Читать книгу Mami Staffel 13 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 6
ОглавлениеBürgermeister Wagenfeld sah wütend auf, als an der Tür geklopft wurde.
»Ich will nicht gestört werden«, brüllte er. Die Tür öffnete sich trotzdem. Aber als er seine Tochter sah, strahlte er über das ganze Gesicht.
»Laura. Das ist mal eine gelungene Überraschung. Komm her, Töchterchen, laß dich ansehen.«
Leider trug sie wieder ihre scheußlichen Jeans, wo er sie doch so gern in eleganten Kleidern sah. Aber sonst konnte man an einem Mädchen, das aussah wie Laura, nichts auszusetzen haben.
»Gut siehst du aus. Dein Gesicht ist genauso braun wie deine Haare.« Komplimente zu machen, verstand er nicht. »Der Urlaub im Schnee muß dir gutgetan haben. Setz dich, Töchterchen.«
Er zeigte auf den Ledersessel, der nahe neben seinem Schreibtisch stand. Vor einer Stunde hatte ein Herr vom Ministerium darin gesessen. Johannes Wagenfeld war auf dem besten Weg, eine bekannte Persönlichkeit zu werden.
»Was macht das Studium?« Laura bemerkte amüsiert, wie er gequält den Mund verzog. Sie wußte, daß er sich mit ihrem Studium nie abfinden würde. Es hatte harte Kämpfe gegeben, bis er bereit gewesen war, das Studium
zu finanzieren. Kunststudentin! Wenn er gefragt wurde, was studiert Ihre Tochter, gab er immer eine ungenaue Antwort. Kunststudenten waren in seinen Augen Menschen, mit denen ein anständiges Mädchen aus gutem Hause nicht verkehrte.
Und jetzt war sie selbst eine von ihnen.
»Danke, Papa. Ich bin zufrieden.«
»Hoffentlich sind es deine Lehrer auch. Du warst so ein braves Mädchen, Laura. Und dann warst du plötzlich wie ausgewechselt. Ich hätte es so gern gehabt, wenn du meine Sekretärin geworden wärst. Immer hab’ ich davon geträumt. Ich sah dich in meinem Vorzimmer sitzen. Du wärst für meine Arbeit ein gutes Aushängeschild.«
Mit einer anmutigen Bewegung strich sie das braune Haar aus der Stirn. Er kannte sie sehr gut, manchmal konnte er sogar ihre Gedanken lesen. Er musterte sie aufmerksam.
Etwas hatte sie auf dem Herzen.
»Dann hättest du mich wunderbar unter Aufsicht gehabt, Papa.« Vermutlich sollte es lustig klingen, aber in ihrer Stimme war ein Unterton, der ihm nicht gefiel.
»Laura, du bist doch nicht in mein Büro gekommen, weil du es vor Sehnsucht nach deinem Vater nicht mehr ausgehalten hast. Für gewöhnlich holst du mich nur vom Büro ab, wenn du uns besuchen kommst.
Was ist also? Heraus mit der Sprache.«
Sie hatte wunderschöne braune Augen. Nur der Kummer, den er darin zu lesen glaubte, paßte ihm nicht.
»Papa, ich bekomme ein Kind.«
Er hatte gerade den Mund zu einem Scherz geöffnet. Er vergaß ihn zu schließen.
Seine Ohren hatten die Worte aufgenommen. Aber sein Verstand weigerte sich, daran zu glauben.
»Du…«
»Ich bekomme ein Kind«, sie betonte jedes Wort, als wollte sie es in seinem Kopf hämmern.
»Dieses verdammte Studium«, würgte er hervor. Sein ohnehin schon rotes Gesicht nahm eine beängstigende Färbung an. »Ich war von Anfang an dagegen…« Seine Stimme wurde lauter. Er beherrschte sich nur mühsam.
»Darum bist du in mein Büro gekommen«, zischte er wie eine zum Biß bereite Schlange. »Du weißt genau, daß ich mich hier beherrschen muß.«
»Das war nicht der Grund. Ich wollte Mama schonen.«
»Das ist ja interessant«, höhnte er. Ihm war, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. »Sie willst du schonen! Und mich? Denkst du vielleicht auch an mich?« Seine Stimme war lauter geworden. Er dämpfte sie nur mühsam. »Wer ist der Kerl?«
»Er ist kein Kerl. Den Namen sage ich dir nicht.«
Furchtlos hielt sie seinem Blick stand. Jetzt hatte sie keine Angst mehr. Sie hatte es gesagt, jetzt mußte sie abwarten.
Es dauerte einen Moment, bis er seine Sprache wieder gefunden hatte. Die Luft war ihm fortgeblieben.
»Ich will den Namen wissen! Was für einen Beruf hat er? Wird er dich heiraten?«
Sie kräuselte ein wenig den Mund. Oh, dieses Mädchen brachte ihn zum Wahnsinn.
»Das weiß ich nicht, ob er will. Ich jedenfalls will nicht. Aber ich will das Kind bekommen, ich werde nicht abtreiben. Und ob du es glaubst oder nicht, ich freue mich sogar darauf.«
Er stemmte sich aus dem Sessel und ließ sich im nächsten Moment wieder zurückfallen. Sein dunkelrotes Gesicht verkrampfte sich, seine Augen glühten, seine Stimme klang unheimlich in seiner Wut.
»Was du tust und was du nicht tust, das bestimme ich, kapiert? Ich stehe im Rampenlicht, alle hier im Ort schätzen mich. Ich bin ihnen ein Vorbild. Ich bin im Pfarrausschuß… das weißt du alles. Ich lasse nicht zu, daß man mit den Fingern auf uns zeigt…«
»Papa, bist du denn von gestern?« Ihre Augen funkelten nicht weniger wütend als seine. »Früher war es sicherlich eine Schande oder ein furchtbares Verbrechen, heute denkt man doch großzügiger darüber.«
»Mit man meinst du wohl deine Kunststudenten und die Kerle, mit denen du verkehrst.« Ihm war so elend zumute. Seine Tochter! Seine Laura. Auf die er so stolz war, mit der er so große Pläne hatte. Wie glücklich war er gewesen, als der Sohn des Gutsherrn Laura den Hof machte, als er in seinem Haus ein und aus ging und niemand daran zweifelte, daß aus den beiden ein Paar wurde.
»Papa, hör auf.«
»Ich höre nicht auf. Auf keinen Fall dulde ich, daß du ein Kind zur Welt bringst und nicht verheiratet bist.«
»Ich bin gespannt, wie du das verhindern willst.«
»Reize mich nicht. Ich bin außer mir. Das ist die Erziehung deiner Mutter. Sie hat dich einfach zu viel verwöhnt.«
»Ich wußte, daß du Mama die Hölle heiß machen wirst. Das paßt zu dir. Wenn alles gutgeht, bin ich deine Tochter, sonst ihre. Papa, ich heirate nicht und ich bekomme mein Kind.«
»Laura, wir beide müssen uns jetzt um Ruhe bemühen. Gut, daß du zu deinem Vater gekommen bist, der wird schon Rat schaffen.« Er versuchte sogar ein Lächeln. Er horchte ins Nebenzimmer hinüber. Die Schreibmaschine klapperte schon eine ganze Weile nicht mehr. Die beiden Mädchen würden doch wohl nicht lauschen?«
So schnell es seine Leibesfülle gestattete, stand er auf und öffnete die Tür. Die beiden Sekretärinnen saßen an ihren Tischen und sahen ihn an.
»Fräulein Sauer, kochen Sie meiner Tochter und mir doch bitte einen Kaffee.«
Er setzte sich wieder. Er ist viel zu dick, dachte Laura und musterte sein rotes Gesicht besorgt. Der Vater war immer ein Tyrann gewesen. Lauras Mutter hatte es schon längst aufgegeben, eine eigene Meinung zu haben oder ihm die Stirn zu bieten.
Und trotzdem liebte Laura ihren Vater. Er hatte ja nicht nur schlechte Eigenschaften, er konnte auch sehr lustig sein, war gesellig, man konnte gut mit ihm Schach spielen, das und vieles mehr hatte er ihr beigebracht.
Wenn alles lief, wie er es liebte, war er ein guter Vater und sicher auch ein guter Ehemann. Es mußte nur alles nach seiner Mütze gehen.
Der Kaffee wurde gebracht. Laura und Fräulein Sauer kannten sich natürlich. In dem kleinen Dorf kannte jeder jeden, es gab kaum etwas, das der eine nicht vom anderen wußte.
»Wo waren Sie zum Skifahren, Laura?« wollte sie wissen, während sie Laura die Tasse reichte.
»In Ischl. Wunderbarer Schnee, gutes Wetter.«
»Das sieht man Ihnen an. Ganz neidisch kann man werden, wenn man Ihre Bräune betrachtet.«
Sie hätte gern noch ein Weilchen geplaudert. Aber leider wurde sie nicht zum Bleiben aufgefordert.
»So, Laura, jetzt reden wir mal in aller Ruhe«, schlug der Bürgermeister einen väterlichen Ton an. Er rührte so heftig in seiner Tasse, daß ein Tropfen Kaffee auf die Akte fiel. Er bemerkte es nicht einmal.
»Du hast recht, ein Kind braucht keine Katastrophe zu sein. Wir lassen es auch zu keiner kommen. Sag mal, bist du noch manchmal mit Harro Erdmann zusammen? Er hat die Landwirtschaftsschule besucht.«
»Ich habe ihn hin und wieder gesehen, Papa. Warum willst du das wissen? Hoffst du, daß er der Vater ist?«
»Ja, das wünsche ich mir, du brauchst gar nicht so spöttisch lächeln. Harro ist ein Ehrenmann, der würde dich vom Fleck weg heiraten… dann würdest du ganz in unserer Nähe sein. Das Gutshaus ist für Harro und seine Eltern viel zu groß. Erst neulich sagte mir Herr Erdmann, daß Harro endlich heiraten soll.«
Er sah, wie ihre langen Wimpern zitterten.
»Warum erzählst du mir das, Papa?«
Er schob die Tasse zurück und beugte sich über den Schreibtisch. Beschwörend musterte er das trotzige Gesicht seiner Tochter.
»Ganz bestimmt ist er noch immer verliebt in dich, Laura. Du brauchst nur ein wenig nett zu ihm zu sein, ihm entgegenkommen… Laura…«
»Hör auf, Papa. Ich soll Harro schöne Augen machen, damit ich einen Vater für mein Kind habe? Was denkst du von mir? Ich könnte mir selbst nicht mehr in die Augen sehen, wenn ich so eine Gemeinheit auch nur plante. Vermutlich soll ich ihm nicht einmal sagen, daß ich ein Kind bekomme? Ein Kind von einem anderen?
Harro ist ein feiner Kerl. Er verdient eine Frau, die ihn liebt. Und ich liebe ihn nicht.
Hör auf Pläne zu schmieden, ich…«
»Jetzt höre mir gut zu. Und was ich jetzt sage, das gilt, daran wird niemand, hörst du, niemand etwas ändern können.
In meinem Haus bekommst du ein Kind ohne Vater nicht. Wenn du fragen willst, ob du in meinem Haus leben kannst, dann sage ich nein. Dann ist mein Haus dein Elternhaus gewesen. Dann sagen wir uns los von dir.
Und daß Mama genauso handelt, dafür sorge ich.«
»Wie gut, daß du nicht sagst, genauso denkt.« Ihr war elender, als sie zeigen durfte. Nein, damit hatte sie nicht gerechnet. Daß er toben, schimpfen würde, damit natürlich.
»Du verbietest mir also mein Elternhaus? Du wirfst mich ’raus?«
»Wenn du nicht heiratest, ja. In meinem Haus ist für solch ein Mädchen kein Platz. Wir sind ein christliches Haus, wir…«
»Jetzt laß mich reden. Gut, ich akzeptiere deinen Befehl. Ich gehe und komme nicht zurück. Aber vorher will ich dir sagen, was ich von einem Mann halte, der handelt wie du.
Du glaubst von dir, daß du die Moral gepachtet hast, du hältst dich für etwas Besonderes. – Deine Moral ist Falschheit, du hast Angst, daß man über dich spricht. Du bist besessen von dem Wunsch, Erfolg zu haben. Du opferst dein Kind dem äußeren Schein. Um Himmels willen, daß nur kein Stäubchen auf deine Unfehlbarkeit fällt. Nach außen hin muß alles stimmen.
Auf deine Moral, Papa, pfeife ich! Meinst du nicht, daß auch in deinem Leben Dinge passiert sind, die du gern ungeschehen machen möchtest? Meinst du wirklich, du hast nur Freunde?
Keine Angst, ich werde deine Haltung nicht an die große Glocke hängen. Ich bin sicher, dann würden sehr viele mit Fingern auf dich zeigen und erklären, daß sie auf einen so hartherzigen Bürgermeister verzichten können. Deine Haltung würden vielleicht einige sogar für unmoralisch halten.
Du brauchst nichts mehr sagen. Du hast schon viel zuviel gesagt. Bringen wir die Sache hinter uns. Ich habe von Großmutter ein kleines Vermögen geerbt. Du hast es verwaltet. Ich möchte es ausgezahlt haben. Ich fahre jetzt zu Mutter…«
»Hetze sie nur nicht auf«, schnaubte er. Die Ruhe seiner Tochter war ihm unheimlich. Aber gleichzeitig hatte er Angst, jemand könnte sie hören.
»Ich packe einige Sachen ein, die mir gehören. Ich lasse mir nicht verbieten, mit Mutter in Kontakt zu bleiben. Und wenn du wagen solltest, sie daran zu hindern, dann setze ich einen Artikel in die Zeitung, so wahr ich hier sitze, tu ich das. Ich hab dich sehr lieb gehabt, Papa… aber jetzt schäme ich mich für dich. Ich fahre noch heute abend. Du kannst das Geld auf mein Sparbuch buchen lassen.«
Die ungesunde Röte war aus seinem Gesicht gewichen. Aschfahl war es geworden.
Er räusperte die Enge aus der Kehle.
»Deinen monatlichen Scheck bekommst du selbstverständlich.«
»Wenn wir miteinander brechen, dann ganz. Dein Geld brauche ich nicht. Du kannst es ja in den Klingelbeutel werfen, am Sonntag in der Kirche, aber so, daß es jeder sieht.«
»Werde nicht unverschämt. Ich verbiete dir…«
»Du kannst mir gar nichts mehr verbieten, Papa. Du hast mich aus dem Haus geworfen, du hast das Band zerschnitten. Wir beide haben uns nichts mehr zu sagen. Doch, etwas will ich noch klären. Ich weiß aus Erfahrung, wie ungerecht du sein kannst. Solange ich mich erinnern kann, hast du dich auf Kosten von Mamas Nerven abreagiert. Du solltest einmal anfangen, dich zu kritisieren. Da hast du Arbeit genug. Ich habe mit dieser Haltung nicht gerechnet, ich habe nicht geglaubt, daß dir die Meinung der Leute wichtiger ist als deine Tochter. Ich wünsche dir nur, daß du diesen Entschluß nicht bereust.«
Sie drehte sich um und ging zur Tür. Er wollte aufstehen, sie zurückhalten. Aber er saß da, wie gelähmt. Seine Glieder gehorchten ihm nicht.
Sie öffnete und schloß die Tür. Er hörte sie im Vorzimmer reden.
Und dann hörte er nichts mehr.
Stille umfing ihn. Aber es war keine Stille, die Behagen brachte, es war eine Stille, die Panik schuf. Ihm war, als habe sich sein vertrautes Zimmer verändert, als lauerte Angst in den Winkeln.
Ich bin doch im Recht, redete er sich ein. Ich bin es doch, der die Moral hochhalten muß. Wie unverschämt sie war, gar nicht mehr die Tochter, die er kannte.
Er umklammerte seinen Kopf mit beiden Händen.
*
»Bitte weine nicht, Mama.« Dabei liefen Laura selbst die Tränen über die Wangen. Sie saßen in dem behaglichen Biedermeierzimmer, Laura hielt beide Hände der Mutter.
»Kind«, Lauras Mutter war eine sehr gepflegte Dame, darauf legte Herr Wagenfeld großen Wert. Tränen tropften auf die kostbare Seidenbluse. »Laura, wer ist der Mann? Könntest du ihn denn nicht heiraten?« Ängstlich musterte sie das traurige Gesicht der Tochter. Jedes Opfer würde sie für ihr Kind bringen, nichts wäre zu schwer.
»Nein, Mama, das kann ich nicht.«
»Liebst du ihn nicht?« Laura spürte, wie sehr die Hände der Mutter zitterten.
Laura zwang sich zu einem Lächeln.
»Mama, ich habe nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Aber es gibt sie. Ich will dir nur ein wenig erzählen, damit du mich besser verstehst. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich auch verurteilst.«
»Liebes, du mußt Vater verstehen…«
»Oh, ich verstehe ihn gut«, erklärte Laura bitter. »Die Meinung der Leute ist ihm wichtiger als seine Tochter. Er verurteilt sofort.
Mama, gleich am ersten Urlaubstag fuhr ich mit ihm den Lift hinauf, zum Paulinerkopf. Und von der Minute an waren wir immer zusammen. Ich… ich habe mich vom ersten Augenblick an in ihn verliebt.«
»Und er?« Die wunderschönen braunen Augen hatte Laura von ihrer Mutter geerbt. Sie lächelten ein wenig. Lauras Gesicht hatte die Bitterkeit verloren, ihre Augen strahlten. Aber sofort legte sich wieder ein Schatten über das schöne Gesicht.
»Er auch, Mama. Ja, er auch«, setzte sie heftig hinzu.
»Wo liegt denn da ein Hindernis, Liebste? Habt ihr euch gezankt, hattet ihr eine Meinungsverschiedenheit? Laura, ich kenne dich schließlich. Du bist genauso ein Hitzkopf wie dein Vater. Wenn du ihn wirklich liebst, mußt du auch nachgeben können. Da ist Stolz völlig fehl am Platz.«
Sie löste sanft ihre Finger aus den Händen der Mutter. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongelaufen. Es war furchtbar schwer, daran zu denken, noch schwerer, darüber zu sprechen.
Ihre Blicke wanderten durch das behagliche Zimmer. Das Wienerzimmer nannte man es im Haus. Hier standen all die Möbel, die Frau Wagenfeld aus ihrem Elternhaus mitbrachte. Es waren kostbare Einzelstücke, man sah ihnen an, wie sorgfältig sie gepflegt wurden. In diesem Raum hielt sich Frau Wagenfeld am liebsten auf, und wenn Laura im Haus war, saßen sie oft in den alten Sesseln, die ein wenig seufzten, wenn man sich hineinfallen ließ.
»Du mußt es mir nicht sagen, Liebes«, drang die weiche Stimme der Mutter in Lauras Kummer hinein.
Laura krampfte die Hände zu Fäusten, öffnete und schloß sie wieder.
»Es war nur eine Urlaubsliebe, Mama.« Frau Wagenfeld ließ sich von dem gleichmütigen Ton Lauras nicht täuschen.
»Laura, du mußt ihn schon sehr lieb gehabt haben, wenn du… nun, wenn du über deinen eigenen Schatten gesprungen bist. Wirst du ihm schreiben, daß du ein Kind von ihm erwartest?«
Sie verzog bitter den Mund. »Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht. Ich habe gar nicht seine Adresse.«
Nein, auch der Mutter konnte sie nicht von ihrem Kummer erzählen, nicht von dem Morgen, als sie in sein Hotel kam, um ihn abzuholen. Für diesen Tag hatten sie eine Fahrt zur Heidelbergerhütte geplant.
»Herr Hartinger ist heute morgen abgereist«, hatte der Portier ihr gesagt.
Sie stand da, begriff nur mühsam, was der Mann sagte, der sie voll Mitleid musterte, daß ihr zum Glück der Stolz zu Hilfe kam.
Sie war aus dem Hotel geflohen, so lange der Portier ihr nachsah, langsam, in aufrechter Haltung. Aber draußen wäre sie beinahe zusammengebrochen. Es lag nicht nur an den schweren Skischuhen, daß sie sich zu ihrem Auto schleppte. Es war, als wäre alle Energie aus ihrem Körper geflossen. Sogar ihre Augen schienen blind zu sein.
Sie sah nicht, wie strahlend blau der Himmel war, wie die Sonne auf dem Schnee glitzerte, als ruhten Diamanten darin.
Sie war in ihr Hotel gefahren, sie hatte gepackt, noch am gleichen Morgen war sie fortgefahren.
Und schon da spürte sie, daß sie ein Kind in sich trug.
Von einem Mann, der in ihr nur eine Urlaubsliebe gesehen hatte. Nicht mehr. Der fortfuhr ohne eine Zeile.
Einfach fort.
Vermutlich war er verheiratet. Ein Mann der so gut aussah wie er, lief bestimmt nicht mehr frei herum. Wahrscheinlich war er Vater von mehreren Kindern… und würde Laura Wagenfeld schnell vergessen haben.
»Tut es sehr weh, Laura?« Die weiche Stimme der Mutter drang in Lauras Verzweiflung ein. Nicht einmal von der Mutter ertrug sie Mitleid.
»Ich habe es mir selbst zuzuschreiben«, erklärte sie heftig. »Ich habe die Sache einfach zu ernst genommen, Mama. Aber ich bereue nichts«, setzte sie hinzu. Sie bekam wieder das trotzige Gesicht, das Frau Wagenfeld gut kannte. »Früher habe ich über die Mädchen gelacht, die sich Hals über Kopf verliebten und dabei den Verstand ausschalteten. Jetzt ist es mir selbst passiert. Er war genauso, wie ich mir immer meinen Partner wünschte. Man konnte mit ihm herrlich lachen, man konnte über alles mit ihm reden. Er nahm genau wie ich begeistert die Schönheit der Berge auf. Ach, Mama, einmal waren wir von der Piste gekommen, wir nahmen eine Abkürzung durch ein kleines Wäldchen. Abrupt blieb Julian stehen, ich wäre beinahe in ihn hineingefahren.
Ein Reh stand auf dem Weg, es wollte fortlaufen, aber es konnte nicht. Es hatte sich am Bein verletzt. Mama, wenn ich mich nicht schon vorher in ihn verliebt hätte, spätestens da hätte es gefunkt. Du hättest sehen sollen, wie behutsam er das Tier aufnahm, mir gab er seine Stöcke. Er hat das Tier ins Tal gebracht, nach dem nächsten Tierarzt gefragt. Aber es gab keinen im Dorf. Er mußte bis Landeck fahren. Der ganze Nachmittag ist damit draufgegangen, und das bei wunderbarem Wetter und herrlichem Pulverschnee.«
»Ich glaube, dein Kind hat einen Vater, auf den es stolz sein kann. Selbstverständlich wirst du hier bleiben, Laura. Du wirst hier dein Kind bekommen, mein Enkelkind.«
»Du sagst das so kriegerisch, Mama. Natürlich weißt du, daß damit euer Seelenfrieden zum Schornstein herausfliegt. Nein, Mama«, Laura stand auf, schlang ihre Arme um den Hals der Mutter und drückte sie zärtlich.
»Das Leben wäre dann die Hölle für dich. Das weißt du auch. Nein, Mama, niemand hat das Recht, das Leben des anderen schwer zu machen, auch Kinder nicht. Ich bin gesund, ich freue mich auf mein Kind. Ich sage noch einmal, ich bereue nichts. Ich werde gut allein fertig werden.«
»Laura, kannst du dich nicht geirrt haben?«
»Nein, Mama.« Ein Lachen flog über Lauras Gesicht. »Du weißt, Mama, daß ich mit beiden Beinen auf der Erde stehe. Ich spinne nicht. Aber als Julian und ich, ich meine, ich wußte seltsamerweise sofort, daß ich ein Kind bekomme. Du darfst mich ruhig auslachen.«
»Danach ist mir nicht zumute«, seufzte Frau Wagenfeld unglücklich. Sie strich das Haar, das weiß geworden war, an den Schläfen zurück und überlegte verzweifelt.
»Aber Laura, ich kann dich doch nicht gehen lassen.«
»Doch, Mama, du mußt es sogar. Hast es nicht immer gepredigt, daß Eltern ihre Kinder loslassen müssen? Daß sie nicht klammern dürfen. Siehst du, jetzt ist für dich der Augenblick gekommen. Aber ich verspreche dir, ich werde dich immer auf dem Laufenden halten. Du wirst immer von mir hören.«
»Ich lasse dich erst gehen, wenn du mir dein Ehrenwort gibst. Wenn du Hilfe brauchst, läßt du es mich wissen?«
»Ich verspreche es.«
»Ich will bei dir sein, wenn das Kind kommt, ganz gleich, wo du bist. Und wenn du dich am Nordpol versteckst, ich komme.«
»Da ist es mir viel zu kalt.« Laura wollte lachen, aber es wurde ein Weinen daraus.
»Es ist nur, Mama, weil ich das Abschiednehmen nicht gelernt habe«, schluchzte sie.
*
Die Hitze brütete zwischen den Häusern, lag wie ein Bleigewicht in den Straßen. Wer nur eben konnte, kehrte der Stadt den Rücken und floh aufs Land oder zum See hinunter.
Laura bummelte langsam durch den Stadtpark. Auf den Bänken saßen Mütter, während die Kleinen im Sandkasten spielten. Kinderlachen füllte die Luft. zwei Enten watschelten über den Rasen. Ein kleiner Wicht setzte sich vor Staunen auf den Hosenboden.
Ein sehnsüchtiges Lächeln spielte um Lauras Mund. Sie war jetzt im fünften Monat. Die anfänglichen Unpäßlichkeiten hatte sie hinter sich. Es ging ihr prächtig, es machte ihr nicht einmal etwas aus, daß sie in den letzten Wochen einsam geworden war.
Natürlich sah man ihr den Zustand an. Das schaffte eine Kluft. Das Reden der anderen ging ihr auf die Nerven, nicht einmal am Unterricht hatte sie Lust.
Laura blieb vor dem Eckhaus stehen. Antiquität Poppel stand kaum leserlich über dem Schaufenster. Man konnte kaum durch die Scheiben sehen, so schmutzig waren sie.
Aber Herr Poppel hatte sie trotzdem erspäht.
»Ich dachte, Sie wären ausgewandert, so lange haben Sie sich schon nicht mehr bei mir blicken lassen«, rief er ihr vorwurfsvoll entgegen. Herr Poppel und Laura waren alte Freunde. Im ersten Semester hatte Laura das Geschäft erspäht, aus dem verstaubten Trödel hatte sie eine Figur ausgegraben. Echt Meißen. Herr Poppel hatte sie vergessen gehabt.
In regelmäßigen Abständen besuchte Laura ihn, schleppte oft Studienfreunde mit. Durch Laura war ein wenig Schwung in seinen Laden gekommen, und auch ihn hatte sie aufgemuntert.
»Aber jetzt bin ich da«, lachte sie und gab ihm die Hand. Er zog sie in den Laden und schloß rasch die Tür, als hätte er Angst, sie könnte es sich anders überlegen. Seine Augen musterten sie gründlich.
»Gut sehen Sie aus.«
»Mir geht es auch gut.« Sie schnupperte den vertrauten Geruch mit Vergnügen in sich hinein. Dabei roch es nach Staub und ungelüftetem Raum, aber auch der feine Geruch nach Politur und Wachs mischte sich darunter.
»Von Ihnen kann man’s nicht sagen, Herr Poppel. Ist etwas?«
»Mich plagt das Rheuma heftiger als sonst. Und das bei der Hitze. Seit vorgestern hat sich kein Kunde mehr hierher verirrt. Es ist ein Kreuz. Aber jetzt sind Sie da!« Er freute sich sichtlich. Sein Gesicht wirkte gelblich, und er hielt sich noch krummer als sonst.
»Die Teekanne ist frisch gefüllt. Kommen Sie, gehen wir in mein Zimmer.« Sein Zimmer war ein winziger Raum, im Winter bullerte der Kanonenofen, der mitten im Zimmer stand. Aber die beiden Sessel und der wunderschöne Tisch mit der kostbaren Einlegearbeit waren zum Verlieben schön. Kaum einer kannte diese Prachtstücke, nur selten lud Herr Poppel jemanden in dieses Zimmer ein.
»Oder dürfen Frauen in Ihrem Zustand keinen Tee trinken?« fragte er besorgt.
»Mein Zustand ist eben nur ein Zustand und keine Krankheit.«
Mit einem Tuch staubte er den Sessel ab. »Sie haben so ein hübsches Kleid an«, entschuldigte er sich. »Hier ist nämlich schon lange nicht mehr geputzt worden.«
»Das sieht man. Vermutlich haben Sie auch schon lange nicht mehr anständig gegessen. Sie sind dünner geworden.«
»Was liegt an mir«, wehrte er ab. So niedergeschlagen kannte sie ihn nicht. Ängstlich betrachtete sie ihn. Der dunkle Anzug schlotterte um seine magere Figur, der Hals ragte dünn und viel zu lang aus dem weißen Kragen, der ihm zu weit geworden war.
»Herr Poppel«, rief sie vorwurfsvoll. »Sie wissen genau, wie wichtig Sie sind. Besonders für mich. Sie sind doch mein Freund«, sagte sie liebevoll, als spreche sie zu einem Kind. »Meine Freunde kann ich inzwischen an einer Hand zählen.«
»Sind Sie einsam?« Er goß den Tee in die hauchdünnen Tassen. Auf Ordnung und Sauberkeit legte er wenig Wert. Aber es gab Dinge, die von ihm nicht fortzudenken waren. Grundsätzlich nahm er seinen Tee aus kostbaren Tassen. Seinen Wein trank er aus alten Römern, die jedes Sammlerherz entzücken mußten.
»Ich bin nicht traurig darüber.« Sie unterhielten sich wie alte Freunde, die sie ja auch waren. Er kannte längst Lauras Geschichte, mit ihm hatte sie leichter sprechen können als mit ihrer Mutter.
»Ich freue mich auf mein Kind. Ich kann die Zeit kaum erwarten.«
Er schob ihr den Meißnerteller hinüber, auf den er Plätzchen gelegt hatte.
»Was wird aber dann, Laura? Haben Sie sich mal Gedanken gemacht, womit Sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Sie halsstarrige Person lehnen ja jede Hilfe ab, nicht einmal von Ihrer Mutter wollen Sie sie.«
»Ich bin in den letzten Monaten sehr sparsam gewesen.« Sie nahm das Plätzchen, aber anstatt es zu essen, zerbröselte sie es zwischen den Fingern und merkte es nicht einmal.
»In einem Monat habe ich das Studium abgeschlossen.«
»Und was dann?«
Sie nahm ihm die Frage nicht übel, es war ja keine Neugier. »Ich habe meine Studentenbude aufgegeben und mir eine kleine Wohnung genommen. Ich habe Sie schon oft gebeten, sich mein Zuhause einmal anzusehen. Ich könnte zu Hause arbeiten.« Sie hob den Kopf mit den wunderschönen Haaren. »Ich will zu Hause arbeiten. Auf keinen Fall gebe ich das Kind in fremde Hände. Ich habe ein hübsches rundes Sümmchen auf dem Konto. Wenn ich gut wirtschafte, kann ich einige Jahre davon leben.«
Seine Hände zitterten, als er sich Tee nachgoß.
»Das stelle ich mir für eine Frau wie Sie sehr langweilig vor. Ich habe auch über Sie nachgedacht und über mich natürlich auch.«
Er schien sehr aufgeregt zu sein. Sie musterte ihn aufmerksam. So braune Augen wie sie hatte seine Frau gehabt. Überhaupt erinnerte sie ihn an die verlorene Zeit.
»Als meine Frau noch lebte, war dieser Laden, den man jetzt einen Trödlerladen nennt, ein wirkliches Antiquitätengeschäft. Ich hatte ausgesuchte, sehr schöne Dinge. Meine Frau fuhr zu Versteigerungen, wußte genau, wo eine Wohnungsauflösung war, sie hatte das richtige Gespür für schöne Dinge.
Nach ihrem Tod ging es stetig bergab, mit mir und mit dem Laden. Jetzt ist es wirklich nur noch ein Trödlerladen.«
Seine Augen unter den schweren Lidern hefteten sich auf das junge Gesicht.
»Ich habe Sie oft beobachtet, Laura. Sie haben sehr viel Sinn für Schönheit, von alten Möbeln und Porzellan verstehen Sie etwas.« Sie horchte verwundert.
»Kurz und gut, ich will sagen, steigen Sie bei mir ein. Ich habe keinen Erben, ich bin allein. Je älter ich werde, um so mehr drückt mich die Einsamkeit. Mit Ihnen an der Seite wird mir das Arbeiten wieder Spaß machen. Sie werden für mich ein Jungbrunnen sein.«
Ihr blieb der Mund vor Staunen offen stehen.
»Sie werden dem Geschäft neuen Schwung geben. Ich weiß es. Sie sind voll Energie und besitzen das Gespür, das nun mal zu dem Beruf gehört. Die obere Etage können Sie sich als Ihre Wohnung ausbauen lassen. Die Mieter sind schon lange ausgezogen, es ist ja eine Schande, daß so schöne Räume leer stehen.«
»Und Sie? Was ist mit Ihnen?«
»Ich bleibe in meiner Mansardenwohnung. Da kriegt man mich lebendig nicht heraus.«
Ein verschämtes Lächeln spielte um seinen Mund.
»Ein wenig Egoismus ist natürlich auch dabei, Laura. Ich fürchte langsam das Alleinsein, früher war mir meine eigene Gesellschaft genug, da las ich oder lebte von der Erinnerung.
Ich stelle es mir wunderbar vor, mit Ihnen zu arbeiten, zuzusehen, wie aus diesem heruntergekommenen Laden wieder etwas Rechtes wird.
Und ihr Kind… ihm möchte ich so gern der Großvater sein.«
Sie merkte gar nicht, daß sie weinte.
»Sie werden ein wunderbarer Großvater sein. Und ob ich will? Das ist ja ein Traum, der Wirklichkeit wird. Drehen Sie sich um, Opa Poppel, ich muß doch sehen, ob Ihnen Flügel gewachsen sind. Für mich sind Sie ein Engel.«
*
Drei Jahre waren seitdem vergangen. Die Hausfassade prankte im neuen Glanz. Das große Schaufenster blitzte wie ein Spiegel. Ungehindert konnte man in den Laden sehen. Der Blick fiel sofort auf ein besonders schönes Stück. Herr Poppel hatte recht gehabt, Laura hatte die richtige Hand.
Der alte Mann war nicht wiederzuerkennen. Er hockte auf dem Teppich, den Laura bei einer Wohnungsauflösung gefunden hatte und der sofort jeden Blick auf sich zog.
»Sieh doch nur, Laura«, rief er aufgeregt. »Stephanie legt die Klötzchen in die richtige Fassung. Bist du ein kluges Mädchen. Unsere kleine Stephanie.«
Lauras Herz lief über. Es war ein wunderschönes Bild. Ihre kleine Tochter neben dem alten Mann, der ein richtiger Großvater geworden war. Die Kleine krähte vergnügt, patschte mit ihren dicken Fingerchen auf das Brett, die Klötze purzelten heraus, und die Kleine wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Wie sehr gleicht sie dir, Laura.« Der alte Mann wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sie ist mein Sonnenschein. Sie ist die Erfüllung meines Lebens. Wie arm war mein Leben, bevor ihr zu mir gekommen seid.«
»Wir brauchten uns beide, Joachim. Aber jetzt muß Stephanie allein spielen«, erklärte sie energisch. »Du mußt mir helfen. Der Schreiner wird heute abend den Sekretär bringen. Ich habe ihn mir angesehen, er ist hervorragend restauriert. Das beste wäre es, wenn wir ihn gar nicht in den Laden stellen.« Sie seufzte, lachte aber dabei. »Ich weiß nämlich schon jetzt, daß ich mich nicht davon trennen mag. Du mußt mit mir den Preis überlegen. Für den Tisch mit den vier Stühlen aus der Tudorzeit haben wir einen sehr guten Preis erzielt. Heute morgen habe ich von einer alten Dame ein Silberbesteck gekauft. Es ist verschnörkelt und ein wenig altmodisch. Ich hab ihr vermutlich zu viel gezahlt, aber sie brauchte sichtlich das Geld. Sie war rührend. Als ich ihr die Sachen abnahm, strich sie noch einmal darüber.«
»Du und dein gutes Herz, Laura«, lächelte er zärtlich. Er erhob sich mühsam und versuchte, seinen krummen Rücken zu strecken.
Sofort streckte ihm die Kleine beide Hände entgegen und plapperte energisch, was natürlich niemand verstand.
»Du mußt jetzt allein spielen, Steffi. Der Opa hat keine Zeit.«
Natürlich begriff sie das Nein. Sofort verzog sich das allerliebste Gesicht zu einer kummervollen Grimasse, und schon brach sie in lautes Schluchzen aus.
»Joachim«, Laura versuchte energisch zu sein, »die kleine Range weiß genau, wie sie dich weich kriegt. Sieh dir nur die Augen an. Sie zweifelt keine Minute daran, daß du dich wieder zu ihr setzt.«
»Da fährt ein Wagen vor.« Er brachte die strenge Mutter rasch auf andere Gedanken. »Ich nehme die Kleine mit in die Wohnung. Es wird ja auch langsam Zeit, daß sie ihren Brei bekommt.«
Eine Antwort wartete er nicht ab, er nahm Stephanie auf den Arm und die Kleine gluckste vor Zufriedenheit.
Laura sah das alles nicht. Sie starrte dem Herrn entgegen, der aus dem Sportwagen stieg, den Schlüssel in die Tasche steckte, er sah über die Hausfassade in das Schaufenster hinein.
Als er die Tür öffnete, klang ein Glockenspiel. Er horchte und nickte bewundernd. »Mozart«, stellte er fest.
Es war ein strahlend schöner Tag, er mußte ein wenig die Augen zusammenkneifen, um sich an das Licht im Laden zu gewöhnen.
»Guten Tag, Harro.«
Er stutzte. Erst jetzt erkannte er sie.
»Laura«, rief er fassungslos. Er vergaß, die Tür zu schließen, mit zwei Schritten war er bei ihr und faßte ungestüm ihre Hand. »Laura«, sagte er noch einmal. »Da muß das Schicksal die Hand im Spiel haben. So oft habe ich an dich gedacht, so oft versucht, bei deinen Eltern deine Adresse herauszukriegen. Von uns hat es niemand verstanden, daß man sie uns nicht sagte«, sprudelte er hervor und ließ kein Auge von ihr.
»Die schöne Laura, und sie ist noch schöner geworden. Aber nun sag’ mir, was um alles in der Welt treibst du hier?«
Sie küßte ihn leicht auf beide Wangen.
»Kannst du das nicht raten? Du warst doch früher nicht so dumm. Der Laden gehört Hern Poppel und mir zu gleichen Teilen. Harro, wie schön, dich zu sehen.«
»Und mich wirst du so schnell nicht wieder los. Ich will nämlich alles von dir wissen. Warum um alles in der Welt warst du wie vom Erdboden verschwunden? Warum bist du nie wieder in unser Dorf gekommen? Ist es dir dort zu eng? Hast du dich mit deinen Eltern überworfen?«
»Viele Fragen auf einmal, Harro.«
Er schien keinen Tag älter geworden zu sein. Sein blondes Haar war noch immer so frisiert, als brauchte es dringend einen Kamm. Sie kannte ihn nur braungebrannt. Seine blauen Augen wirkten sehr hell in seinem straffen, markanten Gesicht.
»Die du mir alle beantworten mußt«, erklärte er bestimmt. Sein Blick wurde weich, er nahm Lauras Hände und zog sie an seine Lippen.
»Einen Ring trägst du nicht, so bist du also nicht verheiratet. Ich auch nicht. Ich konnte eine gewisse untreue Person einfach nicht aus meinem Kopf bekommen.«
»Ja, ich erzähle dir alles, nur befürchte ich, daß es Stunden dauern wird.«
»Für dich habe ich Zeit, alle Zeit der Welt. Laura, du kannst doch unsere Jugend nicht vergessen haben. Wie sich das anhört, als wären wir schon Tattergreise. Denkst du noch daran, wie wir das Segelboot von unserem Verwalter geklaut haben und kläglich damit kenterten?«
Sie lachte glockenhell. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er das Lachen vermißt hatte. Ach was, nicht nur das Lachen. Die ganze bezaubernde Person.
»Dich hat er übers Knie gelegt und dich furchtbar verhauen.«
»Und dir hat er mit der Faust gedroht und gerufen: »Warte nur, du bekommst auch noch dein Fett ab.« Den letzten Satz riefen sie wie aus einem Mund und lachten dabei.
»Aber natürlich hat er dir kein Haar gekrümmt.«
»Aber wenn ich zum Lindenhof kam, hat er mich immer gemustert, als habe er Angst, daß ich die Scheune in Brand stecken könnte. Ich habe immer einen großen Bogen um ihn gemacht.«
»Um so eifriger hat mein Vater deine Gesellschaft gesucht. Laura, kannst du den Laden nicht einfach zusperren? Wir könnten uns irgendwo behaglich hinsetzen. Ich kenne mich in dieser Stadt nicht aus. Ich bin auf der Durchreise.
Mein Gott, wie sagten wir früher? Das hältst du ja im Kopf nicht aus. Ich fahre über diese Straße. Sehe das Schild. Halte, weil mir einfällt, daß Mutter bald Geburtstag hat und hoffe, ein hübsches Geschenk zu finden.
Und was finde ich? Dich.«
Sie löste die Hand aus seiner Umklammerung und rief lebhaft: »Da haben wir etwas ganz Wunderschönes. Du wirst sehen, es wird deiner Mutter gefallen.«
Der weite weiße Rock schwang um ihre Beine, als sie sich rasch der Vitrine zuwandte, sie bückte sich. Sie trug das braune Haar geöffnet, in weichen Wellen fiel es bis auf ihre Schultern.
Sie war noch schöner geworden, wenn das überhaupt möglich war. Von einer feinen, fraulichen Schönheit. Er suchte das passende Wort dafür, aber es fiel ihm nicht ein.
»Hier.« Strahlend reichte sie ihm eine Schachtel. Er wollte viel lieber Laura betrachten, aber gehorsam sah er auf die kunstvolle Einlegearbeit. Sie blies den Staub ab, spitzte dabei den Mund, daß ihm der Kragen eng wurde. Hatte er diese Lippen schon einmal geküßt? Aber er würde sie küssen. Von jetzt an ließ er sie nicht wieder aus den Augen. Wie sehr er sie vermißt hatte, wurde ihm erst jetzt bewußt.
Sie klappte den Deckel auf.
Verstaubte Töne perlten durch den Raum.
»In einem Bächlein helle«, sang sie leise mit. Er nahm behutsam die Spieldose aus ihrer Hand, aber er sah nur sie. Ihre braunen Augen waren voll Licht, feine goldene Pünktchen tanzten darin.
»Du sollst die Spieldose betrachten und nicht mich. Sie ist frühes 17. Jahrhundert. Ein Meisterwerk. Aus alter Freundschaft mache ich dir natürlich einen Sonderpreis.«
»Das brauchst du nicht. Meine Mutter schlägt Purzelbäume vor Freude.«
»Das glaube ich allerdings weniger. Das paßte wohl nicht zu ihr. Aber freuen wird sie sich. Ich habe früher schon ihr Kunstverständnis bewundert. Bei jedem Bild wußte sie sofort, wer es gemalt hatte, und von euren Möbeln wußte sie immer eine Geschichte zu erzählen.«
Harro wußte, daß Laura und seine Mutter sich aus dem Weg gegangen waren. Laura spürte vermutlich, daß sie in den Augen der Herrin des Hauses nicht der richtige Umgang für Harro war.
Aus den Gedanken heraus sagte sie leise: »Deine Mutter hatte mit dir immer besondere Pläne.«
Das Kästchen hielt er noch immer, verzog nur ein wenig spöttisch den Mund.
»Ja, sie hatte gehofft, aus Luise von Trott und mir würde ein Paar. Sie konnte nicht laut genug Luises Loblied singen. Denk dir«, er lachte schadenfroh, »Luise kam aus dem Pensionat frühzeitig zurück. Und weißt du warum? Sie bekam ein Kind. Stell dir das vor. Meine Mutter war am Boden zerstört. Hatte sie mich doch oft genug mit ihrer Meinung gequält. War Luise bei uns zu Gast, war ich nicht ritterlich genug, nicht aufmerksam. Sie verlangte sogar von mir, daß ich ihr schrieb.«
Die Freude war in Laura gestorben, sie hatte einen argen Dämpfer bekommen.
»Ich habe euch oft zusammen gesehen, Harro. Hast du sie gern gehabt?«
Er hob die Spieluhr noch einmal auf und legte den Kopf ein wenig schief. Jung Siegfried hatten sie ihn im Dorf genannt.
»Verrückt war ich nach dir. Aber du gingst fort und warst vom Erdboden verschwunden. Vielleicht war ich ein wenig in Luise verliebt.
Aber ich heirate nicht ein Mädchen, das ein Kind mit in die Ehe bringt. Ich habe im ganzen Leben nie das Zweitbeste gewollt.«
Er lachte verführerisch. »Laura, bitte, komm mit mir. Du weißt bestimmt ein tolles Lokal. Wir müssen doch unser Wiedersehen feiern. Mit einem Glas Champagner natürlich. Der beste ist für uns gerade gut genug.«
»Gut. Warte einen Moment, ich muß nur meinem Teilhaber Bescheid sagen. Schließlich können wir nicht einfach den Laden schließen.«
»Tu das. Aber laß dich nicht aufhalten. Sag mir nur rasch, was ich bezahlen muß. Die Kostbarkeit gebe ich nicht mehr aus der Hand. Die Kostbarkeit, die Laura heißt, aber auch nicht«, lachte er. Wie ein Sieger sah er aus. Alles im Leben war ihm bisher geglückt. Die Sache mit Luise war ihm gewiß nicht unter die Haut gegangen.
Sie hatten eine Treppe zur ersten Etage bauen lassen. Oft saßen Kunden auf den Holzstufen, hielten Bücher oder andere Kostbarkeiten in der Hand.
Er betrachtete mit Vergnügen ihre Beine, als sie die Treppe hinauflief, zwinkerte ihr zu und pfiff wie ein Lausejunge. Ja, ein unbeschwerter, vom Schicksal verwöhnter Mann war er.
Seine Worte dröhnten in ihren Ohren, als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnete.
Joachim saß am runden Kirschbaumtisch, der im Erker seinen Platz gefunden hatte. Von hier hatte man einen wundervollen Blick auf den Marktplatz, über das kleine Gäßchen bis zum Park hinüber.
Er hielt die Kleine auf dem Schoß und fütterte sie liebevoll.
»Kam ein Freund von dir?« Seinen klugen Augen blieb nichts verborgen.
»Er ist aus meinem Heimatort. Es ist ein riesengroßer Zufall, daß er in unseren Laden kam. Joachim, er möchte mit mir essen gehen, dabei kann man am besten von alten Zeiten reden.«
»Wie schön für dich. Mach’ dir um Stephanie keine Sorgen. Ich bin glücklich, wenn ich sie für mich allein habe. Wenn du nur Freude hast.«
Seine Augen waren voll Liebe für sie. Aber er hatte auch immer ein wenig Angst.
»Ich fürchte nur, daß es zuviel für dich wird. Soll ich den Laden schließen? Es kann spät werden, und ich weiß genau, daß Stephanie nicht einschlafen will, wenn du mit ihr allein bist. Soll Frau Bauer dir das Abendessen richten?«
Frau Bauer war »das Mädchen für alles«, wie die beleibte Frau sich ausdrückte. Sie machte die beiden Wohnungen sauber, kochte das Mittagessen und ging dann wieder in ihre Wohnung zurück. Joachim achtete eifersüchtig darauf, daß sie sich nicht um Stephanie kümmerte. Stephanie war das große Geschenk seines Alters. Manchmal träumte er, daß Laura heiratete und mit Stephanie fortzog. Er blieb allein zurück. Dann wachte er schweißüberströmt auf, und sein Herz hämmerte schmerzhaft.
»Halt mir die Frau lieber vom Hals«, verlangte er unwirsch. »Mir genügt das Mittagessen, das sie mir kocht. Wenn du es zubereitest, Laura, schmeckt es mir nicht nur, ich habe auch anschließend keine Magenschmerzen.«
»Ihr beiden, sie und du, ihr seid wie Hund und Katze. Es ist doch nur natürlich, daß sie Stephanie hin und wieder auf den Arm nehmen will.« Sie wußte genau, wo die Ursache für seine Abneigung zu suchen war.
»Sie faßt Stephanie mit ihren rauhen Händen viel zu grob an. Und dann drückt sie das Kind… das kann doch nicht gut für Stephanie sein«, behauptete er eifersüchtig. »Nun zieh dich um. Ich weiß zwar nicht, welches Kleid dich noch hübscher macht. Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend, Laura. Du hast in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet. Da wird dir diese Abwechslung willkommen sein.« Mit einem amüsierten Lachen setzte er hinzu: »Verdreh’ ihm nur nicht den Kopf. Ich glaube, dazu gehört nicht viel. Ich wollte in den Laden kommen, aber als ich auf der ersten Stufe stand, warf ich einen Blick auf ihn. Der Mann hat dich ja mit den Augen verschlungen. Da bin ich leise zurückgegangen. Jetzt scher dich fort. Stephanie, wer wird denn im Brei herummatschen? Siehst du nicht, Laura, daß du uns störst?«
*
Harro sah sich zufrieden in dem Weinlokal um. Er liebte diese vornehme Atmosphäre.
»Sehr geschmackvoll alles. Kann man gar nicht vermuten, wenn man die äußere Fassade sieht. Du kommst oft hierher, nicht wahr?«
»Woraus schließt du das?« Sie setzte sich bequem zurecht. Laura hatte ihr Gleichgewicht zurückgefunden.
Ein guter Freund aus den Kindertagen war aufgetaucht. Sie würden in Erinnerungen schwelgen. Er war da… er würde wieder fortfahren… das war alles.
»Ich hab’ doch Augen im Kopf. Schließlich hat der Kellner dich wie eine gute Bekannte begrüßt und uns den besten Platz gesichert.«
Sie lachte unbeschwert. In ihren braunen Augen fing sich das Kerzenlicht. Ihre langen, dunklen Wimpern zitterten ein wenig, wie Gras im Wind. Herr im Himmel, war diese Frau bezaubernd.
»Falsch getippt, Harro. Er ist ein guter Kunde von uns. Er sammelt Weihnachtsteller. Wenn ich einen habe, rufe ich ihn an.«
Er schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ideen haben manche Leute. Aber es ist lieb von dir, daß du nicht vergessen hast, welch einen Sammlertick meine Mutter nährt. Diese Spieluhr wird sie begeistern. Ich weiß allerdings nicht, die wievielte das ist.« Er nahm die Speisekarte und erklärte energisch: »Wir werden das Essen bestellen, natürlich auch einen ausgezeichneten Wein. Und dann wollen wir nicht mehr gestört werden. Ich habe tausend Fragen. Und ich will sie alle beantwortet haben.«
Der Kellner kam, sie gaben ihre Bestellung auf. Bevor er ging, lächelte er Laura noch einmal zu. Harro fand das übertrieben. Heimlich amüsierte Harro sich über sich selbst. Er würde doch wohl nicht auf einen Kellner eifersüchtig sein? Er legte die Ellbogen auf den weißgescheuerten Tisch und schob das blaue Leinenset achtlos zur Seite. Er beugte sich ein wenig vor und stellte fest: »Ich habe vieles von dir in meinem Kopf gespeichert, Laura. Wenn du so aussiehst wie jetzt, deine Augen beinahe schwarz sind, hat dich etwas sehr aufgerührt. So sahst du als kleines Mädchen aus, wenn ich dir helfen durfte.«
Sie schob die unbequeme Regung, die ihr unter die Haut gegangen war, energisch von sich.
»Ist das nicht natürlich? Da taucht ein guter Freund aus der Heimat auf, da werden Erinnerungen wach. Ich müßte ja ein Stockfisch sein, wenn ich nicht ein wenig angeschlagen wäre.«
»Ein Stockfisch bist du ganz sicher nicht. Stockfische sind nicht so schön wie du. Jetzt sag mir nur eines, Laura. Warum um alles in der Welt meidest du unser hübsches Dorf, als herrschte dort die Pest? Ist etwas zwischen deinen Eltern und dir? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Schließlich warst du der Abgott deines Vaters. Er muß doch stolz auf dich sein. Du bist Mitbesitzerin eines bekannten Geschäftes. Ja, bekannt, ich erinnere mich, daß eine Dame auf dem Golfplatz davon sprach.«
Sie drehte das Weinglas zwischen den Fingern. Sie sah einen Moment in die Flüssigkeit hinein. Dann hob sie den Kopf, ihr Lächeln sollte bewußt spöttisch sein.
»Ich habe nicht nur das, Harro, ich habe auch eine kleine Tochter. Nun kannst du dir den Rest selbst zusammenreimen.«
Er wollte gerade das Glas zum Mund führen, stellte es aber auf den Tisch zurück.
»Jetzt müßtest du dich sehen können.« Sie lachte bewußt, obwohl ihr bei seinem entsetztem Gesicht gar nicht zum Lachen war. Trotz brach in ihr auf. Spöttisch musterte sie ihn.
»Was ist nur aus den behüteten Mädchen geworden, Harro, nicht wahr? Zuerst mußt du das von Luise erfahren, vielleicht hast du Luise sogar geliebt, und dein Stolz wurde durch diese Tatsache furchtbar verletzt. Zum Glück liebst du mich nicht. Ich bin nur ein Mädchen, mit dem du aufgewachsen bist. Du hast mein Fahrrad repariert, wenn es kaputt war, du hast mir das Segeln beigebracht und vieles mehr.«
Er hatte seine Sprache wieder gefunden.
»Warum um alles in der Welt hat der Mann dich denn nicht geheiratet? Wie konntest du dich in einen Trottel verlieben? Du kannst dich doch nicht so geändert haben.« Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen. »Für uns Jungens warst du etwas ganz Besonderes«, setzte er ein wenig hölzern hinzu. »Wir haben bei vielen Mädchen versucht… ich meine… du weißt schon, was ich meine. Aber du, bei dir hätte es niemand gewagt. Du warst die stolze Laura. Der Mann, der dich erobern konnte, mußte etwas ganz Besonderes sein.«
Seine Augen brannten. Er mochte jetzt über das Chaos seiner Gefühle nicht nachdenken, das konnte er später machen, wenn er im Bett lag.
»War er etwas Besonderes?«
Als das Essen serviert wurde, warf er dem Kellner einen Blick zu, daß dem beinahe die Platte aus der Hand gefallen wäre.
Harro hatte nur lustlos von den appetitlichen Speisen gegessen. Er hätte später nicht einmal sagen können, was ihnen serviert worden war. Dann fragte er noch einmal, drängend, mit einem bitteren Geschmack im Mund: »War er etwas Besonderes, Laura?«
Sie hatte mit Appetit gegessen, sie löffelte den Nachtisch, den er abgelehnt hatte.
»Für mich ja, Harro. Wollen wir das Thema nicht abschließen?«
»Nein. Das kann ich nicht. Was verlangst du denn von mir? Erinnerst du dich, als ich dir nach dem Tanzabend beim Baron einen Kuß geben wollte? Du hast dich angestellt, als hätte ich einen schlechten Mundgeruch. Und dieser…«
»Inzwischen bin ich ein wenig älter geworden, Harro. Schließen wir das Thema ab. Du hast noch nicht einmal gefragt, wie alt meine Tochter ist und wie sie heißt.«
»Im Moment interessiert mich der Vater deiner Tochter mehr. Warum hast du ihn nicht geheiratet?«
Einen Moment wollte sie ihn mit einer Ausrede abspeisen, aber dann siegte die Ehrlichkeit.
»Ich war sehr verliebt, Harro. Ja, für mich war er der besondere Mann, auf den ich gewartet hatte.
Aber dann war er fort. Von einem Tag auf den anderen. Als ich in sein Hotel kam, wurde mir gesagt: er ist abgereist.«
»Kein Brief, keine Nachricht?«
»Kein Brief, keine Nachricht.«
»So ein gemeiner Kerl«, erregte er sich. Er dämpfte seine Stimme, da man am Nebentisch schon auf sie aufmerksam wurde. »Du Arme. Das muß scheußlich für dich gewesen sein.«
Sie nickte. »Das ist lange überwunden«, log sie. Sie würde diesen Augenblick wohl nie vergessen, die Enttäuschung würde an ihrem Herzen nagen, solange sie lebte.
»Vermutlich war er verheiratet«, überlegte er stirnrunzelnd. Er fuhr mit allen Fingern durch sein blondes Haar und plötzlich mußte sie lachen.
»Dir steht dein Haar zu Berge wie früher. Du hast es noch immer nicht bändigen können.«
»Vieles ist geblieben.« Er nahm ihre Hand und hob sie an seine Wange. »Ich glaube, nicht nur mein Haar ändert sich nicht. Auch mein Herz ist beständig. Es gehört dir noch immer. Du hast einen sicheren Platz darin gefunden.«
Sanft, aber bestimmt entzog sie ihm die Hand.
»Erzähl’ mir von Luise. Das muß doch im Dorf, besonders aber bei ihren Eltern, ein Skandal gewesen sein.«
Er nickte unwillig. Luise war unwichtig, an sie verschwendete er längst keinen Gedanken mehr.
»Natürlich. Aber inzwischen sind die Eltern längst mit allem ausgesöhnt. Sie vergöttern den Enkel, sind ganz verrückt damit. Sogar meine Mutter findet ihn süß.
Ich will mit dir nicht über Luise reden. Ist deine Tochter der Grund, weshalb du nicht nach Hause kommst? Ich habe deine Mutter einmal besucht. Entschuldige, daß ich das sage. Ich fand, sie ist sehr alt geworden.«
Laura nickte unglücklich. »Ich weiß. Meine Mutter kommt, so oft sie es einrichten kann. Wenn Stephanie sie sieht, dann kräht sie vor Vergnügen und streckt ihr die Händchen entgegen. Du solltest die beiden sehen, Harro. Von einem Moment auf den anderen scheint sie wieder jung zu werden. Sie lacht und ist übermütig. Es ist goldig, die beiden zu betrachten.«
»Und dein Vater?«
Sie verzog ein wenig den Mund. Es sollte Spott sein, aber es wurde Mitleid daraus.
»Er kann nicht über seinen Schatten springen. Zum Glück läßt meine Mutter sich die Reise zu mir nicht verbieten. Er schmort in seinem eigenen Saft. Aber er muß den ersten Schritt machen, das bin ich mir selbst schuldig. Für ihn ist es eine gute Lektion. Ich muß sie ihm erteilen.«
Harro schüttete den Wein förmlich in sich hinein, was gar nicht zu seiner kultivierten Art paßte.
»Laura, in meinem Kopf dreht sich ein Mühlrad. Eben war ich wie verhext vor Begeisterung, dich gefunden zu haben. Entschuldige, aber jetzt bin ich doch aus der Fassung geraten.«
»Aber warum denn, Harro? Entspreche ich deinen moralischen Vorstellungen nicht mehr?«
»Rede nicht solch einen Unsinn! Wie stempelst du mich denn?«
Sie lächelte gelassen. Er glaubte sie zu kennen, als wäre sie seine Schwester, aber er fühlte sich ausgeschlossen. In ihren Augen konnte er nicht lesen.
»Wenn du jetzt wieder einmal in unseren Ort kommst, dann sieh doch bei uns herein, Harro. Es lohnt sich, Herrn Poppel kennenzulernen. Er ist ein Schöngeist, ein wundervoller Mensch.
Du kannst dir gar nicht vorstellen«, sie wurde lebhafter, ihre Augen sprühten, »wie herrlich die Abende mit ihm sind. Besonders die Winterabende, wenn der Wind heult und es draußen so ungemütlich ist, daß man keinen Hund hinausjagen mag. Dann liest er mir vor, während ich male. Dann tanzen die Figuren durchs Zimmer, von seiner Stimme lebendig geworden. Man kann über alles mit ihm reden. Und für meine Tochter ist er ein wundervoller Großvater.«
»Wie alt ist er?« wollte er eifersüchtig wissen und wußte nicht einmal, daß es Eifersucht war.
»Leider zu alt, um ihn heiraten zu können«, seufzte Laura, als trauere sie um diese Tatsache. Ernst werdend fügte sie hinzu: »Er ist für mich der Vaterersatz. Und ein wundervoller väterlicher Freund.«
»Ich bin so durcheinander, daß ich darauf keinen Gedanken verschwenden will. Hast du nie versucht, mit dem Herrn, mit dem Vater deiner Tochter Verbindung aufzunehmen? Weiß er von ihr?«
»In beiden Fällen nein.«
Das wollte überdacht werden. Der Kellner goß Wein nach, Harro bemerkte es nicht einmal.
Er sammelte vorsichtig die Worte, es war so gar nicht seine Art, unsicher zu sein.
»Liebst du ihn noch immer?« platzte er mit seiner Frage heraus. Sie sah Eifersucht und Verzweiflung in seinen Augen, und beinahe tat er ihr leid.
»Ich habe ihn nicht vergessen«, erklärte sie ihm zögernd. »Ich denke jetzt nicht mehr in Wut oder gar Haß an ihn. Vielleicht kannst du es nicht verstehen. Aber ich bin froh. Ich bin glücklich, daß ich Stephanie habe. Ist dir das Antwort genug?«
Er fuhr sich über die Stirn, als wollte er Gedanken fortstreichen. »Euch Frauen habe ich noch nie verstanden«, behauptete er. Er versuchte ein Lachen, sehr zaghaft fiel es aus. »Ihr gebt uns armen Männern immer wieder neue Rätsel auf. Wann darf ich deine Tochter bewundern, Laura? Ist sie so hübsch wie du?«
»Das darfst du eine Mutter nie fragen«, behauptete sie amüsiert. »Die Frage darfst du auch Herrn Poppel nicht stellen. Er fühlt sich als Großvater, der er ja auch ist. Und Stephanie ist für ihn das schönste Kind, das je geboren wurde. – Zur Zeit male ich sie.«
»Du malst noch immer?«
Sie nickte, ihre Augen lachten wieder, die Schatten waren daraus verschwunden. Ihre Schönheit rührte sein Herz, ja, sie schmerzte sogar.
»Ja. In den letzten Monaten im Seminar war es allerdings aus mit meiner Freude. Was ich auch begann, nichts klappte mehr. Die Lehrer trösteten, daß das normal wäre, aber ich verzweifelte fast.
Jetzt male ich in Öl. Joachim ist mit mir zufrieden. Er ist mein kritischster Lehrer.«
»Wer ist nun Joachim schon wieder?«
»Herr Poppel natürlich. Ich habe schon einige Aquarelle gemalt, stell dir vor, sie wurden sogar verkauft, sehr rasch sogar.
Ich kann es mir leisten, nur zu malen, wenn ich in Stimmung bin. Wer kann das schon sagen? Die meisten müssen ja davon leben. Ich habe wirklich Glück.«
»Laura, denkst du wirklich so? Oder versteckst du dich hinter den Worten? Ist Glück nicht etwas anderes? Sieht Glück nicht anders aus?«
»Du meinst ein Ring am Finger, ein Mann. Ein Mann, der die Steine aus dem Weg räumt und für alles sorgt?
Über diese Träume sind die Frauen von heute hinausgewachsen, Harro. Ich glaube, sie sind selbständiger geworden, als viele Männer wünschen.«
»Ich nicht. Mich quetscht du nicht in die Schablone, in die dein Vater paßt. Ich wünsche mir eine Kameradin, eine Frau, die mit mir durch dick und dünn marschiert. Ich will kein Heimchen am Herd. Ich will eine Frau, die mir ebenbürtig ist. Jetzt lachst du, was habe ich denn Falsches gesagt?«
»Wir wollen nicht streiten, Harro.«
»Du denkst an Luise, daß ich sie nicht heiraten wollte«, ereiferte er sich. »Es wäre mehr oder weniger eine Vernunftehe geworden, von den Eltern arrangiert.«
»Geld zu Geld«, warf sie ein wenig spöttisch ein. Er ging darauf nicht ein.
»Ich habe sie nicht geliebt. Ich weiß das längst. Ja, ich war bereit sie zu heiraten. Du lachst nicht darüber?«
»Ist das etwas, worüber man lachen kann?«
»Ich wäre ihr vermutlich ein guter Ehemann geworden«, behauptete er gekränkt. »Es wäre schließlich nicht die erste Ehe, die aus solchen Gründen geschlossen wird.«
»Aber du wolltest nicht der Zweitbeste sein.«
»Jetzt spottest du doch. Sie muß den Mann schließlich geliebt haben, ich stellte mir vor… ich halte sie im Arm, und sie denkt an den anderen.«
»Auf keinen Fall könnte das dein Stolz zulassen.«
»Ich mag es nicht, wenn du über mich spottest.«
»Du hast recht. Entschuldige. Harro, wir sind die einzigen Gäste im Lokal. Die armen Kellner möchten Schluß machen.«
»Du hast mit den Kellnern mehr Mitleid als mit mir.«
Sie erschrak sichtlich. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Du bist auf der Durchreise, das sagtest du doch.«
Er nickte mit unglücklichem Gesicht. Aber ihr entging nicht, wie es in seinen Augen blitzte.
»Du kannst doch nicht die Absicht haben, jetzt noch nach Hause zu fahren. Es wird nicht leicht sein, um dies Uhrzeit ein Hotelzimmer zu bekommen.«
»Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Da siehst du, was du angerichtet hast. Du hast mich total durcheinander gebracht. Schau nicht so unglücklich drein, Liebling. Du mußt dir um mich keine Sorgen machen. Ich schlafe ein paar Stunden im Auto, irgendwo auf dem Parkplatz. Fahren kann ich sowieso nicht mehr. Grundsätzlich setze ich mich nicht hinter das Lenkrad, wenn ich getrunken habe.«
»Hör auf mit dem Theater«, wies sie ihn unwillig zurecht, aber bei dem listigen Blinzeln in seinen Augen legte sich ihr Ärger sofort. »Du weißt genau, daß ich das nicht zulassen werde. Selbstverständlich kannst du bei uns schlafen.«
»Du bist wirklich ein Freund, Laura. Ich bin sogar mit einem unbequemen Sofa zufrieden, ein Sessel genügt auch.«
Über den Tisch hinweg faßte er ihre Hand. »Was für ein Tag! Ich werde ihn in meinem Kalender mit goldenen Punkten versehen. Dann kann ich morgen früh mit dir frühstücken und dein Töchterchen kennenlernen. Ich hoffe, daß ich dir keine Umstände mache.«
»Wir haben in der Mansardenwohnung, in der Herr Poppel wohnt, ein Fremdenzimmer eingerichtet. Es ist immer bereit.«
Daß sich auch in ihrer Wohnung ein Fremdenzimmer befand, das sagte sie nicht. Dort schlief Lauras Mutter, wenn sie zu Besuch kam. Natürlich wurde dann auch Stephanies Kinderbett hineingeschoben. Zum Glück war Her Poppel auf Frau Wagenfeld nicht eifersüchtig.
»Werden wir den alten Herrn nicht aufwecken? Wirklich, Laura, ich begnüge mich gern mit einem Sofa, das hast du doch bestimmt in deinem Wohnzimmer stehen.«
»Mußt du zu Hause anrufen, daß du erst morgen kommst?«
Er winkte dem Kellner, der erleichtert kam. Die Rechnung hatte er auf dem Tablett unter der Serviette liegen.
»Sie machen sich keine Sorgen, sie sind es gewohnt, daß ich komme, wann ich will.«
Nein, dachte Laura bitter, sie würden sich aber Sorgen machen, wenn sie wüßten, mit wem du zusammen bist. Eines war Laura klar, wenn es Luise nicht war, die er heiraten wollte, so hatte seine Mutter längst eine andere Ehefrau für ihn ins Auge gefaßt.
*
Er dehnte die Arme, als die Tür des Lokals ins Schloß fiel. »Welch eine Nacht, Laura. Sieh dir nur die Sterne an. Am Himmel funkelt es, als spielten die Engel mit Diamanten. Sag’, Laura, bist du auch so glücklich wie ich?«
Arm in Arm gingen sie zu Lauras Wohnung. Irgendwo schlug eine Kirchenuhr, die Töne kamen und verklangen in der Stille.
»Horch.« Harro war stehengeblieben. »Ist das eine Nachtigall? Das muß eine Nachtigall sein.«
Er blieb stehen, direkt unter einer altmodischen Laterne, die ihr milchiges Licht über sie warf.
»Laura.« Das Lachen war aus seiner Stimme verschwunden. Den Ausdruck in seinen Augen konnte sie nicht erkennen.
»Ich bin so froh, daß ich dich gefunden habe. Laura, ich habe dich immer geliebt.«
Er legte seine Lippen auf ihren Mund. Ihren Widerstand beachtete er nicht. Sie gab den Kuß nicht zurück. Sie preßte die Lippen zusammen. Enttäuscht gab er sie frei. Er schob seine Hand unter ihren Ellbogen. Er tröstete sich rasch, hatte sofort eine Erklärung für ihren Widerstand.
»Dir hat man sehr weh getan, Liebes.« Mit den Lippen fuhr er über ihre Wange, er mußte den Kopf ein wenig neigen. »Du mußt erst wieder lernen, an die Liebe zu glauben. Dein Herz ist zu Eis erstarrt, da muß jemand kommen, der es zum Schmelzen bringt. Ich muß unter einem guten Stern geboren sein, daß mein Wagen vor dem Geschäft zum Stehen kam.«
Sie sagte nichts, ihre Schritte paßten sich den seinen an, sie waren sich sehr nahe. So vieles verband sie miteinander. Er war ihr vertraut wie ein Bruder. Sie freute sich sehr, daß er gekommen war. Und doch hatte sie Angst.
»Herr Poppel ist noch wach.« Sie zeigte zu den Fenstern hinauf. »Ich hoffe nur, Stephanie hat nicht wieder eine Schau abgezogen. Leider verwöhnt Joachim sie schrecklich, und zum Dank tanzt sie ihm auf der Nase herum.«
»Wartet er immer auf dich, wenn du fortgehst?«
Sie hörte genau die Enttäuschung in seiner Stimme, aber sie hütete sich, darauf einzugehen.
»Nur, wenn er sich in einem Buch festliest oder Stephanie ihn braucht.«
Er sagte nichts. Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. »Ich muß aus dem Auto meinen Koffer holen. Hoffentlich erschrickt dein Herr Poppel nicht, wenn er mich damit sieht. Vielleicht denkt er, ich will mich für einige Zeit bei euch einquartieren.«
»So leicht ist er nicht aus der Fassung zu bringen.«
Laura sah den dunklen Schatten zuerst. Er hockte auf der letzten Treppenstufe, die zum Geschäft führt.
Zuerst glaubte sie, es wäre ein Mensch, der dort vor der Kühle der Nacht Schutz suchte.
Nur zögernd ging sie näher, während Harro den Kofferraum seines Autos öffnete.
Es war ein Hund. Ein großes, zotteliges Tier. Er hielt den Kopf gereckt und sah ihr ängstlich entgegen. Das Licht der Laterne leuchtete in seinen Augen.
»Was machst du denn hier?« Lauras Stimme klang sanft und mitleidig.
»Wer ist dort? Laura, sei vorsichtig.«
»Aber, Harro. Es ist ein Hund. Er muß sich verletzt haben.«
»Sei vorsichtig«, befahl er noch einmal, wie er auch dem Mädchen Laura Befehle zugerufen hatte. »Wenn er Angst vor dir hat, könnte er zubeißen.«
»Mich hat noch nie ein Hund gebissen.«
Ungeachtet ihres eleganten Kleides hockte sie sich hin, daß ihre Augen mit seinen Augen auf gleicher Höhe waren. Sie streckte ihm die geöffnete Hand entgegen, wartete, bis er sie beschnuppert hatte, und legte dann beruhigend die Hand auf seinen Kopf.
»Du bist eine Hexe«, behauptete er. Harro war es ganz schwach geworden. Er war gewiß nicht ängstlich, aber den Hund hätte er nicht so rasch berührt. »Du hast nicht nur mich verhext, jetzt probierst du deine Kunst an dem armen Kerl.«
»Hör doch jetzt auf, Unsinn zu reden. Sieh doch nur, wie er zittert. Komm, wir nehmen dich mit«, lockte sie den Hund, der zögernd mit der Zunge über ihre Hand fuhr.
»Mitnehmen? Wohin denn?«
»Seit wann bist du schwer von Begriff? In die Wohnung natürlich. Wir können ihn doch nicht hier liegen lassen.«
Er machte keine Anstalten, sich dem Hund zu nähern.
»Warum nicht?«
Sie hockte noch immer auf dem Boden. Der leichte Wind, der durch die dicht belaubten Bäume fuhr, fächelte ihr Haar. Er sah die sanfte Rundung ihrer Wange, und Steine fielen auf sein Herz. Daß Liebe schmerzen konnte, hatte er bisher noch nicht erfahren. Das Schicksal war immer sehr gut zu ihm gewesen.
»Weil er Hilfe braucht. Er zittert, hat vermutlich Hunger, vielleicht ist er sogar verletzt. Außerdem haben wir einen sehr aufmerksamen Hundefänger in der Stadt, der mit streunenden Hunden kurzen Prozeß macht.«
Sie bückte sich und hob den Hund auf die Arme. Behutsam stellte sie ihn auf die Beine.
»Harro sah ihr zu. Er kannte kein Mädchen, das so gehandelt hätte, wie sie es tat. Luise wäre schreiend ausgerissen, wenn dieses zottelige Wesen auf sie zugegangen wäre. Schutz hätte sie in seinen Armen gesucht.
Laura war schon immer anders gewesen als die übrigen Mädchen.
»Was für eine Jammerfigur«, stellte Harro jetzt voll Mitleid fest. »Der arme Kerl besteht ja nur aus Knochen.«
»Er ist verletzt. Sieh doch, wie er hinkt.«
»Du brauchst ihn nicht zu tragen. Er wird die paar Schritte schon allein schaffen. Wetten, daß dein Herr Poppel an deinem Verstand zweifelt, wenn du neben einem Mann noch einen Hund anschleppst?«
»Was ist mit dir los, daß du dich mit diesem armen Kerl in einen Topf wirfst?«
Sie hielt die Hand auf dem Kopf des Hundes, sie hatte Angst, er könnte davonhumpeln. Aber der dachte gar nicht daran. Er hielt sich zitternd an ihrer Seite, das Gehen fiel ihm sichtlich schwer.
Ganz plötzlich dachte Laura an eine ähnliche Situation. Wie wunderbar hatte Julian sich verhalten. Für ihn war es selbstverständlich gewesen, daß er das verletzte Reh ins Tal brachte, obwohl der Transport sehr schwierig für ihn war. Mit den Skiern an den Füßen, dem Tier auf dem Arm, war er über den unebenen Waldweg gefahren, bis zum Tal hinunter.
Sie schob den Gedanken daran energisch zurück. Würde sie denn nie vergessen können? Julian hatte ihr die Tatsache natürlich längst voraus. Wenn er überhaupt hin und wieder an sie dachte, dann war sie nichts weiter als eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft, ein Flirt, mehr nicht.
Harro schloß die Haustür auf, er hielt den Koffer, machte aber keine Anstalten, dem Hund zu helfen, der sich sichtbar quälte, die Stufen zu meistern.
Da bückte Laura sich und hob das Tier auf den Arm.
»Du wirst dir dein Kleid beschmutzen«, warnte er sie kopfschüttelnd. »Außerdem wird er dir freigiebig seine Flöhe abtreten.«
Sie antwortete nicht einmal. Die Korridortür wurde geöffnet. »Ich hörte Stimmen.« Herr Poppel war vom langen Sitzen noch ein wenig krummer als sonst. Wie ein grauer Zwerg sieht er aus, dachte Harro. Aber ein wenig unbehaglich war es ihm, als er die Augen des alten Mannes auf sich fühlte.
Aber nur einen Moment, dann war der Hund auf Lauras Armen wichtiger.
»Gib ihn mir, er ist doch viel zu schwer für dich.«
Er nahm ihr das Tier behutsam aus den Armen, vor der Wohnungstür setzte er ihn ab. Mit einer demütigen Geste, die den alten Mann zu Tränen rührte, hob er die Pfote und streckte sie dem Mann entgegen. Der nahm sie behutsam, lächelte auf ihn hinunter, dieses Lächeln hatte er auch für Laura.
»Er ist ein braver, guter Hund. Wo hast du ihn denn aufgetrieben, Laura?«
»Möchtest du mich nicht vorstellen, Laura?« Harro war gekränkt, wie er fand, zu Recht. War denn der Hund wichtiger als er? So viel Getue brauchte man um ein Tier nun wirklich nicht zu machen. Auf dem Lindenhof gab es natürlich Hunde. Natürlich war auch, daß sie reinrassig waren und gut gepflegt wurden. Würde er diese Kreatur ins Herrenhaus bringen, seine Mutter und natürlich auch das Personal würden ihn für schwachsinnig halten. Allerdings konnte man so ein Tier zum Förster bringen.
»Er lag im Eingang des Geschäftes, Joachim. Ich bringe uns einen Gast, wir haben uns verplaudert, jetzt kann er natürlich nicht nach Hause fahren. Er war nur auf der Durchreise, aber dann bin ich ihm über den Weg gelaufen.«
»Du bringst zwei Gäste, meine Liebe. Sie sind uns beide willkommen.«
»Das wird Harro aber nicht passen, mit diesem armen Kerl in einem Atemzug genannt zu werden. Komm rein, Harro, setz dich ins Wohnzimmer, du brauchst nur durch die geöffnete Tür zu spazieren, du findest da einiges, was trinkbar ist. Du mußt dich einen Augenblick allein beschäftigen.
Joachim, wir bringen den Hund am besten in die Küche, dann sehen wir nach, was mit seinem Bein ist.«
»Das machen wir. Er wird Durst haben. Mit dem Fressen müssen wir vorsichtig sein, wer weiß, wann er das Letzte zwischen die Zähne gekriegt hat. Sie entschuldigen uns bitte, mein Herr.«
»Er heißt Harro Erdmann.« Sie warf Harro einen belustigten Blick zu und sah genau, daß ihm das alles nicht paßte.
»Du Armer, du bist natürlich nicht gewohnt, daß du die zweite Geige spielst. Schon gar nicht wegen eines Hundes.«
»Laura, einen Gast sollte man höflicher behandeln.«
»Schimpf nicht mit mir, Joachim. Harro kennt mich. Später werden wir beide natürlich sehr nett zu ihm sein. Er ist nämlich ein sehr verwöhnter Mann, der aus einer erstklassigen Familie kommt. Die Erdmanns sind so vornehm, daß der Kaiser nicht einmal wagte, sie in den Adelsstand zu erheben.«
»Spötterin«, knurrte Harro. Er setzte den Koffer auf den Teppich und zögerte einen Moment, ob er den beiden nachgehen sollte oder nicht.
Dann siegte die Neugier. Er ging ins Wohnzimmer, blieb auf der Schwelle stehen, sah sich um.
Die gelbbeschirmte Stehlampe warf ihr gedämpftes Licht über eine behagliche Sitzecke. Die Wände waren holzgetäfelt, eine Wand war mit Bücherregalen bedeckt. Zwischen den Fenstern stand ein Schrank, er sah aus, als wäre er dort festgewachsen. Er kannte sich in Stilepochen nicht aus, aber daß er etwas besonderes war, das sah er natürlich. Er war vermutlich aus Ebenholz, die Schnitzarbeit paßte wundervoll zu den Butzenscheiben, hinter denen kostbare Gläser blinkten.
»Wir müssen uns noch einmal entschuldigen.« Herr Poppel kam lautlos ins Zimmer, die dicken Teppiche schluckten jedes Geräusch. »Sie haben sich ja noch nichts zum Trinken eingeschenkt.«
»Ich habe mich umgesehen. Es ist ein wunderschönes Zimmer. Ich habe gar nicht gewußt, wie gut moderne und alte Möbel miteinander leben können.«
»Wie Menschen auch. Man muß nur das Richtige finden. Den Schrank dort hat Laura in einem Schloß gefunden, aus dem ein Altersheim gemacht worden ist. Er war in einem schrecklichen Zustand. Bitte, setzten Sie sich doch. Laura wird auch sofort kommen. Es ist nur die Pfote, darum humpelte der arme Kerl. Sie ist völlig vereitert. Laura hat ihm ein Bett in einem Karton zurechtgemacht. Sie wäscht sich nur die Hände. Da kommt sie schon.«
Sie hatte sich nicht nur die Hände gewaschen, sie hatte sich auch umgezogen. Harros Ärger verflog wie Schnee vor der Sonne.
Wie konnte man einem Wesen, das so schön war wie sie, auch böse sein? »Da bin ich.« Herr Poppel lächelte ihr entgegen, während er drei Gläser aus einer modernen Vitrine nahm. Laura spürte Harros Blicke und ihr Herz schlug wahre Kapriolen. Sie müßte ja ein Stockfisch sein, wenn Harros offensichtliche Bewunderung ihr nicht unter die Haut ging.
»Ich habe eine Flasche aus dem Keller geholt«, erzählte Herr Poppel, der natürlich mehr bemerkte, als Harro lieb war. »Ich dachte mir schon, daß wir Herrn Erdmann als Gast bekommen.«
Laura trug einen schwarzen Hausanzug aus schillernder Seide. Schwarze Spitzen umschmeichelten ihren Hals.
»Herr Erdmann wunderte sich darüber, daß alte und junge Möbel so gut miteinander harmonieren. Ich habe ihm gesagt, es ist wie bei Menschen. Bitte, Laura.«
Er reichte ihr den kostbaren Römer, der Wein funkelte wie eingefangene Sonne darin.
»Der Vergleich ist sehr gut, Joachim. Aber nicht immer klappt das, weder bei Möbeln noch bei Menschen. Man muß schon das richtige Gespür dafür haben. Setz dich bitte, Harro. Der Hund ist gut versorgt, wir haben ihm Wasser zu trinken gegeben und ein wenig Futter. Morgen werden wir weitersehen.«
Er ließ sich in den Sessel fallen, der auf dünnen, gedrechselten Beinen stand. Das weiche Polster schmiegte sich um seinen Körper. Harro spürte in diesem Moment, wie müde er war.
»Ich fürchte, ich werde aus dem Sessel nicht wieder aufstehen, so bequem ist er. Was wird mit dem Hund geschehen? Du kannst doch nicht daran denken, ihn hier zu halten? Schließlich hast du ein Kind.«
Sie tranken sich zu. Laura kauerte in der Sofaecke, zog die Beine unter sich.
»Ich habe meine Tochter nicht vergessen, mein Lieber. Aber bist du nicht auch mit Hunden aufgewachsen? Und denk mal an meinen Floh. Er war auch eine Promenadenmischung. Wir haben uns früher oft gezankt, wenn ich behauptete, daß Floh tapferer war als deine Hunde.«
»Was natürlich blanker Unsinn war.« Ärgerlich verzog er den Mund. Den Römer hielt er in der Hand und schwenkte den Wein ein wenig, damit die Blume besser zur Geltung kam. »Ich erinnere mich im übrigen, daß du deinen Hund irgendwo aufgegabelt hast. Du hast ihn mit nach Hause geschleppt, dabei warst du auf dem Weg zu einem Kindergeburtstag.«
Er wandte sich an den alten Mann und verzog spöttisch den Mund. »Der Hund war so groß wie ein Kalb, und sie nannte ihn Floh.«
»Paßt das nicht alles wunderbar zu Laura? Sie war also schon als Kind warmherzig, impulsiv und verstand zu handeln, wenn sie gebraucht wurde. Du hast also damals schon dein Festkleidchen beschmutzt, um ein Tier zu retten. Genau wie heute abend.«
Harro seufzte im komischen Entsetzen. »Ich sehe schon, Sie finden alles gut, was Laura macht. Ich werde einen schweren Stand in dieser Gemeinschaft haben.«
»Ach ja?« Laura hob amüsiert die feingezeichneten Brauen.
»Ich hoffe, Herr Poppel, ich bin in Zukunft ein willkommener Gast.«
»Dann hast du die Absicht, diese Stadt häufig zu beehren?«
»Nicht diese Stadt, du Spottvogel, obwohl ich glaube, daß es sich hier gut leben läßt. Herr Poppel, der Wein mundet ausgezeichnet. Er ist nicht zu schwer, hat aber ein volles Aroma.«
Herr Poppel nickte dankend. Er versteckte seine Gedanken hinter freundlicher Miene.
Was hast du denn gedacht, du Narr, verspottete er sich. Hast du geglaubt, daß dieses Leben ewig währt? Du wußtest doch, daß einmal ein Mann auftaucht, der Laura heiraten will.
Und dieser Mann verschlang sie ja geradezu mit den Augen. Vermutlich würde er Laura lieber heute als morgen heiraten.
Laura, die ein feines Gespür für Poppels Stimmungen hatte, gähnte und lachte.
»Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen. Ich sollte mit dir schimpfen, Joachim, du bleibst immer viel zu lange auf. Hattest du Probleme mit Stephanie?«
»Sie und ich haben nie Probleme«, behauptete er würdevoll. »Außerdem braucht man in meinem Alter nicht mehr viel Schlaf. Aber du hast recht, es ist gleich Mitternacht. Morgen ist für dich ein anstrengender Tag.« Zu Harro gewandt erzählte er: »Laura wird morgen zu einer Auktion fahren. Porzellan und Schmuck wird dort versteigert. Laura hat sich die Sachen schon angesehen.«
Lauras Gesicht glühte vor Begeisterung. Harro achtete kaum auf ihre Worte. Er betrachtete sie beglückt. Was für ein Glückspilz war er doch, daß er sie gefunden hatte. Und ledig war sie.
*
Laura blieb noch eine Weile am Bettchen ihrer kleinen Tochter stehen. Sie sah auf das kleine Gesichtchen hinunter. Stephanie hielt ihren Bären im Arm. Bär Moppel hatten sie ihn getauft. Joachim hatte behauptet, daß Stephanie ihn so nannte.
Wie ein heißer Strom floß das Glück, dieses Wesen zu besitzen, über ihr Herz. Noch gehörte das Kind ihr, mit Leib und Seele. Ihr Leben war durch Stephanie schwerer geworden, aber auch viel reicher und viel schöner. Dank Joachim hatte sie Freude und Sicherheit.
Behutsam strich sie mit dem Finger über die warme Wange. Die Kleine murmelte im Schlaf und drehte das Köpfchen. Auf Zehenspitzen schlich Laura hinaus.
Trotz allem schlief sie tief und traumlos. Und hatte doch Angst gehabt, daß sie die ganze Nacht von dummen Träumen geplagt würde.
Als Laura in die Küche kam, fand sie Joachim und ihre Tochter natürlich schon vor. Die Kleine kniete neben dem Hund. Als sie die Mutter sah, platschte sie begeistert die Hände zusammen und krähte aufgeregt: Hund… Nana und Hund…«
Nana nannte sie sich selbst. Der Hund sah um einen Deut schöner aus als in der Nacht. Sein schwarzes Fell war struppig und verfilzt. Aber das Kind störte sich nicht daran.
»Guten Morgen, Laura. Meine erste Amtshandlung heute morgen wird sein, den Hund in die Badewanne zu stecken«, sagte Poppel.
»Das wird für ihn ein Schock fürs Leben sein«, lachte Laura. »Guten Morgen, meine Süße.«
Aber Stephanie hatte für ihre Mutter keine Zeit. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Hund. Natürlich war sie sich sicher, daß das Tier nur ihretwegen ins Haus geholt worden war. Die Kinderaugen strahlten vor Glück.
»Wie ein Bild der Heiligen Familie«, behauptete Harro trocken, der den Weg in die Küche gefunden hatte. Heimlich hatte er gehofft, Laura würde zu ihm hinaufkommen und ihm einen guten Morgen wünschen.
»Du hast recht«, lachte Laura und richtete sich auf. »Joachim ist Josef, ich bin Maria, Stephanie ist das Jesuskind, der Hund der Ochse, dann bist du der Esel, Harro.«
»Du übertriffst dich wieder einmal selbst an Liebenswürdigkeit. Guten Morgen. Und das ist also Stephanie. Willst du mir nicht die Hand geben, Kleines?«
Er hockte sich neben Hund und Kind. Aber die Kleine hatte nicht einen Blick für ihn. Sie fand den Störenfried höchstens lästig. Stephanie liebte ihre kleine, geordnete Welt. Der Hund war ihr natürlich willkommen, aber der Mann paßte nicht da hinein.
»Sehr höflich bist du aber nicht!« stellte Harro fest. Er betrachtete das Kind voll Bewunderung.
»Laura, die Kleine ist dir ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Das bist ja du.« Er erhob sich und nickte dem alten Herrn zu. »Sie müßten einmal Kinderbilder von Laura sehen. Eine größere Ähnlichkeit kann es gar nicht geben.«
»Das hat uns Lauras Mutter schon gesagt. Haben Sie gut geschlafen?«
»Danke, sehr gut. Das liegt natürlich auch am Wein. Ich habe die ganze Flasche leer getrunken. Allein.« Er warf Laura einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Komm frühstücken, Harro. Mit nüchternem Magen kannst du dich nicht ans Lenkrad setzen. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, dann muß ich auch los. Du mußt also entschuldigen, daß das ganze hier in der Küche über die Bühne geht. Wir haben natürlich auch ein Speisezimmer. Das müssen wir dir beim nächsten Mal präsentieren.«
Er wäre gern mit Laura allein gewesen. Wenigstens einige Minuten. Aber Laura hatte keine Zeit für ihn.
Sie hielt ihr Töchterchen auf dem Schoß. Herr Poppel betrachtete die beiden mit einem Blick, als hätte er noch nie Mutter und Tochter zusammen gesehen.
Herr Poppel goß ihm den Kaffee ein und reichte ihm die Brötchen. Für die gemütliche, ein wenig altmodisch eingerichtete Küche hatte Harro nicht einen Blick.
Auch darüber war Herr Poppel enttäuscht. Bisher hatte noch jeder Besucher diesen Raum bewundernswert gefunden. Laura und er hatten mit viel Mühe und viel Zeit Küchenmöbel aus der Gründerzeit zusammen getragen. Das Ergebnis war überwältigend.
Und dieser Mann hatte nicht einen Blick dafür.
Die Kleine strebte immer wieder dem Hund entgegen. Das Körperchen war in ständiger Bewegung.
»Gleich, Süße, erst ißt du das Ei und das Brötchen.«
Das Kind krähte empört und streckte hilfesuchend ihre Ärmchen Herrn Poppel entgegen.
»Sei doch nicht so streng zu ihr«, bat er. »Laura, du solltest deinem Gast noch das Bild von Stephanie zeigen, bevor er fahren muß. Mit dem Bild hat sie ein Meisterwerk geschaffen«, erklärte er Harro.
»Du willst uns nur fortlotsen, damit du Stephanie für dich hast. Vermutlich wird sie neben dem Hund frühstücken. Komm, Harro, gehen wir, wie ich sehe, hast du ja zu Ende gefrühstückt.«
Er gab der Kleinen nur einen Klaps auf die Wange, verabschiedete sich von dem Mann, bedankte sich und bat, häufig wiederkommen zu dürfen.
Er war froh, als er mit Laura die Treppe hinunter in das Geschäft gehen konnte.
»Laura«, murmelte er kummervoll. Für den sorgfältig eingerichteten Raum hatte er nicht einen Blick, er sah nur sie.
»Bezaubernd siehst du aus. Aber das blaue Kostüm – oder ist es grün? – macht dich auf seltsame Weise älter. Du solltest nicht so streng geschnittene Sachen tragen.«
Er wollte etwas ganz anderes sagen. Er versteckte seine Gefühle hinter Sachlichkeit.
»Aber das ist ja der Sinn der Sache«, lachte Laura. Sie lachte so unbeschwert, so fröhlich, als machte ihr der Abschied gar nichts aus. »Ich muß mich dort behaupten, mein Lieber. Da ist es leichter, wenn ich älter aussehe, als ich bin. Sie würden sonst versuchen, mich über den Tisch zu ziehen. Dort ist das Bild.«
Ein wenig befangen führte sie ihn in die Nische. Hinter einem alten Bücherschrank, der einmal in einem Kloster gestanden hatte, lehnte das Bild an der Wand.
Einen Moment verschlug es ihm wirklich den Atem.
»Das ist ja… ich habe gar nicht gewußt, Laura, daß du so eine Künstlerin bist. Das ist ja so lebendig, als wollte das Kind aus dem Rahmen spazieren. Laura, ich möchte es kaufen«, rief er impulsiv.
»Das geht nicht.«
Harros Kopf fuhr herum. Der Mann hatte ja eine gräßliche Angewohnheit, lautlos aufzutauchen.
»Morgen wird es für eine Ausstellung geholt. Ich habe es dir noch nicht gesagt, Laura. Gestern kam Herr Gutenberg, du kennst ihn. Er eröffnet Ende der Woche seine Galerie und suchte Bilder von jungen, unbekannten Künstlern. Er sah das Bild und war begeistert.«
»Aber ich möchte es kaufen«, beharrte Harro eigensinnig.
Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm, er spürte die Berührung kaum, es war, als hätte sie ein Schmetterling darauf gesetzt.
»Wohin willst du es denn hängen, Harro? Vielleicht in die Halle vom Lindenhof? Damit jeder sieht, daß Laura Wagenfeld eine Tochter hat?
Nein. Ich will dir gern ein Bild von mir schenken, ich habe einiges gemalt, ich weiß sogar, daß sie dir gefallen werden.«
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich muß sausen, sonst komme ich zu spät und bekomme keinen guten Platz. Wo hast du Stephanie gelassen?«
»Du kannst dir denken, wer bei ihr ist«, knurrte Joachim mürrisch. »Sie hat sie gleich mit ins Badezimmer genommen und mir angedroht, daß der Hund nicht eher in Stephanies Nähe kommen darf, bis ich ihm Flohpulver in sein Fell gestäubt habe. Als hätte der arme Kerl nicht schon genug mitgemacht.«
Laura brachte Harro zu seinem Auto. Es stand noch immer dort, wohin er es abgestellt hatte, bevor er wußte, wer ihm in dem Geschäft begegnete.
Irgendwie war es Harro, als wäre sein Leben plötzlich ein wenig aus den Fugen geraten.
»Fahre vorsichtig, Harro.«
»Du bist mit deinen Gedanken schon längst nicht mehr bei mir«, klagte er. »Dir ist die verdammte Versteigerung wichtiger als ich. Überhaupt habe ich nur die zweite Geige gespielt. Deine Tochter hat mich nicht einmal beachtet. Der Hund war eine starke Konkurrenz für mich.«
»Das bist du Armer natürlich nicht gewohnt«, verspottete sie ihn. »Wenn du wiederkommst, Harro, wird sie sich an den Hund gewöhnt haben.«
»Es sieht dir wirklich ähnlich, daß du mit dem Gedanken spielst, ihn als Familienmitglied aufzunehmen. Ein wenig verrückt warst du schon immer, Laura.«
»Darum vertrugen wir uns ja auch so gut. Meckere nicht, Harro, das paßt nicht zu dem wunderschönen Morgen. Fahr vorsichtig.«
Er umklammerte ihre Hand, als hätte er Angst, sie könnte davonlaufen, so wirkte sie nämlich.
»Wirst du dich freuen, wenn ich wiederkomme?«
»Natürlich, Harro, gute Freunde sind mir immer willkommen. Ich habe nur leider sehr wenige.«
»Ich will aber nicht einer unter vielen sein. Ich will wichtig, der Wichtigste für dich sein:«
»Ja, Harro, ich weiß, nie das Zweitbeste. Du mußt fahren, und ich auch. Es war schön, daß du gekommen bist.«
Energisch, sehr kraftvoll entzog sie ihm ihre Hand und küßte ihn auf die Wange.
Augenzwinkernd sagte sie: »Mehr darf ich in der Öffentlichkeit leider nicht riskieren. Hier haben die Fenster Augen, und ich bin als zurückhaltende Dame bekannt. Tschau, Harro. Mach’s gut.«
Und damit lief sie leichtfüßig davon, vor der Treppe drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu.
Und dann war sie hinter der hohen Glastür verschwunden.
*
»Mach bitte ein anderes Gesicht, Julian.« Helena Guddorf musterte ihn ärgerlich. Julians Gesicht wurde noch abweisender.
»Deine Vorliebe für Vernissagen geht mir langsam auf die Nerven.« Er schloß den Wagen ab. Helena hatte es geschickt verstanden, ihn dorthin zu dirigieren, wo der Bentley jedem ins Auge springen mußte.
»Sei doch nicht so.« Verliebt hängte sie sich an seinen Arm. Sie zeigte sich gern in Julians Gesellschaft. Nicht nur, weil er ein sehr gut aussehender Mann war, Julian Hartinger war in der kleinen Stadt eine bekannte Persönlichkeit. Um den Architekten Hartinger riß man sich. Leider nahm er nur wenige Einladungen an, zu Helenas Mißvergnügen.
Mit seinem schwarzen Haar und dem braungebranntem Gesicht konnte man ihn für einen Südländer halten.
Er warf ihr gereizt einen Blick zu. Wie immer sah Helena aus wie aus einem Modemagazin entstiegen. Das grüne Kostüm paßte wundervoll zu ihren roten Haaren, die sie in lockeren Wellen bis zur Schulter hinunter trug. Julian war es nicht wichtig, ob die Haarfarbe echt war oder nicht. Helena war eine angenehme Begleiterin für Mußestunden.
Sie war anschmiegsam wie ein kleines Kätzchen, sie verlangte keine geistreiche Unterhaltung. Ein Mann, der so gestreßt war wie er, konnte in ihrer Gesellschaft entspannen.
Aber manchmal ging ihm ihre Naivität auf die Nerven. Manchmal wünschte er sich eine Begleiterin, mit der man gute Gespräche führen konnte, die sich für seine Arbeit interessierte.
Einmal hatte er geglaubt, so ein Mädchen gefunden zu haben. »Wenn du jetzt nicht ein anderes Gesicht machst«, drohte Helena wütend, »dann schreie ich.«
»Das paßt aber nicht zu deiner eleganten Aufmachung, meine Liebe. Darf ich dir die Tür öffnen?«
Die Vernissage war gut besucht. Überall standen die auffallend gekleideten Damen und die gut angezogenen Herren herum, hielten Sektgläser in den Händen und gingen von Bild zu Bild.
Herr Gutenberg kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu.
»Wie freue ich mich. Was wäre meine Vernissage ohne die schöne Helena? Und auch der Herr Architekt hat sich von seiner Arbeit gelöst.«
Julian langweilte sich gründlich. Ihm ging die Atmosphäre gewaltig auf die Nerven. Aber Helena war in ihrem Element. Sie begrüßte überschwenglich Leute, über die sie sich später amüsieren würde, küßte sie auf beide Wangen, wandte sich den Nächsten zu.
Julian entfernte sich geschickt von ihr. Heute ging ihm nicht nur das alles hier, heute ging ihm auch Helena auf die Nerven. In den nächsten Tagen werde ich keine Zeit für sie haben, nahm er sich vor. Was für ein Segen, daß wir nicht zusammen wohnen. Das war allerdings Helenas sehnlichster Wunsch.
Mit dem Glas in der Hand wanderte er durch den Raum, die Bilder interessierten ihn kaum.
Aber dann war seine Langeweile mit einem Schlag verschwunden, als wäre sie nie dagewesen.
Das Bild hing in einem schmalen blauen Rahmen. Es war ein kleines Mädchen, das hingebungsvoll mit Bauklötzen spielte. Was ihn so anrührte, dastehen ließ, als wäre er festgewachsen, das hätte Julian nicht zu sagen gewußt.
Er stand nur da und starrte auf das lebendige Gesichtchen, die Locken kringelten sich auf der hohen Stirn. Die braunen Augen waren umschatten von langen Wimpern.
»Sie haben es also entdeckt«, Herr Gutenberg schnaufte ein wenig. Wenn er zuviel laufen mußte, machte sich sein Herz bemerkbar.
»Ist es nicht bezaubernd? Ich habe die junge Künstlerin kennengelernt, sie ahnt nicht einmal, welches Talent sie besitzt. In einigen Jahren werden Bilder von ihr für normal Sterbliche nicht zu bezahlen sein.«
Ihm war, als hätte er das Kind schon einmal gesehen.
Unsinn. Ein Kind würde niemals einen solchen Eindruck bei ihm hinterlassen haben.
Es war die Ähnlichkeit…
Mit wem?
Auf Gutenbergs Worte achtete er nicht. Er starrte das gemalte Bild grüblerisch an. An wen erinnerte das Kind ihn? An einen Menschen, den er schmerzlich vermißte, sonst könnte doch sein Herz nicht solche Kapriolen schlagen.
»Hier bist du.« Helena schmollte. Sie hatte schon zuviel Sekt getrunken, aber das registrierte er nur am Rande. »Ich suche dich überall. Ich habe ein Bild entdeckt, Julian, das dich begeistern wird.«
Sie wandte sich lächelnd an Gutenberg, der ihr seine volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Julian bewohnt eine entzückende Wohnung in einem Altbau. Aber wenn wir heiraten, werden wir natürlich ein Haus bewohnen«, plapperte sie. Julian hörte gar nicht zu. »Julian hat ein Haus auf dem Hügel gebaut. Man hat von dort oben einen herrlichen Blick. Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen. Wenn die Lichter in den Fenstern blinken, gesellen sie sich zu dem Sternenlicht.«
»Das haben Sie wunderschön gesagt«, bewunderte sie Gutenberg. Was er wirklich dachte, das zeigte er nicht. Höflichkeit ist doch eine verlogene Angelegenheit, dachte er resigniert, aber er lächelte.
»Das Bild dort hinten an der Wand gefällt mir gut. Du mußt es dir unbedingt ansehen, Julian. Es besteht nur aus Farben, eine leuchtender als die andere. Was starrst du denn immerzu auf das Bild?« Das Julian so unhöflich war und überhaupt nicht reagierte, faßte sie ihn ein wenig unsanft an die Schulter.
Erst jetzt bemerkte sie, daß Julian die derbe Tweedjacke mit den Lederflecken am Ellbogen trug. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich umzuziehen.
Aber diese lässige Eleganz paßte zu ihm. Er war ein Mann, der sich um sein Aussehen nicht viel Gedanken machte.
»Wer hat das Bild gemalt?« wandte sich Julian an Herrn Gutenberg.
»Sie können es nicht kaufen.« Herr Gutenberg seufzte untröstlich. »Es ist unverkäuflich. Aber die Dame hat noch andere Arbeiten. Bei der nächsten Vernissage werde ich sie ausstellen.«
»Wie heißt sie.«
»Ist das denn wichtig?« Helena zupfte ärgerlich an seinem Arm. »Ich mag Kinderbilder eigentlich nicht. Was findest du nur so besonders daran? Komm, sieh dir mein Bild an, das ich entdeckt habe. Es müßte wundervoll für die Diele sein. Das Licht kommt von drei Seiten, die Farben würden herrlich zur Geltung kommen. Ich hoffe, Herr Gutenberg, daß das Bild verkäuflich ist.«
Gutenberg ging mit ihr davon, Julian war froh darüber.
Die großen braunen Augen zogen ihn in seinen Bann. Natürlich war es lächerlich, aber er konnte sich nicht davon lösen.
Plötzlich fiel ihm ein, an wen das Kind ihn erinnerte.
Gutenberg kam zurück, ein wenig amüsierte ihn Julians Interesse.
»Ich hätte gern gewußt, wie die Malerin heißt.« Julians Glas war noch immer bis zum Rand gefüllt, er war beherrscht genug, um Gutenberg nicht seine Aufregung zu zeigen.
»Da muß ich nachsehen«, log er. »Schließlich habe ich nicht alle Namen junger Künstler im Kopf. Aber wenn sie auch zu ihr fahren, glauben Sie mir, das Bild ist unverkäuflich.«
»Das Bild interessiert mich weniger«, erklärte Julian nach kurzem Überlegen. »Das Kind erinnert mich nur. Diese Ähnlichkeit ist verblüffend. Sie würden mir wirklich einen Gefallen erweisen, wenn Sie mir den Namen sagen.«
Julians graue Augen richteten sich voll auf das rote Gesicht des Mannes.
»Kommen Sie mit in mein Büro.« Gutenberg ging ihm voran, zum Glück waren die Gäste im hinteren Raum und umstanden Helena, die begeistert das Bild lobte.
Julians Herz klopfte schmerzhaft. Es war ja Unsinn, was er sich einbildete. Er war einfach überarbeitet… Hirngespinste gaukelten in seinem Kopf.
Julian glaubte, die Zeit vergessen zu haben. Aber ganz plötzlich war die Erinnerung wieder da. So deutlich, als hätte jemand einen Schleier fortgezogen.
Die Wochen in Ischl wurden mit einem Schlag wieder lebendig. Er glaubte sogar, das Lachen Lauras zu hören. Wie eine Glocke klang es. Laura… traumhaft schöne Tage, traumhaft schöne Stunden.
Vorbei… einfach so.
Gutenberg blätterte in seinen Papieren. Sehr viel Ordnung hatte er offensichtlich nicht. Hin und wieder warf er einen vorwurfsvollen Blick auf den Architekten, der offensichtlich immer nervöser wurde.
»Ich sollte bei meinen Gästen sein«, murmelte Gutenberg.
Wie deutlich, wie schmerzhaft plötzlich die Tage in Ischl lebendig wurden. Laura in einem leuchtend roten Anzug, eine kecke Mütze auf den Locken.
Laura, wie sie im Schnee lag, gestürzt im Steilhang… wie er sich über sie beugte…
Hatte er sie da zum ersten Mal geküßt?
Viele Küsse waren dem ersten Kuß gefolgt.
Julian wurde der Kragen eng, er zerrte an der Krawatte, öffnete den Kragenknopf.
»Ist Ihnen nicht gut, Herr Hartinger? Kein Wunder, bei der Hitze. Es sollte endlich wieder regnen. Mir setzt das warme Wetter auch mächtig zu. Aber ich bin zu dick, das braucht mir mein Arzt nicht zu sagen, das weiß ich selbst. Aber leider schmeckt mir das Essen so gut und einem guten Gläschen bin ich auch nicht abgeneigt. Ah, hier habe ich die Adresse. Ich wußte doch, daß ich sie finden würde. Ich bin nur leicht nervös, wenn jemand neben mir steht.
Laura Wagenfeld.«
Er hatte sich nicht geirrt. Es war Lauras Tochter…
Weiter vermochte er nicht zu denken. Wie alt war das Kind auf dem Bild, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war?
»Wollen Sie auch die Adresse?«
Das Gesicht des Mannes gefiel Gutenberg überhaupt nicht. Geistesabwesend wirkte es, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort.
»Sehr gerne, Herr Gutenberg, wenn es keine Mühe macht.«
»Ihr Interesse ist privater Natur, nicht wahr?« Gutenbergs freundliche Augen ruhten auf dem markanten Gesicht. »Ich weiß, daß Sie nicht die Absicht haben, mir Konkurrenz zu machen.«
Julian zwang sich zu einem Lachen, aber seine Lippen waren so steif, als gehörten sie ihm nicht.
»Da kann ich Sie beruhigen. Ich habe mit meiner Arbeit genug zu tun.«
Er bekam die Adresse. Gutenberg schrieb sie auf einen Zettel, und Julian steckte ihn sofort in seine Brieftasche.
»Ich habe noch eine Bitte.« Julian und Gutenbergs Blicke trafen sich.
»Sie brauchen Sie nicht aussprechen, Herr Hartinger. Ich habe das alles schon vergessen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Sie sehen krank aus, dann gehen Sie an die frische Luft. Sie können diesen Ausgang nehmen, dann brauchen Sie nicht durch die Ausstellungsräume zu gehen. Ich werde Sie bei Ihrem Fräulein Braut entschuldigen.«
Sie ist nicht meine Braut, hatte er schon auf der Zunge, aber das war jetzt nicht wichtig. Das hielt ihn nur unnütz auf. Er und Helena waren nicht verlobt. Bisher war es ihm immer gelungen, sich davor zu drücken. Hin und wieder spielte er mit dem Gedanken, Helena zu heiraten. Sie war eine ideale Gastgeberin, sie sah blendend aus. Ein erfolgreicher Mann brauchte eine solche Frau an seiner Seite.
Aber fünf vor Zwölf schreckte er davor zurück. Und noch immer war es ihm gelungen, Helena hinzuhalten.
Er bedankte sich bei Gutenberg, der Mann war ihm sympathisch geworden. An der frischen Luft dehnte er den Körper und atmete tief die frische Nachtluft in sich ein.
*
Gebadet, gebürstet, von den lästigen Flöhen befreit, entpuppte sich der Hund erstaunlich.
»Er gleicht einem Neufundländer«, stellte Lauras Mutter fest, die für zwei Tage zu Besuch gekommen war.
»Es ist nicht wichtig, ob er reinrassig ist oder nicht«, erklärte Herr Poppel energisch. »Er ist der beste Spielkamerad für unsere Kleine. Es ist herrlich zu beobachten, wie sie mit ihm spricht. Ja, spricht. Unsere sprechfaule kleine Dame plappert ununterbrochen mit ihm.«
»Sie haben recht, Joachim.« Frau Wagenfeld nickte amüsiert. »Es scheint, er ist hier der Kaiser. Stephanie hat kaum einen Blick für mich.«
Herr Poppel und Frau Wagenfeld verstanden sich wunderbar.
Frau Wagenfeld war froh, daß Laura den Mann zur Seite hatte. Seitdem Laura mit Herrn Poppel zusammenlebte, brauchte sie keine Angst mehr um sie zu haben.
»Da hast du ja einen Namen für unseren Freund gefunden«, lachte Laura, die in die Küche kam. »Nennen wir ihn Herr Kaiser. Sag mal Herr Kaiser, Stephanie.«
Die Kleine dachte gar nicht daran. Sie saß auf dem Fußboden, »Herr Kaiser« hockte vor ihr und ließ die Bauklötze und seine kleine Freundin nicht aus den Augen.
Stephanie baute einen Turm und plapperte unaufhörlich dabei. Es sah aus, als verstünde der Hund jedes Wort.
Wenn der Turm hoch genug war, krähte Stephanie vergnügt, Herr Kaiser hob die Pfote, und die Bauklötze flogen durch die Küche. Zusammen krochen sie über den Boden und sammelten die Klötze wieder auf.
»Wirklich erstaunlich.« Frau Wagenfeld schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Hör doch mal, Laura, was erzählt Stephanie ihm?«
»Eine Geschichte«, lachte Laura vergnügt. »Es sieht wirklich aus, als seid ihr beide abgemeldet. Habt ihr nicht Lust, bei diesem herrlichen Wetter spazierenzugehen, einmal ohne Hund und Kind?«
»Ein guter Gedanke«, nickte Herr Poppel erfreut. »Aber natürlich nehmen wir die beiden mit. Dann kannst du dich hinter die Bücher klemmen, Laura. Bei diesem herrlichen Wetter wird kein Kunde kommen. Aber wir sind nicht traurig darum«, erklärte er rasch, als er Frau Wagenfelds ängstliche Augen sah. »Das Geschäft war in diesem Jahr sehr gut, wir haben wirklich keinen Grund zu klagen.«
»Stephanie«, rief Frau Wagenfeld entsetzt. Die Kleine sah erstaunt die Großmutter an, die selten diesen energischen Ton für sie hatte.
»Hunger. Er hat Hunger.«
»Sie hat einen ganzen Satz gesagt«, strahlte Herr Poppel.
»Aber sie fütterte Herrn Kaiser mit ihrem Butterbrot.« Laura wußte nicht, ob sie lachen oder entsetzt sein sollte. »Mal beißt sie vom Brot, mal er. Und seit wann frühstückt sie auf dem Fußboden?«
»Mit Herrn Kaiser ist eben alles anders«, behauptete Poppel vergnügt. »Es wird ihr schon nicht schaden. Mach nicht so kummervolle Augen, Laura. Freu dich lieber, welche Fortschritte unser Kind macht.«
Später saß er neben Frau Wagenfeld im Park. Sie beide sahen Stephanie zu, wie sie mit Herrn Kaiser über die Wiese tollte.
»Sie ist bezaubernd.« Tränen des Glücks schimmerten in Frau Wagenfelds Augen. »Wieviel Schönes nimmt sich doch mein Mann.«
»Das kann man wohl sagen. Spricht er nie über Laura? Fragt er auch nicht?«
Es war heiß, sie saßen unter der breitästigen Kastanie, die ihren wohltuenden Schatten über sie warf. Stephanie hatte sich auf den Rasen gesetzt, das weiße Hütchen war verrutscht und der rote Spielanzug war voll Sand und Erde. Die kleinen Händchen pflückten Blumen, und Herr Kaiser sah ihr aufmerksam zu.
»Er bereut sein Verhalten längst.« Frau Wagenfeld lehnte sich entspannt zurück. Hier in der Stadt, bei Laura und ihrem Töchterchen und Herrn Poppel war sie mehr zu Hause als in ihrer Villa im Dorf. Hier tankte sie. Hier gab es Menschen, die ihr zuhörten, die ihre Sorgen ernst nahmen, mit denen man lachen konnte.
Und daß es immer was zum Lachen gab, dafür sorgte Stephanie. »Anfangs versuchte er, mir meine Fahrten zu Laura zu verbieten. Ich habe ihn einmal sogar ausgelacht. Wenn ich jetzt zurück bin, schleicht er um mich herum. Aber er fragt nicht. Hin und wieder lasse ich Aufnahmen liegen, daß er sie sehen muß. Bilder von Stephanie. Einmal ertappte ich ihn dabei, wie er das Bild in der Hand hielt. Als er mich sah, legte er es rasch zurück.
Sein Stolz wird ihn noch einmal umbringen. Und leider hat Laura seinen dicken Kopf geerbt.
Würde Laura den ersten Schritt tun, mit offenen Armen würde er sie empfangen, sie und das Kind.«
Frau Wagenfeld seufzte.
»Mein Mann wird im nächsten Monat 70 Jahre. Für ihn wäre es das schönste Geschenk, wenn Laura käme. Aber wenn ich das Thema anschneide, bekommt sie ihr eigensinniges Gesicht.«
»Herr Erdmann ist in der letzten Zeit häufiger Gast bei uns.«
Frau Wagenfeld warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. »Sie mögen ihn nicht?«
»Ich kenne ihn zu wenig, um ihn zu mögen oder nicht. Mir gefällt nur manches nicht an ihm. Er kommt, wann er will, erwartet, daß Laura immer Zeit für ihn hat. Ist gekränkt, wenn sie nicht sofort begeistert auf seine Vorschläge eingeht.«
»Und Laura?«
Staphanie krabbelte auf ihre Beinchen und rannte über den Rasen. Als sie auf den Weg laufen wollte, verstellte Herr Kaiser ihr den Weg, bellte und stupste sie behutsam zurück. Auch die anderen Lufthungrigen, die auf den Bänken saßen, amüsierten sich über die beiden.
Gespannt beobachteten sie das Schauspiel. Stephanie krähte empört, wollte den Hund zur Seite schieben. Aber Herr Kaiser kannte seine Pflicht, er bellte, winselte.
»Er ist das beste Kindermädchen«, lachte Herr Poppel glücklich. »Was für ein Glück, daß Laura ihn ins Haus brachte. Sehen Sie doch nur, Stephanie hat nicht einmal Lust, mit anderen Kindern zu spielen, der Hund genügt ihr.«
»Jetzt kann ich es ja sagen«, vertraute Frau Wagenfeld dem Freund an, ja, er war für sie ein Freund. »Ich habe mir manchmal Gedanken gemacht, ob es normal war, daß Stephanie so wenig sprach, und wenn, dann krähte sie nur, und man konnte sie nicht verstehen. Der Hund ist tatsächlich ein Segen für sie.«
Die Sonne versteckte sich einen Moment hinter einer dicken Wolke, die wie geschlagene Sahne aussah.
»Und Laura? Wie steht Laura zu Harro?« wagte Frau Wagenfeld zu fragen. Sie machte ein so ängstliches Gesicht, daß Herr Poppel beruhigend seine Hand auf ihre Finger legte.
»Laura ist sehr klug. Sie hat einmal eine Enttäuschung hinter sich, sie ist vorsichtig geworden, vielleicht sogar zu vorsichtig. Natürlich genießt sie seine Aufmerksamkeit.«
»Hoffentlich hofft sie nicht, daß er sie heiratet«, flüsterte Frau Wagenfeld gepreßt. »Sie kennen seine Mutter nicht, Joachim. Sie ist der Kopf der Familie, sie bestimmt alles. Im Augenblick ist eine junge Dame zu Gast, sie kommt aus einem reichen Haus. Die Erdmanns brauchen nämlich Geld. Sie haben noch immer Geld geheiratet. Der Mensch und die Liebe sind dort oft zu kurz gekommen.«
»Ob Sie es Laura sagen?« überlegte Poppel ängstlich.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mir geschworen, mich nicht einzumischen. Ich kann nur auf Lauras gesunden Verstand vertrauen.«
Stephanie rannte über den Rasen auf sie zu. In der kleinen Faust quetschte sie die Blumen, strahlend lief sie auf die beiden zu.
»Für dich, Omi.« Sie streckte ihr die Blumen entgegen, die leider Köpfe und Blätter hängen ließen. Aber Frau Wagenfeld nahm sie, als wäre es der schönste Strauß, den sie je bekommen hatte.
»Du kriegst keine Blumen, du Kriegst einen Kuß.« Sie hatte einen Moment Herrn Poppel angestarrt und war zu dem Ergebnis gekommen. Schmatzend küßte sie ihn auf die Wangen und rannte schon wieder davon. Mit übermütigen Sprüngen lief Herr Kaiser neben ihr her.
*
Laura räumte das kostbare Porzellan aus der Kiste. Als die Tür geöffnet wurde und die Musik erklang, sah sie auf, nicht übermäßig begeistert, als sie den Besucher erkannte.
»Harro, du schon wieder?« staunte sie. »Du warst doch erst gestern hier.«
»Also, den Empfang habe ich mir anders vorgestellt.« Er brauchte den Beleidigten nicht zu spielen, Harro war wirklich gekränkt. Es war nicht leicht gewesen, sich vom Lindenhof loszueisen. Hier war er, und statt ihm um den Hals zu fliegen, zeigte Laura nicht einmal Freude. Für seine Erwartungen erhob sie sich viel zu langsam.
Sie lachte über ihn, als wäre er ein störrischer Junge.
»Entschuldige, daß ich mich wundere. Aber du bist doch erst gestern abend fortgefahren, Harro. Immerhin liegen zwischen dem Lindenhof und dieser Stadt einige Kilometer.«
»Da siehst du, was du mir bedeutest. Mir ist keine Mühe zu groß. Ich zeige dir fortwährend meine Liebe, ich umwerbe dich, wie ich noch nie einem Mädchen den Hof gemacht habe.«
»Ich weiß es zu schätzen.« Sie lächelte. Sie trug eine einfache helle Hose, eine bunte Bluse, die ihr locker über die Hüften hing. Ihr schönes Haar hatte sie mit einem Tuch bedeckt.
Er mochte sie nicht in diesem Aufzug und doch bemerkte er, wie schön sie sogar in dieser Kleidung war.
»Hast du eine Stunde Zeit für mich, Laura? Ich möchte mit dir ein wenig bummeln gehen, und dann bin ich gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen.«
Sie hatte ihn flüchtig auf beide Wangen geküßt und hatte dann rasch Abstand zwischen sich und ihn gebracht. Auch das registrierte er gekränkt.
»Schieß los.« Sie hockte schon wieder vor der Kiste und schälte ein Milchkännchen aus der Holzwolle, mit der man das Porzellan geschützt hatte.
»Ich habe für das Wochenende eine Überraschung für dich. Wir werden nach Wien fahren, abends in die Oper gehen, durch Wien bummeln. Das Hotel habe ich schon bestellt.«
Sie hielt das Porzellan in der Hand und kniete noch immer auf dem Boden. Mit einem rätselhaften Blick sah sie zu ihm hinauf.
»Da muß ich dich enttäuschen, Harro. Am Wochenende kann ich nicht. Falls du es vergessen haben solltest, ich habe eine Tochter.«
Und er Narr hatte geglaubt, sie würde ihm vor Freude um den Hals fallen. Sie benahm sich wirklich immer anders, als man erwartete, vollkommen anders als die Mädchen, in die er bisher verliebt gewesen war.
»Das weiß ich. Einen Hund auch. Im Ernst, Laura, was soll das? Du weißt doch genau, daß Herr Poppel und Stephanie bestens miteinander auskommen. Er ist doch froh, wenn er das Kind für sich allein hat.«
Sie erhob sich. In der hellen Hose kamen ihre langen Beine vorteilhaft zur Geltung. Kleine Locken stahlen sich aus dem Kopftuch und fielen über ihre Stirn.
»Ich kann Joachim unmöglich ein ganzes Wochenende das Kind zumuten. Stephanie ist in den letzten Wochen sehr lebhaft geworden, sie versucht ständig, ihren kleinen Kopf durchzusetzen. Sie ist für Joachim zu anstrengend. Nein, Harro, es tut mir leid für die Mühe, die du dir gegeben hast. Aber bevor du etwas planst, solltest du doch vielleicht mit mir darüber sprechen.«
Er war vor Ärger dunkelrot geworden.
»Du hast also keine Lust.«
Sie stellte behutsam, als hätte sie Angst, es könnte ihr aus der Hand fallen, das Kännchen auf den Tisch.
»Willst du mich absichtlich falsch verstehen?« Ihre Wangen waren vor Ärger rot geworden. Ihre braunen Augen hatten schon als Kind so intensiv geleuchtet, wenn sie wütend gewesen war. Wie Sonnenblumen, hatte er ihr einmal erklärt.
Sie musterte ihn mit weit geöffneten Augen, als wäre sie es, die man enttäuscht hatte.
»Ich habe ein Kind, Harro.«
»Hör auf, mit mir zu reden, als wäre ich schwachsinnig«, fuhr er sie an. »Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe, dann würdest du genauso verrückt darauf sein, so viele Stunden wie nur möglich mit mir zu verbringen. Aber dir ist ja alles wichtiger als ich. Deine Tochter, deine Arbeit, Herr Poppel, sogar der blöde Hund.«
Sie hatte schon den Mund zu einer heftigen Antwort geöffnet, aber dann lächelte sie. Das war typisch für sie, dachte er wütend. Mal platzt sie vor Wut, bringt mich zum Wahnsinn… und dann lächelte sie.
»Komm, Harro. Wie sagtest du früher immer, wenn ich meinen Rappel kriegte? Zieh die Bremse an.
Wir kennen uns doch. Wenn wir wütend sind, sagen wir Dinge, die wir hinterher bereuen. Bitte, geh in die Wohnung hinauf, ich hoffe, du kannst mit uns zu Mittag essen. Es duftet köstlich bis hierher. Oben findest du mein Töchterchen mit dem Hund, den wir Herr Kaiser getauft haben.« Sie sprach absichtlich in dem launigen Ton. Sie wußte doch, wie man ihn behandeln mußte. »Herr Poppel wird in seinem Zimmer sein, er fühlt sich heute nicht sehr gut.
Ich komme dir sofort nach, Harro.«
Er war halb versöhnt und natürlich überzeugt, daß er seinen Willen durchsetzen würde.
Auf dem Lindenhof ging er nie in die Küche, aber hier spielte sich das tägliche Leben in der Küche ab.
Nicht sehr begeistert sah er die dicke Haushälterin am Herd stehen. Stephanie hielt eine bunte Kette in der Hand, sie sah Harro nur flüchtig entgegen und wandte sich wieder dem Kasten mit den bunten Perlen zu.
Die Haushälterin lächelte breit und begrüßte ihn wortreich.
»Gehen Sie doch ins Wohnzimmer, da finden Sie Herrn Poppel auch. Vielleicht darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee kochen.«
Nach Poppels Gesellschaft stand ihm ebenso wenig der Sinn wie nach dieser Küchenatmosphäre. Kleinbürgerlich, nannte er sie bei sich. Wie ganz anders war doch dagegen das Leben auf dem Lindenhof.
Der Hund kam vorsichtig näher und schnupperte an seinem Schuh. Seine Schnauze sah aus, als wäre sie mit Marmelade in Berührung gekommen.
Harro trug eine elegante graue Hose. Ärgerlich stieß er mit dem Fuß nach dem Tier. »Geh fort«, knurrte er dabei.
Alles andere war das Werk weniger Minuten. Mit einem Schrei stürzte sich Stephanie auf den Mann. Bevor Harro wußte, was ihm geschah, hatte die Kleine ihre spitzen Zähne in seinen Oberschenkel gegraben. Und als Harro sich bückte, um sie fortzustoßen, gruben sich ihre Fingernägel in Harros Wange.
War es ihm zu verdenken, daß er die Hand hob? Dem Kind eine schallende Ohrfeige versetzte?
Der Hund schoß wie ein Pfeil auf den Mann zu, aber zum Glück hatte Herr Poppel gerade die Küche betreten und rief dem Hund einen scharfen Befehl zu.
Der Hund gehorchte sofort, er warf sich platt auf den Boden, ließ kein Augen von dem Mann und knurrte bösartig.
Poppel faßte sein Halsband, der alte Mann reckte sich und musterte Harro kalt.
»In diesem Haus wird kein Kind geschlagen.«
»Aber ich soll mich von diesem verzogenen Gör beißen lassen! Sehen Sie nur, was sie mit meinem Gesicht gemacht hat.«
Das kleine Persönchen stemmte kriegerisch die Hände in die Seite. Stephanie trug eine winzige Spielhose und ein Blüschen, das einmal weiß gewesen war.
»Du hast ihn getreten«, schrie sie, ihre Stimme überschlug sich vor Wut. »Großvater, ich mag den überhaupt nicht mehr. Nie, nie, nie mehr. Er hat Herrn Kaiser getreten«, weinte sie ihrer Mutter entgegen.
»Was ist denn hier los? Den Lärm hört man ja im ganzen Haus.«
»Er hat mich geschlagen«, schluchzte das Kind, »und meinen armen süßen Hund getreten.«
»Dein Wortschatz ist wirklich erstaunlich«, murmelte Laura erschöpft. Stephanie hatte sich in ihre Arme geworfen. Über den Kopf des Kindes sah sie Harro an.
Der war weiß vor Wut. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich.
»Ich bin nicht gewohnt, von ungezogenen Kindern gebissen zu werden.« Seine Worte peitschten durch die Luft. »Sieh dir meine Wange an. Das Werk deiner Tochter. Vielleicht solltest du ihr mal die Nägel schneiden.«
»Er hat ihn getreten«, schluchzte Stephanie, der es bei dem Gesicht der Mutter doch nicht ganz geheuer war.
»Ich beneide dich nicht darum.« Harro mußte reden, er platzte sonst vor Wut. Die Worte überlegte er sich nicht, sie purzelten aus ihm heraus. Stephanie musterte er dabei, als wäre sie ein wildes Tier. »Nein, darum beneide ich dich nicht, dieses Kind zu erziehen. Mit einem alten Herrn, ohne Mann wird dir diese Aufgabe vermutlich über den Kopf wachsen.«
»Genug, Harro. Ich habe nie geglaubt, daß du der richtige Vater für meine Tochter oder ein guter Partner für mich bist. Ich glaube, Harro, du weißt gar nicht, was Liebe ist. Liebe ist, wenn man den anderen mehr liebt als sich selbst.
Aber du wirst dir selbst immer der Wichtigste sein.«
»Danke für die Aufklärung. Ich denke, damit ist alles gesagt, was zu sagen ist. Ich darf mich wohl empfehlen.«
Mit hoch erhobenem Kopf ging er durch die Küche, er sah niemanden an dabei.
»Den Weg findest du ja allein, da brauche ich dich nicht zu begleiten.«
Aber Herr Poppel ließ es sich nicht nehmen, ihm die Tür zu öffnen. Vielleicht wollte er aber auch nur sicher sein, daß er wirklich ging.
Es wurde keine vergnügliche Mahlzeit, obwohl die Köchin sich doch alle Mühe gegeben hatte.
*
Stephanie schlief. Herr Poppel sah gerührt auf das Bild. In seinen Augen sah das Mädchen wie ein kleiner Engel aus. Herr Kaiser lag auf dem bunten Bettvorleger. Als er die beiden in der Tür stehen sah, wedelte er mit dem Schwanz, aber dann legte er seinen Kopf wieder auf die Pfoten.
»Das solltest du malen, Laura.« Er seufzte, seine Stimme brach. »Manchmal glaube ich, ich träume das alles nur. Daß ich das alles in meinem Alter noch erleben darf.«
Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die das behagliche Kinderzimmer und auch Laura umschloß.
»Ich bin so froh, Laura, daß es euch gibt.«
»Und ich bin froh, daß es dich gibt, Joachim, durch dich bin ich unabhängig geworden, kann Geld verdienen mit einer Arbeit, die mir Freude macht und brauche mein Töchterchen nicht fortzugeben.«
Sie gingen in das Geschäft hinunter, die Kiste stand noch immer auf dem farbenfrohen Hirtenteppich und wollte ausgepackt werden.
»Wir machen es zusammen, Laura. Du gibst mir die Sachen an, und ich stelle sie auf den Tisch. Dann können wir in Ruhe überlegen, wie sie am vorteilhaftesten dekoriert werden.«
Sie arbeiteten eine Weile schweigend. Aber die Frage brannte ihm auf dem Herzen.
Er nahm den kunstvoll gearbeiteten Kerzenleuchter aus ihrer Hand, hielt ihn behutsam zwischen den Fingern: »Hat er dir weh getan, Laura?«
Sie häufte die Holzwolle auf den Fußboden, verglich die Liste mit den Sachen, die schon ausgepackt waren.
»Drei handgemalte Serviettenringe fehlen noch.« Sie pustete eine Locke aus der Stirn, vergrub die Hände in der restlichen Holzwolle und suchte die Teile, aber sie sah ihn an dabei.
»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie leise. Ihre Augen brannten, einen Moment hatte sie Angst, sie würde in Tränen ausbrechen. »Ich habe anfangs seine Besuche mehr genossen als in der letzten Zeit. Aber wenn du glaubst, daß er mir das Herz gebrochen hat, dann kann ich dich beruhigen. Ich weiß längst, daß er nur ein Freund für frohe Stunden ist. Er ist kein Mann, der mit mir durch dick und dünn geht. Vielleicht ist es nicht einmal seine Schuld. Es ist ihm bisher immer alles sehr leicht gemacht worden. Was er sich in den Kopf setzte, das bekam er auch.«
»Kann es sein«, Poppel tastete sich behutsam vor, »daß deine Anziehungskraft nicht nur die alte Freundschaft ist, sondern mehr noch deine Persönlichkeit? Du tust längst nicht alles, was er will. Vielleicht reizt ihn dein Widerstand.«
Sie zuckte nur die Achseln. »Vielleicht.« Sie seufzte ein wenig. Ein Lächeln nistete in ihren Mundwinkeln.
»Manchmal kann das Leben schon sehr schwierig sein.«
Sie hob den Kopf, und beide betrachteten das Auto, das vor dem Eingang hielt.
»Wenn man vom Auto auf den Besitzer schließen kann«, Laura versuchte zu scherzen, »dann ist er ein recht zahlungskräftiger Kunde. Wir sollten versuchen, ihm den Davenport-Sekretär anzudrehen.«
Im gleichen Augenblick stieß sie einen Laut aus, den Joachim Poppel noch nie von ihr gehört hatte.
Er sah, daß sie kalkweiß geworden war, ja, sie zitterte sogar. »Das ist…« Ihre Stimme war nur ein Krächzen. »Es ist Julian. Großer Gott. Es ist Julian.«
Poppel brauchte nicht fragen, wer Julian war. Er sah von Laura auf den Mann.
Er war vor dem Eingang stehengeblieben und musterte interessiert das Haus.
Er war groß, von einer lässigen Eleganz. Er trug eine beige Lederjacke, einen Schal lose um den Hals geknüpft.
»Ich will ihn nicht sehen«, rief Laura in Panik. So kannte er sie gar nicht. »Nicht heute. Ich kann nicht…«
»Aber, Laura. Er wird zufällig vorbei gekommen sein, oder glaubst du, daß er nach so vielen Jahren deine Adresse herausgefunden hat?«
Schweiß stand auf ihrer Stirn. Poppel hatte sie viel zu gern, um sie zu quälen, er konnte nicht ertragen, wenn sie verzweifelt war.
»Ich weiß nicht… so viele Zufälle gibt es doch einfach nicht. Er kommt ins Geschäft. – Joachim, ich will nicht mit ihm sprechen. Versuche, ihn rasch loszuwerden. Ich kann nicht…«
Sie jagte die Treppe zur Wohnung hinauf, stolperte, fing sich wieder. Sie schlug die Tür zu. Joachim wäre ihr gerne nachgegangen, aber er sah dem Mann entgegen.
Und was Joachim sah, gefiel ihm sehr.
Das schwarze Haar war an den Schläfen mit feinen Silberfäden durchzogen, das markante, sympathische Gesicht wirkte wie das Gesicht eines jungen Mannes. Offene graue Augen sahen Herrn Poppel entgegen.
Stephanies Vater. Joachim bildete sich ein, daß Stephanie das gleiche Lächeln hatte wie dieser Mann.
Es würde ihm schwer fallen, ihn zu belügen. Poppel faßte nicht rasch Sympathien, aber in diesem Fall geschah es.
»Guten Tag. Darf ich mich ein wenig umsehen?«
»Aber selbstverständlich«, beeilte sich Joachim zu versichern. So war er also genauso zufällig hier wie Harro.
Julians Blick fiel auf den Davenport-Sekretär, begeistert betrachtete er die winzigen Laden, strich mit der Hand über den Lederbezug der Platte.
»Das ist ja eine Schönheit, diese Möbelstück. Wo haben Sie es nur aufgetrieben?«
»Nicht ich, sondern meine Teilhaberin. Sie war in England, als ein Herrensitz aufgelöst wurde. Sie hat noch mehr Kostbarkeiten mitgebracht. Sehen Sie sich nur in Ruhe um.«
»Ihre Teilhaberin heißt Laura Wagenfeld, nicht wahr?«
Poppel nickte. »Sie kennen sie?«
»Ja. Ich hätte sie gern gesprochen. Ist das möglich?«
Die grauen Augen waren so klar und ausdrucksvoll, als wollte Julian den Weg zu seinem Herzen freigeben. Poppel schluckte.
Bedauernd hob er die Hände. »Leider heute nicht. Sie ist nicht im Geschäft.« Damit log er nicht einmal. »Wenn ich vielleicht etwas ausrichten kann?«
»Schade. Ich bin einen langen Weg gekommen, nur um sie zu sehen. Wann kommt sie zurück?« und mit Angst in der Stimme fuhr er fort. »Sie wird doch nicht verreist sein?«
»Nein. Aber es kann heute abend spät werden. Fahren Sie heute abend noch zurück?«
»Nein. Ich habe im ›Drei Löwen Klub‹ ein Zimmer genommen.
Wenn Laura, ich meine Fräulein Wagenfeld, zurück ist, kann sie mich vielleicht anrufen. Ich gehe sehr spät schlafen.«
Er hatte die Hand auf dem Sekretär liegen, als gehörte er bereits ihm. »Sie heißt doch noch Fräulein Wagenfeld, oder ist sie inzwischen verheiratet?«
»Nein, verheiratet ist sie nicht.«
Warum konnte er diesen Mann nicht mit in die Wohnung nehmen? Warum konnte er Laura und ihn nicht zusammenbringen… und diesem Herrn seine Tochter zeigen?
»Ich will Ihnen sagen, woher ich Lauras Adresse habe. Ich habe bei einer Vernissage ein Kinderbild gesehen, das Laura gemalt hat. Die Ähnlichkeit mit Laura ist verblüffend. Ich wußte nicht, daß Laura so eine Künstlerin ist.«
»O ja«, beeilte Poppel sich, das zu bestätigen. Wenn er ihn nur nicht nach dem Kind fragte. »Wir haben hier einige Bilder von Laura hängen. Sie malt nicht sehr viel.«
»Sie wird wenig Zeit haben. Ein Kind, ein Beruf… da muß man schon organisieren können. Darf ich fragen, wie alt die Kleine ist?«
»Da müssen Sie Laura schon selbst fragen, so genau weiß ich es nicht.«
»Kann ich die Kleine sehen? Dann bin ich doch nicht ganz umsonst hierher gekommen.«
Poppel wurde es siedendheiß, der Schweiß lief ihm über den Rücken.
»Bedaure. Die Kleine schläft, vielleicht ist sie auch mit Laura fortgefahren.« Er wußte selbst, daß er schlecht log. Beinahe hilflos sahen die Augen, die so jung wirkten in dem Gesicht, in das das Alter seine Spuren gegraben hatte, den jungen Mann an.
»Schon gut«, beruhigte Julian ihn mitleidig. »Wenn Sie bitte Laura meine Visitenkarte geben wollen. Und sagen Sie ihr doch bitte, sie soll mich anrufen, gleich, wie spät es ist.«
»Ich werde es ausrichten. Sie können sich darauf verlassen.«
Julians Lächeln war warm, wie ein freundschaftlicher Händedruck. »Das weiß ich, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«
»Bitte, verkaufen Sie den Sekretär nicht. Ich werde ihn kaufen.« Bei sich setzte er hinzu: ganz gleich, wie mein Gespräch mit Laura auslaufen wird.
*
Herr Poppel fand Laura in völlig aufgelöstem Zustand.
»Er ist meinetwegen gekommen, nicht wahr?« Lauras Augen waren viel zu groß in dem kalkweißen Gesicht.
»Ja, Laura. Aber du hast doch keinen Grund, dich so aufzuregen. Beruhige dich bitte.«
Er nahm ihre Hände, drückte sie zärtlich und lächelte sie an dabei.
»Laura, ich kann jetzt verstehen, daß du dich in den Mann verlieben mußtest. Er war mir vom ersten Augenblick an sympathisch.«
»Aber für mich ist die Sache zu Ende. Ich will nicht mehr. Ich habe es überwunden. Ich habe Angst, Joachim.« Im selben Moment brach sie in Tränen aus.
Stephanie war aufgewacht. Sie hörten Frau Bauers singende Stimme. Das singende Sprechen hatte sie sich angewöhnt, aber nur, wenn sie sich mit Stephanie beschäftigte. Für gewöhnlich ärgerte Herr Poppel sich darüber, jetzt achtete er nicht einmal darauf. Im Augenblick war nur Laura wichtig.
»Warum hast du Angst, Laura? Bitte, sag’ es mir.«
Sie umklammerte seine Finger und schluchzte noch einmal verzweifelt auf.
»Verstehe doch, Joachim. Es geht um Stephanie. Stephanie gehört mir, sie ist mein Kind.«
»Aber, Liebe. Was redest du dir denn ein? Der Mann sieht nicht aus, als könnte er einem Menschen weh tun. Er wird dir doch nie das Kind fortnehmen, dazu hat er ja gar kein Recht.«
Jetzt schlug auch Joachims Herz angstvoll. Natürlich glaubte er diesen Unsinn nicht eine Sekunde.
»Nicht wegnehmen.« Das Zittern ihrer Hände hörte auf. »Aber als Vater wird er Rechte geltend machen, nicht einmal das könnte ich ertragen. Wo ist er jetzt? Wird er wiederkommen?«
»Heute nicht. Heute wartet er nur auf deinen Anruf.« Er musterte sie ängstlich. Ihr Gesicht sah wie versteinert aus.
»Ich bin im Augenblick nicht in der Lage, ich kann nicht mit ihm sprechen«, rief sie abgehackt. »Ich muß erst ruhiger werden. Ich muß ihm selbstbewußt begegnen.«
Im Kinderzimmer kreischte Stephanie vor Wut, Frau Bauer schalt die Kleine liebevoll.
»Sie wird mit Stephanie einfach nicht fertig«, stellte Herr Poppel zufrieden fest.
Laura antwortete nicht. Ihre Ohren waren taub für ihre Umgebung. Sie lief durch das geräumige Wohnzimmer, es war ihr gar nicht bewußt, daß sie Dinge in die Hand nahm und sie zurückstellte.
Ihre Angst hielt sie gefangen.
Daß diese Angst nicht nur Stephanies wegen war, kam Laura nicht in den Sinn. Sie redete sich ein, glaubte es sogar, daß sie mit Julian und ihrer Liebe zu ihm längst abgeschlossen hatte. Daß sie sich selbst nicht traute, war ihr nicht bewußt.
Abrupt blieb sie stehen. Er musterte sie ängstlich. Die Sonne spielte auf ihren Haaren. Das Braun verwandelte sich in Gold, ein Schimmer davon flog über ihr Gesicht und ihren Augen, die vor Angst noch immer weit geöffnet waren.
»Joachim. Ich habe die Lösung. Bitte, bitte, sag ja. Wir werden einfach fortfahren.«
»Fortfahren? Du und Stephanie?«
Die Angst, die beiden entbehren zu müssen, war wie ein Krampf, der seinen Magen quälte.
»Nicht nur Stephanie und ich. Du mußt auch mitkommen.«
Ihre Stimme war hell vor Aufregung. »O bitte, schlag mir diese Bitte nicht ab, Joachim.« Sie sprach viel zu schnell, als überschlügen sich ihre Gedanken. »Du hast dich in der letzten Zeit gar nicht wohl gefühlt. Dir wird Luftveränderung guttun. Ich will nicht ohne dich sein. Ich brauche dich, Joachim.« Sie wußte genau, daß er nicht nein sagen konnte.
»Aber das Geschäft.«
»Es ist in der letzten Zeit ruhig gewesen. Die zahlungskräftigen Kunden sind nicht in der Stadt. Und wenn schon, Joachim, wir können uns doch einen Urlaub leisten, wir haben in den letzten Jahren keinen genommen. Wir haben nur gearbeitet.«
»Wie stellst du es dir vor…«
Sie wußte, daß sie gewonnen hatte. Sie strahlte, lief zu ihm, drückte erleichtert einen Kuß auf seine Wange.
»Ganz einfach. Wir packen. Wir werfen die Koffer ins Auto und fahren los. Ein herrliches Abenteuer. Wir sind zusammen, nur das ist wichtig.«
»Und wohin fahren wir?«
»Du bist also einverstanden«, rief sie glücklich. »Dann laß uns keine Zeit verlieren. Wir fahren ins Blaue. Wir halten da, wo es uns gefällt.«
»Wir suchen ein Hotel, in dem auch Hunde willkommen sind«, nickte er, von ihrer Freude angesteckt.
»Natürlich. Wir kriegen Stephanie ohne Herrn Kaiser ja gar nicht ins Auto. Für meine Tochter ist der Hund wichtiger als wir. Packen wir, Joachim. Aber nur Ferienkleidung, deine strengen dunklen Anzüge lassen wir zu Hause. Wenn wir uns sputen, können wir in einer Stunde schon auf der Autobahn sein.«
*
Frau Wagenfeld starrte entgeistert auf das kleine Schild, das hinter dem Glas der Eingangstür hing.
»Wir haben Ferien«, stand da in großen Blockbuchstaben.
Frau Wagenfeld rüttelte noch einmal an der Türklinke. Sie war verschlossen. Sie trat ein paar Schritte zurück, um zu den Fenstern hinaufzusehen, und stieß unsanft gegen einen Herrn.
»Hoppla«, rief Julian Hartinger und faßte die Dame blitzschnell.
»Entschuldigen Sie«, murmelte Eva Wagenfeld und war noch immer völlig durcheinander. Julian studierte das Schild, sein Mund kniff sich zu einem Strich zusammen.
»Das ist also ihre Antwort«, murmelte er mehr zu sich selbst.
»Ich verstehe das nicht.« Auch Eva Wagenfeld führte Selbstgespräche. »Ich habe doch gestern morgen noch mit Laura gesprochen. Da hat sie nichts davon gesagt. Sie können doch nicht so plötzlich Pläne schmieden.«
Julian war aufmerksam geworden. Erst jetzt musterte er die Dame, er kniff sogar die Augen zusammen.
»Sie sind Lauras Mutter«, rief er dann überrascht.
Sie nickte, war noch immer durcheinander.
»Ja. Natürlich. Kennen Sie meine Tochter?«
Sie trug ein eng geschnittenes Sommerkleid, hatte das weiße Haar einfach frisiert. Genauso würde Laura einmal aussehen, wenn sie älter geworden war. Es war ein liebes, mütterliches Gesicht, das jetzt allerdings ziemlich ratlos wirkte.
»Ja, ich kenne Ihre Tochter. Wir waren vor einigen Jahren in Ischl zusammen, da lernten wir uns kennen.«
Er stutzte verdutzt, als er die plötzliche Abneigung sah, die ihm aus ihren Augen entgegen blitzte.
»Ach so. Sie sind das. Und warum kommen Sie jetzt?«
»Sehr freundlich klingt das aber nicht.«
»Dazu habe ich auch schließlich keinen Grund«, erklärte Frau Wagenfeld hitzig. Man konnte sehen, woher Laura ihr Temperament hatte. »Sie haben nicht nur Laura viel Kummer gemacht.«
»Einen Moment. Das nenne ich, die Tatsachen verdrehen.«
Sie standen noch immer vor den Stufen, die zum Antiquitätengeschäft führten. Die Passanten, die an ihnen vorübergingen und sie musterten, bemerkten sie nicht einmal.
»Hören Sie auf.« Eva Wagenfeld machte eine unwirsche Handbewegung.
»Ein netter Herr sind Sie. Verschwinden mir nichts, dir nichts. Von einem Moment auf den anderen, und tauchen nach Jahren wieder auf.«
»Einen Moment«, sagte er noch einmal, aber jetzt um vieles energischer. »Ich glaube, da hat Ihnen Ihre Tochter einen Bären aufgebunden, einen sehr häßlichen sogar. Ich soll mich aus dem Staub gemacht haben? So eine Unverschämtheit. Sie war es. Sie reiste ab, einfach so.«
Eva Wagenfeld starrte ihn an, sie suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen der Lüge.
Seine grauen Augen blitzten vor Entrüstung.
»Laura lügt nicht«, behauptete sie ein wenig kleinlauter. »Sie haben Ihr beinahe das Herz gebrochen.«
Er schlug mit der Hand gegen die Stirn, es klatschte richtig.
»Ich werde noch verrückt«, behauptete er. »Hören Sie, Frau Wagenfeld. Da muß ein schrecklicher Irrtum vorliegen. Aber das Rätsel sollten wir nicht hier auf der Straße lösen. Sie kennen doch gewiß in der Nähe ein Café, in dem wir uns in Ruhe unterhalten können.«
*
Sie hatten Glück, sie fanden einen kleinen Tisch in einer Nische. Sie bestellten Kaffee, nach Kuchen war beiden nicht zumute.
»Sie verstehen es hoffentlich, daß ich sehr argwöhnisch bin.« Sie rührte mit dem Löffel so heftig in der Kaffeetasse, daß das braune Getränk auf die Marmorplatte schwappte. »Und wütend bin ich auch auf Sie. Ich bin beinahe vergangen vor Mitleid, das ich mit Laura hatte. Sie… Sie haben ihr sehr weh getan. Ja, ihr Leben haben Sie völlig auf den Kopf gestellt.«
»Weil Sie ein Kind bekam. Ein Kind von mir.«
»Das sagen Sie mit Augen, wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum«, fuhr sie ihn entrüstet an. »Warum sind Sie dann Hals über Kopf abgereist, ohne ein Wort, ohne eine Zeile zu hinterlassen. Laura nahm natürlich an, Sie wären verheiratet und sie nur ein Ferienflirt.«
»Das gleiche habe ich von ihr angenommen. Ich glaube, es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen. Darf ich erzählen?«
»Ich bitte darum«, nickte sie würdevoll, war aber noch lange nicht von seiner Unschuld überzeugt.
»Wir hatten eine herrliche Zeit, wir liebten uns. Sie brauchen mich gar nicht so skeptisch anzusehen. Wir planten eine Fahrt zur Heidelbergerhütte. Wir hatten abends in unserem Stammlokal gegessen, andere kamen dazu. Laura und ich wollten uns einen Pferdeschlitten mieten, während die anderen mit dem Wiesel fuhren.
Aber in aller Herrgottsfrühe kam der Skilehrer und bat mich, ich sollte ihn begleiten. Wir fuhren mit dem Wiesel zur Hütte. Es war eine Lawinenwarnung durchgegeben worden, und so mußte die Abfahrt, die mit den Skiern gemacht werden sollte, geändert werden. Er wollte mit dem Hüttenwirt darüber sprechen.
Ich habe Laura durch einen Boten eine Nachricht geschickt, sie gebeten, daß sie mit der Gruppe im Wiesel fahren sollte.
Die Gruppe kam. Aber Laura nicht.
Mir kam nicht einmal der Gedanke, daß sie den Brief nicht bekommen hatte. Ich dachte, sie hätte einen kranken Kopf, es war leider abends einiges getrunken worden, und Laura vertrug nicht viel.
Ich fuhr zurück und ging sofort ins Hotel.« Er verzog bitter den Mund. Die Erinnerung schmerzte noch immer. »Ich dachte, ich finde sie in ihrem Zimmer, mit einem kalten Tuch auf dem Kopf.
Das Tuch hätte ich gebraucht. Als der Portier mir sagte, daß Laura abgefahren war… ohne ein Wort, ohne eine Zeile… da glaubte ich, die Welt geht unter.
Soll ich Ihnen sagen, was ich dachte? Daß sie verheiratet war, der Ehemann plötzlich aufgetaucht war…«
»Das haben Sie von Laura geglaubt«, murmelte Eva empört.
»Ich glaube, ich brauche jetzt einen Schnaps«, murmelte sie kleinlaut. »Ich habe das Gefühl, ich falle gleich vom Stuhl, so komisch ist mir.
Ich erzähle es Ihnen jetzt aus Lauras Sicht.
Wenn ich es richtig verstanden habe, wollten Sie sie abholen, oder Sie hatten sich in Ihrem Hotel verabredet, das weiß ich nicht mehr.
Jedenfalls sagte ihr der Portier in Ihrem Hotel, daß Herr Hartinger abgereist ist. Schon sehr früh am Morgen.«
Sie starrten sich an, Julian blieb der Mund offenstehen, Frau Wagenfeld bemühte sich um eine vorwurfsvolle Miene.
»Der Mann konnte das ja schließlich nicht erfunden haben. Sie waren abgereist, meine Laura stand da… ich kann mir gut vorstellen, was in dem Moment in ihrem Kopf vorging.«
Julian goß die helle Flüssigkeit mit einem Zug hinunter und hustete. Frau Wagenfeld trank den Korn langsamer, aber sie ließ den Mann nicht aus den Augen.
»Ich hab’s«, rief Julian plötzlich so laut, daß die Gäste an den anderen Tischen neugierig zu ihnen hinübersahen. Er dämpfte seine Stimme.
»Es gab noch einen Herrn Hartinger im Hotel. Laura muß sich erinnern können. Mir wurde an einem Abend eine Zeche präsentiert, die ich in der Bar gemacht haben sollte. Bis dann herauskam, daß ich im Hotel einen Namensvetter hatte. Wir beide haben Witze über den Mann gerissen. Laura muß sich doch erinnern können«, rief Julian hitzig. »Er muß schon über 60 gewesen sein, kleidete sich wie ein Jüngling, der gerade aus der Schule kam, und behängte sich ständig mit jungen Mädchen. Er war wirklich abgereist… mein Gott. Das darf doch alles nicht wahr sein.«
»Schlagen Sie sich nicht wieder vor den Kopf«, bat Eva Wagenfeld ihn. »Ich muß allerdings sagen, mir drehen sich die Gedanken wie Mühlräder im Kopf. Ein ganzes Bienenvolk macht es sich in meinem Kopf bequem. Jetzt sagen Sie mir bitte nur noch, warum tauchen Sie jetzt, nach so vielen Jahren wieder auf?«
»Wie ein Stehaufmännchen, das aus einer Kiste springt.« Er verzog spöttisch den Mund. Aber sie sah, daß es in seinen Augen verdächtig glänzte. »Ich habe ein Bild gesehen, das Laura gemalt hat. Man sagte mir, daß es Lauras Tochter ist. Aber man hätte es mir nicht sagen müssen, ich sah es auch so. Es ist nicht nur Lauras, es ist auch meine Tochter.«
»Ob ich wohl noch einen Korn bekommen könnte? Mir ist ganz flau im Magen.«
*
Es dauerte noch eine Weile, bis Frau Wagenfeld tatkräftig die Initiative ergriff.
»Wir werden jetzt in die Wohnung gehen.«
»Sie meinen, wir finden Laura dort?«
»Natürlich nicht. Sie werden nicht in der Wohnung sein und das Geschäft schließen. Aber Frau Bauer, das ist die Haushälterin«, informierte sie ihn eifrig, »wird schließlich wissen, wohin sie gefahren sind.«
Sie nahm ihre Handtasche, die Augen hatten den abweisenden Ausdruck verloren. Julian wußte, daß sie ihm glaubte. Er mochte diese Frau, die so energisch ihren Standpunkt vertrat, für ihre Tochter kämpfte und doch ein weiches Herz besaß.
Weiter zu denken, verbot Julian sich, man mußte abwarten.
»Wie gut, daß ich heute kam«, nickte Frau Wagenfeld glücklich. »Eigentlich wollte ich erst in der nächsten Woche kommen. Aber ich habe Laura etwas Wunderschönes zu sagen, ich weiß, daß sie sich darüber freuen wird.«
Sie gingen durch das Lokal, er öffnete die Tür für sie. Das kleine Hütchen saß ein wenig schief auf ihren Haaren, sie reckte keck den Kopf. Als junges Mädchen mußte sie so bezaubernd gewesen sein wie Laura. Vermutlich wußte sie auch, daß sie noch immer sehr gut aussah. Er war sehr froh, sie getroffen zu haben.
»Ich bringe ihr einen Brief von meinem Mann«, erzählte sie und sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. Sie gingen nebeneinander über die Straße, so nahe, als wären sie die besten Freunde.
»Anfangs behauptete er, es müßte genügen, wenn ich es Laura ausrichte. Aber da habe ich gestreikt. Das kommt nicht in Frage, habe ich ihm gesagt.« Er amüsierte sich heimlich über ihren energischen Ton. »Sag es ihr am Telefon oder schreib’ ihr einen Brief, habe ich verlangt.«
»Das hat er dann getan.«
Er sah, wie ihre Augen feucht wurden. Ihre Stimme hatte die Härte verloren.
»Er tut sich ja selbst den größten Gefallen. Er hat darunter gelitten, daß Laura nicht mehr kam. Er fiebert dem Enkelkind entgegen, und jetzt ist es ihm auch egal, was die Leute sagen. Nur Laura ist noch wichtig. Sie müssen wissen, daß Laura immer sein ganz besonderer Liebling war, er vergötterte sie geradezu.«
Sie waren vor dem Haus angelangt. »Sehen Sie«, triumphierte sie. »Eben war das Wohnzimmerfenster geschlossen, jetzt ist es geöffnet.«
Frau Bauer war sehr schlechter Laune. Sie öffnete Frau Wagenfeld die Tür, dem Herrn an ihrer Seite warf sie einen unfreundlichen Blick zu.
Julian sah sich um. Die Türen zu den Zimmern waren weit geöffnet. Er warf neugierige Blicke hinein, und was er sah, gefiel ihm sehr. Er konnte sich Laura in dieser Umgebung gut vorstellen.
»Mir sagt ja keiner was«, schimpfte die dicke Frau. Beleidigt musterte sie Eva Wagenfeld, als wäre sie an allem Schuld. »Mir nichts dir nichts, von jetzt auf gleich wurden Koffer gepackt. Mir wurde das Kind entrissen, wie mir dabei zumute war, das stört niemanden. Ich bin ja nur für die grobe Arbeit da. Der Herr Poppel platzt ja schon vor Eifersucht, wenn ich die Kleine nur auf den Arm nehme. Auch den Hund haben sie mitgenommen.«
»Aber sie müssen doch gesagt haben, wohin sie gefahren sind«, unterbrach Frau Wagenfeld energisch das Jammern.
»Eben nicht«, die Frau schnaufte gekränkt. »Da sehen Sie mal, wie man mich behandelt. Ich hatte schon alles vorgekocht, ich brauchte die Auflaufform später nur noch in den Ofen zu stellen. Ich hab das Fräulein Laura weinen gehört. Aber mir hat keiner was gesagt, warum sie weinte.«
»Das bringt uns nicht weiter«, überlegte Eva Wagenfeld nervös. »Das ganze sieht mir sehr nach einem überstürzten Aufbruch aus. Nun machen Sie ein anderes Gesicht, Herr Hartinger«, tröstete sie den Mann. »Spätestens morgen wird Laura mich anrufen, da bin ich ganz sicher. Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen? Dieses ist Lauras Wohnung. Herr Poppel bewohnt die Mansardenräume, er wollte es so.«
Sie setzten sich auf die behaglichen sehr geschmackvoll bezogenen Sessel. Jedes Möbelstück bewunderte Julian mit Kennermiene. »Hier war wirklich eine Künstlerin am Werk«, staunte er. »Wo hat sie nur die Sachen aufgetrieben?«
»Das soll sie ihnen selbst erzählen.« Eva Wagenfeld sah den Mann mit einem ernsten, offenen Blick an.
»Herr Hartinger, sagen Sie mir, was wollen Sie von Laura?«
Er hielt die Hände zwischen den Knien und beugte sich ein wenig vor. Frau Bauer werkelte lautstark in der Küche, scheppernd fiel etwas auf den Boden.
»Bevor ich von dem Irrtum wußte, wollte ich ihr eigentlich nur den Kopf abreißen.« Er lächelte mit schiefem Mund. »Jetzt allerdings können wir nur die verlorene Zeit beklagen.«
Er hielt ihrem Blick stand, hob ein wenig die Schultern. »Wie kann ich auf ihre Frage antworten? Laura und ich… wir haben uns beide verändert. Aber ich weiß, daß ich sie nicht aus meinem Kopf bekommen habe. Ich habe sie nie richtig vergessen, wenn ich mich auch mit Arbeit betäubt habe.«
»Mit Arbeit und anderen Frauen?« wagte sie leise zu fragen und musterte ihn ein wenig ängstlich. Aber er nahm die Frage nicht übel.
»Wie ein Heiliger habe ich nicht gelebt.«
»Das will ich gar nicht wissen. Ich wollte nur fragen, ob Sie eine feste Bindung eingegangen sind.«
Er hatte Helena total vergessen.
»Ja, es gibt eine Frau, die gern geheiratet werden möchte. Sie und ich sind schon lange zusammen, ich…«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm und lächelte verlegen.
»Sie brauchen es nicht zu sagen. Ich habe nur eine Bitte, fahren Sie nach Hause, bringen Sie die Sache in Ordnung, bevor Sie zu Laura fahren. Nicht wahr, das wollen sie doch, zu Laura fahren, meine ich.«
Er atmete tief und lachte befreit.
»Sie haben recht. Was sind Sie für eine kluge Frau.«
Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. In diesem Moment kam Frau Bauer herein, ein Tablett trug sie, aber die Tassen darauf schwankten bedenklich, als sie den Handkuß sah. So ein neumodischer Kram. Und Lauras Mutter sollte sich schämen, wo sie doch verheiratet war.
Julian bemerkte davon nichts. Er mußte das sagen, was er auf dem Herzen hatte. »Vielleicht heirate ich Laura, nur um Sie als Schwiegermutter zu bekommen.«
»Vorsicht«, rief Frau Wagenfeld erschrocken. »Frau Bauer, beinahe wäre das kostbare Geschirr auf den Boden gefallen.«
Frau Bauer nuschelte empört, was aber niemand verstand.
Mit der Moral in der Welt war es nicht gut bestellt, grübelte Frau Bauer, während sie in der Küche einen Lärm machte, als wäre eine ganze Putzkolonne darin. Und sie hatte Lauras Mutter für eine anständige Person gehalten. Aber die ließ sich von dem Mann den Kopf verdrehen. Dabei könnte er ihr Sohn sein.
*
Sie waren in einem kleinen Schwarzwalddorf gelandet. Das Gasthaus lag an einem riesigen Tannenwald. Sie waren die einzigen Gäste und wurden von der jungen Wirtin wunderbar verwöhnt.
Das Wetter meinte es gut mit ihnen. Der Himmel war wolkenlos, es war warm, aber unter den Bäumen konnte man es gut aushalten.
Laura saß unter der großen Linde, die Wirtin hatte erzählt, daß sie schon zweihundert Jahre war.
Schläfrig spielte der Wind in den Zweigen, auf dem tief herabgezogenen Dach des Hauses saß ein Vogel und schmetterte sein Lied in den Tag, unermüdlich, immer die gleiche Tonfolge.
Laura saß da, hielt die Augen geöffnet, sie versuchte, sich an der Schönheit ringsum zu erfreuen. Den Druck auf ihrem Herzen ignorierte sie einfach.
Die Wiese, die zum Bach hinunterführte, war übersät mit Blumen, die in verschwenderischen Farben leuchteten. Ich sollte es malen, dachte Laura schläfrig. Aber sie wußte genau, sie war viel zu müde dazu.
Es war schon seltsam, Joachim schien jung geworden zu sein. Die drei, er, Stephanie und der Hund, schienen vor Lebensfreude zu bersten, während sie wie eine alte Frau am liebsten unter Bäumen saß.
Ein feiner Schleier lag zwischen den Bäumen. Als Kind hatte sie so gern das Märchen gehört. Da war von den Feen die Rede gewesen, die feine Schleier aus ihren Haaren spannen, so dicht, daß Menschen mit hartem Herzen sich darin verfingen.
Du und deine Märchen, dachte Laura spöttisch. Sie nahm das Buch zur Hand, aber sie las nicht darin.
Sie hörte Stephanies Stimme. Immer lag Jubel und Freude darin. Ich bin sehr undankbar, hielt Laura sich selbst eine Strafrede. Ich habe doch wirklich allen Grund, glücklich zu sein. Natürlich würde sie mit Julian sprechen, sie würde sich sogar anhören, was er als Entschuldigung vorzubringen hatte.
Sie würde ihm zeigen, daß sie über der Sache stand. Oh, sie konnte die Überlegene spielen, die emanzipierte Frau, die keinen Mann brauchte, die ohne Mann glücklich war.
Beinahe ärgerte Laura sich, daß sie ausgerissen war. Ja, feige davongelaufen war sie.
Zum Glück würde er das natürlich nie erfahren.
Stephanie kam über die Wiese gerannt.
»Mama, Mama.«
In wilden Sprüngen rannte der Hund neben ihr.
Lauras Herz schlug Purzelbäume vor Glück. In den wenigen Tagen war Stephanie braun wie eine Haselnuß geworden, sogar dickere Wangen hatte sie bekommen.
»Wo hast du deine Sandalen, Stephanie?«
Das Kind stutzte, sah auf ihre Füße.
»Macht ja nichts, die bringt Opa mit. Mami, Mami, ich habe einen Rosch.«
Sie warf sich gegen Lauras Knie und öffnete ganz, ganz wenig die Hand, die sie zu Fäusten geballt hatte.
Die Hand war leer. Schon brach Stephanie in bitterliches Weinen aus. Das peinigte Herrn Kaisers Ohren, er jaulte mit. Es klang entsetzlich. Kein Wunder, daß die Wirtin aus dem Haus gelaufen kam und schon von weitem fragte: »Was ist passiert? Ist etwas passiert?«
»Mein Rosch ist weg. Mein Rosch. Ich wollte ihn doch haben. Ich wollte doch mit ihm spielen.«
Herr Poppel kam langsamer heran, er lachte bei Stephanies Kummer. »Das heißt nicht Rosch, Liebling, das heißt Frosch. Ich habe dir doch gesagt, daß du ihn nicht halten kannst. Außerdem wäre er sehr traurig, wenn er in deinem Zimmer leben müßte. Er fühlt sich unten am Bach viel wohler. Da hat er seine ganze Familie.«
Die Tränen kullerten noch über ihre Wangen, aber schon wollte sie aufgeregt wissen: »Der hat einen Bruder und eine Schwester und einen Opa und eine Oma und eine Mama? Oh, Opapa, dann laß uns schnell laufen, dann will ich auch mit ihnen spielen.«
Daß zu einer Familie auch ein Vater gehören konnte, wußte Stephanie nicht.
»Ich habe einen viel besseren Vorschlag«, lachte die Wirtin erleichtert, daß nichts passiert war. »Ich denke, dein Großvater kann ein wenig Ruhe vertragen. Hast du schon einmal ein Reh gesehen?«
Die Kleine bekam große Märchenaugen.
»Hast du eins?« Sie wagte nicht laut zu sprechen, so überwältigend war die Vorstellung.
»Im Haus nicht«, lachte die Frau, die die Kleine allerliebst fand. »Aber du kannst mit meinem Mann in der Kutsche fahren. Er muß zur Försterei, und da haben sie ein Reh in Pflege.«
»Au ja, au ja«, Stephanie klatschte begeistert in die Hände. »O bitte, liebe, liebe Mami, sag ja. Laß mich mit, und Herrn Kaiser auch.«
»Du wirst den Hund nicht mitnehmen können, Stephanie. Das Reh würde sich erschrecken und Angst vor ihm haben.«
»Ach nein. Ich sag ihm dann, daß man vor meinem lieben Hund keine Angst haben muß. Nich, ich darf ihn mitnehmen? Sonst heult Herr Kaiser und macht furchtbar Theater, dann erschrecken sich sogar die armen Frösche.«
»Lassen Sie nur, Frau Wagenfeld«, lachte die Wirtin. »Mein Mann wird schon damit fertig werden.«
»Hier hast du deine Sandalen.« Herr Poppel zog sie der Kleinen an. Eigentlich trennte er sich nicht gern von seinem Liebling. »Und diese Bluse ziehst du auch an, Stephanie.« Die Kleine zappelte vor Aufregung. »Nun halt doch still, du Irrwisch«, seufzte Laura, lachte aber dabei.
Unbemerkt waren Frau Wagenfeld und Julian herangekommen. Als Julian die kleine Gruppe sah, zog er Frau Wagenfeld blitzschnell in den Schutz eines Baumes.
Julian konnte nur dastehen. Er sah seine kleine Tochter, hörte ihr Stimmchen. Für den Augenblick war sie das Wichtigste für ihn. Die Locken tanzten um ihren Kopf, sie zappelte unter Lauras Händen.
Er hatte eine Tochter. Stephanie war seine Tochter. Er hatte, als er das Bild sah, nicht den geringsten Zweifel gehabt. Aber jetzt war es ein Wissen geworden.
Er hatte eine Tochter und hatte es nicht gewußt. So viel Zeit war ihm gestohlen worden, so viele Jahre hatte er nicht gesehen, wie sie heranwuchs, so viele schöne Stunden waren ihm verlorengegangen.
Mit der Wirtin an der Hand hüpfte das kleine Geschöpf, dem schon jetzt sein Herz gehörte, davon. Das Stimmchen verlor sich, war wie das Zwitschern eines Vogels.
Seine Augen streiften Lauras Gesicht. Er erschrak über die krankhafte Blässe.
In Ischl war sie eine andere gewesen, er hatte sie viel jünger, blühender in Erinnerung gehabt.
Als spürte Herr Poppel die Nähe der beiden, hob er den Kopf. Er stieß einen überraschten Laut aus, öffnete schon den Mund und wollte Laura auf die Besucher aufmerksam machen. Aber da legte Frau Wagenfeld ihren Finger auf den Mund und zeigte mit der anderen Hand zum Haus hinüber.
»Ich bin so müde, Joachim«, murmelte Laura und schloß erschöpft die Augen. »Das kleinste Bißchen strengt mich an.«
»Ich gehe ins Haus. Bleib ruhig sitzen, Laura.«
»Ich habe Angst, Joachim«, flüsterte sie erstickt.
»Angst? Vor wem oder vor was, Laura?«
»Ich glaube, ich bin krank, Joachim. In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht so erschöpft gewesen, nicht einmal nach Stephanies Geburt. Ich darf nicht krank werden.«
»Weißt du, Laura«, er sagte es so leise, daß die beiden hinter dem Baum ihn nicht verstehen konnten. »Du bist krank an der Seele. Körper und Seele sind eins. Ist deine Seele krank, weil du unglücklich bist, macht sie auch deinen Körper krank.«
»Vielleicht hattest du recht, Joachim. Vielleicht hätte ich nicht fortfahren sollen. Es war Feigheit. Ich hätte mit ihm reden müssen.«
»Quäl dich nicht, Laura. Hab’ doch Vertrauen, es wird schon alles gut.«
*
Er ging leise davon, Zweige knacken unter seinen Füßen. Joachim fühlte sich ganz elend. Er konnte es nicht ertragen, wenn Laura traurig war. Er schickte ein stummes, verzweifeltes Bitten zum Himmel hinauf. Er erbat ja nichts für sich selbst. Er bat den Himmel für Lauras Glück.
Julian ging nahe an ihm vorüber, blieb einen Augenblick neben ihm stehen und flüsterte in sein Ohr: »Drücken Sie mir den Daumen?«
Das wollte er ganz sicher tun.
Laura hielt die Augen geschlossen. Der Kopf ruhte am rauhen Stamm des Baumes. Ihre Ohren waren taub für die Geräusche ringsum. Sie war gefangen in ihrem Kummer.
Wie so oft flogen ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie träumte von den glücklichen Stunden. Sie spürte Julians Nähe, sie spürte das Glück.
»Ich habe mir ja selbst etwas vorgemacht«, flüsterte sie verzweifelt. »Wie kann ich mir einbilden, ihn vergessen zu haben? In Stephanie ist vieles von ihm.«
Sie spürte erst jetzt den Schatten, der über sie fiel. Nur zögernd öffnete sie die Augen.
War sie so krank, daß sie schon unter Halluzinationen litt? Ihre Träume hatten Gestalt angenommen, sie sah Julian vor sich stehen. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Guten Tag, Laura.«
Es war kein Traum. Sie war nicht verrückt. Sie schluckte. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Wie konnte man sprechen, wenn das Herz hoch oben im Hals klopfte?
»Wie… wieso… wieso bist du hier?«
Und erst jetzt begriff sie, daß er leibhaftig vor ihr stand. Sie sprang auf, aber bevor sie nur einen Schritt laufen konnte, hielt er sie.
Sehr fest umfaßte er sie, als hätte er Angst, sie könnte ihm davonrennen.
»Willst du schon wieder fortlaufen, Laura? In welcher Ecke der Welt willst du dich jetzt verstecken? Zappele ruhig, du kannst mich auch mit deinen Fäusten traktieren. Ich lasse dich doch nicht los. Laura…«
Es war schwer, sie nur im Arm zu halten. Wie ein Strom brach das Verlangen, sie zu küssen, in ihm auf. Erst in diesem Augenblick begriff er, wie sehr er sie liebte. Immer geliebt hatte. Alles andere hatte er sich selbst nur vorgemacht.
»Bitte, laß mich los«, bat sie gepreßt.
»Das ist zuviel verlangt, Laura. Dafür habe ich dich viel zu schmerzlich vermißt. Ich glaube, wir beide werden uns vieles zu erzählen haben.«
»Nein«, schüttelte sie spröde den Kopf. Sie ließ sich auf die Bank fallen. Ihre Beine trugen sie gewiß nicht mehr lange. Es war so schwer, kühl und beherrscht zu sein. Sie hatte es ja gewußt, sie hatte doch nicht vergessen, welche Macht dieser Mann über sie besessen hatte und bis an ihr Lebensende besaß. So etwas macht die Liebe aus einem Menschen, dachte sie erschöpft.
Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand zwischen seine Finger. Sie zitterte wie der Körper eines aus dem Nest gefallenen Vogels.
»Wie woll ich das Nein verstehen? Willst du mir nicht erzählen, warum du fortgefahren bist?«
Sie warf den Kopf zurück. Gott sei Dank vertrieb der Ärger auf ihn jetzt ihre Lethargie.
»Ich bin fortgefahren? Ich habe dich nicht für einen Lügner gehalten.«
»Das bin ich auch nicht. Ich habe von deiner Mutter alles erfahren. Das Wichtigste ist natürlich die Tatsache, daß ich eine kleine Tochter habe. Sag mir bitte eines, Laura, hattest du die Absicht, sie mir für immer vorzuenthalten? Hätte ich nie davon erfahren?«
»Nein, du brauchst nicht zu antworten.« Ihr Gesicht mit den riesengroßen Augen sah erbarmungswürdig aus.
»Meine Mutter? Woher kennst du meine Mutter?«
»Ich kenne sie nicht nur, wir mögen uns sogar. Seit ich das Bild gesehen habe, segele ich auf einer Glückssträhne. Ich habe dich gefunden. Laura, bitte, hör mir nur einen Augenblick zu. Das, was uns trennte, was uns viele Jahre Kummer brachte, ist mit wenigen Sätzen erzählt. Erinnerst du dich an den dicken Mann in meinem Hotel, der meinen Namen trug? Hartinger hieß er, wie ich. Weißt du noch, daß ich seine Zeche bezahlen sollte?
Siehst du, jetzt dämmert dir etwas.«
Es waren dann nicht nur wenige Worte. Er beschrieb seinen Kummer, seine Enttäuschung sehr anschaulich auch seine Angst, sie könnte verheiratet sein, und je mehr er darüber gegrübelt hatte, desto sicherer wurde er.
»Ich fiel von einem Extrem in das andere.« Längst hatte er den Arm um sie gelegt. Anfangs war sie steif darin gewesen, aber jetzt gab sie ihrer Sehnsucht nach, obwohl sie das alles noch immer nicht glauben konnte.
»Ich habe mir eingebildet, dich zu hassen«, erzählte er und rückte noch näher an sie heran. Welch ein Geschenk, daß sie es sich gefallen ließ. »Ich habe dich mit Schimpfnamen belegt und wußte doch, daß du mir etwas gestohlen hattest. Etwas wichtiges, ohne das ein Mensch nicht leben kann.«
»Du hast in meinem Herzen auch genug Unheil angerichtet«, behauptet sie. Plötzlich überfiel ein Zittern ihren Körper und Julian erschrak. »Was ist denn? Was hast du denn? Sag es mir doch, Liebste.«
»Das kann doch gar nicht sein. Solche Dinge können doch höchstens in einem Roman passieren. Julian, kneif mich, ich glaube, ich träume nur.«
»Mit Vergnügen. Aber ich weiß etwas besseres als kneifen.«
Er legte ihren Kopf in seine Armbeuge, er strich mit den Lippen über ihre Stirn, ihre Augen und fand endlich ihren Mund.
Wieviel Zeit vergangen war, hätten sie später beide nicht zu sagen gewußt.
Ein kleines Stimmchen brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Tust du meiner Mami weh?«
Laura wollte sich aus seinen Armen befreien, aber das ließ er nicht zu, er erlaubte ihr nur, sich höher aufzusetzen.
»Nein, Stephanie, ich werde ihr doch nicht weh tun, ich hab’ sie doch lieb.«
Die Kleine legte das Köpfchen schief und musterte den Mann gründlich. Der schwarze Hund stand neben ihr, sie hatte ihre Hand in seinem seidigen Fell vergraben.
»Mami, kennen wir den Mann?«
»Du wirst es vergessen haben, Herzchen«, behauptete Lauras Mutter. Joachim und sie hatten das Warten nicht länger ertragen können. »Ich jedenfalls kenn ihn sehr gut.«
»Ich auch.« Herr Poppel räusperte sich die Enge aus der Kehle. »Ich darf sagen, ich schätze ihn sehr«, behauptete er in seiner altmodischen Art.
»Dann mögen wir ihn auch«, entschied das selbstbewußte Persönchen. »Omi, meinst du, ich sollte ihm einen Kuß geben?« Erst jetzt fiel ihr auf, daß plötzlich ihre Omi da war.
»Omi, wo kommst du denn her? Bist du vom Himmel gefallen?«
»Nein, dahin will ich noch lange nicht. Willst du deiner Omi nicht guten Tag sagen, Herzchen?«
»Zuerst mein Kuß«, verlangte Julian. Als sich die Kinderarme um ihn legten, schämte er sich nicht, daß Tränen über seine Wangen liefen. Zum Glück bemerkte Stephanie das nicht.
»Jetzt mußt du meinen Freund begrüßen«, erklärte sie und rutschte aus den Armen, die sie viel zu fest umklammert hielten. »Er hat einen komischen Namen, das sagen die anderen. Aber ich finde ihn toll. Er heißt nämlich Herr Kaiser.«
»Kinder«, Frau Wagenfeld drückte ihr Gesicht auf Lauras Haar und gleichzeitig strahlte sie Julian an.
»Heißt das, daß ich plötzlich einen Sohn bekommen habe?«
»Omi, so was brauchen wir nicht«, erklärte die Kleine energisch. »Du hast doch mich, und Herr Kaiser gehört dir auch ein bißchen.«
»Sie duldet keine fremden Götter neben sich«, lachte Herr Poppel. Es sollte heiter klingen, dieses Lachen, aber statt dessen zitterten Tränen darin. Aber er war nicht traurig, er war glücklich. Sie würde fortgehen, seine Laura. Aber diesem Mann gönnte er sie.
Abends, als sie mit den Wirtsleuten zusammen in der behaglich eingerichteten Schwarzwaldstube saßen, sagte Julian – natürlich saß er nahe neben Laura, ließ sie nicht aus seinen Armen, wenn auch das Weintrinken so ein wenig schwierig war: »Laura und ich werden heiraten.«
»Du hast mich ja noch gar nicht gefragt.« Laura hatte einen kleinen Schwips, aber nicht nur vom Wein. Ihr war das Glück in den Kopf gestiegen.
»Du wirst auch nicht gefragt. Du hast schon viel zuviel Unsinn gemacht. Sie hätte beinahe mein Herz gebrochen«, erklärte er den Wirtsleuten mit tragischem Gesicht, nur paßten seine lachenden Augen nicht zu seiner Miene. »Unterbrich mich nicht immer, Frau Hartinger. Wir werden heiraten, so rasch wie möglich. Herr Poppel, oder darf ich Joachim sagen? Ich weiß natürlich, daß du als Älterer mir das Du anbieten mußt, aber ich bin viel zu glücklich, um auf diese Feinheiten Rücksicht zu nehmen. Joachim, die Stadt, in der ihr lebt, ist auch meine Stadt, weil meine Laura in ihr glücklich ist. Ich werde mein Büro dorthin verlegen. Bestimmt werden wir eine passende Bleibe dafür finden.«
»Du darfst bei mir und Herrn Kaiser schlafen«, erklärte Stephanie und hopste ihrem neuen Freund auf den Schoß. »Wir haben noch viel Platz. Nicht, Mama, das darf er doch?«
»Wenn doch Papa bei uns wäre«, flüsterte Frau Wagenfeld traurig. »Er sollte hier sein.«
»Ich habe ihn schon angerufen«, lachte Julian. »Ich könnte natürlich auch zu ihm fahren und ihn um Lauras Hand bitten. Aber ich finde, wir alle haben einen Urlaub in diesem wunderschönen Haus verdient.«
Laura warf ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn stürmisch.
»Nicht so dolle«, mahnte Stephanie eifersüchtig. »Das ist mein Papa, das du das nur weißt.«