Читать книгу Mami Staffel 10 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 9

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»Kathrin, hilfst du mir bitte?« erklang eine Stimme hoch oben von der Leiter. Kathrin Berger drehte sich erschrocken um.

»Um Himmels willen, Marion! Du darfst doch nicht mehr da hinauf! Dafür bin ich jetzt da.« Kathrin ließ den leeren Schuhkarton fallen, dessen Inhalt sie gerade in ein Regal der Kinderschuhabteilung des Schuhhauses ›Kremer‹ einsortiert hatte.

Die Leiter am Hochregal des Lagers stand zwar fest, aber auf Kathrins Gesicht zeichnete sich ernsthafte Sorge ab. Vorsichtig stieg eine junge Frau die Sprossen herunter. An ihrem weiten Kleid war zu erkennen, daß sie schwanger war. Sie lächelte ein wenig verlegen und strich sich dann über ihren mittlerweile beträchtlichen Bauchumfang.

»Ich vergesse es immer wieder, weil ich mich doch so wohl fühle«, erwiderte Marion. »Aber du hast recht, ich sollte es nicht übertreiben. Wir brauchen noch die Sportschuhe von dort oben.« Sie wies mit der Hand auf die oberste Regalreihe.

»Kein Problem!« Behende erklomm Kathrin die Leiter und zog einen Karton nach dem anderen aus dem Fach. Sie stapelte sie übereinander und drückte das Kinn auf den obersten Karton. So tastete sie sich die Sprossen wieder herunter.

Marion schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das sieht aber auch gefährlich aus. Nimm lieber nicht so viele Kartons auf einmal. Dir darf nichts passieren, damit ich pünktlich in den Wochenurlaub gehen kann.«

»Keine Sorge, ich bin ein sehr sportlicher Mensch«, winkte Kathrin lachend ab und stellte den Stapel Kartons auf den Boden.

Die Ladenglocke schellte. Eine Frau mit einem Mädchen an der Hand betrat das Geschäft und blickte sich suchend um.

»Geh nur und bediene die Kundin, ich sortiere in der Zwischenzeit die Sportschuhe ein«, sagte Kathrin.

Bereitwillig nahm Marion das Angebot an. Sie arbeitete gern in der Kinderschuhabteilung, aber bald schon würde sie die ersten winzigen Schuhe für ihr eigenes Kind aussuchen können. In dem Gedanken daran lächelte sie still. Dann fragte sie die Frau nach ihren Wünschen.

Ein wenig neidisch betrachtete Kathrin Marions stilles Glück. Einerseits wünschte sie sich ebenfalls die Harmonie einer Familie und glückliches Kinderlachen, andererseits gab es so viele schöne Dinge im Leben, von denen sie träumte: weite Reisen, modische Kleidung, teurer Schmuck – und elegante Schuhe, Schuhe, wie sie sie bisher in der Damenabteilung ›Elegant‹ des Schuhhauses verkauft hatte. Wenn nicht Marion und ihr Baby gewesen wären, würde sie auch jetzt noch diese wunderschönen Schuhe an elegante Damen mit viel Geld verkaufen…

Der melodische Klang des Türgongs riß sie aus ihren Träumen. Gleichzeitig hörte sie zwei aufgeregte Kinderstimmen, die sich gegenseitig zu übertönen versuchten. Stirnrunzelnd wandte sich Kathrin um. Der hochgewachsene Mann mit dem dunkelblonden Haar hob abwehrend die Hände, als müsse er sich gegen einen Schwarm wilder Bienen schützen.

»Bitte, Paps, du hast uns versprochen, daß wir diesmal selbst wählen können.«

»Jawohl, ich bin Zeuge«, krähte der kleinere der beiden etwa sechs und acht Jahre alten Buben. »Ich habe mir schon im Schaufenster welche ausgesucht.«

»Der Jens aus meiner Klasse hat auch solche Leucht-Turnschuhe, die sind echt cool. Warum dürfen wir nicht soetwas haben? Bitte, Paps, im Winter haben wir auch die ollen dunklen Stiefel genommen, die du uns gekauft hast. Jetzt will ich wählen.«

»Ich will aber auch wählen!« schrie der kleinere Junge dazwischen.

»Du bist still, Martin, ich bin der ältere!« herrschte der größere den kleinen an.

»Jetzt ist Schluß!« sprach der Vater ein Machtwort und lächelte gleichzeitig verlegen zu Kathrin. Diese hatte erstaunt und schweigend dem lauten Streit zugehört. Nun trat sie einen Schritt vor. Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie den Mann.

»Ich hoffe es, ich hoffe es!« stöhnte er. »Ich suche…«

»Wir wollen Leucht-Turnschuhe!« fiel der ältere Junge seinem Vater ins Wort.

»Kai, jetzt ist es genug!« Entnervt winkte der Mann mit dem Arm, als müsse er einen dicken Vorhang beiseite schieben. Kathrin zwinkerte ihm schmunzelnd zu und legte begütigend ihre Arme um die Schultern der Jungs.

»Nicht, wer am lautesten schreit, ist der Sieger«, sagte sie. »Wir sind nämlich nicht auf dem Fischmarkt, sondern in einem Schuhgeschäft. Zum Schuhkauf braucht man Zeit und Ruhe…«

»… die ich beides nicht habe«, warf der geplagte Vater ein.

»Wie wäre es, wenn sich euer Papa eine schöne Tasse heißen Kaffee genehmigt, den es im Wartebereich gibt, und wir suchen uns ganz in Ruhe ein Paar Schuhe aus, die ihr dem Papa dann vorführen könnt?«

Verblüfft schwiegen die drei und nickten. Während der Vater der beiden etwas zögernd hinüber zu den einladenden Polstersesseln ging, wo auch ein Kaffeeautomat stand, führte Kathrin Kai und Martin zwischen die Regalreihen.

»Soso, Leucht-Turnschuhe müssen es unbedingt sein«, sagte sie. »Ihr meint sicher diese, die hinten aufleuchten, wenn man auftritt?«

»Jaaa!« antworteten die Jungs wie aus einem Mund.

»Und warum unbedingt Leucht-Turnschuhe?«

»Damit man im Dunkeln gut erkannt wird«, erwiderte Kai.

»Aha! Das leuchtet mir ein. Aber das ist doch nicht der einzige Grund.«

»Die sind einfach cool«, rief Kai und Martin nickte. »Ja, die sind cool«, echote er.

»Und bei wem habt ihr diese Schuhe gesehen?« wollte Kathrin wissen.

»Bei dem Jens aus meiner Klasse. Seit er diese Schuhe trägt, ist er der King. Alle wollen nur mit ihm zusammen sein. Sie laufen dann neben ihm her, wenn er beim Laufen blinkt. Das ist geil!«

»Ja, das ist geil«, wiederholte der kleine Martin.

Kathrin unterdrückte ein Schmunzeln. »Und was ist an dem Jens noch dran, wenn er die Schuhe ausgezogen hat?«

Die beiden Jungs blickten verständnislos zu ihr auf.

»Was ist, wenn er diese Schuhe nicht trägt, weil sie kaputt gegangen sind? Hat er dann noch so viele Freunde? Ist denn der Jens auch sonst so ein cooler Typ?«

Kai schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern.

»Eigentlich nicht«, gab er etwas kleinlaut zu.

»Das heißt, er hat seine angeblichen Freunde nur wegen dieser albernen Turnschuhe? Ist das nicht ein bißchen wenig?«

»Na ja«, etwas unbehaglich trat Kai von einem Fuß auf den anderen. »Kann sein.«

»Ich denke, das ist so. Aber Freunde gewinnt man mit dem Herzen, nicht mit albernen Turnschuhen.«

»Ich habe mir schon lange solche Schuhe gewünscht«, wagte Martin einzuwenden. »Ich bin doch noch so klein und werde morgens im Dunkeln nicht gesehen.«

»Oh, vielleicht kann ich trotzdem eurem Wunsch entsprechen. Schauen wir doch mal, was es alles in den Wunderkartons so zu entdecken gibt.« Kathrin setzte eine geheimnisvolle Miene auf und senkte die Stimme.

»Ja, hast du denn solche Schuhe für uns?« fragte Martin flüsternd und blickte sich scheu um.

»Vielleicht, wenn ich mal ganz im hintersten Winkel suche, dann finde ich möglicherweise diese Zauberschuhe, die mir einmal dieser geheimnisvolle Mann verkauft hat, der behauptete, er sei ein ganz berühmter Magier.«

Martin starrte Kathrin voller Ehrfurcht an, Kai schüttelte den Kopf. »Ist doch jetzt Quatsch, oder wie?«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Warum sollte ich euch Märchen erzählen? Auch in einem Schuhladen geschehen manchmal seltsame Dinge. Wenn ich euch erzählen würde…« Kathrin kletterte auf die Leiter und wühlte im obersten Regalfach des Schuhlagers. Beeindruckt blickten sich die Jungs um. »Wo sind sie denn nur… ich hatte sie doch… Moment mal… na, bitte, wußte ich es doch!«

Triumphierend zog Kathrin zwei Kartons hervor. Neugierig reckten die Jungs die Hälse, während Kathrin von der Leiter herunter kletterte. Sie öffnete die Deckel. Enttäuscht blickten die Kinder auf zwei Paar blaue Ledersportschuhe mit hellen Streifen.

»Was ist daran so Besonderes?« wollte Kai wissen.

»Es sind Leuchtschuhe«, antwortete Kathrin.

»Niemals!« Kai winkte geringschätzig ab.

»Niemals!« echote Martin.

»So? Ihr glaubt mir nicht?« Die Kinder schüttelten entschlossen die Köpfe. »Dann will ich es euch beweisen.« Kathrin knipste eine kleine Lampe an, die nun das fensterlose Lager erhellte. Dann zog sie den Vorhang zu, der das Lager von der Verkaufsabteilung trennte. »Und nun paßt mal gut auf!« Sie drückte den kleinen Knopf der Lampe und das Licht erlosch. Im Lager wurde es dunkel. Erschrocken faßte Martin nach Kais Hand. Auf dem Tisch aber leuchteten plötzlich die hellen Streifen der Schuhe in einem fast unwirklichen Schein.

»Was ist denn das?« flüsterte Martin.

»Das sind Reflektoren«, erklärte Kai altklug.

»Irrtum, junger Mann, Reflektoren werfen nur Licht zurück, mit dem sie angestrahlt werden, so wie die Rückstrahler am Fahrrad. Diese Streifen leuchten auch ohne Licht. Sie fangen das Licht ein, speichern es und leuchten im Dunkeln.«

»Eh, cool!« Kais Stimme klang begeistert.

»Cool«, hauchte Martin. Kathrin zog den Vorhang wieder auf. »Und bei Licht sind es ganz normale Schuhe. Keiner weiß, daß es geheimnisvolle Zauberschuhe sind.«

»Die nehmen wir«, riefen die beiden aus einem Munde.

Kathrin hielt die beiden Jungs an den Schultern zurück. Dann legte sie den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich denke, das sollte unser Geheimnis bleiben. Eurem Vater braucht ihr es ja nicht unbedingt zu verraten. Vielleicht entdeckt er das Geheimnis von allein?«

Verschwörerisch nickten die Jungs. Dann stürmten sie durch den Verkaufsraum hinüber zum Wartebereich. Jubelnd hielten sie die blauen Schuhe hoch. Erstaunt erhob sich der Mann und betrachtete die Schuhe. »Ja, aber, das sind doch ganz normale… ich dachte…« Irritiert blickte er erst auf seine Kinder, dann zu Kathrin. Die Jungs kicherten, und Martin hielt sich prustend die Hand vor den Mund.

Kathrin lächelte und hob ein wenig die Augenbrauen. Gut sah er aus, dieser Mann in seiner Hilflosigkeit. Er hatte wunderschöne blaue Augen, die jetzt geradewegs in Kathrins Augen blickten. »Wie haben Sie denn das bloß gemacht?« wollte er wissen.

»Berufsgeheimnis«, lachte sie. »Sind Sie einverstanden mit diesen Schuhen?«

»Ja, ja, natürlich.« Ihm war die Erleichterung anzusehen und sein Gesicht entspannte sich. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Gern geschehen«, erwiderte Kathrin. Insgeheim jedoch hätte sie schon gewußt, wie sich dieser gutaussehende Mann bei ihr bedanken konnte. Mit einem Blick auf die beiden Jungs schüttelte sie jedoch

energisch den Kopf und deutete zur Kasse.

Glücklich verließen Kai und Martin, jeder mit seinem Schuhkarton unter dem Arm, gemeinsam mit ihrem Vater das Geschäft.

»Die Verkäuferin war echt cool, Mann«, sagte Kai zu seinem Vater, als sie auf der Straße standen.

»Kai, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich bitte anders ausdrücken«, rügte der Vater seinem Ältesten.

»Ist doch wahr, Paps«, verteidigte Martin seinen Bruder. »Eine coole Braut.«

*

Kathrin stöhnte verhalten. Eigentlich war ihr keine Arbeit zuviel, aber seit Marion nicht mehr da war und sie allein die Kinderschuhabteilung betreuen mußte, kam sie kaum noch zum Luftholen. Wieso brauchten Kinder nur so viele Schuhe? Klar, die kleinen Füße wuchsen schnell, und Kinder gehen oft nicht sehr sorgsam mit ihren Schuhen um, aber daß sie so viel zu tun hatte, hätte Kathrin nicht erwartet.

Herr Kremer versprach zwar, ihr eine Hilfskraft zur Seite zu stellen, aber nur zum Einsortieren der Schuhe. Der Verkauf war allein Kathrins Sache.

Zuerst nahm sie keine Notiz von dem kleinen Blondschopf mit dem großen Schulranzen, der etwas verloren zwischen den Regalreihen stand und Kathrin versonnen betrachtete.

»Nun, wo ist denn deine Mutti?« wollte Kathrin wissen, als sie den Kleinen beinahe umgestoßen hätte. Sie blickte in zwei strahlend blaue Augen. Kathrin stutzte. Wo hatte sie schon einmal solche blauen Augen gesehen? Der Kleine schwieg und lächelte sie an. Plötzlich fiel es Kathrin wie Schuppen von den Augen. Dieser gutaussehende Vater mit seinen beiden Buben, die Zauberschuhe!

»Bist du nicht der Martin mit den Zauberschuhen?« fragte Kathrin.

Der Junge nickte und blickte sie weiter unverwandt an. »Was ist denn, sind die Schuhe kaputt?«

Der Kleine schüttelte den Kopf, ohne die Blicke von ihr zu wenden. Kathrin blickte sich suchend um. Sie konnte den Vater des Jungen aber nirgendwo entdecken. »Bist du ganz allein hier?« Der Junge nickte wieder. »Ja, aber was tust du hier?« Wieder strahlte sie der Junge an, als brächte er ihr gerade ein Weihnachtsgeschenk. »Mußt du nicht nach Hause gehen?« bohrte Kathrin etwas beunruhigt weiter. Der Kleine nickte, dann stapfte er schnurstracks zur Tür und verschwand.

Kathrin blickte ihm kopfschüttelnd nach. Das hatte sie nun davon, wenn sie den Kindern solche Märchen auftischte. Sicher wollte der Kleine schauen, ob wieder Zauberschuhe im Regal standen.

Kathrin blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, neue Kundschaft stand im Geschäft. Es wurde Zeit, daß der Chef ihr endlich eine Aushilfe zur Seite stellte.

Kathrin war nicht wenig erstaunt, als sie am nächsten Tag wieder Martins Blondschopf entdeckte. »Ja, Martin, was suchst du denn hier? Brauchst du wieder neue Schuhe?« Martin blickte sie treuherzig an und ergriff ihre Hand. Kathrin erschrak. Irgend etwas war mit dem Jungen nicht in Ordnung. Sie zog ihn in den Wartebereich und hob ihn auf einen der Sessel. »Nun erzähl mir mal, was du auf dem Herzen hast, Martin. Wenn du keine neuen Schuhe haben willst, was möchtest du dann?« Martin blickte sie mit den blauen Augen seines Vaters an, und in Kathrins Magengegend spürte sie einen kleinen verräterischen Stich. Aber der Junge schwieg.

Kathrin deutete auf seinen Schulranzen. »Du mußt doch sicher nach Hause und Schularbeiten machen?«

Martin schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich groß bin, werde ich Bundeskanzler. Und dann schaffe ich alle Hausaufgaben ab.«

»Da hast du dir ja allerhand vorgenommen. Aber meinst du nicht, daß du bis dahin noch einiges lernen mußt?« Martin zuckte nur mit den Schultern. »Na, zum Beispiel, pünktlich zu sein. Deine Eltern werden auf dich warten. Wenn du nicht gleich von der Schule nach Hause kommst, machen sie sich Sorgen.« Wieder schüttelte Martin nur den Kopf und lächelte Kathrin an. Langsam kam sie sich etwas hilflos vor. Hatten die Zauberschuhe so eine Faszination auf den Jungen ausgeübt, daß es ihn immer wieder in das Schuhgeschäft zog? Oder hatte er gar Ärger in der Schule?

»Sag mal, Martin, haben dich vielleicht die großen Jungs geärgert? Wollen sie dir deine Zauberschuhe wegnehmen?«

»Nein!« Martin verschränkte die Arme über der Brust, blickte sich gelangweilt um und seufzte tief. Kathrin mußte lachen. Zu komisch war diese Geste bei einem sechsjährigen Kind. Dann stand Martin plötzlich auf. »Darf ich wiederkommen?« fragte er.

Kathrin nickte. »Aber nur, wenn du jetzt schnurstracks nach Hause gehst und deine Hausaufgaben machst. Wo ist überhaupt dein Bruder?«

»In der Schule. Er hat länger Unterricht als ich.« Martin zog unter seinem Pullover einen Schlüssel hervor, den er an einer Kordel um den Hals trug.

»Du bist ein Schlüsselkind?« staunte Kathrin. Das fand sie ganz schön leichtsinnig von Martins Eltern. So hatte sie den Vater eigentlich gar nicht eingeschätzt.

Martin zuckte wieder mit den Schultern und seufzte. Dann drehte er sich wortlos um und ging. Kathrin schaute ihm lange nachdenklich hinterher. Die Kinder hatten es heutzutage auch nicht einfach. Wenn die Eltern berufstätig sind, bleiben die Kinder sich selbst überlassen. Mißbilligend schüttelte Kathrin den Kopf.

»Fräulein, bedienen Sie hier…?«

*

Martin besuchte Kathrin fast täglich. Er begnügte sich damit, im Geschäft zu stehen und Kathrin zuzuschauen, wie sie Schuhe verkaufte. Kathrin brachte dem Kleinen einen Becher Limonade, den er ihr dankbar abnahm. »Hast du keinen Hunger?« wollte Kathrin wissen. Martin nickte. Kathrin holte eine ihrer Pausenschnitten aus der Tasche. Fast ehrfürchtig biß Martin hinein.

Ziemlich heftig flog die Ladentür auf, und Martins Vater kam hereingestürmt. Er lief auf Kathrin zu. »Bitte, haben Sie meinen kleinen Jungen…« Im gleichen Augenblick entdeckte er Martin, der genußvoll Kathrins Schnitte kaute. »Da bist du ja! Sag mal, was fällt dir ein, hier herumzubummeln? Du hast nach der Schule sofort nach Hause zu gehen. Tante Friedel wartet auf dich mit dem Essen. Was tust du hier?«

Martin stand mit hochrotem Kopf wie ein Zinnsoldat vor dem wuchtigen Sessel, und Kathrin befürchtete, daß sich gleich ein nasser Fleck in seiner Hose bilden würde. »Die Tante hat’s erlaubt«, stammelte Martin.

Der Mann blickte Kathrin fragend an. »Was ist hier eigentlich los?«

»Das wollte ich Sie auch fragen. Ist es denn nicht ein bißchen leichtfertig von Ihnen, so einem kleinen Jungen einfach einen Schlüssel um den Hals zu hängen? So ein Kind braucht seinen geregelten Tagesablauf, eine warme Mittagsmahlzeit und Obhut. Sie überlassen ihn ja völlig sich selbst. Dazu braucht man keine Kinder in die Welt zu setzen.« Kathrin wurde jetzt richtig ärgerlich.

»Moment mal, wovon reden Sie eigentlich?« Der Mann runzelte die Augenbrauen. »Haben Sie Kinder, daß Sie sich ein Urteil darüber erlauben können?«

»Zum Glück nicht. Ich habe keine Zeit für Kinder. Wenn ich den ganzen Tag im Laden stehen muß, wäre es unverantwortlich, so ein kleines Kerlchen einfach sich selbst zu überlassen.«

»Da sehen Sie es! Sie reden klug daher, wie man Kinder erziehen muß, und haben selbst gar keine…«

Der heftige Wortwechsel wurde durch Martins klägliches Weinen unterbrochen. Die beiden Erwachsenen schauten sich betroffen um.

»Nicht streiten, nicht streiten«, schluchzte Martin. In einem plötzlich aufkommenden Gefühl zog Kathrin den Kleinen an sich. Er preßte sein Gesicht an ihre Bluse und schmierte sie voll Schmutz und Tränen.

»Na na«, tröstete Kathrin ihn. »Wir haben uns doch gar nicht richtig gestritten. Wir haben nur etwas laut gesprochen.«

»Das mag ich aber nicht!« Martins kleiner Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Kathrin strich ihm beruhigend über den Rücken.

»Meine Güte, du hast die Dame ja ganz schmutzig gemacht!« Martins Vater wollte ihn erschrocken von Kathrin wegziehen.

»Das macht gar nichts«, wehrte Kathrin ab.

»Du mußt dich wieder mit der Tante vertragen«, sagte Martin und zog laut hörbar die Nase hoch. Bevor Martins Vater etwas sagen konnte, putzte Kathrin ihm mit ihrem Taschentuch die Nase.

Der Mann seufzte, und es klang fast so wie Martins Seufzer. Dann blickte er Kathrin um Vergebung bittend an. »Tut mir leid, wenn wir Ihnen Ungelegenheiten bereitet haben. Übrigens, mein Name ist Peter Kilian. Ich weiß nicht, welcher Teufel den Jungen geritten hat, daß er immer hier herumschleicht. Aber glauben Sie mir, er ist nicht vernachlässigt. Vielleicht hat er nur ein bißchen zuviel Phantasie. Ihn hat wohl fasziniert, wie Sie ihm die Schuhe verkauft haben. Mich übrigens auch.« Er lächelte schüchtern und Kathrins Herz klopfte schneller. Gut sah er aus, dieser gepflegte Vater zweier semmelköpfiger Buben. Seine Frau war wirklich zu beneiden.

»Wie wäre es, wenn ich Sie am Sonntag zu einem Picknick mit meiner ganzen Familie einlade? Sozusagen als Entschädigung für die Belästigung durch Martin. Wir werden Sie mit dem Auto abholen.«

Kathrin wehrte erschrocken ab. »Aber er hat mich doch gar nicht belästigt. Im Gegenteil, er ist ein sehr lieber Junge…« Der Rest ging in Martins Aufschrei unter.

»O ja, Paps! Wir laden die Tante ein! Am Sonntag!« Er hüpfte wie Rumpelstilzchen von einem Bein aufs andere.

»Ich weiß nicht recht…« Kathrin schluckte. Sollte sie wirklich die Einladung dieses Mannes annehmen? Er sah verdammt gut aus, und in seiner Nähe bekam Kathrin Herzklopfen. Andererseits, was war schon dabei? Seine Kinder waren ja dabei und seine Frau. Da lernte sie wenigstens die Frau kennen, die sie um diesen Mann beneidete. Kathrin lebte allein, und die Sonntage waren für sie gleichförmig und langweilig.

»Also gut, angenommen. Ich wohne in der Bodenbacher Straße, gleich an der Ecke am Kino.«

Martin strahlte über sein tränenverschmiertes Gesicht, und Kathrin mußte lachen. Sie strich ihm über das zerstrubbelte blonde Haar. Peter Kilian ergriff ihre Hand. »Also abgemacht, bis Sonntag.«

Im Gehen drehte sich Martin noch einmal um und winkte Kathrin zu. »Aber nicht vergessen! Bis Sonntag!« rief er ihr zu. Kathrin winkte zurück. Sie sah das Lächeln Peter Kilians, und plötzlich bekam sie weiche Knie. Aufseufzend ließ sie sich in den Sessel sinken.

*

Sorgfältig steckte Martin die Lego-Steine aufeinander. Es sollte unverkennbar ein Haus werden. Nur das Dach saß etwas schief. Vor Eifer klemmte er die Zunge zwischen die Lippen.

»Du sabberst ja«, stichelte Kai und betrachtete seinen jüngeren Bruder ein wenig herablassend.

Martin ließ sich keineswegs bei seiner Arbeit stören. »Na und?« meinte er nur beiläufig. Sollte doch Kai an ihm herummeckern, all das ließ Martin kalt. Er hatte ein wichtiges Problem zu klären, etwas, worüber er mit Kai nicht sprechen wollte.

Eigentlich war Kai ein echter Kumpel, auch wenn er der größere Bruder war. Größere Brüder waren immer Besserwisser, zumindest empfand Martin es so. Und Kai benahm sich, als müsse er Martins Erziehung ganz allein auf seinen Schultern tragen. Ständig beklagte er sich über Martins Ungehorsam. Vor allem bei Tante Friedel.

Die alte Dame lächelte nachsichtig und schärfte beiden ein: »Du bist der ältere, Kai, du trägst die Verantwortung für deinen kleinen Bruder. Das ist eine große Aufgabe für dich. Und du, Martin, mußt auf deinen großen Bruder hören.«

»Warum bin ich nicht der ältere? Das ist doch ungerecht«, begehrte Martin auf.

»O nein!« widersprach Tante Friedel. »Wenn ihr nämlich bei mir seid, dann trage ich die Verantwortung für euch beide. Dann gibt es keinen älteren und keinen jüngeren Bruder. Dann gibt es nur Kai und Martin. Und heute ist Kai dran mit dem Abwasch und Martin trocknet ab. Und morgen wäscht Martin das Geschirr und Kai trocknet ab.«

»Ooooch!« maulten beide gleichzeitig, und Tante Friedel klatschte aufmunternd in die Hände. »Das ist gerecht! Und jetzt wascht euch die Hände, das Essen ist fertig. Und denkt daran, wir müssen noch den Speiseplan für die nächste Woche aufstellen, damit Kai weiß, was er alles einkaufen muß.«

*

Nach dem Essen erledigten die Jungs den Abwasch, und Tante Friedel legte sich zu einem kleinen Nickerchen auf das Kanapee. Jetzt mußten Kai und Martin ihre Hausaufgaben erledigen. Wenn Tante Friedel ihren Mittagsschlaf beendet hatte, würde sie die Aufgaben kontrollieren. Tante Friedel war schon streng, aber es gab auch immer eine kleine Belohnung, wenn eine Aufgabe besonders gut geworden ist. Und beide Jungen bemühten sich, ihre Aufgaben gut zu erledigen.

Buchstabe für Buchstabe reihte sich auf der Zeile, die Martin in sein Heft schrieb. Es sah ein wenig krakelig aus, aber in der ersten Klasse war noch kein Meister vom Himmel gefallen. Martin jedenfalls konnte es lesen, und das fand er für ausreichend. Nachdenklich kaute er an seinem Füllfederhalter.

»Kai, ich muß dir etwas sagen«, sagte er.

»Psst, stör mich nicht!« Kai schüttelte unwillig den Kopf. Er mußte eine komplizierte Aufgabe rechnen. Für ihn eigentlich kein Problem. Besonders gut konnte er mit Geld rechnen. Kein Wunder, denn er erledigte alle Einkäufe, und bisher hat es immer auf den Pfennig gestimmt. Doch nicht alle Rechenaufgaben hatten mit Geld zu tun, und dann mußte sich Kai doch sehr konzentrieren.

»Es ist aber wichtig«, beharrte Martin und klappte sein Heft zu.

Seufzend blickte Kai auf. »Was ist denn so wichtig? Ich muß rechnen.«

»Ich werde sowieso Bankdirektor, wenn ich groß bin. Dann schaffe ich das blöde Geld ab, und du brauchst nicht mehr zu rechnen.«

»Spinner!« Abfällig pustete Kai die Luft aus den Wangen. »Also, was hast du denn für ein wichtiges Problem?«

»Es ist wegen dieser Verkäuferin in dem Schuhladen. Die uns die Zauberschuhe verkauft hat.«

»Ja, und? Was ist mit ihr?«

»Wie findest du sie?«

»Die war irgendwie cool. Ich hatte wirklich geglaubt, sie kann zaubern.«

»Meinst du?« Martin blickte Kai fragend an.

»Na ja, ist doch Quatsch. Aber irgendwie unheimlich war es doch da hinten in diesem dunklen Lager. Und als die Schuhe so leuchteten, da dachte ich…«

»Ob sie eine Fee ist?«

»Eine Fee? So etwas gibt es doch nur im Märchen.« Kai winkte ab und konzentrierte sich wieder auf seine Rechenaufgabe. Plötzlich stutzte er. »Wie kommst du denn darauf?«

Martins Ohren röteten sich, und daran erkannte Kai, daß etwas Ernsthaftes in seinem kleinen Bruder vorging.

»Ich war bei ihr«, gab Martin etwas kleinlaut zu.

»Du warst bei ihr? Im Schuhgeschäft?«

Martin nickte, und seine Ohren röteten sich etwas mehr.

»Ja, warum denn?« fragte Kai entgeistert.

»Ich wollte sie einfach wiedersehen. Ich wollte herausfinden, ob sie vielleicht doch eine Fee ist.«

Kai starrte seinen Bruder mit offenem Mund an. »Und was hat sie gesagt? Hat sie gezaubert?«

»Nein, nein! Sie hat mich nur allerhand gefragt. Und sie hat mir zu essen gegeben.«

»Zu essen?«

»Hm, ihr Pausenbrot. Es hat gut geschmeckt.«

»Aber du bekommst doch jeden Tag ein Pausenbrot mit in die Schule. Und Tante Friedel kocht Mittagessen. Warum gibt sie dir ihr Pausenbrot?«

»Weil sie nett ist. Sag mal, essen Feen Brote? Ich dachte immer, eine Fee braucht nichts zu essen.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß sie eine Fee ist. Aber so richtig sicher bin ich mir nicht. Weißt

du, als wir mit ihr da allein in dem dunklen Zimmer standen, da hatte ich das Gefühl, daß sie genau weiß, was wir uns wünschen.«

»Eine gute Fee erfüllt doch Wünsche, nicht wahr? Und sie hat unseren Wunsch nach ganz besonderen Schuhen erfüllt.«

»Kann sein. Ja, irgendwie hat sie das. Und ich fand sie wirklich sehr nett.«

»Hm.« Wieder kaute Martin auf seinem Federhalter. »Ob sie noch einmal einen Wunsch erfüllen würde?«

»Wie kommst du denn darauf? Wünschst du dir noch ein Paar Schuhe?«

Martin schüttelte den Kopf und starrte zur Decke. »Nein, etwas viel Größeres und Schöneres.«

*

Die Sonne strahlte golden am wolkenlos blauen Spätsommerhimmel. Auch Kathrin trug ein hübsches lindgrünes Sommerkleid mit zartgelbem Blütenmuster. Über die Schultern hatte sie sich einen breiten Häkelschal geworfen. In der Hand hielt sie einen kleinen Weidenkorb mit einer Schüssel und Obst. Sie hatte einen bunten Salat aus Mais, Radieschen, roten Bohnen, Gurke und Kräutern bereitet, ihr Beitrag zum Picknick. Sie stand wartend vor ihrem Haus und blickte sich suchend um. Wenn sie wüßte, was Peter Kilian für einen Wagen fuhr. Ein wenig aufgeregt war sie schon. Ob er eine nette Frau hat? Bestimmt, denn er war auch ein netter Mann, ein sehr netter…

Ein großer silbergrauer Wagen hielt am Straßenrand, und hinter der getönten Scheibe erkannte sie schemenhaft Martins lachendes Gesicht. Kathrin winkte. Die Beifahrertür öffnete sich, und Kathrin beugte sich herunter. Zu ihrer Überraschung war der Beifahrersitz leer. Sie blickte in Peter Kilians strahlend blaue Augen, die mit dem Sommerhimmel zu konkurrieren schienen. Er hatte sich herübergebeugt und die Beifahrertür geöffnet.

»Ich hoffe, Sie warten noch nicht zu lange. Es ist schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten, wenn ich die Kinder zusammentrommeln muß.« Er lachte und machte eine einladende Handbewegung. Irritiert blickte Kathrin in den Wagen. Auf der Rückbank saßen Kai und Martin, die beide über das ganze Gesicht strahlten, und zwischen ihnen – ein etwa zweijähriges Mädchen in einem Kindersitz. Die Kleine blickte sie ernst und stumm an. Sie trug eine dünne Stoffmütze mit einem Rüschenrand, und ihre blauen Augen wurden von langen dunklen Wimpern umrahmt. Sie hatte niedliche Pausbäckchen und einen süßen Schmollmund. Nur der ernste Gesichtsausdruck paßte nicht zu ihrer anrührend kindlichen Erscheinung.

»Na, hallo, wer bist du denn?« versuchte Kathrin ihre Überraschung zu überspielen.

»Das ist unsere Schwester Jenny. Ist sie nicht süß?« Martin hopste aufgeregt auf dem Rücksitz herum.

»Wirklich, eine ganz entzückende junge Dame.« Kathrin setzte sich auf den Beifahrersitz und zog die Wagentür zu. Das war in der Tat eine Überraschung. Noch wußte sie nicht, was sie von all dem halten sollte. Dann schwieg sie erwartungsvoll.

Peter Kilian startete den Wagen. Sie fuhren aus der Stadt hinaus, zwischen abgeernteten Getreidefeldern und sich langsam herbstbunt färbenden Wäldern entlang bis an einen kleinen See. Dort parkten sie den Wagen, holten Decken und Körbe aus dem Kofferraum und richteten sich am Ufer des Sees ein. Kathrin stellte ihren Korb dazu.

»Was ist da drin?« wollte Kai wissen.

»Natürlich etwas zu essen. Ich hoffe, es schmeckt euch.«

»Natürlich schmeckt es uns!« versicherte Martin.

Kathrin lachte. »Aber du hast doch noch gar nicht gekostet.«

»Ich weiß es trotzdem. Alles, was du tust, ist gut.«

Peter Kilian senkte schnell den Kopf und verbarg ein Lächeln.

Kai stieß Kathrin mit dem Ellenbogen an. »Ich glaube, der ist verknallt in dich«, meinte er mit altkluger Miene.

»Donnerwetter!« Kathrin mußte schmunzeln. »Darauf kann ich mir etwas einbilden. Sonst übersehen mich die Männer immer. Aber ich bin wirklich geehrt, Martin.«

Martin bekam knallrote Ohren, aber er blickte Kathrin offen ins Gesicht. »Ich bin zwar noch klein, aber wenn du auf mich wartest, bis ich groß bin…«

»Das ließe sich vielleicht einrichten«, erwiderte Kathrin. »Dann mußt du aber schnell wachsen. Und dazu braucht man eine ordentliche Mahlzeit.«

»Das denke ich auch«, warf Peter Kilian ein. »Und nun wollen wir doch einmal schauen, was da alles für herrliche Köstlichkeiten in den Körben und Schüsseln auf uns warten. Ich habe schon einen gewaltigen Hunger.«

»Ich auch! Ich auch!« riefen die Kinder durcheinander. Jenny setzte sich neben ihren Papa auf die Decke. Kathrin betrachtete sie. Jenny war ein kleiner Wonneproppen, und Kathrin war geneigt, sie in die Arme zu nehmen und richtig zu knuddeln. Peter Kilian band ihr ein Lätzchen um, und Jennys Aufmerksamkeit galt jetzt auch den mitgebrachten Leckereien.

Es wurde ein vergnügliches Picknick mit Würstchen, Kartoffelsalat, Gurkenhäppchen und Käsespießchen, Weintrauben und Apfelsaft.

»Der bunte Salat war köstlich«, lobte Peter Kilian, und Martin blickte bedauernd in die leere Schüssel.

»Ja, wenn ich gewußt hätte, daß er euch so gut schmeckt, hätte ich mehr davon angerichtet.«

»Dann bringst du eben beim nächsten Mal wieder welchen mit.« Martin leckte sich genießerisch die Lippen.

»Martin, sei nicht immer so vorlaut!« rügte Peter Kilian seinen Sohn. »Du weißt doch gar nicht, ob die Dame wiederkommen will.«

Martin verzog das Gesicht. »Möchtest du nicht wiederkommen?« fragte Martin erschrocken, und seine Stimme bekam einen weinerlichen Klang. »Magst du uns nicht?«

»Aber natürlich mag ich euch!« erwiderte Kathrin schnell, und ihr wurde es plötzlich etwas unbehaglich. Worauf hatte sie sich eigentlich eingelassen? Auch Peter Kilian fuhr sich mit einer verlegenen Geste mit der Hand durchs Haar.

»Ich denke, nach dem reichhaltigen Essen sollten wir uns etwas bewegen«, lenkte Kathrin ab. »Wozu habt ihr denn den Ball mitgebracht?«

»O ja, wir spielen Ball!« rief Kai und sprang als erster von der Decke. Auch die anderen erhoben sich.

»Aber Jenny kann nicht mitspielen, sie ist dafür noch zu klein«, warf Martin ein. »Wir wollen Fußball spielen. Ich muß trainieren. Wenn ich groß bin, werde ich Fußballspieler.«

»Wolltest du nicht Bundeskanzler werden und die Hausaufgaben abschaffen?« fragte Kathrin.

»Nein, nicht mehr. Fußballspieler ist besser. Die stehen immer in der Zeitung und sind ganz berühmt. Ich will auch berühmt werden, deshalb muß ich trainieren, und Jenny stört nur.«

»Niemand ist zu klein«, widersprach Kathrin und gab Jenny den Ball in die Hände. »Wirf ihn mir

zu, Jenny! Kräftig!« Das ernsthafte Gesicht der Kleinen verzog sich zu einem Lächeln, und nach einigen Minuten jauchzte sie vor Vergnügen.

Kathrin klatschte in die Hände. »Nächstes Spiel! Blindekuh!« Sie wedelte mit dem rotkarierten Wischtuch aus dem Picknickkorb. »Wer will zuerst?«

»Pah, das ist doch ein Spiel für Mädchen«, schmollte Martin.

»Soso. Dann geh mal mit gutem Beispiel voran. Und wenn du den ersten gefangen hast, darfst du das Tuch weitergeben.«

Martin bemühte sich sehr, aber es dauerte schon eine Weile, bis er Kai an der Jacke erwischte. Kai fing seinen Vater und Peter Kilian bekam Jenny zu greifen. Und Jennys kleinen dicken Finger krallten sich in Kathrins Blumenkleid fest.

»Ah, jetzt bist du auch mal dran«, triumphierte Martin. Lachend ließ sich Kathrin nun die Augen verbinden und drehte sich im Kreis. Mit ausgestreckten Armen tastete sie ins Leere. Sie hörte Kais Lachen und Jennys Kreischen, dann Peter Kilians Stimme. »Hey, Martin, was machst du denn…« Im gleichen Augenblick spürte Kathrin Peters Schultern, und sie schlang ihre Arme haltsuchend um seinen Hals. Ihr stockte fast der Atem, als sie seine Hände um ihre Taille spürte und er sie festhielt. Für einige Sekunden standen sich beide eng umschlungen gegenüber, und sie spürte seinen heftigen Atem auf ihren Wangen. Dann gab sie sich einen Ruck und zog das Tuch von ihren Augen. Im gleichen Moment ließ Peter Kilian sie los.

»Martin hat den Papa geschupst«, rief Kai und zog Martin an seiner Jacke. »Die Tante sollte Papa erwischen, nicht wahr?«

Martin bekam wieder knallrote Ohren. Kathrin mußte ihm aus der Patsche helfen. »Und du bist eine Petze, Kai. Übrigens, ich heiße Kathrin, und ich denke, ihr solltet mich auch so nennen. Wenn es eurem Papa recht ist«, fügte sie zögernd hinzu.

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte er. »Dann müssen Sie mich aber Peter nennen.«

Kathrin nickte lächelnd. »Einverstanden!« Sie beugte sich zu Jenny hinunter. »Du bist müde vom Toben, nicht wahr?« Jenny nickte.

Kathrin wandte sich an die beiden Jungen. »Spielt noch etwas allein mit dem Ball. Ich werde mit Jenny einen Blumenkranz flechten.« Sie hockte sich ins Gras und pflückte ein Sträußchen aus Blumen und Gräsern. Jenny half eifrig dabei. Dann ließen sie sch auf der Decke nieder, und Kathrin begann, die Blumen und Gräser zu einem Kranz zu binden.

»Oh, es ist schon so lange her. Ich fürchte, ich kann es gar nicht mehr richtig«, seufzte Kathrin.

Peter Kilian hatte sich neben sie gesetzt und schaute ihr interessiert zu. »Ich finde, Sie gehen bewundernswert mit Kindern um, obwohl Sie selbst gar keine Kinder haben. Hatten Sie kleinere Geschwister?«

Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ein Einzelkind. Auch in meiner ganzen Verwandtschaft war ich immer die jüngste. Zu meinem Leidwesen. Alle wollten nur an mir herumerziehen.«

Peter lachte. »Es hat Ihnen aber nicht geschadet.«

Kathrin blickte auf und ihm geradezu in die blauen Augen. Zum Glück saß sie, sonst hätte sie jetzt wieder schrecklich weiche Knie bekommen. Die Nähe dieses Mannes brachte sie aus der Ruhe. Die Blumen fielen ihr aus der Hand in den Schoß. Sie und Peter griffen gleichzeitig zu, und ihre Hände berührten sich auf dem dünnen Stoff ihres Kleides. Kathrin zuckte zusammen. Peter bemerkte es.

»Entschuldigung«, murmelte Kathrin.

»Wofür?«

Kathrin kämpfte gegen einen Kloß im Hals an. Sie fand es unfair von diesem Mann, sie in dieser Weise zu provozieren. Ganz sicher hatte er bemerkt, daß Kathrin ihn sympathisch fand, viel zu sympathisch nach Katrins Meinung, und daß seine Nähe sie nervös machte.

»Warum ist eigentlich Ihre Frau nicht mitgekommen?« fragte Kathrin und gab ihrer Stimme einen betont kühlen Klang.

Peter Kilian rückte ein wenig von ihr ab und setzte sich aufrecht hin. Er nahm einen Grashalm und klemmte ihn zwischen seine Zähne. Einige Augenblicke kaute er darauf herum, bevor er antwortete: »Sie kann nicht mitkommen.«

»So?« Kathrin hob verwundert die Augenbrauen.

»Meine Frau starb bei Jennys Geburt.«

Aus Kathrins Gesicht wich die Farbe, und sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. »Es… es tut mir leid… ich bin aber auch ein Trampel. Ich wußte nicht… ich hätte es ahnen müssen…«

Peter ergriff ihre Hand. »Aber das können Sie doch nicht wissen. Und Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Ich bin ein alleinerziehender Vater. Vielen Frauen geht es doch ebenso, und keiner macht viel Aufhebens davon.«

»Trotzdem ist es bewundernswert, wie Sie das machen. Jetzt verstehe ich auch, daß Martin ein Schlüsselkind ist.«

»Nein, das ist er nicht. Es gibt eine nette ältere Dame in unserem Haus, zu der die Kinder gehen, bis ich nach Hause komme. Sie kocht für sie, dort können sie ihre Hausaufgaben machen und spielen. Sie sind nicht sich selbst überlassen.«

»Aber Martin hat mir doch einen Schlüssel gezeigt.«

»Das war gelogen. Es war eine seiner Phantasien.«

»Aber warum tut er das?«

Ehe Peter antworten konnte, stand Martin vor ihnen. Er zeigte auf die Hand seines Vaters, die immer noch auf Kathrins Hand lag. »Und? Ist alles klar? Nimmst du sie?«

Kathrin blickte verständnislos auf und jetzt war es Peter Kilian, der rote Ohren bekam. »Martin!«

Langsam schien Kathrin zu begreifen. Sie blickte erst zu Peter, dann zu Martin und zu Kai, der verlegen dazukam. »Was soll klar sein? Was habt ihr da eingefädelt?«

»Na, du wirst doch unsere neue Mutti, oder nicht?« In Martins blauen Augen waren Hoffnung und Angst.

»Martin, geh mit Kai spielen. Kathrin, es tut mir leid, aber die Kinder haben sich da in etwas verrannt. Ich wußte nichts von diesem Komplott. Sie schießen manchmal übers Ziel hinaus.«

»Wirklich?« Kathrin schluckte schwer. Dann blickte sie ihm offen in die Augen. »Sind es wirklich nur die Kinder, oder schieben Sie die Kinder vor, um wieder eine Frau zu bekommen? Und sind Sie überhaupt einmal auf den Gedanken gekommen, was ich zu dieser ganzen Sache sage? Ich fühle mich total überfahren und hintergangen. Klar, es ist nicht einfach, für drei Kinder wieder eine Mutter zu finden. Aber dazu gehören immer noch zwei Seiten. Ich habe mein Leben etwas anders geplant. Zumindest fange ich es nicht mit drei Kindern an.«

Etwas heftig setzte sie den fertigen Blumenkranz auf Jennys Köpfchen. Deren Gesicht war bei dem heftigen Wortwechsel wieder ernst geworden. Für einen Augenblick wallte in Kathrin heißes Mitleid auf. Was konnten die Kinder dafür, daß ihre Mutter gestorben war? Die kleine Jenny hatte nie in den Armen ihrer Mutter gelegen, nie ihre Stimme gehört und ihr Streicheln gespürt. Kathrin schluckte. Aber dann faßte sie sich wieder. Ganz so einfach ging die Rechnung nicht auf. Er brauchte eine Frau zum Kochen, Windeln waschen, den Kindern die Hausaufgaben kontrollieren, und wenn sie dann abends fix und fertig im Bett lag, dann machte er vielleicht noch seine ehelichen Rechte geltend. Nun, Peter Kilian ohne die Kinder, das konnte sie sich schon ganz gut vorstellen. Dann konnten sie gemeinsam das Leben genießen, herrliche Reisen unternehmen und sie sich für ihn schön machen, mit hübschen Kleidern, eleganten Schuhen. Mit Kindern ging das nicht.

Kathrin zog fröstelnd das Häkeltuch um ihre Schultern zusammen. »Es wird kühl. Ich glaube, ich möchte nach Hause fahren.«

Schweigend erhob sich Peter Kilian und rief seine Kinder zusammen. Sie bedauerten, daß der lustige Sonntagsausflug bereits zu Ende sein sollte. Kathrin zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich muß morgen wieder zur Arbeit, da darf ich nicht müde sein«, sagte sie und hoffte, dabei nicht rot zu werden. Wie gern würde sie mit Peter Kilian noch zusammenbleiben. Aber ob er wirklich an ihr interessiert war oder nur eine Mutter für seine Kinder suchte? So distanziert wie möglich verabschiedete sie sich von ihm. Den Kindern winkte sie zu.

»Wann fahren wir wieder gemeinsam an den See?« wollte Martin wissen.

»Ich weiß es nicht, Martin. Es wird bald Herbst und für ein Picknick am See zu kalt. Alles Gute!« Sie hoffte im stillen, daß Peter Kilian verstanden hatte.

*

»Du bist ein Idiot!« schnaubte Kai und blickte ärgerlich auf Martin hinab. Martin schob die Unterlippe vor und schmollte. Am liebsten hätte er gegen Kais Vorwürfe aufbegehrt, aber er wußte nur zu gut, daß Kai recht hatte.

Sie hockten beide auf der Bettkante im Kinderzimmer im Schein der Nachttischlampe. An Schlaf war nicht zu denken, auch wenn der Vater sie mehrmals ermahnt hatte, endlich Ruhe zu geben.

»Ich habe es vermasselt«, gestand sich Martin mit weinerlicher Stimme ein.

»Allerdings! Zwischen den Erwachsenen geht es eben nicht so schnell mit der Liebe.«

»Aber sie haben sich doch an den Händen gehalten. Ist das nicht ein Zeichen, daß sie sich lieben?«

»Schon, aber noch nicht so richtig.«

»Wie ist es denn richtig? Woher soll ich denn so etwas wissen? Immer wenn im Fernsehen ein Liebesfilm kommt, muß ich ins Bett!« Demonstrativ verschränkte Martin die Arme und blickte zu Boden.

»Ist doch gut, du bist eben noch zu klein für solche Dinge.«

»Bin ich nicht. Ich mag Kathrin wirklich sehr. Und dir gefällt sie doch auch. Warum kann sie nicht unsere neue Mutti sein? Jedenfalls wünsche ich mir keine andere als sie.«

»Kathrin gefällt mir auch. Sie ist so lustig, macht jeden Quatsch mit und ist bestimmt ein prima Kumpel. Als neue Mutti – na ja, das weiß ich nicht so genau.« Kai überlegte krampfhaft. Auch ihm war nicht entgangen, daß er sich in Kathrins Nähe besonders wohl fühlte und er sich wünschte, daß sie ihn abends zu Bett brachte, ihm die Decke unterm Kopfkissen feststeckte und liebevoll über sein Haar strich, wie es ihre Mutter getan hatte. Wie gern würde er sich an ihre Brust lehnen und einfach ihre Wärme spüren. Und manchmal, wenn es ihm nicht besonders gut ging oder er Ärger in der Schule hatte, vermißte er die Mutter, bei der er sein Herz ausschütten oder einfach weinen konnte wie ein kleiner Junge, der er doch eigentlich noch war. Doch er war auch sehr stolz darauf, der ›Große‹ zu sein, der die Verantwortung für die Familie trug wie ein Mann. Dann fühlte Kai sich sehr erwachsen. Tante Friedel und auch Vater lobten ihn, wenn er so verantwortungsbewußt und zuverlässig war. Das unterschied ihn auch von seinem kleinen und etwas verträumten Bruder Martin. Der hatte zwar auch seine Aufgaben im Haushalt, die er erledigen mußte, und das tat Martin meist ohne zu murren. Doch manchmal hörte Kai ihn abends im Bett, wenn es dunkel war, weinen. Dann fühlte Kai sich sehr hilflos. Mutter konnte immer so gut trösten, erzählte eine lustige Geschichte und vertrieb jeden Kummer mit einem Lächeln. Kai war sich sicher, daß Kathrin das auch konnte.

»Es nützt nichts, wenn wir sie uns als neue Mutti wünschen. Vati muß sie ja auch mögen.«

»Das tut er doch, oder?«

»Vielleicht. Manchmal denke ich, daß er sie liebe. Aber dann entschuldigt er sich immer.«

»Das mit der Liebe kann doch später kommen, wenn sie unsere Mutti ist.« Martin verstand nicht, warum das so kompliziert sein sollte.

»Vielleicht möchte Vati gar keine neue Mutti für uns haben? Nie hat er eine andere Frau mitgebracht, außer Tante Friedel.«

»Tante Friedel zählt nicht«, entgegnete Martin. »Sie ist doch zu alt. Wie eine Oma.«

»Aber gut ist sie zu uns trotzdem.«

»Natürlich. Eben wie eine Oma. Eine Mutti ist etwas ganz anderes.«

»Aber wenn wir eine neue Mutti haben wollen, bedeutet das, daß Vati sie heiraten muß.«

»Heiraten? So richtig mit Brautschleier und Kuß und so?« Martins Augen wurden kugelrund.

Kai nickte. »Natürlich. Das gehört doch dazu.«

»Vielleicht möchte Vati sie bloß nicht küssen?« gab Martin zu bedenken.

»Wie kommst du denn darauf? Meinst du, daß er deshalb Kathrin nicht heiraten will?«

»Na ja, sonst weiß ich auch keinen Grund. Kathrin ist sehr hübsch und lustig, und eine tolle Figur hat sie auch.«

»Stimmt. Man müßte herausbekommen, warum er Kathrin nicht heiraten möchte.« Kai wurde nachdenklich.

»Ich jedenfalls wünsche mir, daß er sie heiratet und sie unsere neue Mutti wird.«

»Ich auch«, bekräftigte Kai.

»Na also, jetzt müssen wir nur noch Vati dazu bringen, daß er einverstanden ist. Aber ich weiß nicht wie.«

»Ich werde morgen mit Vati darüber reden, so von Mann zu Mann«, versprach Kai.

»In Ordnung.« Zufrieden kuschelte sich Martin in sein Kopfkissen. Vielleicht würde doch noch alles gut werden.

Peter Kilian setzte sich in den tiefen Sessel vor dem Kamin und stellte ein Glas Rotwein auf den kleinen Intarsientisch neben dem Sessel. Er blätterte die Zeitung auf und schlug sie gleich darauf wieder zu. Seine Gedanken kreisten um den Sonntag am See. Er fühlte sich immer noch unbehaglich. Was hatte sich Martin nur dabei gedacht? So kannte er den Jungen doch gar nicht. Irgend etwas hatte sich schon seit einiger Zeit angedeutet, aber er hatte es nicht so recht begriffen. War es nur eine verklärte Schwärmerei des Jungen, daß ihm Kathrin so gefiel? Vielleicht hatte sie mit dem geheimnisvollen Schuhverkauf einen sehr tiefen Eindruck bei Martin hinterlassen. Martin war ein phantasievoller, verträumter Junge. Bis heute wußte Peter Kilian nicht, was sich da zwischen den Schuhregalen im hintersten Winkel des Geschäftes abgespielt hatte. Auf seine Fragen schwiegen die Jungen hartnäckig und lächelten sich verschwörerisch zu.

Vielleicht aber war es tatsächlich so, daß Martin sich eine neue Mutter wünschte. So sehr sich Peter Kilian auch Mühe gab, die Mutter konnte er den Kindern nicht ersetzen. Zwar fehlte es den Kindern an nichts, Tante Friedel kümmerte sich rührend um sie, auch mit Jenny gab es keine Probleme. Sie mochte die liebe alte Dame und fühlte sich bei ihr wohl. Aber Tante Friedel war nicht mehr die Jüngste, auch wenn kein Wort der Klage über ihre Lippen kam. Eines Tages würde sie es nicht mehr schaffen, auf drei Kinder aufzupassen.

Es ging auch nicht nur darum, daß die Kinder ihre Mahlzeiten bekamen, ihre Wäsche gewaschen und die Hausaufgaben kontrolliert wurden. Mit aller Deutlichkeit spürte Peter Kilian den Verlust der Mutter. Nicht nur die materiellen Bedürfnisse der Kinder mußten befriedigt werden. Eine Mutter gab etwas, das nicht mit Geld zu bezahlen war – Liebe.

Er seufzte und nippte am Wein. Sinnend blickte er in das Feuer des Kamins. Wünschte er sich, die Abende nicht mehr allein zu verbringen? Oft gab es keine Abende am Kamin für ihn. Sie waren eher die Ausnahme. Doch war die Arbeit wirklich so wichtig, daß er seine Kinder anderen Leuten überließ? Vielleicht hatte Kathrin doch recht, wenn sie behauptete, die Kinder wären zu sehr sich selbst überlassen.

Kathrin! Was war sie für eine Frau? Peter fand sie sehr anziehend, hübsch und sehr natürlich. Es forderte ihm Bewunderung ab, wie sie mit den Kindern umging. So, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, auf einer Decke am See zu hocken und Würstchen mit Salat zu essen oder Blindekuh zu spielen. Und wie sie Jenny aufgemuntert hatte! Jenny war oft sehr verschlossen, viel zu ernst für ein kleines Mädchen ihres Alters. War es deshalb, weil sie außer Tante Friedel keine andere Frau kannte?

Eine andere Frau! Nach dem tragischen Tod seiner Frau war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Sylvia war der Mittelpunkt, der Garant der Familie gewesen. Sie war so glücklich mit den Kindern, eine liebevolle und fürsorgliche Mutter. Und sie hatte sich ebenso wie er auf die Geburt der kleinen Jenny gefreut. Keiner konnte ahnen…

Ärgerlich wischte Peter Kilian die schwarzen Gedanken weg. Er hatte Sylvia geliebt. Und nach ihrem Tod war es für ihn klar, daß es keine andere Frau nach ihr geben würde. So hatte er sich in seine Arbeit verbissen und gemeint, wenn er nur für seine Kinder gut sorgen würde, wäre alles in Ordnung. Schließlich gab es auch viele alleinerziehende Mütter, die es auch irgendwie schaffen mußten.

Doch die Kinder schienen anders zu fühlen. Wie sonst wären sie auf die Idee gekommen, daß Kathrin ihre neue Mutter werden würde? Natürlich war es wieder Martin, von dem diese fixe Idee stammte. Aber auch Kai mußte davon gewußt und es zumindest gebilligt haben.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Weiß der Teufel, was in diesen Kindsköpfen vor sich ging. Ein wenig fatal war ihm Martins Frontalangriff schon. Allerdings, wenn er es sich richtig überlegte, dann mußten sie gespürt haben, daß auch er Kathrin sehr sympathisch fand. An mehr wagte er gar nicht zu denken. Sie hatte etwas an sich, das sie sehr anziehend machte. Es war keine Äußerlichkeit, es war etwas in ihrem Wesen, irgend etwas Weiches, Liebevolles. Kinder spürten so etwas viel eher als Erwachsene. Denn Kinder reagieren viel mehr nach dem Gefühl spontan. Die Erwachsenen schalteten immer erst den Verstand ein. Das war auch gut so, denn sonst müßte sich Peter Kilian eingestehen, daß er im Begriff war, sich zu verlieben.

*

Aufgewühlt und völlig durcheinander stand Kathrin inmitten ihrer kleinen gemütlich eingerichteten Wohnung. Sie wollte gern zur Ruhe kommen, ihre Gedanken sammeln, aber sie konnte nicht untätig sitzen bleiben. Sie mußte sich mit irgend etwas beschäftigen, um sich abzulenken. Der Gedanke an den heutigen Nachmittag beunruhigte sie.

Sie hatte sich auf diesen Tag gefreut, wenn auch mit einem kleinen Kribbeln im Bauch. Und sie hatte sich auf eine komplette Familie eingerichtet, in der sie für einige Stunden zu Gast sein würde. Um so größer war ihre Überraschung, die sie gar nicht so schnell verdauen konnte. Dieser Peter Kilian gefiel ihr ungemein gut, daß sie jede Frau um ihn beneidet hatte. Und da stellte sich heraus, daß er keine Frau mehr hatte! So traurig das eigentlich war, hätte Kathrin jubeln können. Denn sie hätte somit eine Chance, das Herz dieses sympathischen Mannes zu erobern. Daß sie ihm nicht ganz gleichgültig war, das glaubte Kathrin gespürt zu haben. Noch jetzt, bei dem Gedanken an seine mehr oder weniger zufälligen Berührungen, kribbelte es wieder in ihrem Bauch. Irgendein zartes Band entwickelte sich zwischen ihnen, das hatte sie zumindest geglaubt. Aber jäh wurde sie aus diesen Träumen gerissen, und zwar durch Martin. Denn es war klar, daß sich die ›Männer‹ untereinander abgesprochen haben mußte, eine neue Mutter für die Kinder zu suchen. Die Kinder mochten Kathrin, und da brauchte man nur zwei und zwei zusammenzuzählen.

Und genau das versetzte Kathrin in Wut. So einfach war es eben nicht. Wer weiß, wie oft Peter Kilian es schon versucht hatte, eine neue Frau zu finden. Attraktiv war er ja, und Kathrin war sich sicher, daß es genug Frauen gab, die diesem Mann nicht abgeneigt waren. Wenn sie jedoch erfuhren, daß zu ihm auch noch drei kleine Kinder gehörten, dann konnte das die meisten schon vergraulen.

Nicht, daß Kathrin etwas gegen Kinder hätte, ganz im Gegenteil. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann wünschte sie sich nichts sehnlicher, als eine Familie zu haben, einen lieben Mann, Kinder. Es mußte viel Geborgenheit in einer Familie liegen, das kleine Glück sozusagen. Etwas, wo man Halt finden, seine Erfüllung, wenn man Freud und Leid miteinander teilt. Zuerst aber wollte sie noch etwas erleben, etwas von der Welt sehen, ihr Leben genießen. Ein Mann könnte dabei durchaus an ihrer Seite sein. Und wenn sie selbst ein Kind bekäme, es aufwachsen sah, vielleicht auch noch ein zweites, dann fand sie das ganz natürlich. Sie würde in ihre Mutterrolle hineinwachsen, langsam und allmählich.

Doch hier kam sich Kathrin vor, als würde sie in ein dunkles, tiefes Wasser gestoßen. Sie fürchtete sich davor. War es wirklich nur ihr Traum von einem leichten, luxuriösen Leben, das ihr bisher als Inbegriff der Erfüllung erschien, oder nur der Schock darüber, daß Peter Kilian nicht allein zu haben war?

Und sie fühlte sich betrogen, hintergangen. Er mußte es doch gespürt haben, daß er Kathrin gefiel, viel zu gut gefiel, als sie es sich eingestehen mochte. Hatte er dieses Gefühl bei ihr genährt, um sie für sich und die Kinder zu gewinnen? In seiner fast aussichtslosen Situation, nicht nur für sich eine Frau, sondern vor allem für seine Kinder eine Mutter zu finden, war ihm sicher fast jedes Mittel recht. Im Vordergrund standen natürlich die Kinder, sie mußten

die neue Mutter akzeptieren. Das schien zumindest bei Kai und Martin der Fall zu sein. Erst in zweiter Linie machte Peter Kilian wahrscheinlich seine Wünsche geltend. Da kann man auch schon einmal Verliebtsein vorspielen. Hier sollte der Zweck die Mittel heiligen.

Aber Kathrin wollte nicht nur als Zweck herhalten. Sie wollte geliebt werden, bedingungslos. Es durfte keinen Hintergedanken dabei geben, keinen Zweck. Liebe war selbstlos, nicht besitzergreifend, nicht zweckgebunden. Sie wollte keine Ersatzmutter sein, sondern geliebte Frau.

Kathrin schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Aber keiner der Filme oder Beiträge sagte ihr zu, sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Entnervt drückte sie wieder auf den roten Knopf der Fernbedienung. Trotzig blickte sie auf die schwarze Scheibe des Bildschirmes. Wünschte sie sich, die Abende nicht mehr allein zu verbringen? Würde sie dann statt fernzusehen lieber tanzen gehen, sich mit ihrem Mann unterhalten, vielleicht ein schönes Haus besitzen und es liebevoll einrichten? Oder würde sie mit ihm die Welt bereisen, fremde Städte sehen, sich dem Rausch des Jet-Set-Lebens hingeben?

Sie wußte im Augenblick selbst nicht, was sie wirklich wollte. Nur eines wollte sie nicht, Peter Kilian wiedersehen! Dieser Mann konnte ihr gefährlich werden. Der Blick aus seinen himmelblauen Augen ging ihr durch Mark und Bein, und die Berührung seiner Hände ließ sie erschauern. Sie war nahe dran, sich rettungslos zu verlieben. Allein der Gedanke an ihn verursachte ihr heftiges Herzklopfen. Wie mochten seine Küsse schmecken? Wie wundervoll würden seine Zärtlichkeiten sein? Aber dann dachte sie an die Kinder, die beiden weizenblonden Buben und die süße Jenny. Sie gestand sich ein, daß sie die Kinder bereits ins Herz geschlossen hatte. Aber Liebe zu den Kindern allein genügte nicht. Es gehörte Verantwortung dazu, eine riesige Verantwortung. Wie schlimm würde es für die Kinder sein, würde sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, wenn sie versagte? Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern. Und es gab sicher nicht nur Sonntage mit Picknick und Sonnenschein, sondern auch Kummer, Ärger, Krankheiten, Probleme. Würde sie das alles bewältigen können, würde sie auch dunkle Wolken am Himmel verkraften können?

Wenn sie sich diese Dinge vor Augen hielt, konnte es nur einen Weg geben – sie durfte diese Familie nicht wiedersehen, auch wenn es schmerzte. Besser jetzt, da es noch einen Weg zurück gab.

Entschlossen blätterte sie in einem Hochglanz-Magazin und vertiefte sich in die Berichte aus der bunten und schillernden Welt der Reichen und Schönen.

*

»Papa!« Jenny tapste freudestrahlend auf Peter Kilian zu und streckte ihm ihre kleinen Ärmchen entgegen.

»Hallo, mein Schatz!« Er ließ seine Aktentasche fallen und hob seine Tochter auf den Arm. »Wie geht es meiner kleinen Prinzessin heute?« fragte er und küßte sie überschwenglich auf ihre rosigen Bäckchen.

»Sie ist so ein reizendes, liebes Kind«, schwärmte Tante Friedel und wischte sich schnell die nassen Hände an ihrer dunkelblauen Schürze ab. Aufgeregt steckte sie eine Haarnadel in den Dutt, zu dem sie ihr graues Haar geschlungen hatte. »Die Jungs sind schon oben und bereiten das Abendessen vor. Sie haben sich eine Überraschung ausgedacht.«

»So?« Peter Kilian war überrascht. »Ist doch hoffentlich eine positive Überraschung?«

»Aber ja«, beschwichtigte ihn Tante Friedel. »Sie kochen wie die Weltmeister. Es duftet auch schon ganz verführerisch, und sie haben mir felsenfest versprochen, danach auch den Abwasch zu erledigen.«

»Na, dann ist es ja gut«, erwiderte Peter Kilian beruhigt. »Da wollen wir doch gleich einmal nachschauen, was da oben los ist. Meine kleine Prinzessin ist sicher auch neugierig.« Er stieg mit Jenny auf dem Arm die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk, in dem sich ihre geräumige Wohnung befand. Schon an der Wohnungstür vernahm er geschäftiges Klappern aus der Küche.

»Hallo, ich bin schon da!« rief er aus dem Korridor.

»Oh, damit hatten wir noch gar nicht gerechnet!« rief Kai. »Aber wir sind gleich fertig. Bitte, Papa, noch nicht ins Wohnzimmer gehen, es soll eine Überraschung werden.«

»Okay, ich warte. Ich werde mich im Bad erst ein wenig frisch machen. Komm, Jenny, wir verschwinden ins Bad, damit die Überraschung nicht platzt.«

»Beeile dich mit der Soße!« trieb Kai Martin an, der emsig in einem Topf rührte.

»Fertig!« erwiderte er und füllte sie in eine Schüssel um.

Kai huschte ins Wohnzimmer. Nach einem Augenblick rief er:

»Papa, Jenny, ihr könnt jetzt kommen.«

Neugierig öffnete Peter Kilian die Wohnzimmertür und blieb auf der Schwelle stehen. »Das ist ja wirklich eine Überraschung. Habt ihr einen Vertrag mit einem Fünf-Sterne-Restaurant?«

Der Tisch im Wohnzimmer war festlich gedeckt. Auf einer cremefarbenen Damasttischdecke stand das gute Porzellan, eingedeckt nach allen Regeln der Kunst. Vier weiße Teller, Kompottschälchen, schweres Besteck, drei Saftgläser und ein Weinglas. In der Mitte brannte eine Kerze im silbernen Ständer.

Kai und Martin standen in strammer Haltung wie Oberkellner neben dem Tisch und machten eine einladende Handbewegung. Auch Jenny bekam kugelrunde Augen.

Die Jungs kicherten geschmeichelt, Martin zog einen Stuhl zurück und bedeutete, daß der Vater sich setzen sollte. Etwas irritiert ließ sich Peter Kilian nieder. Dann hob Kai Jenny auf ihr Stühlchen und zog vorsichtshalber das gute Porzellan aus ihrer Reichweite. Martin eilte in die Küche und trug eine Schüssel herein.

»Tätärätä!« trompetete er und öffnete den Deckel. »Hühnchen mit scharfer Soße und dazu große Nudeln. Als Nachtisch gibt es Karamelspeise.«

»Und das habt ihr alles allein gekocht?« fragte Peter erstaunt.

Die Jungs nickten stolz. »Ein wenig hat uns Tante Friedel bei den Vorbereitungen geholfen, aber die Nudeln haben wir allein gekocht und die Soße auch.«

»Ich bin wirklich stolz auf euch. Damit habt ihr mich wirklich überrascht. Es ist wie in einem ganz feinen Restaurant.«

»Moment, da fehlt noch etwas.« Martin sauste in die Küche und holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. In der anderen Hand hielt er ein kleines Teesieb. »Beim Öffnen habe ich den Korken zerkrümelt. Wenn du den Wein aber durch das Sieb gießt, kannst du ihn noch trinken.«

Peter schmunzelte und blickte in die Runde. »Verratet ihr mir auch den Anlaß dieses fürstlichen Essens? Meines Wissens nach hat keiner von uns Geburtstag. Oder habe ich irgend etwas verpaßt?«

»Nein, nein. Es muß ja nicht immer ein Geburtstag sein. Aber etwas sehr Wichtiges ist es schon. Doch wir sollten zuerst essen, damit es nicht kalt wird.« Kai nahm eine Kelle zur Hand und schaufelte seinem Vater einen Berg grüner Nudeln auf den Teller.

»Genug, genug, davon werde ich doch dreimal satt!« rief er lachend.

»Es ist jede Menge da«, sagte Kai. »Ich hätte nie gedacht, wieviel aus so einer ganzen Packung Nudeln im Topf wird.«

Martin kippte die rote Soße über die Nudeln und legte seinem Vater ein Stück Geflügel dazu. Neugierig kostete Peter – und rang nach Luft. Schnell griff er zum Weinglas.

»Meine Güte, das ist wirklich eine scharfe Soße«, krächzte er mit Tränen in den Augen und nahm noch einen Schluck vom Wein. »Das Rezept muß ich mir merken, wenn ihr wieder eine Mandelentzündung habt.« Aber er lachte. »Nur Jenny sollte sie nicht probieren. Soviel Saft haben wir gar nicht, um den Brand zu löschen.«

»Aber sonst schmeckt es«, meinte Martin und löffelte zuerst den Karamelpudding.

Unter viel Lachen, Prusten und Japsen vertilgten sie die Köstlichkeiten, nur von der Soße blieb etwas übrig. Aber Martin war nicht traurig und meinte, mit einem Topf voll Wasser und etwas Fleisch könnte man noch gut eine Suppe daraus kochen.

In Windeseile räumten die Kinder den Tisch wieder ab, nur die Gläser ließen sie stehen. Martin verschwand in der Küche, um abzuwaschen, und Kai gab Jenny ihr Spielzeug, damit sie sich selbst beschäftigte.

»Nun heraus mit der Sprache, was habt ihr ausgefressen?« wollte Peter Kilian wissen und blickte seinen Ältesten fragend an.

»Gar nichts, wir haben nichts getan. Zumindest weiß ich von nichts.«

»Soso. Aber es muß doch einen Grund geben, daß ihr euch heute abend besonders viel Mühe beim Abendbrot gegeben habt. Du sprachst vorhin von etwas Wichtigem?«

»Allerdings.« Kai blickte seinen Vater mit klopfendem Herzen in die Augen. Ganz so einfach war es doch nicht, ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. Vor allem wußte er nicht, wie er beginnen sollte.

»Also, Vati, ich glaube, es wird Zeit, daß wir mal ein Gespräch so von Mann zu Mann führen sollten.«

Überrascht blickte Peter Kilian auf und unterdrückte ein Schmunzeln. Kais Gesicht war sehr ernst. Natürlich! Am liebsten hätte sich Peter an die Stirn gefaßt. Einmal mußte es ja sein. Kai hatte das Alter, in dem man die Frage aller Fragen stellt. Sicher, normalerweise ist das Sache der Mutter. Mehr als einmal hatte er amüsiert Gesprächen geplagter Kolleginnen gelauscht, die überlegten, wie sage ich es meinem Kinde? Er selbst hatte nicht geglaubt, daß er so schnell damit konfrontiert werden würde, aber schließlich waren die Kinder heutzutage wesentlich frühreifer als damals. Das mit den Blumen und den Bienen war für sie schon ein alter Hut. Er überlegte, wie er am besten beginnen sollte. Vielleicht mit der Liebe.

»Also, wenn zwei Menschen sich lieben«, begann er mit rauher Stimme, »wenn sie sich sehr lieben, dann kommt es zwangsläufig zu engeren Berührungen…«

»Liebst du sie so, daß du sie auch küssen willst?« fragte Kai rundheraus.

»Was? Wie?« Peter Kilian stockte und kam völlig aus dem Konzept. »Wieso küssen? Wen meinst du?«

»Na, Kathrin! Wen sonst?« Kai blickte ein wenig beleidigt. Gab es noch mehr Frauen, um die es ging?

»Kathrin? Ich verstehe nicht ganz.«

»Es tut uns leid, daß dir Martin alles vermasselt hat. Ich habe ihm schon gehörig die Ohren langgezogen, ist eben dumm gelaufen.«

»Vermasselt? Dumm gelaufen? Meinst du etwa seine etwas unpassenden Bemerkungen am gestrigen Nachmittag?«

»Ja. Denn eigentlich gefällt uns Kathrin gut. Wir hätten beide nichts dagegen, wenn sie unsere neue Mutter wird.«

»Das habe ich mir fast gedacht. Aber so einfach geht das nicht.«

»Warum nicht? Wir sind einverstanden. Und wenn du auch einverstanden bist, kannst du sie doch heiraten. Das mit dem Kuß kann man doch regeln. Vielleicht steht sie nicht so sehr darauf. Allerdings, die meisten Frauen wollen rumknutschen.«

Peter biß sich auf die Unterlippe und bemühte sich, ernst zu bleiben. Großer Gott, jetzt wurde es für ihn eng. Von wegen Bienen und Blumen. »Das mußt du mir schon genauer erklären«, sagte Peter und blickte seinem Großen direkt in die Augen. »Also, für euch ist alles klar, oder?«

Kai nickte. »Das einzige Problem bist du, Papa.«

»Ich?«

»Ja, denn wir sind uns nicht ganz im klaren darüber, ob du Kathrin so liebst, daß du sie auch heiraten willst. Du hast ihre Hand gehalten und sie hat stillgehalten. Martin meinte, daß das bereits Liebe ist. Aber ich glaube, man muß sich auch küssen. Und da beginnt das Problem. Wenn du sie nicht küssen willst, kannst du sie auch nicht heiraten.«

»Und warum nicht?« Peter legte die Hand auf den Mund.

»Weil man sich bei einer Hochzeit küßt. Aber glaub mir, die Frauen stehen darauf«, beeilte sich Kai zu versichern.

»Und du meinst, Kathrin würde sich ganz gern von mir küssen lassen?«

Kai nickte wieder.

»Ja, weißt du, Kai, wenn es nur das Küssen wäre. Damit habe ich kein Problem. Aber es gibt da noch viel mehr als das Küssen.«

»Ja?« Neugierig riß Kai die Augen auf.

Also doch! Jetzt mußte das berühmte Beispiel mit den Blumen und den Bienen dran glauben. Peter räusperte sich.

»Wenn zwei erwachsene Menschen sich lieben, dann wollen sie mehr als nur küssen. Sie wollen sich ganz füreinander haben, sich ganz einander hingeben.«

»Im Bett?« fragte Kai atemlos.

Peter atmete tief durch. »Ja, im Bett. Das heißt, sie lieben sich.«

»Tut das weh?« fragte Kai etwas besorgt.

»Aber nein.«

»Na, dann ist es ja gut. Was ist daran dann so schlimm?«

»Es ist nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil. Ich habe eure Mutter auch sehr geliebt. Und aus dieser Liebe seid ihr geboren. Wenn man sich aber so körperlich liebt, setzt das ein großes gegenseitiges Vertrauen voraus. Man muß sich wirklich lieben, aus tiefstem Herzen.«

»Das verstehe ich. Du meinst also, es reicht nicht aus, daß wir Kathrin lieben wie unsere Mutter, sondern du mußt sie auch so lieben, so ganz und gar?«

»Richtig. Um dieses Gefühl füreinander zu bekommen, braucht es Zeit, nicht nur einen Sonntagnachmittag. Dieses Gefühl füreinander muß wachsen und gedeihen. Und noch etwas hast du dabei vergessen. Du sprichst immer von uns. Es reicht nicht aus, daß wir sie lieben. Auch sie muß das gleiche Gefühl empfinden. Sie muß euch lieben und auch mich.«

»Wie können wir das erfahren? Zuerst dachte ich, sie mag uns alle sehr. Es war so lustig am See. Und dann plötzlich war sie so komisch, als wenn sie böse auf uns ist.«

»Ihr habt sie einfach überrumpelt. Ich sagte doch, so etwas braucht Zeit, manchmal sogar sehr viel Zeit. Und die müssen wir Kathrin schon lassen.«

»Kannst du nicht ungefähr sagen, wie lange es dauert?« wollte Kai wissen.

Bedauernd schüttelte Peter den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Und du siehst, daß genau das Gegenteil passieren kann, wenn man es überstürzt.«

»Hm. Schade. Aber es wird auch nichts, wenn ihr euch gar nicht mehr seht, oder?«

»Na ja, wahrscheinlich nicht. Und ich weiß nicht, ob sie noch einmal so einen Ausflug mit uns allen machen möchte.«

»Und wenn du es erst einmal allein probierst? Wir kommen dann schon mit ihr klar.«

Jetzt mußte Peter doch schmunzeln. »Das ist gar keine schlechte Idee. Ich lasse mir etwas einfallen. Versprochen! – Übrigens, Kai, es war ein sehr interessantes Männergespräch. Ich freue mich, daß du dir so viele Gedanken um unsere Familie machst. Ich wußte gar nicht, daß ihr euch nach einer neuen Mutter sehnt.«

»Ich weniger, ich bin ja schon fast erwachsen, aber die beiden Kleinen brauchen wirklich noch eine Mutter. Und Kathrin wäre ideal dafür.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung, Großer. Sie wäre im Notfall aber auch genauso für dich da, nicht wahr?«

»Sicher!« Kai nickte. »Bleib sitzen und trink deinen Wein. Ich bringe Jenny zu Bett.«

Peter nickte. »Ich schau nachher noch mal zu euch rein. Und vielen Dank für diesen wirklich gelungenen Abend.«

»Hast du dich gefreut?« fragte Kai.

Peter strich ihm übers Haar. »Ich habe eine großartige Familie!«

*

Für Kathrin war es nicht einfach, Peter Kilian und seine Kinder aus ihrem Leben zu streichen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken zu dieser kleinen Familie wanderten. Sie vermißte Martins übermütiges Lachen, Kais altkluge Belehrungen, Jennys süßes Gesicht. Am meisten vermißte sie jedoch Peter, seine blauen Augen, seine prickelnde Gegenwart. Verzweifelt wehrte sie sich gegen das Gefühl, das sie fast zu überrollen drohte, das Gefühl, daß sie sich so gern in seine Arme legen, an seine Schulter lehnen, seinen Mund küssen wollte.

Die Einsamkeit in ihrer Wohnung, die sie bisher so geliebt und als ihr ganz privates Schneckenhaus gehütet hatte, schien sie plötzlich zu erdrücken. Sie fühlte sich elend, und manchmal kämpfte sie mit den Tränen. Noch nie hatte sie sich so zerrissen gefühlt, so unentschlossen und unglücklich. Sie wollte gern mit jemandem darüber sprechen, einfach ihr Herz erleichtern. Aber sie hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Lediglich Marion stand ihr etwas näher, daß sie sich auch über private Dinge unterhielten. Doch Marion freute sich auf die Geburt ihres Kindes. Sie würde Kathrins Zweifel nicht verstehen. Außerdem wollte Kathrin Marion jetzt, so kurz vor der Entbindung, nicht mit ihren Problemen belasten.

Andererseits schämte sich Kathrin dafür, ihre tiefsten Gefühle jemandem zu offenbaren. Was ging es fremde Menschen an, wie es in ihr aussah? Vielleicht lachte Marion sie aus, vielleicht hielt sie Kathrin für überspannt. Und so beschäftigten Kathrin weiterhin ihre Probleme, vor allem abends und auch nachts, wenn sie sich schlaflos in ihrem Bett hin und her wälzte. Zu einer Lösung, außer daß sie sich einredete, sie dürfe Peter nie wiedersehen, kam sie allerdings nicht.

Um sich die einsamen Abende zu vertreiben, beschloß Kathrin einen Kinobesuch. Sie wohnte gleich in der Nähe des Kinos und hatte nur einige Schritte zu laufen. Langsam schlenderte sie durch den Abend und atmete tief die kühle Luft ein. Die Leuchtreklame warf unruhiges Licht auf den nassen Asphalt.

»Hallo, Kathrin!« Der Klang dieser Stimme durchschauerte sie. Sie fuhr herum und blickte geradewegs in Peters blaue Augen. Nichts Schlimmeres konnte ihr passieren.

»Wie kommen Sie hierher?«

»Eigentlich wollte ich ins Kino gehen.«

»Soso. Nun, ich eigentlich auch.« Sie lächelte. Wenn Peter jetzt vorschlug, daß sie gemeinsam ins Kino…

»Da können wir vielleicht gemeinsam gehen. Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Peter blickte sie fragend an, und sie konnte seinem Blick nicht ausweichen.

Und wie es ihr etwas ausmachte. Daß Peter jetzt fast zwei Stunden nur wenige Zentimeter neben ihr im Dunkeln saß, dieser Gedanke erregte und ängstigte sie zugleich. Wie einem Teenager klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Er mußte es bemerkt haben, denn ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

Das Kino war nur mäßig besetzt, und sie saßen allein in einer Reihe. Kathrin war nicht in der Lage, dem Geschehen auf der Leinwand zu folgen. Alle ihre Gedanken kreisten um den Mann an ihrer Seite. Sie spürte seine Nähe, jede seiner Bewegungen und manchmal berührte er sie wie unbeabsichtigt. Eine geraume Weile schaute auch Peter nach vorn, doch auch sein Interesse galt nicht dem Geschehen auf der Leinwand. Er überlegte krampfhaft, wie er Kathrin aus der Reserve locken konnte. Ihm schien, daß sie sich über seine Gesellschaft freute, andererseits versuchte sie immer wieder, eine Distanz zwischen ihnen aufzubauen. Es fiel ihm schwer, ihr näherzukommen.

»Ich finde den Film nicht sonderlich interessant«, flüsterte er ihr zu.

»Na ja, diese wilden Schießereien sind auch nicht gerade das, was mich vom Hocker reißt.«

Ein richtiger Liebesfilm wäre jetzt passender gewesen, dachte Peter. Vielleicht wäre Kathrin dann etwas aufgetaut.

»Wollen wir gehen?« fragte er unvermittelt. »Wir könnten irgendwo noch eine Flasche Wein trinken.«

»Ich weiß nicht recht, ich muß ja morgen wieder zur Arbeit und…«

»Kathrin, bitte! Sie weichen mir aus. Dabei bin ich froh, einmal mit Ihnen allein zu sein. Aber bei dieser Ballerei da vorn – ich lade Sie zu einem etwas angenehmeren Abend ein. Hoffe ich wenigstens.«

Er ergriff einfach ihre Hand und zog sie vom Sitz. Kathrin folgte ihm, und ihre Hand wurde schweißfeucht. Peter ließ ihre Hand nicht wieder los. Auf der Straße holte er tief Luft. »Hier draußen ist es doch angenehmer. Ich kenne ein hübsches italienisches Restaurant. Da gibt es guten Rotwein. Mögen Sie Rotwein?«

»Ja, ich trinke ihn ganz gern.« Was rede ich da für einen Unsinn, schalt sich Kathrin in Gedanken. Mir ist der Wein völlig egal, wenn ich nur mit ihm zusammensein kann! Und der Abend dürfte nie zu Ende gehen.

Sie fanden einen kleinen Tisch in einer Nische des italienischen Restaurants, verborgen vor den Blicken der anderen Gäste. Peter erhob sein Glas und hielt es Kathrin entgegen.

»Auf einen schönen Abend«, sagte er leise. Das Kerzenlicht brach sich im Rubinrot des Weins. Kathrin hielt mit zitternden Fingern den Stiel ihres Glases umfangen. Sie schlug die Augen nieder. Sein Blick verunsicherte sie. Vor allem aber befürchtete sie, daß ihre Augen sie verraten würden, ihre Gefühle für ihn, die sie kaum noch verbergen konnte. Sie atmete tief durch. Stark bleiben, sprach sie sich selbst Mut zu.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich Ihnen etwas gestehen muß«, begann Peter Kilian stockend. Er suchte nach Worten. Dann hob er entschlossen den Kopf. »Auch wenn es gegen die Etikette des alten Knigge ist, schlage ich vor, daß wir das förmliche ›Sie‹ beiseite lassen und ›du‹ zueinander sagen.«

Eine heiße Welle stieg in Kathrin auf. Sicher wurde ihr Gesicht jetzt rot. Zum Glück konnte man das im Kerzenlicht nicht so deutlich erkennen. Sie erhob ihr Glas und befürchtete, vor Aufregung den Wein zu verschütten. Sie stießen die Gläser aneinander, ein leiser Klang stand für Sekunden im Raum. Sie nippten an ihren Gläsern. Peter beugte sich zu Kathrin hinüber, und Kathrin schloß erregt die Augen. Sie spürte seine Lippen auf ihren und dieser Kuß war so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Diese winzige Berührung nahm ihr fast den Atem, und sie wagte kaum, die Augen wieder zu öffnen. Sein Gesicht war ihr immer noch nahe, und Kathrin hatte plötzlich das Gefühl, in einem Fahrstuhl in die Tiefe zu sausen. In ihren Fingern kribbelte es, und ein leichter Schauer durchfuhr ihren Körper. Mit einer mechanischen Handbewegung stellte sie ihr Glas ab, dann schlang sie die Arme um seinen Hals und erwiderte den Kuß heftig und leidenschaftlich. Es war wie ein Taumel. Sie befürchtete, daß ihr Herz zerspringen würde, so heftig klopfte es, und das Blut pulsierte in ihrem Hals. Nur zögernd löste sie sich von ihm, um im gleichen Augenblick ob ihres Gefühlsausbruches heftig zu erröten. Peter betrachtete sie verwundert und erfreut zugleich.

»Oh, Kathrin! Das erleichtert mir alles, alles, was ich eigentlich sagen wollte. Ich bin kein Mensch großer Worte, und ich hatte schreckliche Angst, daß du mich auslachst.«

»Warum sollte ich dich auslachen?« flüsterte sie mit rauher Stimme.

»Ich habe mich in dich verliebt. An dem Sonntag am See wurde mir klar, nur du bist es. Ich hatte überhaupt nicht die Absicht, auf Brautschau zu gehen. Nach dem Tod meiner Frau lebte ich sehr zurückgezogen, hatte überhaupt gar kein Interesse an Frauen. Erst meine Jungs haben mich wieder darauf gebracht, daß etwas in meinem Leben fehlt. Das Schicksal hat unsere Wege sich kreuzen lassen.«

Kathrin hatte sich wieder einigermaßen gefaßt und blickte ihm fest in die Augen. »Ich gebe zu, daß du mir vom ersten Augenblick an nicht gleichgültig warst. Mehr noch, dieser Tag am See hat in mir ein Gefühl für dich geweckt, das ich bisher nicht kannte.«

»Ich bin so froh darüber, daß du meine Gefühle erwiderst. Ich habe befürchtet, du würdest mich auslachen, mir einen Korb geben. Ich bin sehr unbeholfen, kann vielleicht meine Gefühle nicht so deutlich zum Ausdruck bringen. Ich wußte nicht einmal, was du für mich empfinden würdest. Vielleicht nur Mitleid.«

»O nein. Vielleicht hast du mir damals im Schuhgeschäft etwas leid getan, weil dich deine Sprößlinge so in arge Bedrängnis gebracht haben, aber da war dieses Kribbeln im Bauch…«

Peter ergriff Kathrins Hand und drückte sie fest. »Ich bin so glücklich. Und du bist über die kleine Kuppelei von Martin nicht böse? Ich hatte wirklich keine Ahnung. Aber ich freue mich, daß die Kinder dich akzeptieren.«

»Bist du dir denn wirklich sicher, daß ich diejenige bin? Ich habe keine Erfahrung mit Kindern, vielleicht bin ich zu jung und der ganzen Verantwortung gar nicht gewachsen.«

»Ich bin mir ganz sicher, daß du diejenige bist. Weißt du, die Kinder brauchen wieder eine Frau im Haus. Die Jungs sind jetzt in einem schwierigen Alter. Kai wird altklug und fühlt sich als Boss, möchte alles bestimmen und beherrschen. Ich bin ja froh, daß er so selbständig ist, aber Martin leidet darunter. Er braucht eine einfühlsame Hand. Die beiden streiten sich ständig, ich weiß oft gar nicht, wie ich sie beruhigen kann. Schließlich hat Martin ja auch ein Meinungsrecht, auch wenn er der jüngere ist. Ich möchte nicht, daß er sich zurückgesetzt fühlt. Mit etwas Geschick kannst du ihm vielleicht etwas mehr Selbstvertrauen geben. Jetzt will er Armeegeneral werden, damit er über seinen Bruder befehlen kann, stell dir das einmal vor. Zwischen den beiden muß dringend etwas klargestellt werden. Ja, und Jenny ist mein Sorgenkind. Während die Jungs sich lautstark auseinandersetzen, ist sie immer still. Sie lacht kaum. Sie ist ein liebes Kind, macht kaum Probleme. Aber genau diese Verschlossenheit ist es, die mir Sorgen bereitet. Sie braucht eine Bezugsperson, die sie aus der Reserve lockt. Ich befürchte sonst ernsthafte seelische Schäden…«

Der Redeschwall brach aus Peter, als hätte sich ein Fluß hinter einer Mauer angestaut, die er nun endlich durchbrach. Kathrins Augen weiteten sich immer mehr, sie starrte Peter an. Sie spürte eine kalte Hand um ihren Hals, die sich immer mehr zuzog. Ihre aufgewühlten Gefühle schlugen in Verwirrung um. Also doch! Dieses Liebesgeschwafel war nur der Vorwand, eine Ersatzmutter für die Kinder zu suchen. Er kam mit ihnen nicht zurecht und benötigte dringend Hilfe. Eine dauerhafte Hilfe mit standesamtlichem Stempel!

Ihr Rücken versteifte sich, und die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Peter, ich weiß nicht, ob ich das kann«, flüsterte sie fast tonlos. »Ich liebe dich. Ich mag auch die Kinder. Aber das alles – das alles kann ich nicht bewältigen. Die Kinder…«

»Es ist wegen der Kinder, ja?«

Kathrin nickte. »Versteh mich bitte nicht falsch. Ich mag deine Kinder wirklich, und ich freue mich, daß sie mich akzeptieren würden. Aber ich befürchte, daß mir das alles über den Kopf wächst. Da bist du, der nach Liebe verlangt, aber da sind auch die Kinder, jedes anders und mit anderen Problemen. Mein Gott, und wenn eins mal krank wird, ich wüßte gar nicht, was ich da zuerst tun müßte. Und wenn es mit dem Zusammenleben dann doch nicht so klappt und es Streit gibt? Dann bin ich doch der Störfaktor, der in die Familie eingebrochen ist. Wann sind wir beide einmal allein, wann können wir Zärtlichkeiten austauschen, ohne daß eines der Kinder vor der Schlafzimmertür steht und mal muß oder was zu trinken will oder nicht schlafen kann…«

»Es wird sich für alles ein Weg finden. Ich verstehe dich ja, daß du noch Berührungsängste hast. Aber wenn du dich erst einmal bei uns eingelebt hast, siehst du es auch anders. Es muß nur alles richtig organisiert sein.«

»Und ich bin der Manager?«

Peter lachte. »Gewissermaßen.«

»Als erstes würde Kai aufbegehren, weil er seine Vorrangstellung verliert. Dann kommen die Vorwürfe, daß ich Martin vorziehe, wenn ich ihn in Schutz nehme. Und Jenny ist noch so klein, da kann man ja noch nicht mal an die Vernunft appellieren wie bei einem Schulkind.« Mit einem Mal wurde Kathrin bewußt, daß sie diesen Mann nie für sich allein haben würde. Immer würden die Kinder zwischen ihnen stehen. Verzweifelt rang sie die Hände. »Peter, es geht nicht. Das wird nichts. Ich kann das einfach nicht.«

»Du liebst mich nicht, nicht wahr?«

»Doch, ich liebe dich über alles, Peter, es tut richtig weh hier drin.« Sie legte die flache Hand aufs Herz.

Peter senkte den Kopf. »Ich habe schon verstanden. Dich stören die Kinder.«

»Sie stören mich nicht. Aber…« Kathrin war selbst verzweifelt. Wie sollte sie Peter klarmachen, daß die Angst vor der Verantwortung für eine Familie nichts mit ihrer Liebe zu Peter zu tun hatte. Nachts träumte sie davon, an Peters Seite auf den Boulevards von Paris zu wandeln, in eleganten Kleidern, chic frisiert und an den Füßen den letzten Schrei französischer Schuhdesigner. Die Frauen würden sich bewundernd nach ihr umdrehen und ihren Männern am liebsten die Augen verbinden.

Warum nur traf es all die Reichen und Schönen, nicht sie, die kleine Schuhverkäuferin Kathrin Berger? Und wenn sie schon einen Mann kennenlernte, der ihr Herz in Aufruhr brachte, dann hatte er drei Kinder. Tränen der Enttäuschung stiegen in Kathrins Augen.

»Ich vertrage wohl keinen Alkohol«, murmelte sie entschuldigend und schnüffelte diskret in ihr Taschentuch.

Ich bin ein kompletter Idiot, schalt sich Peter Kilian. Ich falle mit der Tür ins Haus und überrumpele sie mit den Problemen der Kinder. Eine Liebe muß reifen, aber ich will es übers Knie brechen. Er war sich klar darüber, daß er eben verloren hatte, was sich so zart anbahnte.

»Ich bringe dich nach Hause«, sagte er leise und zahlte. Kathrin hatte nichts dagegen einzuwenden, daß sie den gemeinsamen Abend beendeten. Vor ihrer Haustür verabschiedeten sie sich.

»Werden wir uns wiedersehen?« fragte Peter.

Kathrin senkte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht läßt das Schicksal unsere Wege wieder kreuzen. Aber ich glaube nicht an solche Zufälle oder Fügungen. Und vielleicht ist es auch besser so, bevor

es noch mehr gebrochene Herzen gibt.«

Mit schleppenden Schritten stieg sie die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Peter! Wenn sie an ihn dachte, klopfte ihr Herz schneller. Was für ein traumhafter Mann! Eigentlich war es ein Wunder, daß ein Mann mit diesem Aussehen noch keine Frau gefunden hatte. Natürlich waren die Kinder schuld, die jede Frau abschrecken würden. Zwar waren es liebe, hübsche, nette Kinder, aber eben Kinder, die laut waren, egoistisch, unordentlich…

Als sie in ihrem Bett lag, weinte sie heiße Tränen ins Kopfkissen und fühlte sich schrecklich elend.

*

»Das können Sie mir nicht antun! Nein, das geht auf keinen Fall!« Herr Kremer rang seine Hände mit den dicken Wurstfingern verzweifelt. »Erst fällt Marion aus, weil sie unbedingt ein Kind haben will und Sie wollen jetzt Urlaub? Das geht auf keinen Fall!« wiederholte er.

Kathrin blickte ihren Chef flehend an. »Ich kann einfach nicht mehr. Nur eine Woche, bitte. Was nützt es Ihnen, wenn ich vielleicht noch krank werde, weil mir einiges über den Kopf gewachsen und über meine Kräfte gegangen ist? Eine Woche Erholung wirkt da schon Wunder.«

»Nur, wenn Sie Frau Grille als Vertretung überreden können. Wer soll sonst noch in der Kinderschuhabteilung verkaufen? Das ganze qualifizierte Personal läßt mich sitzen, und ich plage mich nur mit diesen Aushilfskräften herum!«

›Das mußte ich auch‹, hätte Kathrin beinahe geantwortet. Aber sie schwieg lieber. »Ich werde mit Frau Grille sprechen. Sie ist zwar schon in Rente, aber vielleicht ist sie doch bereit, eine Woche…«

»Gut, aber es ist eine Ausnahme, verstehen Sie, Fräulein Berger, eine einmalige Ausnahme! Und vor dem Weihnachtsgeschäft sind Sie wieder hier, verstanden?«

Kathrin war bereit, ihm das Blaue vom Himmel zu versprechen, wenn er ihr nur den Urlaub gewährte. Sie fühlte sich elend und ausgelaugt. Sie brauchte dringend Erholung und Tapetenwechsel. Sie wollte verreisen, irgendwohin, und sich ablenken. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, mußte sie sich eingestehen, daß es nichts weiter war als eine Flucht, eine Flucht vor Peter und vor ihrer eigenen Wankelmütigkeit.

Sie war wütend auf sich selbst. Sie wollte nichts mehr mit Peter zu tun haben. Sie konnte einfach nicht, denn es brach ihr das Herz. Ein Teil ihrer Seele schrie nach ihm, verlangte nach ihm, seiner Liebe, seinen Küssen, seinen Zärtlichkeiten. Die andere Seite ihres Ichs hob warnend den Zeigefinger, appellierte an ihre Vernunft, ihren Verstand. Wie sollte sie, die junge Kathrin, eine dreifache Mutter ersetzen, einem erfahrenen Mann eine perfekte Ehefrau und Hausfrau zugleich sein, ohne gleichzeitig ihre eigenen Wünsche und Träume aufzugeben? Nein, das alles ließ sich nicht miteinander vereinbaren. Und deswegen mußte sie fort, weit weg von hier und alles hinter sich lassen. Was danach kam, daran wollte sie jetzt nicht denken, nicht danach fragen. Es lag noch so weit weg, dieses Danach. Sie wollte nur davonlaufen.

Nach dem offensichtlich nicht ganz zufälligen Zusammentreffen mit Peter Kilian hatte es Kathrin tunlichst vermieden, noch einmal Kontakt mit ihm aufzunehmen. Es wurde ihr dadurch erleichtert, daß auch Martin nicht wieder das Schuhgeschäft besuchte. Sicher hatte es ihm sein Vater nahegelegt, einen Bogen um das Schuhgeschäft zu schlagen. Die Enttäuschung für Martin mußte wohl besonders groß gewesen sein. Nur einmal entdeckte sie seinen Blondschopf draußen vor den Schaufensterscheiben. Aber als Martin sie erblickte, lief er davon. Einerseits tat es Kathrin leid. Sie mochte die Kinder wirklich. Auch Jenny hatte schnell einen Platz in ihrem Herzen gefunden. Aber drei Kinder aufzuziehen, dazu gehörte sehr viel Verantwortung. Kathrin würde sich damit überfordert fühlen. Und irgendwie wollte sie auch noch etwas vom Leben haben!

Kathrin öffnete das Fenster ihres Hotelzimmers und stützte sich auf das Fensterbrett. Tief sog sie die kühle Luft ein. Es roch etwas modrig. Glucksend schlug das dunkle Wasser des Kanals an die fleckige Hauswand des Hotels. Venedig lag im grauen Herbstnebel, irgendwo hinter den grauen Häuserzeilen vermutete sie die Lagune. Vergebens hielt sie nach einem romantisch singenden Gondoliere Ausschau. Einige Lastkähne, vollbeladen mit Gemüse, knatterten mit rauchenden Motoren vorbei. Ihre Flucht vor Peter Kilian endete in einem drittklassigen Hotel in einer grauen Seitenstraße von Venedig, der Stadt der Verliebten. Doch Kathrins Herz war schwer wie die regennassen Wolken am Himmel. Sie hoffte, eine Woche Ruhe und Abgeschiedenheit zu finden.

Das Hotel war nur mäßig belegt, die Touristenzeit war vorbei. Vereinzelt wanderten Reisegruppen über den Markusplatz. Nur die zahlreichen Tauben ließen sich von dem trüben Wetter nicht beeindrucken und hofften auf reichliche Futtergaben der Touristen.

Kathrin beschloß, einen kleinen Bummel zu unternehmen und die nähere Umgebung des Hotels zu erkunden. Sie zog den Reißverschluß ihrer Regenjacke bis zum Hals zu. Es nieselte fein, deshalb schlug sie die Kapuze hoch. Sie spazierte den schmalen Fußweg entlang des Seitenkanals bis zur nächsten Kreuzung. Dort gelangte sie auf eine Straße, die im Sommer sicher recht reizvoll sein mochte. Zahlreiche Cafés und Eisdielen reihten sich aneinander, vor allen befanden sich Freisitze, die jetzt verwaist waren. Die meisten Besitzer hatten Tische, Stühle und Sonnenschirme bereits weggeräumt. In den Blumenkübeln trotzten nur noch Hartlaubgewächse und Koniferen dem mißlichen Wetter.

Der triste Anblick war nicht geeignet, Kathrins depressive Stimmung zu heben. Sie zweifelte sogar an der Richtigkeit ihrer Entscheidung, im November nach Venedig zu reisen. In ihren Träumen hatte sie sich mit Peter über den sonnenüberfluteten Markusplatz schlendern sehen, entlang der prächtigen Fassade des Dogenpalastes hinüber zum Campanile. Sie sah sich auf der Seufzerbrücke stehen und das Klagen der Geister der vor Jahrhunderten verurteilten Unglücklichen zu hören. Sie sah sich mit Peter in einer der buntgeschmückten Gondeln sitzen, ein hübscher, junger Gondoliere stakte sie in den Sonnenuntergang hinein, wobei er ein italienisches Liebeslied sang.

Kathrin seufzte. Einer der gelangweilt am Tresen lehnenden Kellner eines Cafés erkannte mit sicherem Blick, daß Kathrins Seele eine Aufmunterung benötigte.

»Signorina, bitte treten Sie ein. Ein Schluck heißer Cappuccino wirkt Wunder.«

Zögernd blieb Kathrin stehen. Sie fröstelte. Wenn sie es sich recht überlegte, wäre ein heißer Cappuccino jetzt genau das Richtige für sie. Sie betrat das Café und nahm an einem kleinen runden Marmortisch am Fenster Platz. Der junge, sehr hübsche italienische Kellner lächelte sie an. ›Woher weiß er, daß ich deutsch spreche?‹ überlegte Kathrin.

»Heute ist kein schönes Wetter für einen Spaziergang«, sagte der junge Mann, und seine weißen Zähne blitzten. »Die Sonne scheint nicht alle Tage. Wichtig ist, daß man die Sonne im Herzen trägt.« Während er plauderte, zauberte er einen köstlichen Cappuccino mit viel Schaum.

»Bitte schön!« Mit einer galanten Bewegung servierte er die hohe, schlanke Tasse.

Dankbar nahm Kathrin einen Schluck. Der weiße Schaum klebte wie ein Schnurrbart auf ihrer Oberlippe. Wie eine Katze versuchte sie, den Schaum abzulecken und verrenkte ihre Zunge. Der junge Italiener beobachtete lächelnd Kathrins vergebliche Bemühungen. Ärgerlich warf sie ihm einen Blick zu, mußte im gleichen Moment jedoch auch lachen. Das Eis war gebrochen.

»Ich heiße Mario«, sagte der Mann und wischte wie beiläufig die ohnehin sauberen Tische des Cafés mit einem karierten Küchentuch ab. Dabei kam er Kathrins Tisch immer näher.

»Ich heiße Kathrin«, sagte sie und rührte intensiv in ihrem Cappuccino.

»Sie machen Urlaub?« fragte Mario.

Kathrin nickte.

»Ganz allein?«

Kathrin nickte wieder.

Mario blickte sie ungläubig an, dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht gut, wenn so ein hübsches, junges Mädchen allein ist. Kummer macht die Seele krank. Lachen bringt Sonne ins Herz.«

Kathrin lächelte gequält. »Manchmal geht es eben nicht anders«, sagte sie ausweichend.

Mario warf lässig das Küchentuch über die Stuhllehne und setzte sich an Kathrins Tisch. Neugierig sah er sie an. »Sie tragen großen Kummer im Herzen. Das ist nicht gut.«

»Ich weiß. Aber was soll ich dagegen tun?« fragte Kathrin weinerlich.

»Nicht allein bleiben. Gehen Sie unter Menschen. Gehen Sie tanzen. Das Leben ist schön.«

Kathrin schlug die Augen nieder. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren fröhliche, lachende Menschen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie haben recht. Ich werde mich unter Leute mischen«, sagte sie so leichthin wie möglich. Sie legte einige zerknitterte Lirescheine auf den Tisch. »Dankeschön!« sagte sie. »Für den guten Tip.« Sie erhob sich. Mario lächelte. Doch als sie das Café verließ, schaute er ihr besorgt nach.

Kathrin bummelte weiter die Straßen entlang, verlor sich in kleinen Nebengassen, in deren Mitte schmale Kanäle flossen. Auf einer der kleinen, runden Brücken blieb sie stehen. Sie starrte in das schmutzige Wasser, das träge dahinfloß. In Gedanken sah sie wieder Peters Gesicht. Ach, Peter! Könntest du doch auch hier sein! Wie herrlich wäre dieser graue Novembertag. Wie blau würde die Lagune erscheinen, wie freundlich die grauen Häuser. Und wie froh würde ihr Herz sein. Die Sonne würde darin scheinen und ihre Seele erwärmen. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Sie hatte sich auf das steinerne Brückengeländer gelehnt. Von wegen Stadt der Verliebten! Alles, was sie bisher gesehen hatte, war feuchtgraue Tristesse.

»Tun Sie das bitte nicht!« hörte sie eine leise Stimme hinter sich. Irritiert wandte sie sich um. Hinter ihr stand Mario. Er hatte eine schwarze Lederjacke über.

»Wie bitte?« Kathrin verstand nicht.

»Keine dummen Gedanken, bitte! Zum Sterben sind Sie noch zu jung.«

Kathrin lachte auf. Es klang hart. »Ach so! Nein, keine Angst. Ich hatte nicht die Absicht, mich ins Wasser zu stürzen. Das wäre zu romantisch.«

»Sie wären nicht die erste«, antwortete Mario. »Liebeskummer tut sehr weh. Man glaubt, es gibt keinen Ausweg. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen etwas, wo Sie Ihren Kummer vergessen können.«

»Nein, ich habe wirklich keine Lust. Ich möchte allein sein. Vor allem brauche ich kein Mitleid.«

Mario blickte sie etwas vorwurfsvoll an. »Ich habe kein Mitleid mit Ihnen. Doch Sie schwelgen in tiefem Selbstmitleid.« Er legte den Arm um ihre Schultern. Und plötzlich lehnte sich Kathrin an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte und weinte, und Mario blieb stehen und hielt sie einfach fest. Als Kathrin keine Tränen mehr hatte, schaute sie auf. »So war es gut«, sagte er mit lächelndem Gesicht. »Jetzt ist alles raus. Fühlen Sie sich besser?«

Kathrin nickte, und ein kleines Lächeln stahl sich auch auf ihr Gesicht. »Ja, ich fühle mich leichter.«

Mario ergriff ihre Hand und zog sie mit sich fort. Sie liefen durch die Straßen und Gassen, über Brücken und Plätze. Kathrin wußte nicht mehr, wo sie sich befand. Vor einer großen Tür blieben sie stehen. Kathrin blickte an der grauen Mauer eines sehr alten Hauses empor. »Wo sind wir?« wollte sie wissen.

»Bei mir zu Hause.« Mario öffnete die Tür. Erschrocken blieb Kathrin stehen. Was tat sie da? Dieser fremde Mann wollte sie mit in seine Wohnung nehmen? Wollte er sie verführen? Nein, dazu war sie nicht bereit, nicht einmal in ihrer traurigen, verzweifelten Situation. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, bitte, ich will nicht.« Angst überkam sie.

Mario beugte sich in den Hausflur hinein. »Mama!« rief er laut. Von oben ertönte eine Frauenstimme und Kindergeschrei. In schnellstem Italienisch, von dem Kathrin kein Wort verstand, sprach er über mehrere Etagen mit seiner Mutter. Einen Augenblick herrschte Ruhe, dann erschien eine kleine, füllige Frau mit graumeliertem Haar auf der Treppe. Sie redete ununterbrochen auf Kathrin ein und deutete einladend ins Haus.

Zögernd betrat Kathrin den Flur und stieg in dem muffigen Treppenhaus nach oben. Eine zweiflügelige Wohnungstür stand offen und Marios Mutter schob Kathrin einfach hinein.

Kathrin fand sich in einer großen Küche wieder. Zwei halbwüchsige Jungen saßen am Küchentisch, zwei Mädchen hängten Wäsche auf eine Leine vor dem Küchenfenster. Neugierig schauten die Kinder auf Kathrin. »Bon giorno«, stammelte Kathrin.

»Gutten Tack!« antworteten die Kinder. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm betrat nun die Küche und nickte Kathrin lächelnd zu. Die Mama schimpfte lautstark irgend etwas, scheuchte die Jungs vom Tisch hoch und bat Kathrin, sich zu setzen. Zögernd nahm Kathrin Platz und blickte sich scheu um. Die Schleiflackmöbel der Küche waren schäbig und alt, aber sauber. Durch die Glastüren sah sie Spitzenpapier, mit dem die Schränke ausgelegt waren. Auf dem eisernen Herd kochte ein großer Topf Wasser.

»Ich Mama, meine Bambini«, sagte Marios Mutter und zeigte nacheinander mit dem Zeigefinger auf die anwesenden Personen. »Pedro, Maria, Gianna, Mario, Tino.« Sie deutete auf die junge Frau und dann auf Mario. »Elena.« Dann kniff sie dem Baby liebevoll in die Pausbäckchen. Sie suchte nach Worten.

»Enkelkind«, half Mario aus.

Die Mama nickte. »Susana«, sagte sie stolz. Kathrin mußte lachen.

Plötzlich schlug die Mama die Hände über dem Kopf zusammen, und ein weiterer Wortschwall ergoß sich. Aber niemand fühlte sich angesprochen, denn alle blickten weiter neugierig zu Kathrin, während die Frau dem Schrank ein riesiges Paket Spaghetti entnahm und vorsichtig in den großen Topf schüttete.

»Pasta gutt«, sagte sie wieder zu Kathrin und rührte mit einem Holzlöffel im Topf. Fragend blickte Kathrin zu Mario und wollte sich erheben.

»No, no, no, no!« Die Mama stürzte mit erhobenem Kochlöffel auf Kathrin zu und drückte sie wieder auf den Stuhl. Eines der Mädchen – war es Gianna oder Maria? – stellte einen Stapel Teller auf den Tisch, während die Mama ununterbrochen weiterplapperte.

»Sie sind unser Gast«, sagte Mario.

»Aber das geht doch nicht«, widersprach Kathrin. »Es sind schon so viele Personen. Ich kann im Hotel essen.«

»Mama ist sonst beleidigt«, sagte Mario, und es klang endgültig.

»Ach so«, murmelte Kathrin und blieb sitzen. Natürlich wollte sie die freundliche Frau nicht beleidigen, aber sie fühlte sich doch etwas unbehaglich, als sie dicht an dicht am Küchentisch saßen. Ein Stuhl blieb frei.

»Papa gleich kommen«, sagte die Mama und rührte in einer würzigen Tomatensoße. Kathrin fiel auf, daß die Mädchen in der Küche arbeiteten, während die Jungs sich bedienen ließen. ›Kleine Paschas‹, dachte sie. ›Die armen Frauen werden von den Männern nur unterdrückt. Kinder, Kirche, Küche – ihn Italien scheint dieses alte Klischee noch sehr lebendig zu sein‹.

Die Tür öffnete sich erneut und ein älterer Mann mit grauem Haar trat ein. Er schien nicht erstaunt, daß ein Gast in seiner Küche am Tisch saß. Er begrüßte Kathrin freundlich, und gleichzeitig schnatterten Mama, Mario und der Rest der Kinder durcheinander. Er schien trotzdem verstanden zu haben, lächelte Kathrin zu und nahm Platz. Die Mama stemmte die Arme in die Hüften und schimpfte wieder wortgewaltig. Zwischendurch tätschelte sie lächelnd das Baby, um sofort danach wieder loszuwettern. Die Jungs, auch Mario und der Papa, zogen erschrocken die Köpfe ein und erhoben sich, um sich am Waschbecken ausgiebig die Hände zu waschen. Mama begleitete die Prozedur mit weiterem Geplapper, dann lächelte sie Kathrin wie um Zustimmung bittend zu. Im Haus schien die Mama das Regiment zu führen, keiner wagte, ihr zu widersprechen, nicht einmal der Papa.

Kathrin nickte einfach lächelnd. Jetzt war die Mama zufrieden, überblickte prüfend ihre Großfamilie und teilte das Essen aus, wobei Kathrin als Gast zuerst die Schüssel gereicht wurde. Kathrin nahm sich eine kleine Portion Spaghetti, was sofort den Protest von Mama hervorrief. Sie schaufelte ihr einen Berg auf den Teller, daß Kathrin erschrocken Luft holte.

»So dinn«, sagte sie vorwurfsvoll und zeigte auf Kathrins schlanke Gestalt. »Missen essen!« Kathrin wehrte erschrocken ab.

»Mamas Pasta ist die beste«, erklärte Mario.

»Das glaube ich gern, aber dann platze ich doch!« Mario übersetzte Kathrins Worte, alle lachten und Mama strich sich über ihre runden Hüften.

»Nicht schnell platzen, gutte…« Sie blickte Mario wieder fragend an.

»Polster«, ergänzte Mario.

Dann begann das große Schmausen, und Kathrin staunte, wie schnell alle die ellenlangen Spaghetti aufwickelten, in die Tomatensoße tunkten, in den Mund schoben und sich dabei noch wortreich unterhielten. Obwohl Kathrin kein Wort verstand, fühlte sie sich plötzlich wohl und geborgen in dieser großen Familie, die so selbstverständlich am Tisch saß, sich Mamas Essen schmecken ließ und Kathrin einfach einbezog.

Und plötzlich überfiel Kathrin eine große Sehnsucht. Wie schön war es doch, eine Familie zu besitzen, in ihr aufzugehen, stolz auf seine Kinder zu sein. Verstohlen beobachtete sie Marios Mama, wie sie immer wieder kontrollierend über den Tisch blickte und dann zufrieden nickte.

»Essen, essen!« forderte sie Kathrin immer wieder auf. Mario stellte ihr ein Glas mit Rotwein hin. Die Kinder tranken Milch, nur Elena verdünnte ihren Rotwein mit Wasser.

»Scheene Urlaube«, sagte die Mama und erhob ihr Weinglas. Kathrin stieß mit allen an und auch die Kinder erhoben ihre Milchgläser. Es ging laut und lustig zu, und Kathrin fühlte sich kein bißchen fremd.

Als sie gegessen hatten, räumten die Mädchen den Tisch ab und spülten das Geschirr, während Marios Eltern viele Fragen stellten, die Mario übersetzte. Kathrin erzählte von zu Hause, ihrer Arbeit im Schuhgeschäft, ihrem Wunsch, einmal Venedig zu sehen. Das Thema Peter vermied sie.

Doch die kluge Mama schien zu spüren, daß Kathrin Kummer in sich trug. Vielleicht hatte Mario auch etwas erzählt. Immer wieder wanderte Kathrins Blick zu der kleinen Susana, die auf Elenas Schoß saß. Auch wenn die Kleine dunkle Locken und große, schwarze Augen hatte, erinnerte sie sie an Jenny. Kathrin fühlte einen leichten, ziehenden Schmerz im Herzen.

»Du auch haben viele Bambini«, sagte die Mama mit Bestimmtheit und nickte, als sei es endgültig.

Kathrin wagte nicht zu widersprechen. Hier, in der einfachen, aber so herzlichen Atmosphäre dieser Familie erschien es ihr selbstverständlich. Und sie fragte sich, warum sie daraus so ein Problem gemacht hatte. All das konnte sie auch haben, eine Familie, liebe Kinder, ein süßes Baby, und einen liebevollen Mann. Die Mama machte durchaus keinen unglücklichen Eindruck, und als sie sah, wie zärtlich Mario über die seidigen Locken seiner kleinen Tochter strich, verspürte sie fast so etwas wie ein wenig Neid. Zum Glück gehörte nicht Geld und Luxus, nicht Freiheit und Abenteuerlust, nicht Flitter und falscher Schein. Glück war nichts, was man kaufen konnte. Glück kam von innen heraus. Hier, in der engen, abgewohnten Küche gab es Glück, gab es Familie, gab es gegenseitigen Halt. Sicher hatten auch diese Leute ihre alltäglichen Probleme, aber das änderte nichts am festen Zusammenhalt dieser Menschen.

Es wurde spät, während sie sich unterhielten und Wein tranken. Als sich Kathrin verabschieden wollte, bot sich die gesamte Familie an, sie bis zum Hotel zu begleiten. Außer Elena, die bei ihrem Baby blieb, wanderten alle, auch die Kinder, durch das nächtliche Venedig, bis sie zu Kathrins Hotel gelangten. Der Abschied war herzlich, und unter vielen Umarmungen mußte Kathrin der Mama versprechen, sie und ihre Familie zu besuchen, wenn sie wieder einmal nach Venedig kam.

Jetzt wußte Kathrin, was zu tun war. Nach ihrer Rückkehr würde sie Peter Kilian suchen und ihm sagen, daß sie bereit war, die große Verantwortung für seine Familie auf sich zu nehmen. Nichts erschien ihr zu schwer, sie freute sich auf die neue Aufgabe. Und sie wußte, daß sie mit Peters Liebe und Unterstützung rechnen konnte. Endlich waren ihr die Augen geöffnet worden. Eine einfache italienische Familie hatte es vollbracht, und Kathrin war den netten Leuten unendlich dankbar dafür.

*

Draußen stürmte es, und die Straßenlaternen spiegelten sich auf dem nassen Asphalt. Schaudernd zog Kathrin die Schultern hoch. Ein wenig hilflos wedelte sie mit den Weihnachtsgirlanden, mit denen sie die Kinderschuhabteilung schmükken wollte.

»Man sollte es nicht glauben, daß bald Weihnachten ist«, sagte sie zu Hannelore, die als Aushilfe im Geschäft arbeitete.

»Ja, das Wetter ist wirklich deprimierend. Da kann man schon auf trübe Gedanken kommen.« Hannelore reckte sich auf der Leiter, um die Girlanden aufzuhängen.

»Weihnachten ist das Fest der Freude, und Advent ist die Zeit der Vorfreude. Als Kind habe ich immer gefiebert, ob zu Weihnachten tatsächlich das Gewünschte unterm Weihnachtsbaum liegt.«

»Und? Lag es drunter?« wollte Hannelore wissen und schlug mit kräftigen Hammerschlägen einen Nagel in die Wand.

»Meistens. Als Einzelkind bekam ich so ziemlich jeden Wunsch erfüllt. Zum Glück hatte ich nicht noch ein paar quängelnde Geschwister…« Kathrin hielt plötzlich inne. Was erzählte sie da für einen Unsinn? Dabei hatte sie sich jedes Weihnachten ein Brüderchen oder ein Schwesterchen gewünscht. Dieser Wunsch ging nie in Erfüllung. Ein anderes Bild tauchte vor ihr auf, das Gesicht eines semmelblonden Jungen mit strahlend blauen Augen. Verwirrt schüttelte sie sich. Das Wetter machte einem wirklich eigenartige Gedanken…

»Kathrin, träumst du? Wir müssen die neue Winterkollektion noch auspacken. Das schaffe ich wirklich nicht allein.« Hannelores Stimme klang ein wenig gereizt. Sie war Kathrin nicht immer eine große Hilfe, ständig jammerte sie, daß viel zu tun war. Dabei hatte Kathrin die Kinderschuhabteilung noch gut zwei Monate nach Marions Ausscheiden allein geführt, bevor sie Hannelore zur Unterstützung bekam.

Kathrin dachte ständig an Peter Kilian. Leider wußte sie nicht, wo er wohnte, und sie hoffte immer wieder, daß er oder seine Kinder sich wieder in den Schuhladen verirren würden. Sie hatte solche Sehnsucht nach ihnen, doch sie wußte nicht, wo sie suchen sollte. Das Weihnachtsgeschäft ließ ihr auch wenig Zeit, auf eine zeitraubende Suche zu gehen. Mehrmals nahm sie sich vor, das Telefonbuch zu wälzen, vielleicht fand sie seine Nummer. Aber was sollte sie ihm sagen? ›Hallo, hier bin ich! Wollen wir heiraten?‹

Entschlossen drehte sich Kathrin um und nahm einen Stapel Schuhkartons auf. Sie packte braune Wildlederstiefel aus. Sie waren mit Fell gefüttert, das über den Stiefelrand nach außen umgeschlagen war. Über den Spann lief ein Riemen mit einer Schnalle. Sie sahen sehr gut aus, und Kathrin überlegte, daß es die richtigen Winterstiefel für Martin und Kai wären. Einige Zeit später hielt sie ein Paar rote Stiefelchen in der Hand, die gut einem dreijährigen Mädchen passen würden. Weiße, glitzernde Sternchen schmückten die roten Stiefel, die ebenfalls mit weißem Fell gefüttert waren. Kleine Mädchenfüße würden darin bestimmt nicht frieren.

Der Weihnachtsmarkt wurde eröffnet, und Kathrin beschloß, in ihrer Mittagspause einen kleinen Bummel zu unternehmen und vielleich an einer der Verkaufsbuden ein Würstchen zu essen. Der Himmel war grau, und die Luft gesättigt mit kalter Feuchtigkeit. Die vorbeieilenden Menschen trugen die Kragen hochgeschlagen und blickten verdrießlich in den trüben Dezembertag. Kathrin wurde einige Male angerempelt, doch keiner der unfreundlichen Passanten entschuldigte sich. Plötzlich erklang fröhliches Kinderlachen. Unwillkürlich blickte Kathrin sich um – und erstarrte. Nur wenige Meter vor ihr, an einem Würstchenstand, entdeckte sie Martin, der über das ganze Gesicht strahlte. Und gleichzeitig erblickte sie Peter Kilian. Für einen Moment wollte Kathrin im Überschwang

der Wiedersehensfreude auf Peter zueilen. Kai stand neben ihm und nahm gerade ein Brötchen mit einem Würstchen in Empfang. Jenny saß im Sportwagen und kaute bereits an einem Brötchen. Eine ausgesprochen elegant gekleidete Frau in einem olivgrünen Mantel teilte die Würstchen aus. Peter legte einen Arm um die Schultern der Frau. Diese Geste war so liebevoll und vertraut, daß Kathrin mitten im Schritt stockte. Sie suchte hinter den Auslagen einer Verkaufsbude Deckung. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Es war alles Lüge, seine Worte, seine Schwüre, seine Liebeserklärung. Eigentlich sollte Kathrin froh sein, daß sie ihm mit gesundem Mißtrauen begegnet, nicht auf seine schönen blauen Augen hereingefallen war.

Trotzdem lugte Kathrin hinter ihrer Deckung hervor und beobachtete die für sie schockierende Szene. Martin und Kai waren mit dem Verzehr ihrer Würstchen beschäftigt, und Martin bekleckerte natürlich seinen blauen Anorak mit Senf. Sein Vater schien seine sonstige Strenge den Jungs gegenüber völlig vergessen zu haben, denn er lachte und sagte etwas zu der eleganten Frau. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Mantel und wischte Martin den Senffleck weg.

Kathrin betrachtete die Dame genauer. Sie mochte etwas jünger als Peter sein. Trotz des wadenlangen Mantels, der in der Taille mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde, konnte man ihre schlanke Figur erahnen. Ihr blondes Haar war zu einer kleidsamen Frisur hochgesteckt. Schuhe, Handtasche und Ohrclips waren farblich auf den olivgrünen Mantel abgestimmt in einem etwas dunkleren Farbton. Ihr Teint sah frisch und zart gebräunt aus, als käme sie gerade aus südlichen Gefilden aus dem Urlaub. Die fünf waren in bester Stimmung, lachten und scherzten, während sie die Würstchen verspeisten.

Kathrin mußte tief durchatmen. Für ihren Geschmack war die Dame ein wenig zu elegant, und sie konnte sie sich schlecht zwischen Kochtopf und Waschmaschine vorstellen. Aber eigentlich ging es Kathrin alles nichts mehr an. Um nichts in der Welt wollte sie sich eingestehen, daß sie gegen einen Kloß im Hals kämpfte.

Obwohl Kathrins Magen gewaltig knurrte, war ihr der Appetit auf ein Würstchen vergangen. Sie beeilte sich, ins Schuhgeschäft zurückzukehren.

Er hatte also ziemlich schnell Ersatz gefunden, und weder er noch die Kinder schienen Kathrin zu vermissen. Im Schuhgeschäft betrachtete sich Kathrin kritisch im Spiegel. Sie trug eine einfache dunkelbraune Hose und einen selbstgestrickten beigefarbenen Pullover. Ihr kastanienrotes Haar hatte sie schlicht im Nacken zu einem Zopf geflochten. Weder Schmuck noch Make-up hatte sie angelegt, und sie fand sich plötzlich fade und hausbacken. Mit dieser eleganten Frau konnte sie auf keinen Fall konkurrieren. Es war auch gar nicht notwendig, gestand sich Kathrin seufzend ein und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

*

An einem Sonntag brachte Marion ihr Baby zur Welt. Etwas später stattete ihr Kathrin, mit einem riesigen Blumenstrauß, Plüschtieren, Rasseln und Quietschenten beladen, einen Besuch ab. Voll Stolz zeigte Marion ihr den mit rosa Stoff bezogenen Stubenwagen, in dem das Baby schlief. Unwillkürlich mußte Kathrin an Jenny denken. Sie beugte sich über den Stubenwagen und betrachtete versonnen das schlafende Baby. Zarter blonder Flaum bedeckte das kleine Köpfchen, und die Lippen vollführten sachte saugende Bewegungen. Zärtlich strich Kathrin über das mit lustigen Tiermotiven bedruckte Deckbett. Sie kämpfte mit den Tränen. Vor ihrer Kollegin wollte sie ihre Gefühlsaufwallung verbergen und wandte ihr Gesicht ab. Der Gedanke an Jenny schmerzte sie. Und nicht nur der Gedanke an Jenny.

»Peter, Peter«, flüsterte sie leise. »Ich beneide dich«, sagte sie laut zu Marion.

»O ja, ich bin so glücklich«, strahlte Marion. »Ist es nicht ein richtiges Wunder, so ein kleiner Mensch? Und alles schon dran,

Ärmchen, Beinchen, die süßen Fingerchen. Du müßtest sie sehen, wenn ich sie bade. Sie strampelt

wie eine kleine Wasserratte. Und wenn ich sie stille, stehen auf ihrer Stirn kleine Schweißperlen. Trinken ist offensichtlich Schwerstarbeit für sie.«

»Ich beneide dich«, wiederholte Kathrin.

Marion lachte. »Spätestens, wenn sie nachts schreit, denkst du anders darüber. Zum Glück kommt es nicht häufig vor.«

Marion lud Kathrin zu einer Tasse Kaffee ein. »Mach dir doch keine Umstände wegen mir«, wehrte Kathrin ab.

»Laß nur, ich bin froh, wenn ich Besuch bekomme. Zwar gehe ich zweimal täglich mit dem Kinderwagen spazieren, aber sonst bin ich den ganzen Tag allein, bis abends mein Mann aus der Firma kommt. Erzähl mal, was gibt es Neues im Schuhhaus?« Marion setzte sich neben Kathrin auf den Sessel und schenkte Kaffee in zarte Porzellantassen.

»Eigentlich nichts. Ich habe eine Aushilfe bekommen, aber sie ist noch jung und ein wenig unbeholfen. Für Kasse und Verkauf ist sie nicht zu gebrauchen, wenigstens sortiert sie die Schuhe in die Regale.«

»Und du? Ich meine, hast du inzwischen etwas fürs Herz gefunden?«

»Mein Herz? Wie kommst du darauf?«

»Du siehst aus, als wenn ein Problem auf deine Seele drückt.«

Kathrin bemühte sich um einen erstaunten Gesichtsausdruck. Es gelang ihr nicht so recht. »Welche Probleme sollte ich schon haben? Tagsüber stehe ich im Geschäft, abends sitze ich zu Hause, höre Musik oder lese ein Buch und dann falle ich müde ins Bett.«

»Vielleicht ist das dein Problem. Du vergißt zu leben. Dir fehlt einfach jemand, an dessen Schulter du deinen Kopf legen kannst.«

»Meinst du? Bisher habe ich das aber nicht vermißt, meine Freiheit ist mir wichtiger. Ein Mann ist doch nur ein Klotz am Bein.«

Marion blickte sie prüfend an und durchschaute Kathrin. Sie ergriff Kathrins Hand. »Möchtest du reden? Vielleicht erleichtert es dich.«

Kathrin schwieg und blickte hinüber zu dem rosaroten Stubenwagen. Dann seufzte sie. »Er heißt Peter Kilian. Er ist ein wunderbarer Mann, sieht gut aus, ist liebenswert und hat faszinierende blaue Augen.« Unmerklich geriet Kathrin ins Schwärmen.

»Und wo ist der Haken an der Sache?« wollte Marion wissen.

»Es sind drei Haken.« Es klang sehr kläglich. »Er hat drei Kinder.«

»Donnerwetter!« Marion setzte die Tasse so heftig ab, daß das zarte Porzellan bedenklich klirrte.

Kathrin senkte den Kopf. »Es klingt vielleicht absurd, aber ich mag diese Kinder. Und trotzdem fürchte ich mich davor.«

»Du fürchtest dich vor den Kindern? Oder vor der Verantwortung?«

Kathrin nickte zerknirscht. »Es ist doch ein Unterschied, ob man in die Mutterrolle hineinwächst oder ob man quasi mittendrin einsteigt.«

Marion blickte Kathrin nachdenklich an. »Und er? Liebst du ihn?«

Kathrin schluchzte auf. »Das ist es ja eben. In seiner Nähe bekomme ich Herzrasen und Puddingknie.«

»Erwidert er deine Gefühle?« wollte Marion wissen.

»Erst glaubte ich es, aber dann…«

»Du glaubtest es? Was soll das denn heißen?«

»Zumindest hat er sich so verhalten, als ob er mich auch liebt. Aber ich befürchtete, er sucht nur dringend eine Ersatzmutter für seine Kinder und ein Hausmäuschen für sich. Da kann man ja die große Liebe heucheln, nicht wahr? Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck.

»Traust du ihm denn so etwas zu?« fragte Marion entsetzt und zog die Nase kraus.

»Eigentlich nicht. Doch danach sah ich ihn mit dieser mondänen Frau, so eine wie aus dem Magazin, schön, edel, teuer. Hätte nie gedacht, daß er auf so etwas hereinfällt. Dabei hatte mich der kleine Martin ernsthaft als seine Ersatzmama erkoren. Ob diese Frau die Herzen der Kinder erobert, wage ich zu bezweifeln.«

»Da hast du doch noch eine Chance!« Marion hopste aufgeregt auf der Sesselkante herum.

»Um Himmels willen, nein! Wie soll ich gegen diese Frau ankommen?«

»Kathrin, du liebst ihn. Warum sagst du es ihm nicht einfach?«

»Was? Ich kann doch nicht einfach vor ihn hintreten und sagen: Peter, ich liebe dich!«

»Warum denn nicht?«

Kathrin nagte auf ihrer Unterlippe. »Meinst du wirklich?«

Marion nickte ernst. Dann schenkte sie noch einmal Kaffee nach. Kathrin warf noch einen Blick in das Babykörbchen. Es war so ein friedliches Bild, voll von tiefer Liebe und Harmonie. Warum kann ich das nicht auch erleben, fragte sie sich.

*

Über Nacht sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, die nassen Straßen verwandelten sich in gefährliche Schlitterbahnen. Doch es fiel kein Schnee, und Kathrin war keineswegs in vorweihnachtlicher Stimmung. Das trübe Wetter, die Gedanken an Peter Kilian und ihre eigene Unzufriedenheit drückten ihr aufs Gemüt. Unruhig wälzte sie sich nachts im Bett herum, wirre Träume plagten sie. Zu allem Unglück verschlief sie am Morgen gründlich. Genervt hastete sie zur Straßenbahn. Es war noch dunkel, der Fußweg uneben. Für einen Augenblick hatte Kathrin das Gefühl, daß sich die Welt um sie herum drehte. Ein Bein rutschte seitlich weg, während sie verzweifelt versuchte, die Balance zu halten und mit den Armen in der Luft ruderte. Dann schlug sie unsanft mit dem Gesäß auf die Pflastersteine. Benommen rang sie nach Luft. Erst Sekunden später verspürte sie einen stechenden Schmerz im linken Bein, der sich fast bis zur Unerträglichkeit steigerte. Ihr Bein lag seltsam gewinkelt unter ihrem Körper. Entsetzt starrte sie auf den unnatürlich verdrehten Unterschenkel. Sie kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit an. Nur schemenhaft gewahrte sie einige Passanten, die sich zu ihr herunterbeugten und sie etwas fragten. Dann umfing sie eine wohltuende Dunkelheit.

Langsam, ganz langsam tastete sich Kathrins Bewußtsein aus einer dunklen Tiefe empor. Sie schwamm durch einen dicken Nebel, der sich wie Brei anfühlte. Es war unendlich schwer und irgend etwas schien sie immer wieder in die Tiefe zu ziehen. Über sich gewahrte sie einen weißen Ball und aus weiter Ferne vernahm sie Stimmen. Wo bin ich, wollte sie fragen, aber es kam nur ein Krächzen aus ihrem Hals. Nach und nach fühlte sie einen dumpfen Druck auf ihrem Brustkorb, sie rang nach Luft und strengte sich an, die Augen zu öffnen.

»Sie kommt zu sich«, hörte sie eine Stimme wie durch eine Wand aus Watte. Jetzt konnte Kathrin ihre Umgebung etwas genauer erkennen. Alles war weiß, die Decke, die Wände des Raumes. Der helle Ball entpuppte sich als eine Lampe aus Milchglas. Eine weißgekleidete Frau beugte sich über sie.

»Können Sie mich verstehen, Fräulein Berger? Wie fühlen Sie sich?«

Kathrin nickte mechanisch. Sie versuchte, Worte zu formulieren. »Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus. Sie hatten einen Unfall. Können Sie sich nicht daran erinnern?«

Wie in Zeitlupe schüttelte Kathrin den Kopf. Jede Bewegung bereitete ihr Mühe, ihr Körper und ihre Gedanken wollten ihr nicht gehorchen. »Unfall?« flüsterte sie.

Die Krankenschwester tätschelte ihre Hand. »Nicht aufregen. Der Doktor hat sie wieder zusammengeflickt. Es war ein komplizierter Bruch. Jetzt brauchen Sie viel Ruhe. Sie werden auf die Station verlegt, nachher schaut der Doktor nach Ihnen.«

»Aber, aber – ich muß doch zur Arbeit«, protestierte Kathrin schwach.

Die Krankenschwester lächelte milde. »Das wird wohl in den nächsten Wochen nichts werden. Ihr Bein mußte mit einer Metallplatte zusammengeschraubt werden, weil der Knochen gesplittert war. Aber das erklärt Ihnen der Doktor nachher genauer. Er ist schon wieder im OP. Das Glatteis hat an einem Tag mehr Unfälle gefordert als sonst in einem Monat.«

Die Schwester schob das Bett, in dem Kathrin mit einem weißen OP-Hemd bekleidet war, in ein leeres Zimmer. Über sich sah Kathrin eine Infusionsflasche an einem Gestell schaukeln, ein Schlauch führte in ihren Handrücken.

»Ruhig liegenbleiben!« mahnte die Schwester. »Wenn es ein Problem gibt, hier ist der Klingelknopf.«

Die Schwester verschwand, und Kathrin versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie spürte einen dumpfen Schmerz im linken Bein und eine Zentnerlast. Sie konnte sich nicht bewegen.

Mein Gott, warum muß ausgerechnet mir das passieren? Neben dem Schmerz kam die Verzweiflung in ihr auf. Sie fühlte sich völlig hilflos. Tränen rannen über ihre Wangen. Durch den Tränenschleier verwandelte sich der Infusionsschlauch in eine groteske Schlange. Sie dachte an Weihnachten, die Einkäufe, die sie noch erledigen wollte, an den Duft von Glühwein und Mandeln. Statt dessen drang der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln in ihre Nase. Sie ließ den Tränen freien Lauf.

Die Tür zum Krankenzimmer öffnete sich leise. Kathrin registrierte es nicht. Apathisch lag sie in den weißen Laken.

»Na, na, bis zur Hochzeit wird alles wieder gut«, hörte sie eine sanfte, seltsam bekannte Stimme. Mühsam öffnete Kathrin die Augen.

»Peter«, flüsterte sie überrascht. »Woher weißt du, daß ich hier…« Sie stockte. Peter Kilian trug einen weißen Arztkittel, aus seiner Tasche ragte ein Stethoskop. Er lächelte.

»Ich war ebenso überrascht, wer da auf meinem OP-Tisch lag. Aber ich bin überzeugt, daß ich dein Bein wieder gut zusammengeschraubt habe. Wie hast du das denn fertiggebracht?«

»Ich weiß es nicht. Ich wollte zur Straßenbahn rennen, es war schon spät. Und dann… dann…«

Peter Kilian beugte sich über sie und wischte sanft ihre Tränen weg. »Ich verspreche dir, daß du wieder ganz gesund wirst und dein Bein in Ordnung kommt. Du mußt allerdings viel Geduld aufbringen. Den gesplitterten Knochen habe ich mit einer Stahlplatte fixiert. In einer Woche darfst du an Gehstützen aufstehen und in zwei Wochen wieder nach Hause gehen.«

»Nach Hause…« Kathrin wandte den Kopf zur Seite und ihre Tränen begannen wieder zu fließen.

Peter nahm ihren Kopf in seine Hände und zwang sie, ihn anzusehen.

»Kathrin, meine Kathrin! Es ist kein Grund zum Verzweifeln. Ich werde jeden Tag nach dir schauen, und du wirst sehen, daß es dir jeden Tag ein bißchen bessergeht.« Er beugte sich zu ihr hinunter, und seine Lippen berührten zart ihren Mund. »Ich liebe dich, Kathrin. Warum hast du dich von mir zurückgezogen?«

Kathrin konnte seinen Blick nicht ertragen und warf den Kopf zur Seite. »Warum wohl?« flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Ich schicke dir Schwester Hilde, sie soll dir ein Schmerzmittel spritzen. Schlaf dich erst einmal richtig aus.« Leise verließ er das Krankenzimmer und ließ Kathrin in ihrer Verwirrung zurück.

Peter ist Arzt! Plötzlich schämte sie sich dafür, daß sie ihm damals Vorwürfe gemacht hatte, er würde seine Kinder vernachlässigen. Er war stets für kranke Menschen da, und jetzt, nach diesem schrecklichen Glatteis, stand er wohl Stunden um Stunden im OP, um gebrochene Knochen wieder zu richten. Sie hatte wohl bemerkt, wie müde sein Blick war, und trotzdem hatte er ihr aufmunternd zugelächelt.

Oh, Peter, wie gern würde ich in deinen Armen liegen, wie gern deine Haut berühren, deine Küsse spüren, mit den Fingern durch dein Haar strubbeln. Wie gern würde ich meinen Blick in deine blauen Augen versenken. Warum nur hast du diese kühle, elegante Frau gewählt? Paßt sie besser zu deinem gesellschaftlichen Umfeld als eine kleine Schuhverkäuferin?

Kathrin mußte eingestehen, daß die Dame sehr gepflegt, elegant war, Geschmack besaß, Stil hatte. Aber war sie auch herzlich, liebevoll, selbstlos? Würde sie mit Kai und Martin Fußball spielen, Jennys aufgeschlagene Knie verpflastern und Trost spenden? Würde sie Blindekuh spielen, Blumenkränze flechten und Peter abends, wenn er abgespannt aus dem Krankenhaus kam, aufmuntern und entspannen? Bestimmt würde sie ihm in den Ohren liegen, daß sie dringend ein neues Kostüm benötigte, das sie in einer Nobel-Boutique gesehen habe, daß Kai eine schlechte Zensur in Rechtschreibung nach Hause gebracht und Martin sein neues ferngesteuertes Feuerwehrauto kaputtgemacht habe, daß Jenny immer noch in die Windeln machte und sie vor lauter Arbeit nicht mehr dazu kam, ihre Fingernägel zu lackieren.

Trotz kam in Kathrin auf. Wenn Peter auf diese Art von Frauen flog, dann war es wirklich seine eigene Schuld. Vielleicht konnte er gut mit ihr repräsentieren, aber die Kinder konnten einem leid tun.

Daß er tatsächlich noch die Kühnheit besaß, Kathrin zu sagen, daß er sie liebe, setzte allem die Krone auf. Trotz der Nachwirkungen der Narkose hatte sie seine Worte sehr wohl vernommen. Er hatte einfach ihre hilflose Lage ausgenutzt.

*

In Tante Friedels Küche duftete es verführerisch nach Bratäpfeln. Kai, Martin und Jenny saßen erwartungsvoll am Tisch. Jenny leckte sich mit ihrer rosigen Zunge die Lippen und Martin mußte darüber lachen. »Es gibt nichts Besseres als Tante Friedels Bratäpfel«, sagte Martin. Ungeduldig rutschte er auf dem Küchenstuhl hin und her.

»Habt ihr saubere Hände?« fragte Tante Friedel streng. Gehorsam streckten die drei Kinder zur Bestätigung ihre Hände vor. »Gut, dann gibt es jetzt für jeden einen Bratapfel.« Tante Friedel nahm drei Teller aus dem Schrank, spießte die zischenden Äpfel auf Holzstäbchen und verteilte sie auf die Teller. »Vorsicht, heiß!« ermahnte sie die Kinder.

Dann hörte man nur noch genußvolles Schlecken, und sowohl Jenny wie auch Kai und Martin waren bald bis an die Ohren beschmiert mit duftendem Apfelmark und Vanillesoße.

»Was für ein leckerer Duft«, erklang eine Stimme von der Tür her.

»Tante Hella, komm herein!« rief Martin. »Es gibt Bratäpfel!«

»Das riecht man bis in das Treppenhaus!« Die elegante Frau in dem olivgrünen Mantel ließ einige Tüten und Beutel auf dem Korridor fallen.

»Guten Tag, Tante Friedel!«

»Guten Tag, Hella! Sie kommen genau richtig. Für Sie ist auch noch ein Apfel da.« Tante Friedel nahm noch einen Teller aus dem Schrank und piekste einen Apfel auf.

»Aber laß uns noch etwas Vanillesoße übrig!« rief Martin.

Hella lachte. »Keine Bange. Du wirst den Bauch noch voll genug bekommen!«

»Schmeckt es dir?« wollte Kai wissen.

»Prima! Keiner kann die Bratäpfel so vortrefflich zubereiten wie Tante Friedel. Aber wenn wir fertig sind und ihr die Teller abgewaschen habt, lassen wir Tante Friedel in Ruhe ihren Mittagsschlaf machen. Jenny muß auch ins Bett, und für euch habe ich noch eine kleine Überraschung. Ich habe euch Winterhosen und Pullover gekauft und für Jenny ein Kleidchen.«

»Es ist doch noch gar nicht Weihnachten«, wunderte sich Kai.

»Damit wollte ich nicht bis Weihnachten warten, denn in eurem Kleiderschrank sind einige Lücken. Martins Beine ragen schon aus den Hosen heraus, weil er so schnell wächst. Kais Pullover werden auch zu kurz und Jenny hat gar kein schönes Kleidchen mehr, das sie Weihnachten anziehen könnte. Ich muß mal eine richtige Inventur bei euren Sachen machen. Sicher ist noch einiges nötig zu kaufen.«

»Das macht dir doch Spaß. Vati sagt, du kaufst so gern ein.«

Hella lachte. »Allerdings! Ich glaube, ich komme gerade richtig, um wieder ein wenig Ordnung in eure Familie zu bringen.«

Tante Friedel hatte sich mit an den Tisch gesetzt und nickte Hella bestätigend zu. »Er ist ja eine Seele von Mensch, der Herr Doktor«, seufzte sie. »Aber es fehlt doch eine ordnende Frauenhand, die auf alles achtet. Letztens hat Martin wieder riesige Löcher in den Strümpfen gehabt und Kai weigert sich, ein Unterhemd unter dem Pullover zu tragen. Er meinte, ohne Unterhemd sieht es männlicher aus.«

»Meine Socken sind in Ordnung«, verteidigte sich Martin. »Wenn ich groß bin, werde ich Erfinder. Dann erfinde ich Socken, die nicht kaputtgehen und auch nicht schmutzig werden. Dann brauche ich meine Socken nämlich gar nicht mehr zu wechseln…«

»… und dir auch nicht mehr die Füße zu waschen«, ergänzte Hella lachend. »Keine Bange, dafür bin ich ja jetzt da. Ich werde auf euch Racker ein Auge werfen und frischen Wind in den Kleiderschrank bringen.«

»O je!« stöhnte Kai. »Bisher hatte ich den Haushalt eigentlich im Griff. Du bringst ja alles durcheinander.«

»Ganz recht, junger Mann. Aber von deinen Pflichten bist du deshalb noch lange nicht entbunden. Wer ist dran mit Abwaschen?«

Kai und Martin saßen im Kinderzimmer. Martin malte ein Bild, Kai sägte mit einer Laubsäge eine Sperrholzplatte aus. Er wollte ein Vogelhäuschen für die Winterfütterung bauen.

»Hat Papa wieder mal etwas von Kathrin erzählt?« fragte Martin wie beiläufig. »Geht es vorwärts mit den beiden?«

»Weiß nicht!« Kai blickte nicht von seiner Arbeit auf, weil er sich auf das Sägen des Bogens konzentrieren mußte.

»Aber wie lange dauert es denn noch?« fragte Martin ungeduldig.

»Weiß nicht«, wiederholte Kai. »Vati sagte, dazu muß man Geduld haben. Es kann lange dauern.«

»Aber wie lange denn? Ich kann bald nicht mehr warten.«

»Ich habe Vati versprochen, daß wir nichts mehr auf eigene Faust unternehmen. Er war sehr böse wegen dir damals.«

»Wir haben doch nichts mehr gemacht, ich habe Kathrin auch schon lange nicht mehr gesehen. Trotzdem dauert das alles so lange. Was macht Vati denn eigentlich mit Kathrin?«

»Keine Ahnung. Vielleicht geht er mit ihr spazieren oder schreibt ihr Briefe. Er ist ja immer so lange im Krankenhaus. Ich glaube fast, er hat gar keine Zeit für Kathrin.«

Martin horchte auf. »Meinst du?« fragte er.

»Weiß nicht!« Kai hob die Schultern und sägte seelenruhig weiter.

»Und wenn ich für Kathrin ein Bild male? Und du schreibst ihr einen Brief.«

»Ich habe Vati versprochen, daß wir uns nicht einmischen«, wiederholte er.

»Aber ein Bild malen ist doch nichts Schlimmes. Ich mische mich gar nicht ein. Wir stecken ihr das Bild einfach in den Briefkasten. Dann eben ohne Brief.«

Kai blickte seinen Bruder nachdenklich an. »Ich weiß nicht so recht…« Aber ein Bild konnte wirklich nicht so schlimm sein. »Also gut, male ihr ein Bild.«

Martin nahm ein neues Blatt Papier und malte einen großen blauen See, eine grüne Wiese, eine Sonne am blauen Himmel und Bäume um den See. Unter den Bäumen saß eine Familie mit drei Kindern auf einer Decke, neben sich einen Picknickkorb. Vor Eifer schob sich seine Zunge zwischen die Lippen.

»Du sabberst schon wieder!« rügte ihn Kai.

»Ob sie sich darüber freut?« fragte Martin und betrachtete stolz sein Werk, ohne Kais Kritik zu beachten. Kai blickte ihm über die Schulter.

»Na ja, sieht ein wenig krakelig aus. Aber sie weiß ja, daß es von dir ist.«

»Genau, ich schreibe jetzt meinen Namen darunter.«

»Und ich?« fragte Kai.

»Mal doch selbst ein Bild.« Martin preßte das Blatt an seine Brust. »Oder schreib ihr einen Brief.«

»Nein, lieber male ich auch ein Bild. Vielleicht das Vogelhaus, das ich bauen will, mit vielen Vögeln und Schnee. Gibst du mir deine Buntstifte?«

Nach einiger Zeit war auch das zweite Bild fertig.

»Und nun? Wie können wir die Bilder Kathrin schicken? Ich kenne ihre Adresse gar nicht.«

»Wir geben sie Vati, er soll sie Kathrin schenken.«

»Nein, dann weiß er ja, daß wir doch wieder etwas unternehmen und ist vielleicht böse.«

»Hm.« Kai kratzte sich am Kopf. »Weißt du noch, als wir sie damals abgeholt haben zu dem Ausflug? Sie wohnt gleich um die Ecke vom Kino. Berger heißt sie, Kathrin Berger.«

»Ja, das stimmt.« Martin war aufgesprungen. »Wir gehen hin und stecken ihr die Bilder in den Briefkasten.«

»Einverstanden. Und wie kommen wir aus der Wohnung raus? Tante Hella sitzt drüben im Wohnzimmer und packt Berge von Weihnachtsgeschenken ein.«

»Um so besser. Dann merkt sie nicht, wenn wir mal kurz verschwinden. Wir machen ganz leise.«

Wie kleine Diebe schlichen sich die Jungs auf den Korridor, zogen Schuhe und Anoraks an und öffneten leise die Wohnungstür. Martin hielt die Bilder zu einer Rolle gebunden in der Hand.

»Halt! Wohin wollt ihr denn?« Hellas Stimme klang ziemlich scharf hinter ihren Rücken. Ruckartig blieben Kai und Martin stehen.

»Mist!« flüsterte Kai.

»Was sagtest du? Was schleicht ihr hier herum?«

Ertappt drehten sie sich um. »Wir kommen gleich wieder. Wir wollen nur jemandem zwei Bilder bringen.«

»Ihr geht jetzt nirgendwo mehr hin. Es wird schon dunkel. Zu wem wolltet ihr denn die Bilder bringen?«

»Zu Tante Friedel«, log Martin.

»Und dazu zieht ihr euch die

Anoraks und Stiefel an? Tante Friedel wohnt eine Etage tiefer. Also, ich erwarte eine Erklärung.«

»Wir wollten die Bilder zu Kathrin bringen«, sagte Kai nun wahrheitsgemäß.

»Kathrin, wer ist Kathrin? Ein Mädchen aus eurer Schule?«

Kai wurde es warm unter seiner Pudelmütze. »Nein, Kathrin ist…«

»… eine Fee«, ergänzte Martin.

Hella schüttelte tadelnd den Kopf. »Also, weißt du, Martin, es ist zwar bald Weihnachten, aber deshalb mußt du mir keine Märchen erzählen.«

»Kathrin ist eine Schuhverkäuferin«, berichtigte Kai kleinlaut.

»Das klingt schon ganz anders. Jetzt zieht ihr bitte eure Sachen aus und kommt wieder ins Wohnzimmer. Und dann möchte ich alles über diese Kathrin wissen.«

Sehr, sehr langsam schälten sich die Kinder wieder aus ihren Anoraks. »Dumm gelaufen«, flüsterte Martin.

»Das kannst du wohl sagen. Und dann erzählt sie alles Papa. Wo ich ihm doch von Mann zu Mann versprochen habe, nichts zu unternehmen. Er wird ganz schön sauer auf mich sein.«

Martin schwieg. Ihm war sehr unbehaglich zumute, als er mit seinem Bruder das Wohnzimmer betrat.

Als Peter Kilian spät abends nach Hause kam, lagen seine Kinder schon im Bett. Erstaunt blickte er sich um. Hella blätterte in einem italienischen Modemagazin.

»So eine unheimliche Ruhe heute«, wunderte er sich.

Hella lächelte ihn an. »Sie haben sich heimlich und leise ins Bett verkrümelt, nachdem sie mich austricksen wollten.«

»Austricksen? Was haben sie denn nun schon wieder angestellt?«

»Ach, nichts weiter. Sie wollten sich aus der Wohnung schleichen, um eine Kathrin zu besuchen.«

»So?« Überrascht wandte sich Peter um. »Wie kommen sie denn darauf?«

»Das wollte ich eigentlich dich fragen.« Hella schenkte ihm ein Glas Rotwein ein. »Die Kinder haben mich neugierig gemacht. Vielleicht erzählst du mir etwas über sie.«

Peter blickte Hella an und atmete tief durch. »Muß das sein?« fragte er.

Entschlossen nickte Hella. »Es ist besser, ich weiß die ganze Wahrheit darüber. Was die Kinder erzählt haben, klang ganz schön konfus.«

Nervös fuhr sich Peter durch sein blondes Haar. »Na gut, wenn du darauf bestehst. Ich schau nur noch mal kurz zu den Kindern rein. Ich glaube nicht, daß die Jungs schon schlafen.«

Leise öffnete Peter die Tür zum Kinderzimmer. Zwei blonde Strubbelköpfe drückten sich tief in ihre Kopfkissen.

»Ihr braucht nicht so zu tun, als ob ihr schlaft«, sagte Peter streng. »Ich weiß bereits alles. Ich bin nicht besonders erfreut darüber, daß ihr mir ins Handwerk pfuscht. Übrigens, es hätte wenig Zweck gehabt, zu Kathrin zu gehen. Sie ist nicht zu Hause.«

Ruckartig fuhren die beiden Jungs aus ihren Betten hoch und blickten ihren Vater fragend an.

»Kathrin hatte einen Unfall. Sie liegt bei mir in der Klinik.«

»Schlimm?« fragte Martin ängstlich.

»Wie man es nimmt. Sie hat einen komplizierten Beinbruch. Sie muß mindestens noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben.«

»Kann sie dann wieder laufen?« wollte Kai wissen.

»An zwei Stützen schon. So etwas dauert seine Zeit. So, und nun wird geschlafen.« Er küßte seine beiden Jungs auf die Stirn und schloß leise die Tür. Dann blickte er ins Schlafzimmer, wo Jenny in ihrem Bettchen mit rosigen Wangen schlief. Eine Welle tiefer Zuneigung durchflutete Peter, als er das süße Mädchen sah. Ganz sacht schloß er wieder die Tür.

Hella saß bereits vor dem Kamin und wartete auf Peter.

»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Hattest du einen schweren Tag?«

»Ich bin jetzt zu Hause bei meiner Familie, da ist alles vergessen.«

*

Kathrin blickte an ihrem Körper hinab. Aus dieser Perspektive wirkte die ganze Konstruktion noch gefählicher. Ihr operiertes Bein lag wie ein schwerer Klumpen in einer Halbschale. Schwester Hilde nickte ihr aufmunternd zu.

»Kopf hoch, Mädel, es wird schon wieder. Sie hatten Glück, daß Sie so einem guten Doktor unter die Finger gekommen sind. Er hat goldene Hände.«

Kathrin schwieg. Tausend Fragen schwirrten ihr im Kopf herum. Aber sie wagte nicht, eine davon an die Schwester zu stellen, die ihr vielleicht einige ganz gut beantworten konnte. Zumindest die, die mit Dr. Peter Kilian im Zusammenhang standen.

Die Tage im Krankenhaus wurden Kathrin zur Qual. Weniger war es der Schmerz ihres gebrochenen Beines, der schon bald nachließ, als daß sie Peter täglich sah. Zur offiziellen Visite verhielt er sich korrekt und distanziert, konnte sich aber ein verräterisches Augenblinzeln oder Lächeln nicht verkneifen, das die umstehenden Ärzte und Schwestern nicht bemerkten, wohl aber Kathrin.

Außerdem richtete es Peter immer ein, daß er für einige Augenblicke in Kathrins Zimmer hereinschaute, wo sie miteinander allein waren. Peter hoffte, daß Kathrins kühle Zurückhaltung nur mit dem Schock nach dem Unfall zu erklären war.

Aber die Tage vergingen und er sah nur Qual, Trotz und Ablehnung in Kathrins Augen. Oft waren sie rot und verschwollen, als hätte sie heimlich geweint. Es gelang ihm nicht, die Mauer zu durchbrechen, die sie um sich errichtet hatte.

Morgens um fünf Uhr riß Schwester Hilde die Patientin aus dem Schlaf. Sie verteilte die Waschschüsseln und Fieberthermometer und polterte gutgelaunt mit dem Wäschekarren.

Kathrin empfand Schwester Hildes lautstarke Anwesenheit als sehr störend. Vor allem störte es sie in ihrem tiefen Selbstmitleid, in das sie sich wieder hineingeflüchtet hatte.

»Auf, auf, junge Dame!« rief Schwester Hilde und stellte einen Rollstuhl neben Kathrins Bett. »So krank sind Sie nun nicht mehr, daß Sie sich wie eine alte Dame waschen lassen müssen. Ich rolle Sie jetzt ins Bad zur Morgentoilette.«

»Ich kann nicht aufstehen«, jammerte Kathrin und warf den Kopf zur Seite.

»Sie können sehr wohl aufstehen«, widersprach Schwester Hilde. »Sie wollen bloß nicht. Aber das haben wir gleich.« Sie zog Kathrin einfach die Bettdecke herunter. »Hopp, hopp, rein in den Stuhl. Sie sind jung und kräftig und haben nur ein kaputtes Bein. In ein paar Wochen ist alles verheilt. Es gibt Schlimmeres.«

Seufzend stemmte Kathrin sich hoch und hangelte sich hinüber zum Rollstuhl. Sie war wütend auf Schwester Hilde, die sie so forsch behandelte. Sie wollte Mitleid erregen, getröstet werden, sie wollte sich ihrem Weltschmerz ergeben. Statt dessen sollte sie sich selbst waschen, im Rollstuhl durch die Gänge fahren und tägliche Muskelübungen zur Kräftigung des Beines machen. Sie wollte aber endlich ihre Ruhe haben, nichts als Ruhe!

Mit verbissenem Gesicht saß Kathrin vor dem Waschbecken und begann mit ihrer Morgentoilette, während Schwester Hilde ihr Bett aufschüttelte.

»Sie können froh sein, daß Sie unserem Dr. Kilian unter die Hände gekommen sind. Er ist wirklich spitze! Er führt sehr komplizierte Operationen durch, sogar fast aussichtslose Fälle. Von den Patienten wird er verehrt, von den Ärzten bewundert. Doch er ist bescheiden geblieben, obwohl er ein schweres Los zu tragen hat«, plauderte Hilde, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Als vor drei Jahren seine Frau starb, brach für ihn eine Welt zusammen. Er stand mit drei kleinen Kindern allein da. Aber nicht, daß Sie glauben, er hätte nun den Kopf in den Sand gesteckt. Mit bewundernswerter Energie zieht er seine Kinder groß und arbeitet bis zum Umfallen im Krankenhaus. Unser Doktor ist wirklich einmalig.«

»Und er hat sich nicht wieder eine Frau gesucht?« fragte Kathrin vorsichtig.

»Nein, er lebt nur noch für seine Kinder und seine Patienten.«

›Da weiß ich aber etwas anderes‹, widersprach Kathrin im stillen.

»Dieser Mann hat einen Orden verdient. Aber so bescheiden, wie er ist, würde er ihn sicher nicht annehmen«, erzählte Schwester Hilde weiter. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Fertig! Sie können wieder in ihr Bett, wenn Sie wollen.«

»Allein?« fragte Kathrin entgeistert.

»Natürlich, oder soll ich Sie auf Händen tragen?« Sie lachte laut auf. »Heute nachmittag bekommen Sie noch jemanden aufs Zimmer, damit Sie nicht so allein sind.«

Auch das noch! Kathrins Gesicht verzog sich wieder. Was sie jetzt am allerwenigsten brauchte, war irgendeine zimperliche alte Dame, die ihr stundenlang ihre Krankengeschichte erzählte.

Schwester Hilde schob den Wäschewagen aus dem Zimmer und schloß die Tür. Kathrin war wieder allein. Am liebsten hätte sie laut losgeheult. Sie wollte sich über Schwester Hilde beschweren, weil sie so furchtbar unsensibel war. Ein richtiger Trampel! Doch bei wem sollte sie sich beschweren? Etwa bei Peter?

Seufzend und stöhnend hievte sich Kathrin wieder ins Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze hinauf. So blieb sie liegen, allein mit ihren Gedanken.

Die Ärzte und Schwestern und auch die Patienten schienen also große Stücke von Peter zu halten. Er war ein guter Arzt. Sollten Sie doch! Sie sind sicher nicht so von ihm enttäuscht worden wie Kathrin. Im Privatleben jedenfalls schien es ihm nichts auszumachen, mit den Gefühlen anderer zu spielen und falsche Hoffnungen zu nähren. So dachte zumindest Kathrin, und sie war sich sicher, daß es so war.

*

Am Nachmittag wurde ein zweites Bett in Kathrins Zimmer geschoben. Rundherum wurden verschiedene Geräte aufgestellt, an einem Gestell hingen zwei Infusionsflaschen. Zu ihrem Erstaunen gewahrte Kathrin im Nachbarbett ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sein Gesicht war schmal und blaß, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Ihre Beine und ein Arm waren dick verbunden und am Bettgestell festgebunden.

»So, Bettina, nun hast du alles überstanden, jetzt brauchst du bloß noch gesund zu werden. Und hier nebenan ist eine junge Frau, mit der du dich ein bißchen unterhalten kannst. Sie ist sehr nett.«

Die Schwester zog noch einmal die Bettdecke des Mädchens glatt und hängte die Klingel in die Reichweite ihres gesunden Armes. Dann verließ sie wieder das Zimmer.

Bettina wandte den Kopf zu Kathrin und versuchte ein schwaches Lächeln. »Hallo«, sagte sie leise.

Kathrin kroch ein wenig unter ihrer Decke hervor. »Hallo, Bettina«, antwortete sie. »Ich heiße Kathrin.«

»Hattest du auch einen Unfall?« wollte Bettina wissen.

Kathrin nickte. »Ja, einen schweren. Und da verlangt die Schwester, daß ich schon aufstehe.«

»Da sind wir ja Leidensgefährten. Ich wäre allerdings froh, wenn ich schon aufstehen könnte. Das wird wohl noch eine Weile dauern.«

»Wie ist das denn passiert?« wollte Kathrin wissen.

Bettina starrte zur Decke. »Ich lief auf der Straße und habe wohl geträumt. Und da war auf einmal die Straßenbahn…«

»Um Gottes willen!« Kathrin war entsetzt.

Bettina lächelte. »Ich hatte einen Schutzengel, hat Dr. Kilian gesagt. Und er ist auch ein Engel. Er hat mich sieben Stunden operiert, um alles wieder zusammenzuflicken. Stell dir vor, Kathrin, so lange hat das gedauert. Aber er sagte, ich werde wieder gesund und tanzen können.«

»Tanzen?«

»Ja, ich tanze für mein Leben gern. Ich möchte so gern Tänzerin werden.«

Langsam ließ sich Kathrin wieder auf ihr Kissen sinken. Tatsächlich, es gab Schlimmeres als ihr gebrochenes Bein und ihr Seelenkummer. Was wäre, wenn sich Bettinas Lebenstraum nicht erfüllen würde wegen dieses schrecklichen Unfalls? War es nicht eine wunderbare Lebensaufgabe, solchen Menschen zu helfen?

Kathrin wurde jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als sich die Tür öffnete und Dr. Kilian mit einem Ehepaar hereintrat. Es waren Bettinas Eltern. Peter beugte sich über Bettinas Bett.

»Hallo, kleine Ballerina, jetzt bist du über den Berg. Wie fühlst du dich?«

»Ein bißchen schwach, aber es geht mir gut.«

»Das freut mich. Du bist ein tapferes Mädchen. Ich werde dich jeden Tag besuchen, und du wirst jeden Tag einen kleinen Fortschritt machen.«

Bettinas Mutter ergriff Peters Hand. Sie weinte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, daß Sie unser kleines Mädchen gerettet haben«, schluchzte sie. »Wir haben doch nur Bettina! Sie ist unser ganzer Stolz. Ohne sie hätte unser Leben auch keinen Sinn mehr gehabt.« Wieder und wieder strich sie über Bettinas Kopf.

Peter legte der Frau den Arm um die Schultern. »Sie hatte sehr großes Glück, und ich habe getan, was in meiner Macht stand. Denken Sie nicht mehr an das, was geschehen ist. Schauen Sie nach vorn. Bettina braucht Ihre Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Weniger körperlich als seelisch. Auch die beste Therapie im Krankenhaus kann den Halt der Familie nicht ersetzen.«

Die Frau nickte tapfer und wischte sich mit dem Taschentuch die Augen. Der Vater stand mit bleichem Gesicht daneben und blickte sorgenvoll auf seine Tochter. Dann lächelte er. »Danke, Doktor. Sie haben auch uns wieder Mut gemacht.«

Peter nickte und wandte sich um. Er beugte sich zu Kathrin.

»Geht es dir gut?« fragte er leise und drückte verstohlen ihre Hand. Um seine Augen lag eine tiefe Müdigkeit, sein Gesicht war fahl. Kathrin gewahrte einige Fältchen um seine Augen, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Sie kämpfte gegen das plötzlich aufwallende Gefühl, ihn zu sich heranzuziehen, ihm übers Haar zu streicheln, seine müden Augenlider zu küssen. Im gleichen Moment beherrschte sie sich. Sie waren nicht allein im Zimmer. Aber das Wichtigste war, sie hatte kein Recht mehr, so etwas zu tun. Er gehörte zu einer anderen Frau.

Kathrin schlug die Augen nieder. »Danke«, murmelte sie.

»Ich muß noch einmal in den OP«, sagte er laut und verließ mit einem kurzen Nicken zu Bettinas Eltern das Zimmer. Kathrin starrte auf die weißlackierte Tür, hinter der Peter verschwunden war. Zum Teufel mit dieser Gefühlsduselei. Sie wußte, solange sie Peter sah, würde sie nie von ihm loskommen.

Bettinas Eltern saßen noch immer an ihrem Bett und sprachen beruhigend auf sie ein. Sie hörte Bettinas tapferes Lachen. Der Vater zog einen Teddybären aus einem Beutel und setzte ihn auf den Nachtschrank.

»Damit du wenigstens ein bekanntes Gesicht siehst«, sagte er, und Bettina freute sich.

»Aber ich bin nicht allein. Kathrin ist sehr nett, ich glaube, mir wird nicht langweilig.«

Nach einiger Zeit verabschiedeten sich Bettinas Eltern von ihrer Tochter und auch von Kathrin. »Und vielen Dank, daß Sie unsere Bettina aufmuntern. Sie kann es sicher gebrauchen, der Schock steckt ihr noch in den Knochen. Sie ist wirklich noch einmal davongekommen.« Jetzt beugte sich die Mutter zu Kathrin hinunter und flüsterte: »Zum Glück hat sie Dr. Kilian operiert. Er konnte gerade noch verhindern, daß beide Beine amputiert werden mußten. Für Bettina wäre es eine schreckliche Tragödie geworden. Ihnen auch alles Gute, Kathrin.«

Kathrin quälte sich zu einem Lächeln. Sie hatten ja alle so recht. Peter war wirklich ein wunderbarer Mensch. Und wie gern würde auch Kathrin ihm ihre Zuneigung zeigen. Aber dann sah sie immer wieder diese elegante Frau, und Tränen stiegen in ihre Augen. Warum, Peter? Warum?

»So ein Mist!« hörte sie Bettinas ärgerliche Stimme aus dem Nachbarbett.

Kathrin richtete sich erschrocken auf. »Was ist los, Bettina?«

»Ach, ich bin an das Nachtschränkchen gestoßen und mein Teddy ist heruntergefallen. Ich werde nach der Schwester klingeln.«

»Nein, nein, laß nur, ich hebe ihn auf.«

»Aber du kannst doch noch gar nicht aufstehen«, wunderte sich Bettina.

»Natürlich kann ich das. In drei Tagen bekomme ich meine Gehstützen, und bis dahin bin ich Rennfahrer im Rollstuhl.« Kathrin warf die Bettdecke beiseite und stemmte sich aus dem Bett. Mit einem Schnaufer ließ sie sich in den Rollstuhl plumpsen. »Na bitte, kein Problem für einen sportlichen Menschen wie mich.« Sie lachte. Mit den Händen bewegte sie die Räder des Rollstuhls und manövrierte sich an Bettinas Bett heran. Sie angelte den gestürzten Teddy hinter dem Nachtschrank hervor.

»Vielen Dank, Kathrin! Wenn ich dich nicht hätte!« Ein Lächeln erhellte ihr blasses Gesicht. Kathrin strich ihr übers Haar.

»Ich bin gern für dich da. Es ist schön, für einen anderen Menschen sorgen zu können.«

*

Nach zwei Wochen wurde Kathrin aus dem Krankenhaus entlassen. Ein anderer Arzt als Dr. Kilian stellte die Entlassungspapiere aus. Peter bekam sie nicht zu Gesicht. Er führte wieder eine komplizierte Operation durch. Kathrin war eigentlich froh darüber, dadurch fiel ihr der Abschied leichter. So verabschiedete sie sich nur von Bettina, die es bedauerte, daß Kathrin sie schon verließ. In den letzten Tagen waren sich die beiden nähergekommen. Es hatte Kathrin beglückt, der kleinen Bettina Mut zuzusprechen, wenn sie sich nicht so gut fühlte, und sie zu loben, wenn sie wieder einen kleinen gesundheitlichen Fortschritt gemacht hatte.

Ein Krankenwagen brachte Kathrin nach Hause. Mühsam, auf zwei Krücken gestützt, humpelte sie in ihre kleine Wohnung und ließ sich aufstöhnend aufs Sofa sinken. Der Gips reichte bis zum Oberschenkel, auftreten durfte sie damit noch nicht. Wie sollte sie den Haushalt bewältigen und Einkäufe erledigen? Resigniert preßte sie ihr Gesicht in ein Sofakissen.

Sie mochte etwa zwei Stunden so gelegen haben, als es an ihrer Wohnungstür schellte. Erstaunt erhob sie sich und hinkte zur Tür. Draußen stand Kai!

»Hallo, Kathrin. Ich dachte, du könntest jemanden gebrauchen, der dir ein bißchen hilft. Ich könnte zum Beispiel einkaufen gehen.«

»Das ist sehr nett von dir, Kai. Hat dich dein Vater geschickt?«

»Nein, er weiß es gar nicht. Er hat uns nur erzählt, daß du einen Unfall hattest und heute aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Es war ganz allein meine Idee«, fügte er stolz hinzu.

Kathrin lächelte und strich ihm über die weizenblonden Haare. »Ich danke dir, Kai. Ich kann wirklich eine Hilfe gebrauchen. Vor allem benötige ich Lebensmittel, die du einkaufen könntest.«

Sie schrieb einen Zettel mit einer Liste all der Dinge, die sie fürs erste benötigte. Kai ergriff Zettel, Geld und eine große Einkaufstasche und stürmte davon. Nachdenklich blieb Kathrin auf dem Sofa sitzen. Der Junge schien doch noch an ihr zu hängen, obwohl sie sich doch seit längerer Zeit bereits von der Familie zurückgezogen hatte.

Nach einer Stunde kehrte Kai zurück und packte seine Einkäufe auf den Küchentisch, legte den Kassenzettel dazu und rechnete das Wechselgeld auf den Pfennig genau ab.

»Das machst du wirklich toll«, lobte Kathrin. Sie schob ihm zwei Mark als Belohnung zu.

Empört wies Kai das Geld zurück. »Was glaubst du denn, wer bei uns zu Hause die Einkäufe erledigt? Vati kann sich hundertprozentig auf mich verlassen. Das ist

für mich selbstverständlich.« Wieder klang Stolz in seiner Stimme. »Sag mir nur, wo alles hinkommt, ich räume es schon weg.«

Kathrin saß auf dem Küchenstuhl und beobachtete Kai, wie er routiniert die Einkäufe in den Schränken verstaute.

»Okay, wenn du für heute nichts mehr für mich zu tun hast, gehe ich jetzt nach Hause. Morgen bringe ich Martin mit. Der kann gut Staub wischen, und mit dem Staubsauger kennt er sich auch aus. Ich werde Wäsche waschen.«

»Ja, kannst du denn das auch?« fragte Kahtrin erstaunt.

Kai schien schwer beleidigt. »Ich bin fast eine perfekte Hausfrau, hat Vati gesagt.«

»Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Ich weiß, daß du ein ganz toller Junge bist. Ihr seid beide ganz tolle Jungs!«

Von nun an kamen die beiden fast täglich, um Kathrin im Haushalt zu helfen. Kathrin fand, daß ihre Wohnung noch nie so sauber und aufgeräumt war. Kein Stäubchen lag auf den Möbeln, Kai erledigte täglich den Abwasch und manchmal kochte er auch. Rührei mit Schnittlauch, Bratkartoffeln mit Speck, Tütensuppen und Kartoffelmus mit Fischstäbchen waren seine Spezialität. Am besten kochte er Spaghetti und davon einen Riesentopf voll, daß sie alle drei Tage davon satt wurden.

»Sie schmecken wirklich toll«, lobte Kathrin. »Ich kriege sie nie so perfekt hin. Entweder sind sie zu hart oder zu weich.«

Kai grinste verschmitzt. »Das macht meine jahrelange Erfahrung«, meinte er altklug. »Ich erkenne es an der Farbe der Spaghetti. Wenn sie glasig aussehen, sind sie noch zu hart, wenn sie sich schuppen, sind sie zu weich.«

»Da kann ich ja wirklich noch von dir lernen«, staunte Kathrin.

Martin hatte ein Riesenpaket Filzstifte mitgebracht, um Kathrins Gipsbein zu dekorieren. Lachend ließ Kathrin es geschehen. Martin bemalte den Gips mit Andacht in allen Farben. Eine Sonne gab es, blauen Himmel, Bäume, einen See und grüne Wiesen. Am See saß eine Familie, ein riesiger Picknickkorb war nicht zu übersehen.

»Was malst du da?« fragte Kathrin.

»Was ich mir wünsche«, antwortete Martin.

»Und was wünschst du dir?«

Martins blaue Augen wurden groß. »Eine richtige Familie.«

»So? Ich dachte, ihr seid schon eine richtige Familie«, wunderte sich Kathrin. »Kai ist die perfekte Hausfrau, du stehst ihm in nichts nach und eine Frau habt ihr auch wieder im Haus.« Die letzte Bemerkung war Kathrin so herausgerutscht, und sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie wollte die liebenswerten Jungen nicht in ihren Herzschmerz hineinziehen.

»Ach, du meinst Tante Hella«, lachte Kai. »Die macht das Treiben noch ganz verrückt und bringt meinen ganzen Haushalt durcheinander. Aber sonst ist sie spitze.«

»Soso, Tante Hella«, murmelte Kathrin. Nun wußte sie, wie die elegante Dame hieß. Die Jungs schienen von ihr begeistert zu sein.

Kathrin ließ sich ihren Kummer nicht anmerken und betrachtete Martins Kunstwerk. »Eigentlich schade, daß der Gips wieder ab muß.«

»Du kannst ihn ja einfach dranlassen, wenn er dir gefällt«, schlug Martin vor.

»O je! So schön du ihn auch bemalt hast, ich bin trotzdem froh, wenn ich wieder richtig laufen kann.«

»Das verstehe ich.« Martin nickte ernst. »Aber dann brauchst du uns ja auch nicht mehr.« Er wurde traurig.

»Vielleicht gibt mir der Arzt den aufgeschnittenen Gips mit nach Hause, dann habe ich immer eine Erinnerung an euch.«

»Das ist eine tolle Idee!« jubelte Martin. »Vielleicht ist es sogar Vati, der dir den Gips aufschneidet.«

»Ja, vielleicht…«

Als die Jungs nach Hause gegangen waren, griff Kathrin zum Telefon. Ihre Kollegin Birgit mußte sie im Kinderschuhsalon vertreten.

»Hallo, Birgit, ich brauche dringend deine Hilfe!« sprudelte Kathrin los. »Bitte, bring mir heute abend noch zwei Paar Kinderstiefel, die braunen Wildleder mit dem Fellrand, einmal Größe fünunddreißig, einmal die achtunddreißig. Und noch ein Paar dieser roten Mädchenstiefel mit den Glitzersternen für eine Dreijährige… Legst du bitte das Geld aus? Und bring sie mir unbedingt noch heute abend, ja?«

»Was ist denn los? Willst du ein Konkurrenzgeschäft eröffnen?«

Kathrin lachte. »Keineswegs. Sie sind für meine Heinzelmännchen.«

*

Es war der Tag vor Heiligabend. Für Kathrin hielt er eine herbe Enttäuschung parat. Kai rief an. »Tut mir leid, Kathrin, aber heute müssen wir mit Papa Tante Hella vom Flughafen abholen. Sie war einige Tage in Rom und bringt bestimmt eine Menge Geschenke mit. Außerdem braucht sie immer so viele Koffer!« Kai lachte, während Kathrins Miene sich verfinsterte. »Sie wäre sicher böse, wenn wir sie nicht abholen würden«, plapperte er weiter. »Sie hat uns sehr gern. Aber wir kommen auch bald wieder zu dir!« Damit legte er auf.

Kathrin ließ den Hörer sinken. Tante Hella kam aus Rom, und da war selbst Kathrin für die Jungs uninteressant geworden. Eigentlich gab es, dank der fleißigen Hilfe von Kai und Martin, in Kathrins Haushalt kaum noch etwas zu tun. Aber Kathrin hatte sich so an die Gesellschaft der beiden liebenswerten Buben gewöhnt. Ihr gefiel das helle Kinderlachen in ihren sonst so stillen Wänden, sie mochte die Unterhaltung und den Spaß mit ihnen. Versonnen betrachtete sie ihr buntbemaltes Gipsbein. Wenn die Kinder nicht da waren, erschien ihre Wohnung so leer und sie fühlte sich einsam.

Auch am Heiligabend saß sie allein in ihrem Wohnzimmer. So gut es ging, hatte sie einen kleinen Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt. In einer Schale auf dem Tisch lagen Äpfel und Nüsse, aus der Stereoanlage erklang Weihnachtsmusik. Aber in Kathrin kam keine Weihnachtsstimmung auf. Voll Bitterkeit dachte sie an Peter und die Kinder. Die würden sich jetzt von der vornehmen Hella bescheren lassen, die Kinder ihre teuren Geschenke auspacken und selbstvergessen damit spielen. Und Peter würde den Arm um Hella legen, sie küssen und dann würden sie die Weingläser erheben…

Entschlossen hinkte Kathrin in die Küche. Seit einigen Tagen durfte sie das Bein etwas belasten und benutzte nur noch eine Gehstütze. Sie kippte eine ganze Flasche Glühwein in einen Topf, würzte ihn mit braunem Zucker, Nelken, Zimt und erhitzte alles vorsichtig. Heute wollte sie ihren ganzen Kummer hinunterspülen, heißer Glühwein erschien ihr an diesem kalten Wintertag das richtige Mittel.

Nach dem vierten Glas wurde ihr wunderbar warm und leicht zumute. Deshalb vernahm sie zuerst auch die Türklingel nicht. Erst als das Klingeln fordernder wurde, schreckte Kathrin hoch. Sie wunderte sich, wer sie zu dieser Stunde noch störte. Zögernd öffnete sie die Wohnungstür – und prallte zurück. Draußen stand Peter Kilian mit Jenny auf dem Arm, daneben Kai und Martin, alle mit roten Weihnachtsmützen auf dem Kopf. Und im Hintergrund gewahrte sie Hella.

»Fröhliche Weihnachten!« riefen alle wie aus einem Munde. Kathrins Augen wurden rund wie Christbaumkugeln, sie stand wie zur Salzsäule erstarrt.

»Dürfen wir reinkommen?« Peter lächelte unsicher.

»Ja, ja, natürlich«, stammelte sie und trat beiseite. Irritiert betrachtete sie den unerwarteten Besuch.

»Hm, es duftet nach Glühwein«, bemerkte Peter. Wortlos stellte Kathrin zwei weitere Gläser auf den Tisch.

»Bleib sitzen, Kathrin!« rief Kai. »Ich hole den Saft für uns Kinder.«

»Freust du dich über die Überraschung?« fragte Martin erwartungsvoll.

»Allerdings, das ist wirklich eine Überraschung.«

»Wir dachten, weil du doch Heiligabend so allein bist und dazu mit dem kaputten Bein, wollten wir dir Gesellschaft leisten. Und Hella wollte dich unbedingt kennenlernen«, sagte Peter.

Kathrin schob trotzig die Unterlippe vor und blickte Hella direkt in die Augen. Hella hatte sich wieder sehr elegant gekleidet. Sie trug ein rotes Kostüm – wie passend zu Weihnachten! – mit einem schwarzen Seidenshirt darunter. Eine goldene Kette lag schwer um ihren schlanken Hals, in den Ohrringen und dem Ring funkelten zueinander passende Aquamarine. Kathrin mußte neidvoll zugeben, daß die Farbe ihrer Augen sich mit dem

Blau dieser teuren Edelsteine vergleichen konnte. Das blonde Haar war zu einer kleidsamen Rolle am Hinterkopf gesteckt, und als sie lächelte, blitzten ihre perfekten Zähne wie zwei Reihen Perlen. Ein zarter Hauch eines teuren Parfüms umgab sie.

Kathrin fand für den Moment keine Worte darüber, daß Peter mit seiner Auserwählten am Heiligabend in ihr kleines privates Reich einbrach, sie sich gemütlich palzierten und diese Hella auch noch auf Kathrins Bekanntschaft neugierig war. Doch ehe Kathrin sich sammeln konnte, sagte Hella. »Ich hoffe, Sie verzeihen uns diesen Überfall. Die Kinder haben so von Ihnen geschwärmt. Und als wir heute so glücklich zu Hause beisammensaßen, mußten wir an Sie denken.«

»Wie großherzig«, murmelte Kathrin.

»Das Leben geht manchmal eigenartige Wege, nicht wahr?« Hella blickte sie aufmerksam an.

»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen«, erwiderte Kathrin.

»Nun, daß ein Schuhkauf sozusagen Schicksal spielt.«

»Welches Schicksal? Doch sicher nicht meines!«

»Ich glaube doch«, warf Peter ein. »Schließlich hat das Schicksal nochmals unsere Wege kreuzen lassen.« Er deutete auf Kathrins Gipsbein.

»Ein sehr grausames Schicksal«, erwiderte sie.

»Schmerzhaft wohl, aber nicht grausam. Ich garantiere dir, daß du bald wieder springen kannst wie ein Reh. Nach Weihnachten kommt der Gips ab, und Mitte Januar bist du wieder so gut zu Fuß, daß du unser Weihnachtsgeschenk in Empfang nehmen kannst.« Peters treuherziger Blick verunsicherte Kathrin und ihre Augen wanderten zwischen Peter und Hella hin und her. »Es ist

eigentlich Hellas Geschenk«, fügte Peter hinzu.

»Ich wüßte nicht, aus welchem edlen Grund Sie mir etwas schenken sollten.« Kathrin warf Hella einen feindseligen Blick zu. Und als Jenny auf Hellas Schoß kletterte und das Köpfchen an ihre Schulter lehnte, war es endgültig mit Kathrins Beherrschung vorbei. Tränen schossen in ihre Augen. Hella warf Peter einen hilfesuchenden Blick zu.

Sie hat ebensolche blauen Augen wie Peter, stellte Kathrin wütend fest. Oh, wie wunderbar die beiden zusammenpaßten. Wollten sie Kathrin ihr Hochzeitsfoto schenken? Goldgerahmt, mit Widmung? Darauf konnte sie gut und gerne verzichten.

»Hella lebt eigentlich in Rom, weil sie dort eine gutgehende Zahnarztpraxis führt.« Peter nahm das Gespräch wieder auf.

»Du willst dich also nach Italien verabschieden?« fragte Kathrin tonlos. »Dazu hättest du dich nicht herzubemühen brauchen.«

»Ich? Wieso? Keineswegs! Hella besitzt in der Schweiz ein kleines Chalet. Und weil wir dachten, daß du nach deinem Unfall etwas Erholung nötig hättest und ich nach den Turbulenzen im Krankenhaus ebenfalls, stellt sie uns ihr Häuschen für einen Urlaub zur Verfügung.«

Kathrin schwieg verblüfft. Das war ihr allerdings zu hoch, und sie konnte Peter nicht folgen.

Hella griff nach Peters Hand. »Vielleicht sollte ich es anders erklären. Peter hat mir viel von Ihnen erzählt. Aber bisher gab es ja keine richtige Gelegenheit, daß ihr euch näherkommt. Immer waren die Kinder dabei. So lieb die drei Racker sind, in manchen Situationen – nun ja, sagen wir mal – sind sie unerwünscht.« Sie lächelte. Kathrins Augen wurden immer größer. »Da dachte ich mir, ich nehme die Kinder für zwei Wochen zu mir nach Rom und ihr beide genießt die Einsamkeit im Engadin.«

Nun klappte Kathrin endgültig der Unterkiefer herunter und ihr Gesichtsausdruck muß so entgeistert gewesen sein, daß sogar Kai lachte.

»Übrigens, wir sollten du zueinander sagen. Schließlich hoffe ich, daß wir bald Schwägerinnen werden.« Hella streckte Kathrin ihre Hand entgegen.

»Schwägerinnen? Ich verstehe nicht…« Kathrin starrte auf Hellas ausgestreckte Hand.

»Kathrin, wieviel Glühwein hast du schon getrunken, daß du so begriffsstutzig bist? Dabei sagt man Hella und mir nach, daß wir uns sehr ähnlich sehen. Hella ist allerdings drei Jahre jünger als ich. Sie ist meine Schwester.«

Kathrin saß wie vom Donner gerührt. Natürlich, die Kinder sprachen immer von Tante Hella. Und Kathrin in ihrer kopflosen Eifersucht hatte nichts begriffen. Hätte sie genauer zugehört, wäre es sicher gar nicht zu diesem Mißverständnis gekommen. Mit einer Hand ergriff sie Hellas Hand, mit der anderen schlug sie sich an die Stirn.

»Ich bin ein kompletter Esel«, stöhnte Kathrin. Martin griente bis an die Ohren.

»Das war nicht für deine Ohren bestimmt, junger Mann!« Kathrin lächelte, und die Erleichterung war ihrem Gesicht anzusehen.

»Peter, holst du bitte den restlichen Glühwein aus der Küche? Kinder, schaut doch mal unter den Weihnachtsbaum, da liegen drei bunte Pakete…«

*

Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über die phantastische Bergwelt der Schweizer Alpen. Der tiefe Schnee funkelte und glitzerte, daß es in den Augen schmerzte. Das verträumte kleine Chalet lag auf einer Anhöhe mit einem traumhaften Blick über das Tal. Drinnen war es warm und gemütlich. Im Kamin knisterte ein Feuer und verbreitete eine anheimelnde Atmosphäre. Kathrins Wangen glühten von dem langen Spaziergang durch den Schnee, den sie mit Peter unternommen hatte.

»Wie geht es deinem Bein?« wollte Peter wissen. »Hast du noch Schmerzen?«

»Überhaupt nicht!« strahlte Kathrin. »Die Bewegung bekommt mir gut. Nur Skifahren traue ich mich noch nicht.«

»Du sollst es auch nicht übertreiben, denn schließlich habe ich noch allerhand mit dir vor.« Peter zog Kathrin in die Arme und blickte auf ihr kastanienrotes Haar, auf dem die Schneekristalle schmolzen. Die Wassertropfen funkelten wie kleine Perlen.

»Es ist traumhaft schön hier.« Kathrin war noch etwas außer Atem von ihrem Marsch. Sie hob das Gesicht und blickte Peter an. »Ich wünschte, dieser Urlaub würde nie vergehen.«

Peter beugte sich zu ihr hinab und suchte ihre Lippen. Kathrin streckte sich ihm entgegen und ergab sich dem wonnevollen Kribbeln in ihrem Bauch.

»Ich hole noch etwas Holz für den Kamin. Bereitest du uns einen Glühwein zu? Dann machen wir es uns gemütlich.« Peter verließ den Raum für einen Augenblick und packte sich den Arm voll Holzscheite aus dem Stapel, der vor der Hütte lagerte. Er blickte sich um. Die schneebedeckten Gipfel der Berge ragten majestätisch in den Abendhimmel. Die Sonne warf einen letzten goldenen Schein auf den Hang und färbte den Schnee wie Kupfer. Vom Dach des Chalet hingen Eiszapfen wie die Pfeifen einer Orgel. Die Luft war klar und frisch. Unter Peters Füßen knirschte der Schnee. Es würde eine kalte Nacht geben. Er packte noch einige Holzscheite auf seinen Arm.

Kathrin stand in der kleinen rustikalen Küche, die sich gleich neben dem Kaminzimmer befand und erhitzte den Glühwein. Zwei Gläser standen bereits auf dem groben Holztisch vor dem Kamin. Ein mit Fellen bedecktes Sofa lud zum Kuscheln ein.

Peter legte einige Holzscheite in den Kamin und schürte das Feuer an.

»Warte nur, die Nacht wird kalt, da wirst du froh sein, wenn im Kamin ein warmes Feuer brennt.«

»Und ich hoffte schon, daß du mich wärmst«, scherzte sie.

»Natürlich. Das ist im Service dieses Hotels inbegriffen.«

Kathrin drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Sie servierte den Glühwein und entledigte sich ihres dicken Wollpullovers.

»Ich fühle mich wie neugeboren«, schwärmte sie. »Ich bin deiner Schwester sehr dankbar, daß sie uns diesen wunderbaren Urlaub ermöglichte. Aber das beste daran bist du.« Sie lehnte sich an seine Schulter.

Peter legte den Arm um sie. Er genoß jeden Augenblick, wenn er Kathrin im Arm hielt, ihren wundervollen schlanken Körper fühlte und ihre Lippen küßte. Und er lernte Kathrins Natürlichkeit und Herzlichkeit mehr und mehr schätzen. Sie war ein wunderbarer Mensch. Er spürte es mit jeder Faser, daß sie die richtige Frau für ihn war.

»Bist du glücklich?« fragte er. »Ist es das, wovon du geträumt hast?«

»Es ist mehr, als ich zu träumen wagte. Nein, es ist anders. Ach, was war ich doch für ein dummes Mädchen mit all diesen naiven Träumen von teuren Kleidern, einem luxuriösen Leben. Es waren Träume vom Laufsteg der Eitelkeit. Jetzt weiß ich, daß es noch viel schönere Dinge gibt, nämlich die Liebe.«

»Seit einer Woche sind wir nun schon hier. Vierundzwanzig Stunden am Tag sind wir zusammen. Bist du meiner noch nicht überdrüssig?« fragte er.

»Niemals! Ich möchte keine Sekunde davon missen. Ich wußte ja gar nicht, was es bedeutet zu lieben, einem Menschen so nahe zu sein. Es ist eine wunderbare Vertrautheit. Peter, halt mich fest und laß mich nie wieder los.«

Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuß, und Kathrin wußte, daß sie sich von nun an nie wieder trennen würden. Nur zögernd löste sie sich von ihm. Sie hatten ja so viel nachzuholen.

Kathrin blickte versonnen ins prasselnde Feuer. »Es ist schon eigenartig. Ich habe mir immer gewünscht, mit dir ganz allein zu sein, dich völlig für mich zu haben.«

»Hast du doch. Was fehlt dir denn noch zum Glück?«

»Die Kinder. Ohne sie fehlt irgend etwas.«

»Den Kindern geht es bei Hella gut, mach dir um sie keine Sorgen.«

»Ich mach mir keine Sorgen um die Kinder, ich vermisse sie einfach. Sie gehören doch zur Familie dazu.«

Peter schaute sie lächelnd an. »Empfindest du das so?«

»Aber natürlich. Und ich freue mich auf die Rückkehr, um sie in die Arme zu schließen.«

»Wußtest du, daß Martin jetzt Bergsteiger werden will, um uns notfalls zu retten, wenn uns eine Lawine überrollt?«

Kathrin lachte. »Das sieht ihm ähnlich. Ich hätte gar nichts dagegen, noch ein Weilchen mit dir eingeschneit zu bleiben. Aber ich freue mich auch auf die Kinder, auf das Leben in der Familie.« Sie rieb ihre Nase an seiner. »Ach, Peter, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin! Dabei dachte ich, das Glück kommt immer nur zu anderen, aber nie zu mir.«

»Siehst du, wie du dich geirrt hast. Manchmal kommt das Glück eben nicht in großen Schritten, sondern auf kleinen Füßen daher.«

Mami Staffel 10 – Familienroman

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