herfahren können. Nach den Behandlungen kommen Sie alle Vierteljahr zur Nachuntersuchung, später halbjährlich und dann jährlich. Das ist alles.«
Marion nickte. Sie glaubte ihm. Und sie würde sich genau an das halten, was er ihr sagte.
»Sie wirken jetzt sehr viel entspannter. Das ist mir schon aufgefallen, als ich hereinkam. Glauben Sie mir endlich?«
»Nicht nur das. Ich werde wohl bald heiraten. Trotz der Krankheit.«
»Das ist schön. Solche Medizin können wir leider nicht verschreiben, aber aus Erfahrung weiß ich, daß sie die wirksamste ist.«
»Kann… ich später noch Kinder haben?«
»Ja. Der Tumor ist nicht hormonabhängig. Nur während der Therapie sollten Sie nicht unbedingt schwanger werden.«
Nein, das hatte Marion auch nicht vor. Man sollte nicht übertreiben.
Nachdem der Oberarzt gegangen war, rief sie in ihrer Wohnung an. Wie schön war es, als Frederik sich am anderen Ende meldete und im Hintergrund Johannes zu hören war, der gerade über etwas lachte…
*
Wieder saß Kristin in dem italienischen Restaurant. Diesmal war Dr. Bachner ihr Begleiter. Sie war so aufgeregt, daß sie an Essen nicht einmal denken konnte. Bestimmt würde ihr gleich der erste Bissen im Halse stecken bleiben. Oder die Spaghetti rutschten ihr von der Gabel und kleckerten alles voll. Oder…
»Wollen wir bestellen?«
Kristin nickte. Sie konnte ihm das ja unmöglich sagen. Er mußte sie für verrückt halten. Dabei wollte sie doch gerade jetzt einen intelligenten, charmanten Eindruck machen, einfach selbstsicher wirken. Ihre Hände zitterten, ihr Herz raste und ihre Augen konnte sie kaum von Dr. Bachner abwenden. Na, das konnte ja lustig werden…
»Ich glaube, ich nehme die Kalbsmedaillons. Die sind hier besonders gut.«
Kristin schaute nach. Kalbsmedaillons gab es mit Tagliatelle, den breiten langen Nudeln, die so besonders gern von der Gabel rutschten. Damit hatte sie schon unter normalen Umständen Mühe. Und sie zu schneiden, wäre natürlich undenkbar.
»Ich glaube, ich nehme Gnocchis.«
Damit würde sie wohl zurechtkommen…
Claudius Bachner bestellte Wein. Kristin würde auch damit vorsichtig sein müssen. Ein, höchstens zwei Gläser, damit sie nicht gleich einen Schwips bekam. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
Der Wein wurde serviert. Sie stießen miteinander an.
»Wie geht es Ihrer Freundin?« erkundigte sich Dr. Bachner.
Wie nett von ihm. Kristin hatte damit ein Thema und mußte nicht länger suchen, etwas Kluges von sich zu geben.
»Es geht ihr besser. Das Ergebnis war viel besser, als sie befürchtet hat und ihr Freund und sie haben sich auch wieder versöhnt. Nächste Woche kommt sie nach Hause.«
»Dann müssen Sie nicht mehr auf den Kleinen aufpassen?«
»Das muß ich jetzt schon nicht mehr. Frederik, ihr Freund, betreut ihn jetzt.«
»Oh, das bedeutet, daß Sie etwas mehr Zeit haben? Ich würde Sie am Sonnabend gern einladen. Ich habe Theaterkarten bekommen. Interessiert Sie Theater?«
»Ja, sehr sogar.«
Hoffentlich fragte er jetzt nicht, wann sie zuletzt im Theater gewesen sei. Das war nämlich sehr lange her.
»Was haben Sie denn zuletzt gesehen?«
Kristin las natürlich über Aufführungen. Sie könnte jetzt irgend etwas behaupten, was sie ohne Zweifel getan hätte, wenn ihr Claudius Bachner nicht so wichtig wäre. Doch gerade rechtzeitig fiel ihr ein, daß es für eine Beziehung wichtig war, keinen falschen Eindruck von sich selbst zu vermitteln, weil man den kaum durchhalten könnte und die Ernüchterung dann schlimm wäre. Wenn es ihr also ernst war, sollte sie bei der Wahrheit bleiben…
»Ich muß gestehen, daß ich ewig nicht mehr im Theater war.«
Er lächelte.
»Wie ich. Man nimmt sich das so oft vor, und dabei bleibt es dann leider. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe die Karten auch noch gar nicht. Aber ich möchte wirklich gern mit Ihnen ins Theater gehen.«
Kristin lachte. Das war eine wunderbare Antwort gewesen. Sie fühlte sich erleichtert.
»Danke für Ihre Ehrlichkeit. Ich komme sehr gern mit.«
Sie strahlten sich an. Kristin wurde ganz warm. Sie mußte sich mit Mühe auf die Speisekarte konzentrieren, denn der Oberkellner steuerte nun auf ihren Tisch zu.
Und weil Claudius Bachner es ihr so leicht machte, bestellte sie nun doch die Kalbsmedaillons. Und wenn sie kleckerte und die Tagliatelle schneiden müßte, was machte es? Er würde vermutlich auch darauf mit dieser wunderbaren Leichtigkeit reagieren.
Es passierte nichts von dem, was Kristin befürchtet hatte. Sie aßen, es schmeckte großartig und nicht eine Nudel rutschte von der Gabel. Sie sprangen von Thema zu Thema, immer wieder entzückt über die vielen Übereinstimmungen ihrer Ansichten und Vorlieben. Schließlich hatte sie doch drei Gläser Wein getrunken und merkte das auch. Die Welt war in ein rosiges Licht getaucht.
»Wollen wir noch ein paar Schritte laufen? Ich möchte mich noch nicht von Ihnen trennen«, schlug Claudius Bachner schließlich vor.
»Ja, gern.«
Es war windig und kühl. Kristin hakte sich bei ihm unter, als sie auf die Straße traten. Die Sterne waren am nachtblauen Himmel zu sehen, wenigstens etwas. Eine Sommernacht hätte natürlich mehr hergegeben. Aber so hatten sie den Vorteil, eng nebeneinander gehen zu können, um den kalten Wind ein wenig abzuhalten.
Claudius erzählte von seiner Arbeit und Erlebnissen mit Studenten. Kristin berichtete von lustigen Vorfällen mit Kunden. Sie lachten und spürten immer deutlicher, daß sie sich viel zu sagen hatten, denn hinter ihren Worten lag eine Bedeutung, die sie jetzt noch nicht aussprechen konnten. Kristin hätte ihn gern gefragt, ob er schon feste Partnerschaften hinter sich hatte und woran die gescheitert waren. Aber dazu war es zu früh. Sie wollte alles richtig machen und ihm schien es genauso zu gehen.
Nur sehr widerwillig trennten sie sich dann schließlich. Es war kurz nach Mitternacht, als sie wieder bei den Autos standen.
»Es war ein wunderschöner Abend, Kristin. Ich danke Ihnen sehr.«
»Ich habe zu danken. Ich fand es auch sehr, sehr schön.«
Er sah ihr in die Augen. Kristin hoffte, daß er sie küssen würde, aber er tat es nicht. Vermutlich war das eine Frage des Respektes. Irgendwie gefiel es ihr ganz gut, wenn die Sehnsucht nach einer Berührung sie auch nicht losließ.
Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Kristin hatte sehr viel zu tun. Es schien, daß ihre strahlende Laune die Kunden magisch anzog. Sie verkaufte so gut wie lange nicht mehr. Jeden Tag telefonierte sie mit Claudius. Mal rief er an, um eine wichtige Frage loszuwerden, mal sie. Es war, als spielten sie miteinander wie Kinder. Beide wußten sie, daß sie sich gesucht und gefunden hatten und schlichen wie kleine Katzen um den heißen Brei, weil sie es noch nicht aussprechen wollten. Kristin genoß diesen Schwebezustand, der ihr vorher – bei anderen Männern – immer so schwer zu schaffen gemacht hatte.
Auch nach dem Theater und dem anschließenden Glas Wein trennten sie sich, diesmal allerdings mit einem zarten Kuß auf den Mund. Kristin bebte vor Verlangen, aber sie wollte ihn den entscheidenden Schritt machen lassen.
Am Montag kam Marion aus dem Krankenhaus. Sie und Frederik luden sie für den Abend zum Essen ein, aber Kristin bat sie, das zu verschieben, da sie Claudius eingeladen hatte. Am Sonntag hatte er keine Zeit gehabt, aber heute wollte er sie abends abholen. Da sie sich vorgenommen hatte, sich seinem Tempo anzupassen, wollte sie wenigstens die Gelegenheit schaffen, falls er ihr gerade heute näherkommen wollte.
Diesmal gab es wohl keine Gefahr, daß ihr Marion dazwischenplatzen könnte.
In der Mittagspause kaufte sie ein. Das Essen sollte nicht kompliziert sein, denn sie hatte ja keine Gelegenheit, etwas vorzubereiten. Salat, Steak und Baguette. Er könnte ihr helfen. Mit ihm zusammen in der Küche zu stehen und das Essen zuzubereiten… Ach, es war einfach alles zu schön. Hoffentlich war ihr das Schicksal diesmal freundlich gesonnen, und es gab keine andere, die ihn noch wegschnappen könnte.
Claudius erschien wie abgemacht. Er hatte ihr sogar Blumen gekauft.
»Danke für die Einladung, Kristin.«
»Oh, warten Sie erst einmal, bis ich gekocht habe, bevor Sie sich bedanken. Ich bin nicht gerade eine Meisterköchin.«
Er lächelte über ihre Offenheit.
»Ich gebe mich ganz in Ihre Hände. Es wird bestimmt gut schmecken.«
Und dann stand er tatsächlich neben ihr und putzte den Salat, während sie das Dressing rührte. Kristin spürte die Spannung zwischen ihnen. Immer wieder sah Claudius sie von der Seite an, aber sie hielt die Augen starr auf die Salatschüssel gerichtet. Wenn sie ihn jetzt anschauen würde, könnte sie für nichts garantieren. Vielleicht nahm er sie ja nach dem Essen in den Arm…
Es klingelte.
»O nein!« stieß Kristin hervor.
»Was ist denn? Erwarten Sie noch jemanden?«
Klang das besorgt oder ablehnend? Kristin hätte am liebsten gar nicht reagiert, doch das machte wohl keinen guten Eindruck.
»Nein, aber ich fürchte, daß es meine Freundin ist, die mir wieder einmal ihren Sohn anvertrauen will…«
Irgendwann würde sie ihm die Geschichte von dem Abend mit Frederik erzählen.
»Ach so…« Das klang eindeutig nicht begeistert.
»Ich schaue mal eben nach.«
Es war Marion.
»Tut mir leid, daß ich störe. Sag mal, könntest du eine Stunde auf Johannes aufpassen? Er schläft schon, es geht nur darum, daß jemand weiß, daß wir nicht da sind…«
Kristin hatte plötzlich das Gefühl, als wiederhole sich alles auf ungute Weise. Wenn Marion und Claudius sich jetzt sehen würden…
Sie mußte es wissen. Heute würde Claudius nicht nach Hause gehen, das wußte sie. Und deshalb mußte die Begegnung jetzt sofort stattfinden. Damit sie davor keine Angst mehr haben mußte…
Es war albern zu befürchten, daß auch Claudius wie vom Blitz getroffen sein könnte, wenn er Marion sah. So etwas passierte nur einmal, wenn überhaupt. Und doch… Kristin konnte nicht anders.
»Komm eben herein, damit ich dir den Grund vorstellen kann, warum ich das ablehnen muß«, sagte sie, wie sie hoffte, mit ruhiger Stimme.
Marion sah sie merkwürdig
an.
»Nun komm schon. Er ist in der Küche.«
»Wer ist in der Küche?«
»Der Mann, mit dem ich heute… einen gemütlichen Abend verbringen will.«
»Ach so. Dann geht es also nicht?«
»Nein, ich fürchte, du wirst zu Hause bleiben müssen. Oder Johannes mitnehmen.«
»Aber dann…«
»Ich möchte ihn dir trotzdem vorstellen.«
»Na gut. Wenn du darauf bestehst.«
Marion war ein bißchen sauer, doch Kristin beschloß, das zu übergehen. Sie stand nicht immer zur Verfügung, daran würde sich Marion jetzt gewöhnen müssen. Es tät ihrer Freundschaft sicher keinen Abbruch, aber selbst wenn es so wäre, die Rolle der guten Tante, die immer zur Verfügung stand, war ausgespielt.
»Marion, darf ich dir Claudius Bachner vorstellen? Claudius, das ist meine Freundin und Nachbarin Marion Altmann, ihren Sohn haben Sie ja schon kennengelernt.«
Die beiden gaben sich die Hand. Kristin wartete atemlos auf den Blitzschlag. Nichts geschah. Es war im Gegenteil so, daß sie etwas verlegen wirkten, weil sie nicht wußten, was sie nun tun oder sagen sollten außer »Angenehm«.
»Na, dann will ich nicht weiter stören. Viel Spaß noch.«
»Euch auch, Marion.«
Marion fand allein hinaus. Kristin wollte das Dressing weiterrühren, ihre Hände zitterten leicht. Doch Claudius nahm ihr den Löffel aus der Hand und zog sie an sich.
»Was war das denn eben? Ich hatte das Gefühl, als warteten Sie auf etwas…«
»Ich? Nein, ich wollte nur, daß Sie sich kennenlernen…«
»Ja, fein. Sie ist sicher nett. Aber Sie sahen mich an, als könnte ich plötzlich… ich weiß nicht, es war eigenartig.«
»Der Freund von Marion war… vorher mein Freund. Ich meine, wir hatten uns erst kennengelernt, als die beiden sich sahen und…«
Verlegen brach Kristin ab. Jetzt hatte sie sich vermutlich absolut lächerlich gemacht. Sie traute sich gar nicht, Claudius anzusehen. Soweit zum Thema Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein! Sie hatte so viele kluge Bücher gelesen, und was nutzten sie in dem Moment, wo man wirklich einmal einen Rat brauchte? Natürlich hätte sie ihm das nicht erzählen dürfen, nicht jetzt und nicht so…
»Ach, Kristin… Glaubst du denn, ich bin wankelmütig? Ich habe mich in dich verliebt, und dachte, du seiest verheiratet und hättest ein Kind. Leider konnte ich trotzdem nicht darauf verzichten, dich wenigstens hin und wieder zu sehen. In der Buchhandlung. Als ich erfuhr, daß du frei bist, war es der glücklichste Moment, an den ich mich seit langem erinnern kann. Du mußt dir keine Gedanken machen. Stell mir alle Freundinnen vor, ich weiß genau, was ich will.«
»Ich… ach, ich weiß, daß ich albern bin.«
»Meinst du, das Essen kann noch etwas warten?«
»Ja.«
Er zog sie enger an sich und küßte sie endlich so, wie es sich Kristin erträumt hatte. Es war ihr, als löse sie sich auf in diesem Kuß, ihre Haut wurde heiß, ihre Beine trugen sie kaum. Sein Kuß war atemberaubend, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie gingen eng umschlungen ins Wohnzimmer hinüber. Kristin hatte keinen Zweifel, daß es letztendlich sogar gut gewesen war, daß Marion geklingelt hatte. Sie hatte ihre Gefühle dadurch verraten, und Claudius war sofort darauf eingegangen, als habe auch er auf die richtige Gelegenheit gewartet.
Das Essen mußte noch lange, lange warten. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie in der Küche standen und Steaks brieten. Der Salat sah inzwischen ein bißchen welk aus, doch das merkten sie nicht einmal. Sie konnte weder Augen noch Hände voneinander lassen und fütterten sich schließlich mit den besten Bissen, bis sie alles aufgegessen hatten und wieder ins Schlafzimmer zurückgingen.
»Ich kann jetzt nicht schlafen. Ich habe noch tausend Fragen…«
»Ich kann auch nicht schlafen, aber Fragen möchte ich nicht beantworten, nicht jetzt…«, gab Claudius zurück und begann zärtlich an Kristins Ohr zu knabbern.
Natürlich, Antworten konnten warten. Was sie wissen mußte, wußte sie längst. Seine Umarmung, seine Augen, alles verrieten Kristin, daß sie nun doch noch den Mann gefunden hatte, der zu ihr paßte und auch selbst genau wußte, was er wollte. Und das war unbegreiflicher-, glücklicher- und wunderbarer Weise sie.
Für Fragen würde noch viel, viel Zeit sein… Irgendwann, morgen, nächste Woche, nächstes Jahr…