Читать книгу Mami Staffel 13 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 9
Оглавление»Ich muß dich unbedingt sehen, Christine. Hast du heute abend Zeit?«
»Kann ich einrichten. Soll ich zu dir kommen?«
»Wenn es geht, wäre es einfacher, dann brauche ich keinen Babysitter.«
»Wenn Nele hört, daß du sie als Baby bezeichnest, wird sie wieder einen Anfall kriegen.«
Julia lachte. Ihre neunjährige Tochter war in dieser Hinsicht wirklich sehr empfindlich. Sie fühlte sich erwachsen.
»Hört sie ja nicht. Ich koche uns etwas. Um acht?«
»Okay, mach dir aber nicht so viel Mühe, ich muß sowieso abnehmen.«
»Schon wieder?«
»Ach, hör auf. Ich weiß, davon rede ich seit zwei Jahren.«
»Denk nicht mehr daran, dann kommt es von selbst.«
»Was bei mir von selbst kommt, sind nur die Pfunde. Wenn neben mir jemand Schokolade ißt, nehme ich zu. Na ja, so ist es eben. Also, bis heute abend. Deiner Stimme nach zu schließen geht es um einen Mann.«
Julia kicherte. Sie wollte am Telefon nichts verraten. Alles war noch so neu… selbst für sie. Sie hatte Torsten ja erst vor einer Woche kennengelernt. Aber in dieser Woche hatten sie sich bereits zweimal gesehen.
Ein Kunde betrat den Laden. Julia mußte ihn selbst bedienen, die beiden Verkäuferinnen machten gerade Mittagspause. Damit nahmen sie es sehr genau.
Sie ging nach vorn. Der Laden für exklusiven Modeschmuck, als dessen Geschäftsführerin Julia arbeitete, war nicht sehr groß, aber immer gut besucht. Es gab Stammkunden und solche, die eher zufällig hereinschneiten. Der Mann war eindeutig kein Stammkunde. Er sah sich etwas verwirrt um.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Dankbar drehte er sich zu Julia um. Seine Augen weiteten sich leicht, als er sie ansah.
Julia war solche Reaktionen gewohnt. Sie sah nach landläufiger Meinung sehr gut aus, was immer das bedeutete. Sie selbst war da kritischer, wenn sie in den Spiegel schaute. Aber wahrscheinlich gab ihr ihre Verliebtheit einen neuen Glanz.
Sie mußte nur an Torsten denken, dann strahlten ihre Augen wie von selbst.
»Das wäre wirklich sehr nett. Ich suche ein Geschenk für eine ältere Dame. Sie liebt Modeschmuck und trägt gern Ohrringe, die herunterhängen.«
»Ach ja, ich verstehe. Mag sie lieber Silber oder Gold?«
Jetzt wirkte er ein wenig verblüfft.
»Ich dachte, das ist alles Modeschmuck?«
»Ich meine, silber- oder goldfarben, um korrekt zu sein«, verbesserte sich Julia lächelnd.
Er war ein bißchen unbeholfen, aber auf eine nette Art, dachte sie.
»Oh, entschuldigen Sie, wie dumm von mir. Tja, ich glaube, lieber silberfarben. Sie hat sehr schöne graue Haare.«
»Und liebt sie Farben in ihrer Kleidung?«
»O ja, manchmal sogar ein wenig heftig für meinen Geschmack. Flippige Farben, sagt man, glaube ich.«
Das Wort »flippig« schien aus seinem Mund auch »flippig« zu sein. Als würde ein Teeny ständig »seriös« sagen.
»Fein. Dann kann es also gern etwas Besonderes sein. Ich muß mal sehen…«
Julia ging zu einem Ständer mit versilberten Ohrclips hinüber. Sie waren zum Teil mit farbigen Halbedelsteinen besetzt.
»Wenn Sie hier schauen? Vielleicht gefällt ihr so etwas?«
Sie nahm ein Paar Ohrringe ab und hielt es ihm hin. Der Kunde schaute nachdenklich darauf hinunter.
»Ich kann es mir so nicht so gut vorstellen. Könnten Sie sie vielleicht…«
»Ja, natürlich, obwohl ich wahrscheinlich ein anderer Typ bin.«
Sie klippte sich einen Ohrring an und hielt mit der Hand ihr langes rotblondes Haar zurück.
»Sehr schön. Sie können so etwas auch gut tragen…«
»Ich ziehe es vor, keinen Schmuck zu tragen. Oder nur ganz wenig.«
Julia sagte das fast entschuldigend.
»Das ist vielleicht nicht ungewöhnlich, wenn man in so einem Geschäft arbeitet. Oder gerade eben deswegen doch.«
»Damit haben wir wieder alle Möglichkeiten«, gab Julia lachend zurück.
Das Gespräch begann ihr Spaß zu machen.
»Wie immer im Leben. Aber Sie haben recht, pur sehen Sie sehr gut aus.«
Als wäre er zu weit gegangen, wandte er sich verlegen ab.
Julia beruhigte ihn.
»Das denke ich wohl auch. Im übrigen bin ich hier nur Geschäftsführerin, es könnte also auch Käse sein, den ich verkaufe. Obwohl ich Käse gern esse, ist es so allerdings besser.«
Wieder lachten sie beide. Schließlich, als fiele ihm ein, daß er sie nun schon lange genug aufgehalten habe, bezahlte er die Ohrclips und verabschiedete sich. Julia sah ihn fast mit Bedauern gehen. Mit ihm könnte sie sich vermutlich noch länger unterhalten. Aber möglicherweise würde er wiederkommen.
Die beiden jungen Frauen, die gleich darauf das Geschäft betraten, waren jedenfalls nicht so angenehm. Sie faßten alles an, mäkelten herum, um dann schließlich doch ein paar Kleinigkeiten zu kaufen. Julia war froh, als die Verkäuferinnen von ihrer Mittagspause zurückkehrten und sie ihnen alles überlassen konnte. Im Büro wartete genug Arbeit auf sie.
Julia mußte nicht bis acht bleiben wie die Verkäuferinnen. Sie beschäftigten vier Halbtagskräfte, die vor- beziehungsweise nachmittags kamen und ihre Tätigkeit zum Teil als Job sahen, zum Teil mit viel Liebe erledigten. Die Personaleinstellung gehörte nicht zu Julias Aufgaben, sie hätte das sowieso anders gelöst. Das wurde von der Gesamtgeschäftsführung erledigt, denn es gab einige Filialen. Die, in der sie arbeitete, war jedoch die größte.
Um halb sechs konnte Julia gehen. Ihre Kinder wurden am Nachmittag von ihrer Mutter beaufsichtigt, wobei Nele schon weitgehend auf sich selbst aufpaßte. Patrick war erst fünf, da hätte sie keine Ruhe gehabt, ihn allein in der Wohnung zu wissen. Aber das war auch nie eine Frage gewesen. Als Julia nach der Scheidung wieder arbeiten mußte, um sowohl ihr Selbstbewußtsein als auch die Haushaltskasse aufzubessern, hatte ihre Mutter gleich von selbst angeboten, ihr auf diese Weise zu helfen. Praktischerweise wohnten sie in derselben Straße.
Julia kaufte für das Abendessen ein und fuhr dann nach Hause. Sie brachte ihrer Mutter immer eine Kleinigkeit mit, mal waren es ein paar frische Blumen, mal zwei Scheiben Lachs oder ein frisches Brötchen. Einkaufen zu gehen, ohne daran zu denken, wäre ihr gar nicht möglich. Sie wußte, was sie ihrer Mutter zu verdanken hatte. Ohne sie wäre ihr Alltag gar nicht auf diese Weise zu bewältigen.
Heute hatte Julia ihr, wohl durch das Gespräch mit dem Kunden, ein Stück französischen Käse und ein Baguette gekauft. Nachdem Julia ihre Kinder begrüßt hatte, gab sie die Sachen ihrer Mutter, die zwar betonte, daß das doch nicht nötig sei, sich aber trotzdem freute.
»Laß es dir schmecken, Mama. Ich bekomme heute abend Besuch von Christine, deshalb war ich sowieso einkaufen.«
»Christine kommt? Bringt sie Sarah mit?« wollte Nele sofort wissen.
»Nein, sie kommt auch erst später, mein Schatz. Du wirst sie noch begrüßen, aber dann ins Bett gehen müssen.«
»Das ist doof! Ich bin doch kein Baby mehr!«
»Ich weiß, deshalb kannst du ja auch bis neun aufbleiben und mußt nicht schon um halb acht schlafen wie Patrick.«
»Ich bin auch kein Baby.«
»Kinder, seid friedlich. Mama und Christine müssen auch mal allein miteinander sprechen können. Das brauchen Frauen«, mischte sich ihre Mutter ein.
Julia lachte. Ihre Mutter mußte das ja wissen. Sie hatte viele Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig am Wochenende traf.
»Ich koche euch vorher etwas Schönes. Ihr bekommt auch Spaghetti, nur eine andere Sauce, aber dann müssen wir jetzt wirklich los, damit ich es noch schaffe.«
Das versöhnte sowohl Nele als auch Patrick, die leidenschaftlich gern Spaghetti aßen. Sie verabschiedeten sich von ihrer Oma und folgten Julia auf die Straße.
Als sie die eigene Wohnung betraten, verschwanden sie gleich in ihren Zimmern, so daß Julia Zeit hatte, alles auszupacken und vorzubereiten. Während das Spaghettiwasser kochte, schnitt sie Gemüse in Streifen, denn für Christine und sie würde es eine Gemüsesauce mit Schinkenstreifen geben – zusammen mit frischem Parmesankäse schmeckte das wunderbar.
Während Julia schnippelte und rührte, lächelte sie vor sich hin. Ihre Freundin würde staunen, wenn sie ihr von Torsten erzählte. Sie hatte ihn im Einkaufszentrum kennengelernt. Julia war in Eile gewesen und hatte ihn im Vorbeigehen mit ihrer prall gefüllten Einkaufstüte gestreift. Der Henkel der Tüte war gerissen, und alle Einkäufe hatten sich über den Boden verteilt. Julia war natürlich blutrot geworden, als die Tampons neben den Äpfeln und der Margarine für jeden sichtbar auf den Fliesen lagen. Schnell hatte sie sich gebückt – und war mit Torstens Kopf zusammengestoßen, der in diesem Moment dasselbe tat. Da half nur noch eines – lachen und sich entschuldigen. Genau das hatte sie getan und dabei in die blauesten Augen geschaut, die sie je gesehen hatte.
Auch Torsten erzählte ihr später, daß er sofort fasziniert gewesen war von ihrem Lachen. Gott sei Dank hatte er ihre Verlegenheit überhaupt nicht wahrgenommen. Nachdem sie die Sachen eingesammelt und in einer anderen Tüte verstaut hatten, die Torsten ihr aus einem Geschäft geholt hatte, waren sie zusammen einen Kaffee trinken gegangen, wegen des Schocks, wie Torsten es begründete. Er wollte erst sicher sein, daß sein Dickschädel ihr keinen Schaden zugefügt hatte.
Nur zu gern war Julia mitgegangen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Torsten war kein Mann, den man übersah. Unglaublich, daß er nicht verheiratet oder anderweitig gebunden war. Sie hatte wirklich Glück. Eine Scheidung hatte er auch hinter sich, wie er ihr beim zweiten Treffen erzählte, aber seitdem war er Single. Er arbeitete als selbständiger Makler, war erfolgreich und genoß das Leben. Seine Hobbies gefielen Julia, er segelte im Sommer, spielte Squash, las gern und ging oft ins Theater. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch, ohne Sorgen. Julia sah sich bereits an seiner Seite das Leben genießen. Noch mußte er jedoch ihre Kinder kennenlernen – ohne Nele und Patrick lief natürlich nichts. Julia war es wichtig, daß sie ihn mochten wie er sie – aber bisher hatte sie sich noch nicht darum bemüht, die drei miteinander bekannt zu machen. Eine unbestimmte Angst hielt sie zurück, obwohl Torsten ihr versichert hatte, daß ihre Kinder ihm bestimmt gefallen würden. Nele war so kritisch – sie hatte ihren Vater abgöttisch geliebt, obwohl der nie viel Zeit für sie gehabt hatte, wie übrigens auch für Julia nicht.
Natürlich mußte sie jetzt wieder an Thomas denken. Es tat längst nicht mehr weh, aber angenehm war es auch nicht. Sie hatten beide versagt – ihr Eheversprechen, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzustehen, war hohl gewesen. Thomas hatte nur noch seinen beruflichen Erfolg im Kopf gehabt, Familie und alles, was damit zusammenhing, war ihre Sache gewesen. Damit hatte sich Julia überfordert gefühlt. Was war das für ein Leben? Sie hatte einen Ehemann und hatte doch keinen. Jedes Wochenende verbrachte sie mit den Kindern allein, weil Thomas nebenbei studierte, um weiterzukommen. Er hatte sich, weil seine Ruhe ihm heilig war, ein Zimmer genommen und kam nur zum Schlafen nach Hause. Nach und nach war es ihr unmöglich geworden, noch mit ihm intim zu sein. Sie waren sich einfach fremd geworden, und so war es auch keine große Überraschung, als Julia herausfand, daß er eine Freundin hatte.
Für Nele war die Scheidung trotzdem ein Schock gewesen. Sie hatte sogar ihrer Mutter Vorwürfe gemacht, die Julia mehr getroffen hatten als die Scheidung selbst. Langsam hatten sie sich im letzten Jahr wieder angenähert, und inzwischen hatte Nele wohl auch begriffen, daß Julia nicht allein schuld war. Ihr Vater rief nämlich höchstens einmal im Monat an und hatte nie Zeit, seine Kinder zu sehen.
Trotzdem wußte Julia nicht, wie Nele auf einen neuen Mann im Leben ihrer Mutter reagieren würde. Bei Patrick würde es einfacher sein. Er liebte seine Mutter und war noch in einem Alter, wo alles, was sie tat, für ihn Gesetz war. Na ja, es war noch genug Zeit, den Kindern von Torsten zu erzählen. Noch kannten sie sich ja selbst erst ein paar Tage. Es war ziemlich albern, da schon entfernte Hochzeitsglocken hören zu wollen.
Das Essen war vorbereitet, die Spaghetti für die Kinder kochten bereits. Julia deckte den Tisch und schaute dann nach den beiden. Nele saß auf ihrem Bett und blätterte in einer Teenie-Zeitung. Neuerdings interessierte sie sich für diese Dinge, ein bißchen früh, wie es Julia erschien. Aber sie wollte Nele auch nicht verbieten, sich solche Zeitschriften anzuschauen, sondern vertraute darauf, daß Nele mit Fragen zu ihr kam, wie sie das immer getan hatte.
»Ihr könnt gleich essen, Nele. Wasch dir bitte…«
»… die Hände, ich weiß, Mama. Du sagst immer dasselbe.«
»Entschuldige, das ist wohl die Mama-Platte.«
»Dann hat sie aber einen Sprung«, gab Nele grinsend zurück.
»Du freches kleines Monster!«
Sie lachten. Julia hätte Nele gern umarmt. Sie freute sich immer, wenn sie feststellte, daß Nele den trockenen Humor ihrer Mutter geerbt hatte. Aber Nele war mit solchen Gunstbezeugungen im Moment ein wenig empfindlich. Sie kam lieber von selbst, wenn sie Zärtlichkeit brauchte.
Patrick spielte mit seinen Grusel-Figuren. Julia kannte sie gar nicht alle beim Namen, aber Star-Trek war sein ein und alles, und diese scheußlichen Plastikdinger gehörten halt dazu.
»Gibt’s Essen?« wollte er wissen.
»Ja, gleich. Hände waschen nicht vergessen…«
»Nee, tu ich nicht.«
Julia goß die Spaghetti ab und füllte die Teller auf. Nele und Patrick schauten vergleichend von einem Teller zum anderen und setzten sich dann zufrieden hin. Julia achtete immer darauf, daß sie die gleiche Menge auffüllte, um etwaigen Diskussionen zu entgehen. Meistens schaffte Patrick gar nicht alles.
Nachdem sie noch ein bißchen erzählt hatten, waren die Kinder bereit, sich zu waschen und auszuziehen. Natürlich würden sie auf Christine warten, wie es auch Julia mit zunehmender Ungeduld tat. Sie brannte darauf, endlich von Torsten erzählen zu können.
*
»Im Grunde klingt das ja viel zu schön, um wahr zu sein, oder?«
»Ja, finde ich auch. Aber ich glaube nicht, daß er irgendwo geschwindelt hat. Ich habe seine Büronummer und ebenso die Handy-Nummer, kann ihn also immer erreichen. Wenn er irgendwo eine Frau versteckt hat, würde er das doch wohl nicht machen.«
»Nein, das glaube ich auch nicht. Und warum solltest du nicht endlich mal Glück haben? Deinen Thomas konntest du ja echt in der Pfeife rauchen.«
Christine und Thomas hatten sich nie leiden können. Julia überhörte solche Bemerkungen gewohnheitsmäßig.
»Ich meine, ich weiß ja noch nicht, ob es wirklich etwas Festeres wird. Aber Lust hätte ich schon…«
»Natürlich hättest du das. Das mußt du gar nicht betonen, man sieht es dir an«, kicherte Christine.
»Ach, hör auf. Es ist ja nicht gerade so, als ob ich händeringend nach einem Mann gesucht hätte!«
»Nein, den Vorwurf kann man dir bestimmt nicht machen. Du bist eher ein bißchen sehr zurückhaltend gewesen. Aber ich habe dir ja damals gleich prophezeit, daß da bestimmt mal ein anderer kommt, der besser zu dir paßt. Du wolltest davon nichts hören.«
»Na klar, so kurz nach der Trennung denkt man daran bestimmt nicht. Ich wollte ehrlich nie wieder in solche Schwierigkeiten geraten. Männer waren für mich tabu.«
»Gott sei Dank nicht für immer. Es wäre doch ziemlich schade um einige Aspekte, oder?«
Wieder kicherte Christine. Sie hatte gut lachen. Ihr Ehemann, der Arzt Paul Schneider, war ein wunderbarer Mensch und betete den Boden an, auf dem Christine ging. Die beiden waren wie füreinander geschaffen. Und Sarah, ihre Tochter, vollendete das Glück. Sie war hochintelligent und machte ihren Eltern keine Probleme.
»Jetzt hör aber auf. Woran du schon wieder denkst…«
»Sag bloß, daran denkst du nicht?«
»Ja, schon, aber so schnell gehe ich darauf nicht ein.«
»Hat er denn schon versucht, dir seine Briefmarkensammlung zu zeigen? Oder was man heute so zeigen will…«
»Nein, er respektiert mich!«
»Das ist ja wohl sowieso Voraussetzung. Aber sag schon, ist er so richtig verliebt? Oder schleicht er noch um den heißen Brei herum?«
»Er hat mir gesagt, daß er es schön findet, mit mir zu sprechen und mich zu sehen. Daß ich ihm… wichtig bin.«
»Klingt doch ganz vielversprechend. Wann seht ihr euch wieder? Am Wochenende?«
»Nein… das geht nicht.«
»Warum nicht? Hat er keine Zeit?«
Christine wirkte plötzlich mißtrauisch. Julia beeilte sich, ihre Bemerkung richtigzustellen.
»Er schon, aber ich nicht. Wegen der… Kinder.«
»Verstehe. Du hast Angst, daß Nele ihn ablehnen könnte.«
Natürlich hatte Christine sofort den wunden Punkt erkannt.
Julia nickte.
»Ich glaube, deine Vorsicht ist nicht ganz überflüssig. Nele wird bestimmt Schwierigkeiten machen. Sie wird Angst haben, daß sie dich verlieren könnte.«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie wird keinen anderen Vater akzeptieren.«
»Du darfst gar nicht erst den Fehler machen, ihr deinen Torsten als Vater verkaufen zu wollen. Das klappt nie. Sie muß die Gelegenheit haben, sich erst von ihrem Vater zu lösen, freiwillig. Solange er sich nicht um sie kümmert, hat sie bestimmt das Gefühl, ihn erobern zu müssen. Da hat kein anderer Platz. Ersatzweise hängt sie sich stärker an dich. Torsten kann also nur ein Freund sein. Für sie, meine ich.«
»Das klingt irgendwie plausibel, obwohl mir angst und bange wird, wenn ich das höre. Und Patrick? Befürchtest du da auch Schwierigkeiten?«
»Nein, eher weniger. Er ist da viel unkomplizierter. Aber ich würde auch noch etwas warten, bis die drei sich kennenlernen. Sei du erst ganz sicher, daß Torsten wirklich der richtige Mann für dich ist. Ich glaube, es wäre fatal, wenn die Kinder sich auf ihn einstellen und dann verschwindet er auch wieder.«
»Auch! Wie das klingt! Schließlich ist Thomas gegen meinen Willen ausgestiegen, wenn man das so sagen kann. Ich hätte mich gefreut, wenn wir es geschafft hätten. Immerhin habe ich ihn geliebt.«
»Das weiß ich. Aber du weißt, was ich von ihm halte. Er ist ein krasser Egoist, und das war immer so. Du hast es nur nicht sehen wollen.«
Julia seufzte und stand auf. Sie wußte, daß Christine recht hatte. Aber es nutzte nichts, darüber weiter zu debattieren. Was vorbei war, war vorbei.
»Möchtest du noch ein Glas Wein?«
»Nein, für mich nicht mehr. Ich trinke aber gern noch einen Cappuccino, wenn du einen da hast.«
»Nur aus der Tüte.«
»Wie gruselig, aber gut, ich nehme auch den. Du solltest dir endlich mal eine Maschine anschaffen.«
»Die steht doch nur herum. Ich mag die Tütendinger auch. Richtig schmeckt er sowieso nur in Italien, auf einer Piazza…, in der Sonne…«
Sie lächelten sich zu. Italien war für beide das Traum-Urlaubsland. Im Moment war für Julia daran nicht zu denken. Ein Urlaub mit den Kindern kostete mehr, als sie sich leisten konnte. Sie verdiente nicht so gut, wie es ihrem »Titel« Geschäftsführerin entsprechen sollte, aber besser diese Anstellung als keine. Ihr Studium in Kunstgeschichte hatte sie dummerweise abgebrochen, als Nele geboren wurde. Thomas bezahlte nur für die Kinder, und das Geld legte Julia eisern auf ein Sparkonto, damit die beiden später studieren konnten.
»Wir sollten wirklich einmal zusammen nach Italien fahren. Deine Mutter müßte auch mitkommen. Sie kann so wunderbar mit den Kindern umgehen.«
»Aber einen Urlaub würde sie wohl ablehnen. Sie machte ja immer diese Erlebnisreisen mit ihren Freundinnen. Zum Kinderaufpassen möchte ich sie auch nicht ausnutzen. Ich bin ihr schon dankbar genug, daß sie Nele und Patrick jeden Tag in der Woche nimmt.«
»So hatte ich das nicht gemeint. Ich mag sie.«
»Das sage ich ihr. Es wird sie freuen.«
»Wie wir wohl in dem Alter sind? Ich glaube nicht, daß ich dann Lust habe, auf meine Enkel aufzupassen, jedenfalls nicht jeden Tag. Wenn ich die Pflichten los bin, werde ich reisen…«
»Warten wir’s ab. Ich mache keine weitreichenden Pläne mehr. Du siehst ja, wie es kommen kann. Als ich heiratete, hätte ich gedacht, es wäre für immer.«
»Vielleicht jetzt beim zweiten Mal.«
»Du tust so, als wäre schon alles entschieden…«
»So verliebt wie du bist, hoffe ich es zumindest für dich. Wann lerne ich den Herrn denn mal kennen?«
»Ich weiß nicht. Erst sind die Kinder dran, sonst verplapperst du dich vielleicht und dann ist zumindest Nele sauer.«
»Ich habe eine Idee. In vierzehn Tagen hat mein Schatz Geburtstag. Ich werde eine Party geben, und dann kannst du deinen Neuen mitbringen.«
»Aber Paul mag doch keine Parties…«
»Für einen guten Zweck wird er einverstanden sein. Der gute Zweck ist in diesem Fall, daß meine Neugier befriedigt wird«, gab Christine lachend zurück.
Julia nickte nachdenklich. Sie würde Torsten fragen, ob es ihm recht wäre, sie zu begleiten. Natürlich lag ihr viel daran, ihn ihrer besten Freundin vorzustellen.
Sie goß zwei Cappuccino auf und ließ sich noch ein bißchen von Christines vergangener Woche erzählen. Paul gehörte zu den Ärzten, die bereitwillig ihre private Telefonnummer herausrückten. Daher waren nächtliche Störungen an der Tagesordnung. Nur wenn Christine hart war und den Anrufbeantworter einschaltete, der auf den Notarztdienst hinwies, kamen die beiden mal dazu, eine Nacht durchzuschlafen. Gern sah Paul es jedoch nicht, obwohl er seine Frau vergötterte. Seine kleinen Patienten waren ihm jedoch sehr wichtig, so daß er dann in einer Zwickmühle steckte. Christine behauptete jedoch, daß sie dabei ausschließlich an ihren Mann dachte.
»Er arbeitet wirklich wie ein Verrückter. Ich denke manchmal, daß er mindestens das Doppelte verdienen müßte, aber die Kassen machen uns echt das Leben schwer.«
Christine half am Quartalsende bei den Abrechnungen, deshalb konnte sie sich ein Urteil erlauben.
»Natürlich geht es uns wegen der Privatpatienten nicht schlecht, und die Praxiseinrichtung ist auch bezahlt, aber jeder Arzt, der sich jetzt niederläßt, muß ein Spieler sein.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Natürlich, ich übertreibe nicht…«
Christine führte das Thema noch ein wenig aus, bevor sie auf die Uhr schaute und feststellte, daß es schon weit nach dreiundzwanzig Uhr war.
»Oh, ich muß los. Sonst sehe ich Paul nur noch schlafend. Also, ich sage dir wegen der Party noch genauer Bescheid. Ich rechne fest mit euch. Grüß die Kinder noch mal. Kommt doch mal wieder vorbei. Sarah fragt dauernd nach den beiden.«
Da Christine und ihre Familie in einem anderen Stadtteil wohnte, konnten die Kinder nicht allzu oft miteinander spielen. Julia dachte, daß es ganz gut war, denn die Mädchen waren sehr verschieden. So waren sie wenigstens immer noch neugierig aufeinander.
»Das machen wir. Ich rufe an.«
Sie brachte Christine noch hinunter, weil die Haustür verschlossen war und ging dann, nachdem sie noch einmal nach den Kindern geschaut hatte, schlafen. Ihre Gedanken waren schon wieder bei Torsten.
*
»Natürlich komme ich gern mit. Ich freue mich, deine Freundin kennenzulernen«, hatte Torsten auf Julias Frage geantwortet.
Heute war es soweit. Leider mußte Julia bis mittags arbeiten, weil eine Verkäuferin ausgefallen war. Sonnabends gab es immer einiges mehr zu tun, zumal wenn die Sonne so schön schien wie im Moment. Viele Frauen schauten impulsiv herein, um sich für ein schönes Wochenende noch ein bißchen aufzupeppen.
Julia bediente eine Kundin und dachte gleichzeitig darüber nach, was Torsten wohl zu ihrem neuen Leinenkleid sagen würde, das sie sich für diesen Anlaß gekauft hatte. Es war grün und paßte phantastisch zu ihrem blonden Haar und der leicht gebräunten Haut. Die Sonnenstunden auf dem Balkon hatten sich gelohnt, obwohl Julia natürlich genau wußte, daß sie sich später vielleicht einmal durch frühe Falten rächen würden.
»Die haben Sie mir eben schon mal gezeigt«, beschwerte sich die Kundin.
»Oh, bitte, entschuldigen Sie. Hier, diese wären doch hübsch zu Ihrem Haar…«
Julia riß sich zusammen. Es war unverzeihlich, wenn die Kundin den Eindruck gewann, daß sie gar nicht bei der Sache war.
Schließlich war die junge Frau zufrieden, zahlte und verließ das Geschäft. Julia kam jedoch nicht dazu, eine Pause einzulegen, denn es waren noch mehr Frauen da, die bedient werden wollten. Die Verkäuferin, eine von denen, die gern hier arbeiteten, war ebenfalls beschäftigt.
»Kann ich Ihnen helfen?« wandte sich Julia an eine ältere Dame, die mit einem roten weiten Kleid zu dem silbergrauen Haar ein echter »Hingucker« war.
»Ja, gern. Ich suche Ohrclips mit grünem Stein. Aber ein bißchen ausgefallener als diese hier…«
Julia lächelte. Jetzt war sie nicht mehr abgelenkt. Die Frau war ungewöhnlich, da machte es Spaß, sie zufriedenzustellen.
»Mein Sohn hat mir diese hier auch in diesem Geschäft gekauft. Er ist gut beraten worden, denn von selbst hätte er nicht so etwas Schönes gefunden. Deshalb dachte ich, ich komme mal her und schaue mich um.«
»Ach, dann habe ich ihn bedient…«
Julia erkannte die Ohrclips natürlich sofort wieder, die sie dem netten Kunden neulich verkauft hatte.
»Das haben Sie gut gemacht.«
»Danke«, gab Julia lächelnd zurück.
Die Kundin war wirklich beeindruckend. Ihre schlanken Hände mit den gepflegten Nägeln, die außergewöhnliche Kleidung, das perfekt geschnittene Haar… Sie drückte sich sehr gewählt aus und schien genau zu wissen, was ihr stand und was nicht. Julia bedauerte ein wenig, daß sie nichts wirklich Aufregendes anbieten konnte, aber schließlich fand die Kundin doch ein paar Ohrclips mit grünem Stein.
»Danke, ich komme bestimmt wieder. Wissen Sie, ich habe Unmengen von echtem Schmuck, aber der stammt noch von meiner Schwiegermutter und ist entsprechend pompös und altmodisch. Vielleicht trage ich ihn ja mal, wenn ich achtzig bin, obwohl ich da auch meinen Zweifel habe.«
»Sie können diese auffallenden Stücke aber auch wirklich sehr gut tragen.«
»Danke, meine Liebe. Man sollte denken, daß man in meinem Alter nicht mehr so eitel ist, aber das ist ein Trugschluß. Mir macht es einfach Spaß, auch um meine Manager ein bißchen zu schocken. Ich besitze nämlich eine Fabrik und muß mich noch hin und wieder sehen lassen in der Firma.«
Julia konnte sich lebhaft vorstellen, welches Aufsehen sie erregte.
Aber trotz der Flippigkeit spürte man einen starken Willen und eine große Ausstrahlung von Kraft. Bestimmt bewunderten sie alle.
»Es hat mir viel Spaß gemacht, Sie zu bedienen. Es würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal kommen.«
»Lieb, daß Sie das sagen. Da kann ich ja gar nicht anders. Danke, Sie müssen sie nicht extra einpacken. Übrigens, ich kenne ein Geschäft, in das Sie besser hineinpassen würden mit Ihrem ausgezeichneten Geschmack. Sind Sie interessiert?«
»Oh… ich bin eigentlich keine Verkäuferin, sondern die Geschäftsführerin hier. Obwohl… na ja, es ist auch nur ein Name.«
»Ich hatte auch nicht daran gedacht, daß Sie dort hinter dem Tresen stehen sollten. Aber die Einkäufe müßten Ihnen liegen.«
»Daran hätte ich sicher Spaß, aber das würde bedeuten, daß ich herumreisen muß. Und das geht nicht, weil ich zwei Kinder habe.«
»Wie schön für Sie. Kinder sind wichtiger als alles andere. Mein Sohn war mir auch immer das Wichtigste. Mein Mann mußte warten, bis er selbständig war, bevor ich in die Firmenleitung eingestiegen bin. Heute bin ich natürlich froh darüber, daß ich das gemacht habe. Sonst würde sie wohl nicht mehr so gut dastehen, nach dem Tod meines Mannes vor zehn Jahren… Aber ich halte Sie auf. Ein schönes Wochenende, meine Liebe.«
Julia brachte die Kundin zur Tür. Als sie eben von dem Tod ihres Mannes gesprochen hatte, war ein Ausdruck von Trauer über ihr Gesicht gefallen. Sie vermißte ihn sicher immer noch.
»Wer war das denn? Eine tolle Frau, oder?« flüsterte Vera Weber Julia zu, während sie ein paar Broschen auf dem Verkaufstresen einsammelte.
»Ja, vielleicht eine neue Kundin. Ich finde sie auch sehr nett.«
»Sie können jetzt ruhig eine Pause machen, Frau Bogner, ich komme im Moment auch allein zurecht.«
Das ließ sich Julia nicht zweimal sagen. Sie brauchte dringend einen Kaffee, und außerdem hatte sie versprochen, noch einmal bei Christine anzurufen.
Ihre Freundin wirkte munter und aufgekratzt am Telefon.
»Ich habe gerade das kalte Büfett in Empfang genommen. Es ist köstlich. Natürlich wieder nichts zum Abnehmen.«
»Dafür ist so ein Abend wohl auch kaum geeignet. Ich freue mich schon…«
»Und ich bin neugierig auf deinen Freund. Wie weit seid ihr denn jetzt?«
»Noch nicht wesentlich weiter. Ich weiß, worauf du anspielst.«
»Mach es dir nicht so schwer. Nachher bist du enttäuscht, wenn du es so lange aufschiebst…«
»Ach, Christine, schließlich weiß ich, worum es geht.«
Christine lachte ihr ansteckendes Lachen.
»Und wann wirst du ihn den Kindern nun vorstellen? Wird es nicht langsam Zeit?«
»Ja, vielleicht nächstes Wochenende. Sag du mir erst einmal, wie er dir gefällt.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, obwohl ich sicher bin, daß du nicht auf mich hören wirst, falls er mir nicht gefällt.«
»Nein, das werde ich nicht. Aber es wäre mir lieber, wenn du ihn magst.«
»Mach dir keine Gedanken. Was du mir bisher erzählt hast, ist schon okay. Ich muß auflegen, Paul schleicht sich ins Wohnzimmer. Er wird mir lauter Lücken ins Büfett essen, wenn ich nicht aufpasse.«
»Dann bis heute abend.«
Julia legte auf, trank ihren Kaffee und stürzte sich anschließend wieder ins Getümmel. Gerade waren fünf Teenies hereingekommen, die sich für eine Party rüsten mußten.
Die Kinder sollten heute bei ihrer Mutter schlafen. Julia hatte versprochen, nach der Arbeit zum Kaffee zu kommen, bevor sie nach Hause ging, um sich für die Party zurechtzumachen. Nele maulte ein bißchen, weil sie gern mitgefahren wäre. Sie hätte bei Sarah schlafen können, wie sie betonte.
»Wir besuchen Sarah nächste Woche, versprochen. Heute ist sie bei ihrer Oma.«
»Dann wollt ihr wohl die Nacht durchmachen, oder?« fragte Nele vorlaut.
»Nun gönn deiner Mutter den Spaß, Nele. Deine Nächte kommen auch noch.«
»Ich sag’ ja gar nichts…«
»Ich erzähle dir morgen, wie es war, Nele. Außerdem bist du doch gern über Nacht bei Oma.«
»Ja, klar. Wir gehen ins Kino.«
»Wirklich? Das ist aber schön. Was wollt ihr euch denn anschauen?«
Gott sei Dank, Nele war abgelenkt. Sie erzählte, daß ihre Großmutter einen neuen Disney-Film ausgesucht hatte und daß sie Popcorn und Cola kaufen würden. Über die Cola ging Julia stillschweigend hinweg. Einmal schadete das süße Getränk sicher nicht.
Julia legte sich zu Hause erst einmal in die Badewanne, um sich zu entspannen. Leider klappte es damit nicht so gut, denn die Aufregung war größer. Was würde sie heute erwarten? Immerhin hätte sie tatsächlich die Nacht frei… Sollte sie nachgeben, falls Torsten…
Sie würde sehen. Jetzt nur nichts vornehmen, sondern alles an sich herankommen lassen. Das war der Rat, den ihre Mutter ihr immer gegeben hatte. Aber natürlich spekulierte sie weiter, während sie sich mit der duftenden Bodylotion eincremte und dann die schöne Unterwäsche anzog, die sie für besondere Gelegenheiten hütete.
Das Kleid umschmeichelte ihre Figur perfekt. Es war nicht zu eng, dezent ausgeschnitten, aber trotzdem sexy. Julia überlegte, ob sie ihre Haare hochstecken oder einfach offen tragen sollte. Schließlich steckte sie es ein bißchen lässig auf und ließ ein paar Strähnen auf die Schultern fallen. Jetzt noch die silbernen Creolen… Sie fand sich schön und hoffte, daß es Torsten genauso sähe.
Torsten holte sie nicht ab. Sie hatte ihn gebeten, direkt zu Christine zu fahren. Jetzt bedauerte Julia das ein wenig. Sie hätten hier noch einen Schluck Wein trinken können… und ein Kuß wäre auch nicht schlecht gewesen… Bisher hatten sie dazu noch kaum Gelegenheit gehabt. Beim Verabschieden unter den Augen anderer Leute konnte man natürlich nicht die wahre Leidenschaft entfalten.
Torsten war noch nicht da, als Julia bei Christine eintraf. Sie gratulierte Paul, der sich über das antiquarische Buch, das Julia ihm schenkte, sehr freute. Christine bat Julia anschließend in die Küche.
»Du siehst umwerfend aus. Übrigens, heute ist ein alter Freund von Paul da, den er noch im letzten Moment eingeladen hat. Sie kennen sich von der Uni, aber er ist kein Arzt, sondern Jurist.«
»Und warum erzählst du mir das?«
»Weil er sehr nett sein soll. Ich meine nur, falls Torsten doch nicht der Richtige sein sollte, sei wenigstens nett zu Marius.«
»Du bist unmöglich, Christine. Ich bin sicher, daß Torsten der richtige Mann für mich ist.«
»Ich meine ja nur so. Oh, es klingelt schon wieder. Geh ruhig hinüber ins Wohnzimmer.«
Julia durchquerte die große Diele. Das Wohnzimmer war ebenfalls riesig, aber hier waren bereits eine Menge Gäste anwesend, so daß es nicht so einschüchternd wirkte wie üblich. Julia kannte die meisten und begrüßte sie der Reihe nach. Immer wieder huschte ihr Blick zur Tür. Aber Torsten war immer noch nicht erschienen.
*
»Das ist aber eine Überraschung.«
Julia hatte den Gast auch sofort erkannt. Erst heute nachmittag war seine Mutter bei ihr im Geschäft gewesen, nun sah sie ihn wieder. Normalerweise hätte sie sich sehr darüber gefreut, da er ihr auch jetzt sofort wieder sehr sympathisch war. Aber eigentlich wartete sie nur auf Torsten. Immerhin war es schon fast neun. Wo blieb er nur?
»Ja, das finde ich auch. Ich habe heute Ihre Mutter kennengelernt.«
»Ihr kennt euch? Na, so etwas…«
»Nicht direkt, Paul. Du kannst uns schon einander vorstellen.«
»Oh, Entschuldigung. Also, das ist Marius Dorn, genauer Dr. Dorn, ein alter Freund von mir. Und das ist Julia Bogner, die beste Freundin meiner Frau Christine und auch meine. Julia gehört sozusagen zur Familie.«
Julia und Marius Dorn reichten sich die Hände. Das war also der Mann, auf den Julia ein Auge haben sollte nach Meinung ihrer Freundin. Wenn es keinen Torsten gäbe, wäre er sicher nicht uninteressant.
»Nett, daß Sie auch hier sind. Ich kenne ja sonst niemanden. Und Paul habe ich auch lange nicht mehr gesehen. Wir trafen uns neulich rein zufällig.«
»Christine erzählte es mir.«
»Und Sie haben heute meine Mutter getroffen? Ich hatte ihr von dem Geschäft erzählt, in dem ich ihre Ohrringe gekauft habe.«
»Ja, sie hat sich ein weiteres Paar gekauft. Sie ist eine beeindruckende Frau.«
»Ja, das kann man wohl so sagen. Ich mag sie.«
»Das klingt nett. Hoffentlich sagen das meine Kinder später auch einmal von mir.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie etwas anderes sagen könnten.«
Julia lächelte und bedankte sich. Der Blick, den Marius Dorn ihr zuwarf, war voller Bewunderung.
»Noch sind sie sehr jung. Da kann ich noch viel falsch machen.«
»Ist Ihr Mann auch hier?«
Er wollte also wissen, ob sie allein mit den Kindern lebte…
»Ich bin geschieden. Aber mein… Freund muß noch kommen.«
»Ach so…«
Seine Enttäuschung war nicht sichtbar, obwohl Julia meinte, sie aus seiner Stimme herauszuhören. Sie fühlte sich ein bißchen unsicher, weil sie ihn nicht kränken wollte.
Andererseits erfaßte sie allmählich eine solche Unruhe, daß sie am liebsten allein wäre. Wo blieb Torsten? Was konnte ihn so lange aufhalten?
In diesem Moment kam er. Julia strahlte und eilte auf ihn zu.
»Torsten… endlich…«
»Wieso, bin ich zu spät? Du hattest mir nicht gesagt, daß ich zu einer bestimmten Zeit dasein sollte.«
Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob es ihm nicht eilig gewesen wäre, sie zu sehen, aber Gott sei Dank unterdrückte sie diese Frage noch, bevor sie ihr über die Zunge schlüpfen konnte.
»Nein, das ist schon in Ordnung. Hast du Paul und Christine schon kennengelernt?«
»Deine Freundin hat mir die Tür geöffnet. Paul ist das Geburtstagskind?«
»Ja, er steht dort drüben, komm mit.«
Paul bedankte sich für den Champagner, den Torsten ihm schenkte. Als er Julias Gesicht sah, schmunzelte er.
»Na, dann kann es ja jetzt richtig losgehen. Julia, jetzt hast du sicher auch Appetit.«
Julia schaute ihn ein bißchen strafend an. Mußte er darauf anspielen, daß sie bisher wie auf Kohlen gesessen hatte?
»Du siehst übrigens wunderschön aus«, flüsterte ihr Torsten zu, als sie zum Büfett hinübergingen, wo sich bereits die meisten Gäste versammelt hatten. Sie alle schienen nur auf Pauls Erlaubnis gewartet zu haben.
»Danke.«
Julias Herz klopfte stürmisch. Ihr wurde heiß, wie immer, wenn sie neben Torsten stand. Sie aßen, dann unterhielten sie sich mit anderen Gästen, später wurde getanzt. Torsten forderte Christine auf, während Julia mit Paul tanzte. Sie ließ ihre Freundin und Torsten nicht aus den Augen, bis sie Paul auf den Fuß trat.
»Oh, entschuldige, Paul…«
»Ich frage mich, ob du Angst um deinen Torsten hast… Christine wird ihn ein bißchen ausquetschen, aber mehr passiert bestimmt nicht«, antwortete er mit gutmütigem Grinsen.
»Eben vor dem Ausquetschen habe ich Angst.«
»Christine tut doch, was sie will. Also lassen wir sie. Komm, tanz doch mal mit Marius. Er mag dich, glaube ich. Ich muß noch Getränke hochholen.«
Bevor Julia protestieren konnte, hatte Paul sie seinem Freund gewissermaßen in den Arm gedrückt. Marius schien auch überrascht, aber schließlich tanzten sie zusammen und wechselten dabei ein paar belanglose Worte. Julia hatte den Eindruck, daß er ebenso froh war wie sie, als der Tanz zu Ende ging.
»Kannst du mir eben in der Küche helfen?«
Natürlich, Christine wollte ihren Eindruck loswerden. Mußte sie das so auffällig machen? Julia wurde rot, warf Torsten einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihrer Freundin.
»Das war peinlich, Christine.«
»Ach, Quatsch. Torsten ist doch nicht doof. Natürlich weiß er, daß wir über ihn sprechen werden. Also, ich finde ihn ganz schön sexy. Aber…«
Das Aber wollte Julia nicht hören. Und sie mußte das auch nicht, denn jetzt kamen andere Gäste in die Küche, um nach Knabberzeug zu forschen. Sie gehörten zum Freundeskreis und durften sich solche Freiheiten herausnehmen.
Sie nutzte die Gelegenheit, um Christine zu entkommen. Torsten empfing sie mit einem Glas Champagner, das er ihr in die Hand drückte.
»Na, ist sie einverstanden?«
»Wie meinst du das?«
»Na, deine Freundin. Sie hat dir doch sicher erzählt, ob sie mich für gut genug für dich hält.«
Er lächelte bei seinen Worten, aber Julia meinte ein wenig Zurückhaltung herauszuhören.
»Komm, laß uns tanzen… Sie findet dich natürlich nett. Hast du etwas anderes erwartet?«
»Nein. Sie ist auch nett. Wollen wir noch lange bleiben?«
»Gefällt es dir nicht?« wollte Julia erschrocken wissen. Torsten war gerade zwei Stunden hier. Sie konnte jetzt noch nicht gehen, ohne Christine und Paul zu kränken.
»Doch, das schon. Aber ich dachte, weil du heute keine Kinder im Haus hast…«
Da war sie also, die Frage aller Fragen. Obwohl Julia damit gerechnet hatte, wußte sie jetzt doch nicht, was sie sagen sollte.
»Mindestens eine Stunde muß ich noch bleiben. Immerhin sind es meine Freunde…«
»Natürlich, mein Liebling…«, flüsterte er leise und irgendwie anzüglich in ihr Ohr.
Julia wurde rot. Manchmal verfluchte sie ihre helle, zarte Haut, die jede Regung so deutlich zeigte. Er drückte ihre Hand, küßte sie zart auf den Hals und drehte sie noch einmal schwungvoll zum Takt der Musik.
Sollte sie mit ihm gehen? In ihrer Wohnung sollte das »erste Mal« nicht stattfinden, Julia scheute vor dem Gedanken zurück, ohne es sich erklären zu können. Vielleicht lag es daran, daß sie sehen wollte, wie er wohnte. Könnte sie daraus Rückschlüsse ziehen, ob die Kinder und er miteinander zurechtkommen würden? Wohl kaum. Selbst wenn seine Wohnung absolut singlemäßig und cool eingerichtet wäre, hieß das ja nicht, daß er in Wirklichkeit keine Kinder mochte.
Es war keine leichte Entscheidung, und Julia war froh, daß sie noch ein wenig Zeit hatte, bis sie sie fällen mußte.
Ein Anruf ihrer Mutter erlöste sie aus dem Dilemma.
»Julia? Telefon. Deine Mutter.«
»Oh…, dann muß etwas passiert sein… entschuldige, Torsten…«
Er ließ sie los. Julia lief ins Schlafzimmer ihrer Freundin, um von dort aus zu sprechen, weil man im Wohnraum sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
»Mama? Was ist passiert?«
Julia war ganz atemlos vor Angst. Ihre Mutter war nicht zimperlich. Wenn sie also einen Grund sah, hier bei Christine anzurufen, mußte es sich schon um etwas Ernstes handeln.
»Es tut mir wirklich leid, dich zu stören, Kleines. Reg dich nicht auf, es ist nicht so schlimm. Nele hat wohl einen Magen-Darm-Infekt erwischt. Sie will nicht einschlafen, ohne daß du ihr versprichst, sie morgen früh gleich zu holen. Eigentlich wollte sie, daß du herkommst und hier schläfst. Sie spuckt jetzt nicht mehr, hat aber Fieber.«
»Ich komme. Sag ihr, daß ich in ungefähr einer halben Stunde bei euch bin.«
»Julia, du mußt wirklich nicht eher kommen. Wenn ich ihr sage, daß du morgen früh hier bist, ist es bestimmt okay.«
»Nein, nein, Mama. Wenn Nele krank ist, braucht sie mich. Ich weiß, daß du es wunderbar machst, aber du brauchst auch deinen Schlaf.«
»Mir scheint, dir ist es ganz lieb, daß du herkommen mußt…«
Die Intuition ihrer Mutter grenzte manchmal an Hellsicht. Julia lächelte kurz, aber sie ging nicht darauf ein.
»Wie auch immer, ich komme. Danke, Mama.«
»Schon gut. Grüß Christine noch mal. Sie soll nicht böse sein, daß du nun gehst.«
»Christine würde nicht anders handeln. Bis später.«
Julia stand auf. Jetzt bedauerte sie natürlich, daß die Gelegenheit, Torsten besser und intimer kennenzulernen vorüber war. Und doch, sie hätte gar nicht anders entscheiden können. Wie sollte sie seine Umarmung genießen, wenn sie wußte, daß es Nele schlechtging?
Torsten erwartete sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Er sah nicht sonderlich besorgt aus.
»Tut mir leid, Torsten, ich muß sofort los. Meine Mutter hat mir eben mitgeteilt, daß Nele krank geworden ist. Sie möchte mich natürlich bei sich haben.«
»Das tut mir auch leid, sehr leid. Hoffentlich wird sie bald wieder gesund.«
Sehr enttäuscht schien er nicht. Julia konnte nicht entscheiden, ob sie sich darüber freuen oder enttäuscht sein sollte. Es könnte immerhin bedeuten, daß er die Wichtigkeit der Kinder für sie nicht in Frage stellte. Sie beschloß, es so zu verstehen.
»Danke, daß du es so aufnimmst. Wir werden sicher bald wieder einmal…«
Er lächelte und zog ihre Hand an die Lippen. Julia war froh, daß sie nicht weitersprechen mußte.
Christine war ihrer Meinung, daß Julia zu ihrer Tochter gehen mußte.
»Arme Nele, das ist wirklich eine scheußliche Sache. Man fühlt sich sofort total schlapp. Aber Gott sei Dank machen Kinder so etwas schnell ab. Hast du Cola und Salzstangen? Ich kann dir beides mitgeben.«
»Ja, das wäre nett. Danke, Christine.«
»Und dein Torsten? Wie hat er es aufgenommen? Ihr könnt ja nun leider nicht…«
Julia unterbrach sie. Man mußte nicht alles aussprechen.
»Er ist fabelhaft. Torsten versteht das.«
»Gratuliere. Dann hat er ja schon einen wichtigen Test bestanden. Die meisten Männer sind Egoisten. Sie würden das überhaupt nicht verstehen.«
Julia verabschiedete sich. Torsten hatte auf Drängen von Christine beschlossen, noch etwas zu bleiben, da Julia mit ihrem eigenen Auto hier war und er sie nicht fahren mußte. Julia küßte ihn vor aller Augen auf den Mund. Es war schön, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit.
*
»Mama? Bei der Party, hast du da einen Freund kennengelernt?«
Nele musterte ihre Mutter sehr aufmerksam. Julia nickte. Torsten verdiente es nicht, länger verleugnet zu werden.
»Ja, ich war mit einem Freund da. Einem sehr netten Freund.«
»Und… siehst du den wieder?«
»Ja, das möchte ich gern. Meinst du, ich sollte ihn mal zum Essen einladen, damit ihr ihn auch kennenlernt?«
»Hierher?«
»Ja, sicher.«
»Hmm. Ich weiß nicht…«
Julia war enttäuscht. Nele hatte das volle Verwöhnprogramm bekommen, sie war heute nicht zur Schule gegangen, weil sie noch ein wenig schwach war. Julia hatte sich extra einen Tag freigenommen für Nele. Jetzt könnte ihre Tochter sich wenigstens ein bißchen entgegenkommender zeigen…
»Willst du ihn heiraten, Mama?«
»Aber, Nele, davon ist doch wirklich keine Rede«, gab Julia vielleicht ein wenig zu schnell zurück.
»Ich meine ja nur. Ich möchte nicht, daß hier ein fremder Mann wohnt.«
Das kam mit aller Entschiedenheit. Nele lehnte sich zurück, als habe sie in dieser Angelegenheit das letzte Wort gesprochen.
»Wenn du Torsten kennenlernst, wirst du merken, daß er sehr nett ist. Und über heiraten redet kein Mensch, weder er noch ich. Ich freue mich nur, wenn er mit mir ausgeht. Du bist doch auch gern mit deinen Freundinnen zusammen oder gehst ins Kino…«
»Du hast doch uns, Mama. Du bist ja nicht allein.«
»Nein, und ich bin sehr froh, daß ich euch habe, mein Schatz. Und daran wird sich auch nie etwas ändern. Willst du jetzt ein wenig schlafen?«
»Nein, Kassette hören.«
»Na gut. Ich gehe in die Küche und bereite das Omelett vor. Oder möchtest du doch lieber etwas anderes?«
»Nein. Ich hab’ Hunger.«
Julia lächelte und strich ihrer Tochter über das Haar. Nele war ein hübsches Kind, sie würde später bestimmt einigen Jungen den Kopf verdrehen.
Den Kopf verdrehen… Torsten hatte ihr auch gründlich den Kopf verdreht. Es verging keine Stunde, in der sie nicht an ihn dachte. Er hatte am Sonntag angerufen und sich nach Nele erkundigt, was Julia einfach zauberhaft fand. Bevor sie sich verabschiedet hatte, war Torsten noch einmal ein bißchen deutlicher geworden.
»Vielleicht kann deine Mutter die Kinder nächste Woche noch einmal zu sich nehmen. Ich möchte gern, daß wir uns näherkommen, Liebling. Du bedeutest mir viel.«
»Du… mir auch. Ich werde sie fragen.«
Julia wußte jetzt ganz genau, daß sie nicht noch einmal zögern würde. Sie sehnte sich danach, mit Torsten allein zu sein, in seinen Armen zu liegen und Zeit zu haben. Daß Nele so intensive Fragen stellte, machte ihr Angst. Spürte ihre kluge Tochter, wie ernst es ihr war und wollte gleich vorbauen?
Dann würde alles sehr schwierig werden, denn Julia war nicht bereit, für die Kinder auf ein erfülltes Leben zu verzichten. Aber sie konnte natürlich auch nicht gegen die Kinder handeln. Im Endeffekt bedeutete das nichts anderes, als daß sie viel Geduld haben mußte, etwas, das ihr nicht leichtfiel.
Die Omeletts gelangen angesichts ihrer inneren Unruhe überraschend gut. Nele aß ihres ganz allein auf, was sicher ein gutes Zeichen war. Morgen würde sie wieder zur Schule gehen können.
»Mama…, ich glaube, ich möchte doch lieber nicht, daß du den Mann hierher einlädst…«
Julia hatte geglaubt, schon wieder allein zu sein. Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die mit trotzig vorgeschobener Unterlippe in der Küchentür stand.
»Hast du jetzt die ganze Zeit darüber nachgedacht?«
»Nee, aber… ich finde es schön so, wie es ist. Ich habe Patrick gefragt, er möchte auch nicht, daß er herkommt.«
»Das ist unfair von dir, Nele. Du tust so, als ob Torsten euch etwas wegnehmen würde, nur wenn er zum Essen hierherkommt. Und daß du Patrick beeinflußt, ist auch nicht sehr nett von dir. Du hast Freunde, Patrick hat Freunde. Und ich habe auch Freunde und werde mir das von euch auch nicht verbieten lassen.«
Unvermittelt hatte sich ein scharfer Unterton in ihre Stimme geschlichen. Nele drehte sich abrupt um und verließ die Küche. Julia hörte kurz darauf die Tür ihres Zimmers zuschlagen. Resigniert stellte sie den Teller, den sie gerade in der Hand hielt, in die Spülmaschine und wischte sich über die Stirn.
Nun hatte sie wirklich ein Problem. Wenn sie Torsten jetzt hierher bäte, wäre die Stimmung vorprogrammiert. Nele konnte sehr dickköpfig sein und war bestimmt so schnell nicht bereit, ihre Meinung zu ändern. Da half nun wirklich nur Zeit, und das bedeutete, daß Julia sich weiterhin »heimlich‹ mit Torsten treffen mußte. Daß ihre Tochter ihr diktieren wollte, wen sie treffen konnte und wen nicht, machte sie wütend und hilflos.
Um noch eine zweite Meinung dazu zu hören, rief sie Christine an. Ihre Freundin lachte, als sie hörte, was Julia belastete.
»Das ist doch klar, daß Nele versucht, einen Machtkampf daraus zu machen. Du gibst ihr so wenig Reibungsfläche, und sie ist nun mal in dem Alter, wo sie sich abgrenzen muß.«
»Du meinst also, ich sollte das nicht so ernst nehmen?«
»Genau. Laß sie einfach reden. Warte noch vierzehn Tage, bevor du Torsten mit nach Hause nimmst, aber höre um Gottes willen nicht auf, dich mit ihm zu treffen.«
»Na gut… Ich bin schon total verunsichert. Ich möchte ja nicht, daß die Kinder sich unglücklich fühlen…«
»Also fühlst du dich lieber unglücklich? Nein, Julia, so muß es nicht sein. Gib ihnen einfach Zeit. Dann wird das schon. Nachdem ich Torsten ja nun erlebt habe, denke ich, er könnte ganz gut zu dir passen. Wie er als Ersatzvater ist, weiß ich nicht, aber so klein sind deine Kinder ja auch nicht mehr. Im ungünstigsten Fall hält er sich eben einfach raus, wenn es um Erziehung geht.«
»Es war gut, mit dir zu sprechen. Danke, Christine.«
»Gern geschehen. Laßt euch doch mal wieder hier sehen.«
»Das mache ich. Vielleicht am Wochenende?«
Dieses Wochenende würde Torsten vergeblich warten müssen. Julia wollte nichts riskieren. Wenn sie schon wieder ihre Mutter einspannen müßte, würde Nele sofort wissen, warum sie dort schlafen wollte und vielleicht einen anderen Grund finden, um sie herbeizuzitieren. Das wollte sie weder Torsten und sich, noch ihrer Mutter zumuten. Die eine Woche würde sie also auch noch aushalten.
Torsten erklärte sie die Gründe dafür allerdings nicht. Es könnte ihn gegen die Kinder einnehmen. Julia begriff langsam, wie kompliziert ihr Leben zu werden versprach, und das nur, weil ihr etwas Schönes passiert war. Sie hatte sich verliebt und wurde ebenfalls begehrt. Kinder waren wunderbar, aber wie schwierig sie sein konnten, sagte einem vorher niemand. Allerdings war Julia sicher, daß sie sie trotzdem gewollt hätte.
Es tat ihr gut, wieder zur Arbeit gehen zu können. Gleich am nächsten Tag stellte sie eine Ladendiebin, eine gut gekleidete Frau, die angeblich gar nicht wußte, wie die Silberohrringe, drei Paar, in ihre Tasche gekommen waren. Sie bot Julia sogar eine erhebliche »Bestechungssumme«, wenn diese die Polizei außen vorließe. Julia hatte jedoch strengste Anweisungen für solche Fälle. Ein einziges Mal hatte sie dagegen verstoßen und eine Frau laufen lassen, die daraufhin in einer anderen Filiale erwischt wurde. Bei ihr zu Hause fand man ein ganzes Warenlager gestohlener Gegenstände aus Warenhäusern und Boutiquen. Seitdem war Julia konsequent.
Trotzdem regte sie dieser Vorfall auf. Wie kam man dahin, solche Dinge zu tun? Was mußte im Leben dieser Frau schiefgelaufen sein? Sie glaubte von sich, daß ihr niemals so etwas passieren könnte, aber stimmte das? Sie würde nicht stehlen, aber vielleicht war es möglich, daß ihr Leben eines Tages so durcheinandergeriete, daß sie beispielsweise zur Flasche griff…
Sie schauderte bei dem Gedanken und wandte sich lieber wieder den Kassenabrechnungen zu.
Am Abend, kurz bevor sie Feierabend hatte, stand Torsten plötzlich vor ihr im Laden.
»Ich dachte, ich hole dich einfach mal zum Essen ab. Ich bin sicher, deine Mutter hat nichts dagegen, die Kinder noch zu versorgen. Wir müssen ja nicht lange wegbleiben.«
Julia zögerte. Sie freute sich darüber, daß Torsten ihr spontan eine Freude machen wollte. Aber Nele…
Ach was. So schlimm war es schließlich nicht, wenn sie erst um neun oder zehn käme. Ihre Mutter hatte dafür jedenfalls ganz gewiß Verständnis.
»Gut, das ist lieb von dir. Ich muß nur eben anrufen.«
»Schön. Ich hatte fast nicht zu hoffen gewagt, daß ich dich überreden kann.«
Auch für ihn konnte es nicht so leicht sein. Seine früheren Freundinnen waren sicher nicht so kompliziert gewesen. Julia lächelte ihm dankbar zu und ging nach hinten, ohne ihn aufzufordern, sie zu begleiten. Torsten schien das auch nicht zu erwarten. Er sah sich im Laden um.
»Mama? Macht es dir etwas aus, wenn die Kinder heute noch bei dir essen? Ich bin überraschend zum Essen eingeladen worden und würde sehr gern annehmen.«
»Von deinem neuen Freund?«
»Woher weißt du… ah, Nele…«
»Ja, sie hat sich bei mir beklagt, aber da kam sie natürlich an die Richtige. Ich habe ihr klipp und klar gesagt, daß ich es wunderbar finde, wenn du ein bißchen Spaß hast und daß es ihr Leben schließlich auch bereichert, wenn sie neue Menschen kennenlernt. Sie hat mich nur stumm und vorwurfsvoll angesehen. Vermutlich übt sie sich jetzt in der Rolle des unverstandenen Kindes. Aber sie weiß natürlich, daß wir sie alle lieben und nutzt das weidlich aus, dein schlechtes Gewissen zu sehen. Also amüsier dich, Kleines. Sollen sie hier schlafen?«
»Nein, nein. Ich hole sie spätestens um halb zehn. Wenn sie dann bettfertig sind…«
»So machen wir es. Viel Spaß.«
Julia überlegte, ob sie noch viel Spaß haben würde. Ihre Mutter meinte es herzensgut, aber sie konnte Nele auch viel besser widerstehen und regte sich seltener über Tränen auf. Vielleicht weil ihr Leben nicht immer leicht gewesen war und sie schon ganz andere Dinge hatte durchmachen müssen. Julia jedoch konnte sich den ganzen Abend nicht so ganz von dem Gedanken freimachen, daß Nele es wiederum als Verrat empfinden könnte. Julia war ein anderer Mensch wichtiger gewesen, als nach einem langen Tag ihre Kinder zu sehen…
»Julia? Ich glaube, ich sollte dich jetzt gehen lassen, oder? Sonst drehst du den Stiel des Glases noch ab…«, unterbrach Torsten ihre Gedanken.
Julia hatte gar nicht gemerkt, daß sie ihr Glas pausenlos drehte. Verlegen schob sie es zurück. Es war halb neun, kein Grund zur Eile.
»Nein. Ich möchte noch einen Nachtisch«, verkündete sie entschlossen.
*
»Ich möchte zu Papa. Ruf ihn an, und sag ihm, daß er mich abholen soll.«
Julia ließ fast die Puddingschüssel fallen. Sie hatte den Kindern Schokoladenpudding gekocht und den gerade aus dem Kühlschrank genommen, als ihre Tochter mit dieser Bitte kam.
»Warum siehst du mich so an? Ich kann ihn doch jederzeit sehen, hast du mal gesagt.«
Woher kam nur dieser Trotz in den Augen der Neunjährigen? Julia war sich keiner Schuld bewußt. Am Wochenende hatte sie sich intensiv um die Kinder gekümmert und nur zweimal mit Torsten telefoniert. Heute, am Sonntag, waren sie den ganzen Tag mit Christine und ihrer Familie zusammengewesen. Sie hatten gegrillt, im Garten herumgetobt und viel Spaß gehabt. Und jetzt dieses…
»Natürlich kannst du Papa sehen. Ich rufe ihn an.«
»Ich will aber nicht zu ihm, Mama«, warf Patrick ein, der unglücklich von seiner Mutter zu seiner Schwester blickte. Er spürte die Spannung, konnte damit aber nichts anfangen. Für ihn war die Welt noch einfacher. Er hatte sich auf den Pudding gefreut und war müde vom Spielen.
»Das mußt du ja nicht, mein Schatz. Willst du jetzt auch Pudding haben, Nele?«
Julia zwang sich, in dem Wunsch ihrer Tochter etwas ganz Normales zu sehen. Vielleicht war er ja auch entstanden, weil Nele heute den ganzen Tag ein glückliches Familienleben gesehen hatte.
»Ja.«
Nele wirkte nun seltsam zufrieden. Julia konnte nicht glauben, daß es damit zusammenhängen mochte, ihr die Laune verdorben zu haben. War Nele etwa berechnend? Den Abend vor ein paar Tagen, als sie mit Torsten essen gegangen war, hatten sie doch ohne Folgen abgehakt… Und doch, vielleicht stand das damit in Verbindung. Sie wußte einfach nicht, wie sie richtig reagieren sollte. Letztendlich konnte ihr auch keiner raten, denn niemand steckte in ihrer Haut und niemand kannte Nele so gut wie sie. Vor allem trug sie die Verantwortung allein.
»Wann rufst du Papa an?« wollte Nele eine Stunde später wissen, als Julia ihr einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank gab.
Die Kinder hatten gebadet und sollten jetzt schlafen. Patrick lag schon im Bett und wartete darauf, daß Julia ihm gute Nacht sagte.
»Das versuche ich nachher.«
»Vergiß es aber nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob er da ist.«
»Dann versuch es morgen noch einmal.«
»Ja, Nele. Ich werde ihm am besten sagen, daß er dann selbst mit dir sprechen soll, damit ihr etwas ausmachen könnt.«
Julia war nicht bereit, ein Nein ihres Exmannes an ihre Tochter weiterzugeben. Das mußte er schon selbst tun. Und sie fürchtete, daß es auf ein Nein hinauslaufen würde.
»Gut.«
Jetzt war Nele offenbar wirklich beruhigt. Sie schlüpfte in den Schlafanzug und kroch ins Bett. Nachdem sie die Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen hatte, gab Julia ihr einen Kuß.
»Schlaf gut, mein Schatz.«
»Mach ich. Du nachher auch.«
»Danke.«
Julia strich Nele noch einmal über das Haar und lächelte auf ihr großes Mädchen hinunter. Nele konnte so lieb und so eigensinnig sein, was Julia auch nicht schlimm fand. Nur eines wünschte sie sich wirklich nicht, einen kleinen Egoisten heranzuziehen, dem nur die eigenen Gefühle wichtig waren.
Patrick schlief schon fast. Er kuschelte sich an seine Mutter und legte ihr einen Arm um den Hals.
»Ich hab’ dich lieb, Mama.«
Ach, wie goldig er noch war… Er kannte keine Kritik an ihr, was sie tat und sagte, war Gesetz… Julia wußte, daß sich das mit der Zeit auch noch ändern würde. Aber jetzt genoß sie es.
»Ich hab’ dich auch ganz doll lieb, mein Patrick.«
Er grinste. Seit ein paar Tagen hatte er eine Zahnlücke, ein Zeichen für seine bevorstehende Schulreife. Julia fand es schade, daß die Kinder so schnell groß wurden, obwohl es natürlich nicht nur Nachteile hatte.
Sie löschte das Licht in seinem Zimmer und ging ins Wohnzimmer hinüber. Auf dem Tisch lag ein Roman, den sie seit Wochen lesen wollte. Immer wieder kam etwas dazwischen. Aber heute abend war es vielleicht gut, sich ein wenig abzulenken.
Nein. Vorher würde sie ihr Versprechen halten und ihren Exmann anzurufen.
Er war nicht zu Hause, wie sie es erwartet – und vielleicht gehofft? – hatte. Julia hinterließ eine kurze Nachricht auf seinem Anrufbeantworter.
Nele möchte dich sehen. Ruf doch bitte an, sobald du Zeit hast.
Das mußte genügen. Hoffentlich ließ er Nele nicht unnötig warten.
Nachdem sie den Hörer nun schon einmal in der Hand hatte, überlegte sie, ob sie Torsten noch einmal anrufen sollte. Schließlich legte sie den Hörer jedoch auf, ohne seine Nummer zu wählen. Es vergrößerte nur ihre Sehnsucht, seine Stimme zu hören.
Nele mußte erstaunlicherweise nicht lange warten. Schon am nächsten Abend kam der Anruf ihres Vaters. Als sie mit ihm gesprochen hatte, kam sie strahlend zu Julia in die Küche. Sie hatte Nele bewußt allein gelassen.
»Ich kann am Freitag bis Sonnabend zu ihm kommen. Wir gehen ins Kino und essen.«
»Das ist ja schön.«
»Er wollte mal mit mir allein sein, sagt er. Deshalb findet er es auch gar nicht schlimm, daß Patrick nicht mit will.«
»Das mußt du Patrick aber so nicht sagen, oder, Nele?«
»Nein, klar, mache ich nicht.«
Julia hoffte, daß Nele sich daran hielt.
Ihre Mutter machte Julia den Vorschlag, Patrick zu sich zu bringen, wenn Nele bei ihrem Vater war.
»Das ist doch eine schöne Gelegenheit für dich, dir auch etwas vorzunehmen. Ich merke, daß du ein bißchen unruhig bist.«
Das war richtig. Julia dachte ständig an Torsten. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auf so einen Vorschlag gehofft, als sie ihrer Mutter von Thomas’ Einladung an Nele erzählt hatte.
»Mal sehen. Ich weiß nicht, ob Torsten Zeit hat.«
»Die wird er schon haben, wenn er hört, daß du nicht schon so bald wieder nach Hause mußt«, meinte ihre Mutter lächelnd.
So war es. Torsten freute sich.
»Dann machen wir uns einen wunderschönen Abend, Julia. Wie wäre es mit Theater? Oder lieber Kino?«
»Theater wäre schön…«
»Gut, dann das volle Programm. Vorher gehen wir schön essen, dann trinken wir bei mir eine Flasche Champagner.«
Und dann bleibe ich da…, ergänzte Julia seine Worte in Gedanken.
Patrick war begeistert, als er hörte, daß er allein bei seiner Großmutter schlafen durfte. Er konnte sie mühelos um den Finger wickeln, und das bedeutete Fernsehen, Cola und Chips, einschließlich spätes Schlafengehen natürlich.
Am meisten war Nele aufgeregt. Sie bestand sogar darauf, ein neues T-Shirt zu bekommen.
»Papa möchte sicher, daß ich toll aussehe, wenn wir essen gehen!«
Julia versuchte gar nicht erst, es ihr auszureden. Wenn ihre Seligkeit von einem neuen T-Shirt abhing, dann sollte Nele es haben. Am Donnerstag gingen sie zusammen einkaufen. Patrick nutzte die Gunst der Stunde und wünschte sich ein neues kleines Auto. Und weil die Stimmung so gut war, besuchte Julia mit den Kindern hinterher noch eine Pizzeria.
»Was wollt ihr haben?«
Die Kinder wählten mit Bedacht ihren Belag. Julia hörte ihnen amüsiert zu, wie sie ihre Vorschläge gegeneinander abwogen.
»Oh, guten Abend. So eine Überraschung… Das sind also Ihre Kinder?«
Julia schaute hoch. Vor ihr stand die Mutter von Dr. Dorn, angetan mit einem lila Leinenkleid, das so weit wie ein Zelt war. Dazu trug sie lange silberfarbene Ohrringe.
»Frau Dorn, ja, das sind meine Kinder Nele und Patrick. Kinder, Frau Dorn ist eine sehr nette Kundin von mir…«, stellte Julia die ältere Dame leicht verwirrt vor.
Nele starrte die Frau fasziniert an. Sie war ungefähr so alt wie ihre Oma, aber da hörte auch schon jede Ähnlichkeit auf.
»Guten Abend, Nele, guten Abend, Patrick. Ich will nicht stören, heute hatte ich einen unbezwingbaren Appetit auf Pizza, deshalb bin ich hier. Passiert mir nicht oft, aber manchmal muß es sein, oder? Sie ist hier sehr gut.«
Frau Dorn lächelte Nele und Patrick zu. Julia hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
Sie merkte an Neles Reaktion, daß sie genau dem Wunsch ihrer Tochter entsprach.
»Aber ich möchte auf keinen Fall stören.«
»Das tun Sie bestimmt nicht.«
»Sie können hier neben mir sitzen«, bot Nele an.
Auf ihrer Bank war noch Platz. Sie rückte sofort zur Seite und gab Patrick einen kleinen Schubs.
»Danke, das ist sehr lieb von dir. Habt ihr euch denn schon etwas ausgesucht?«
»Nein, wir können uns nicht entscheiden…«
Sofort vertieften sich die drei in eine erneute Diskussion darüber, welches denn nun die besten Zutaten zu ihrer Pizza seien. Frau Dorn machte einen Vorschlag, der die Zustimmung der Kinder fand.
»Wie wäre es, wenn wir alle etwas Verschiedenes nehmen und dann teilen? Das macht am meisten Spaß. Ich bin auch immer ganz unsicher, was mir wohl am besten schmecken wird.«
»Das ist toll«, begeisterte sich Nele. Patrick nickte zustimmend, und die Bestellung konnte endlich aufgegeben werden.
Als hätte Nele nur auf die Ankunft der fremden Frau gewartet, redete sie nun ohne Punkt und Komma. Sie schaute dabei immer wieder bewundernd auf die spektakulären Ohrringe Frau Dorns.
»Gefallen sie dir?«
»Sie sehen toll aus.«
»Die hat mir deine Mama empfohlen. Sie hat einen wirklich guten Geschmack, findest du nicht?«
»Kann sein. Sie trägt nie so etwas. Meine Oma auch nicht. Aber wenn ich mal groß bin, will ich auch solche Ohrringe haben.«
»Ich bin sicher, daß du phantastisch aussehen wirst.«
Julia folgte der Unterhaltung jetzt ganz entspannt. Es war deutlich zu merken, daß Nele keine größeren Probleme hatte. Sie war genauso munter wie immer. Ihre komische Art betraf also nur Julias neue Beziehung.
Das Essen wurde serviert. Nele verstummte und widmete sich hingebungsvoll ihrer Pizza. Frau Dorn hatte mit Julia zusammen die vier Teigfladen sternförmig aufgeschnitten, so daß sich nun jeder nach Lust und Appetit bedienen konnte.
»Ich hörte, daß Sie meinen Sohn neulich auf der Party Ihrer Freundin getroffen haben?«
Julia verschluckte sich fast, als sie Neles Blick sah, der sofort alarmiert von der älteren Dame zu ihrer Mutter schweifte.
»Ja. Meine Freundin Christine und ihr Mann sind meine besten Freunde.«
»Marius kennt Paul schon lange, aber sie haben sich jetzt erst kürzlich wiedergesehen. Ich mochte Paul auch immer gern. Er war früher ein paarmal bei uns, als die beiden noch studierten.«
»Er ist wirklich ein netter Mann und ein sehr guter Vater. Christine hat sehr viel Glück gehabt.«
»Hat Ihr Sohn auch eine Familie?« unterbrach Nele.
Vermutete sie, daß der Sohn dieser netten Frau ihr Feind, nämlich der neue Freund ihrer Mutter, war? Julia sah in ihren Augen schon die vorauseilende Ablehnung.
»Nein, hat er nicht, mein Schatz. Leider, wie ich sagen muß. Ich hätte auch gern solche Enkelkinder wie ihr es seid.«
»Das ist nicht dein Freund, Mama?« wollte Nele jetzt direkt von ihrer Mutter wissen.
»Nein, Nele, aber ich möchte darüber jetzt wirklich nicht reden«, wies Julia ihre Tochter streng zurecht.
Frau Dorn schaute Julia verständnisvoll an. Sie schien sofort begriffen zu haben, daß es hier Spannungen gab und wechselte freundlicherweise das Thema, indem sie Nele fragte, ob sie einmal ihre Salamipizza probieren wolle.
*
Freitag. Julia hatte sich den halben Tag freigenommen, um Nele ihrem Vater selbst zu übergeben. Ihre Tochter war so aufgeregt, daß sie ganz blaß wirkte. Patrick dagegen richtete sich auf einen gemütlichen Abend bei seiner Großmutter ein. Er hatte schon seinen kleinen Rucksack mit den Übernachtungssachen gepackt, oben schaute sein Teddy heraus, ohne den er das Haus nie verließ. Nele versäumte es kein einziges Mal, ihn damit aufzuziehen, daß ein Junge, der schon groß sein wollte, immer seinen Teddy mitschleppte. Aber heute machte sie keine Bemerkung.
Julia hatte Schwierigkeiten damit, ihre eigene Unruhe im Zaum zu halten. Sie würde heute bei Torsten übernachten, zum ersten Mal. Und sie ahnte, daß es so schnell auch keine Gelegenheit dazu geben würde, es zu wiederholen.
Andererseits wollte sie ihrer Tochter gern klarmachen, daß diese nicht mitgehen mußte, falls ihr ihr Vater nun doch fremd erschiene.
»Nele…, wenn du es dir anders überlegst, mußt du nicht bei Papa schlafen…«, begann sie vorsichtig.
»Ich will aber!«
»Schon gut, ich wollte ja nur sagen, daß du bei Oma anrufen kannst. Sie hat nichts dagegen, dich dann auch noch bei sich…«
»Ich rufe nicht an. Ich will bei Papa sein.«
Neles Augen blitzten vor Zorn. Dachte sie, Julia wolle ihr das ersehnte Zusammensein mit ihrem Vater noch verbieten?
»Dann ist es ja gut. Ich freue mich für dich, daß es klappt.«
Nele antwortete nichts, sondern ging in ihr Zimmer zurück, aber nur, um gleich darauf wieder ins Wohnzimmer zu kommen. Sie schaute aus dem Fenster auf die Straße und sah dann wieder auf die Uhr.
Julia mußte mit ihren eigenen Vorbereitungen warten, bis Nele weg war. Sie wollte Nele nicht unbedingt auf die Nase binden, daß sie nicht zu Hause sitzen würde.
Thomas erschien sogar pünktlich zur verabredeten Zeit, was Julia zusätzlich überraschte. Konnte es sein, daß er allmählich Vatergefühle entwickelte? So recht glaubte sie das nicht. Ihr Herz blieb ruhig, als sie ihm die Tür öffnete.
»Guten Tag, Julia.«
»Guten Tag, Thomas.«
Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Julia stellte fest, daß Thomas ein paar graue Haare bekommen hatte und um die Augen herum ein wenig welk wirkte. Er schien noch immer sehr viel zu arbeiten.
»Ist Nele fertig?«
Nele beantwortete die Frage selbst, indem sie wie ein Torpedo aus dem Zimmer geschossen kam.
»Papa!«
»Hallo, Nele. Bist du fertig? Können wir los?«
»Ja, ich hole nur meine Tasche!«
»Willst du Patrick nicht kurz begrüßen?« erinnerte Julia ihn daran, daß er noch ein Kind hatte.
»Ja, aber rasch. Ich parke ein wenig ungünstig.«
Natürlich. Es gab immer irgend etwas, das ihn davon abhielt, das zu tun, was man erwarten könnte.
Julia trat zur Seite und ließ ihn ein. Patrick mußte erst gerufen werden. Dann gab er seinem Vater so artig die Hand, als wäre er ein beliebiger Fremder. Es schien ihm nicht das geringste auszumachen, daß die Einladung nur seiner Schwester galt, wie Julia erleichtert feststellte. Sie hatte diesen Moment ein wenig gefürchtet.
»Na, geht es dir gut, Sportsfreund?«
»Ja. Ich schlafe heute bei Oma.«
»Fein. Dann grüß sie mal schön.«
Ende der Konversation. Julia war froh, daß Nele nach einer letzten zögernden Umarmung für sie mit ihrem Vater die Wohnung verließ. Es war ausgemacht, daß er sie am nächsten Nachmittag wiederbrachte.
»So, mein Schatz, dann gehen wir jetzt zur Oma. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
»Okay…«
Julias Mutter freute sich, daß ihr Enkel bei ihr schlief, wie sie ihm und Julia noch einmal versicherte. Dann schob sie Julia aus der Tür.
»Nun geh schon. Wir kommen wunderbar klar. Und du genieß den Abend schön.«
»Ich hole ihn morgen mittag ab.«
»Ja, ja, nun mach schon. Wir wollen gleich zum Eisessen gehen.«
Julia spulte, kaum daß sie zu Hause war, ihr Schönheitsprogramm ab. Es war minutiös festgelegt und so gut geplant, daß sie schon eine Stunde vor dem ausgemachten Treffen fertig war. Jetzt kroch die Zeit dahin…
Ihre Zahnbürste schob sie nach kurzem Zögern doch noch in ein Seitenfach der Handtasche. Sonst nahm sie kein Übernachtungsgepäck mit, als könnte sie sich so vormachen, daß sie das auch gar nicht vorhatte. Aber der Gedanke, daß Torsten nur einen Blick auf ihre Tasche zu werfen brauchte und dann wüßte, wie sehr sie einverstanden war, bei ihm zu schlafen – nein, richtiger – mit ihm zu schlafen, ließ sie rot werden.
Diesmal holte er sie ab. Julia ging sofort hinunter, als es klingelte.
»Hallo, mein Schatz, schön, dich zu sehen. Du siehst wunderbar aus.«
Das neue Kleid war auch teuer genug gewesen. Julia begann leichtsinnig mit dem Geld umzugehen, und doch hatte sie sich nicht bremsen können. Es war einfach perfekt. Cremefarbene Seide und doch nicht overdressed.
»Danke«, erwiderte sie ein wenig kurzatmig. Diese Wirkung hatte er immer auf sie.
Der geplante Theaterbesuch ließ ihnen gerade anderthalb Stunden Zeit zum Essen. Aber es reichte, denn der Italiener lag in der Nähe und in diesem Restaurant war man offensichtlich auf Gäste eingerichtet, die nicht so viel Muße zum Essen hatten.
Torsten unterhielt sie mit kleinen Geschichten, die er während seiner Arbeit erlebte. Julia mußte immer wieder lachen. Wenn man ihm zuhörte, schien der Maklerberuf der lustigste der Welt zu sein.
»Müssen wir nicht gehen?«
»Julia, du scheinst mir ein wenig nervös. Darf ich hoffen, daß es mit uns zu tun hat? Du hast doch Zeit heute?«
Warum mußte er das aussprechen? Julia fühlte sich an ihre Teenagerzeit erinnert. Immer, wenn sie mit einem Jungen verabredet gewesen war, hatte sie sich ganz genauso unsicher gefühlt. Aber jetzt war sie eine erwachsene Frau, die sogar schon eine Ehe hinter sich hatte. Torsten würde ihr nicht allzuviele Überraschungen bieten können.
Sie holte Luft und lächelte dann etwas angestrengt.
»Wir werden sehen…«
Hoffentlich klang das selbstbewußt genug.
Er lachte leise und nahm ihre Hand, um einen Kuß daraufzuhauchen. Eine Frau am Nebentisch sah ihn schwärmerisch an. Dann traf ein mißgünstiger Blick auf Julia.
Plötzlich hatte Julia strahlende Laune. Sie nahm diese Dinge einfach zu ernst, statt zu genießen, was das Leben ihr bot. Die Kinder waren bestens versorgt. Sie mußte sich um nichts Gedanken machen, sondern konnte an der Seite dieses gutaussehenden, charmanten Mannes einen tollen Abend und eine hoffentlich auch tolle Nacht genießen. Also los…
Ihr Lächeln wurde wesentlich entspannter. Torsten sah ihr fasziniert in die Augen. Julia hielt seinem Blick stand.
Während der Theatervorstellung konzentrierte sich Julia ganz auf die Handlung und die guten Schauspieler. Sie lachte und klatschte an den richtigen Stellen und wirkte sicher mit sich und der Welt im reinen. Torstens Hand strich immer wieder wie zufällig über ihren nackten Unterarm. Dann nahm er ihre Finger und spielte damit ein wenig. Julia lächelte unbeirrt und schaute wieder zur Bühne.
Dann senkte sich der Vorhang zum letzten Mal. Julia wußte, daß sie nun entscheiden mußte. Und sie hatte entschieden.
»Kommt jetzt der versprochene Champagner?«
»Nur zu gern. Er steht schon kalt. Aber ich war nicht sicher, ob du…«
»Warum nicht? Wir wollen es doch beide, oder?«
Sie kam sich richtig sündig vor. Torsten schien es zu gefallen, daß sie ein wenig die femme fatale herauskehrte, eine für Julia eher ungewohnte Rolle. Ganz im Hinterkopf hatte sie von sich selbst den Eindruck, daß sie »es« hinter sich bringen wollte.
»Ja, Julia…, ich will endlich einmal mit dir allein sein…«
Seine Lippen streiften ihren Nacken, als er ihr in den Mantel half. Julia fühlte eine Gänsehaut, aber nicht, weil ihr so kalt war…
Sein Haus war eine Überraschung. Sie hatte tatsächlich eher erwartet, daß er ein cooles Design bevorzugen würde. Statt dessen standen gemütlich wirkende Polstermöbel vor dem Kamin im Wohnzimmer, und an den Wänden fanden sich Regale mit unzähligen Büchern. Es wirkte auch nicht so, als hätte er vorher besonders aufgeräumt. Gelesene Zeitungen lagen neben dem Sessel, der dem Kamin am nächsten stand. Offenbar sein Lieblingsplatz.
»Fühle dich bitte wie zu Hause, Julia. Ich hole die Gläser und den Schampus. Du kannst dir auch gern die anderen Räume ansehen, wenn du willst.«
»Vielleicht zeigst du sie mir später…«
»Gern.«
Sie sahen sich an. Beide dachten ans Schlafzimmer.
Schließlich ging alles viel leichter, als Julia befürchtet hatte. Der Champagner entspannte sie, seine Zärtlichkeiten machten Julia willig und begierig auf mehr. Sie stand auf, als er sich erhob und ihr die Hand reichte.
»Komm, Liebling…, ich möchte dich so sehr…«
Jetzt also… Julia schmiegte sich an ihn. Torsten war wunderbar. Er versuchte sie zu nichts zu überreden, was sie nicht auch wollte. Und doch wirkte er sehr männlich und entschlossen, als er sie jetzt zur Treppe führte und hinaufschaute.
»Dort oben ist das Schlafzimmer. Das Bad ist gleich daneben. Falls du…«
»Ja, danke. Ich würde mich gern… frischmachen…«
Fast hätte sie gelacht. Es klang wie ein Dialog in einem Mädchenpensionat.
Torsten war sehr rücksichtsvoll. Als sie aus dem Badezimmer kam, war er nicht im Zimmer. Julia schlug die Decke mit der kühlen dunkelblauen Seidenbettwäsche zurück und schlüpfte darunter. Dann hörte sie ihn auf der Treppe. Offenbar hatte er unten noch abgeschlossen.
Plötzlich, siedendheiß und völlig unpassend, fiel ihr ein, daß ihre Mutter gar nicht wußte, wo sie Julia erreichen konnte. Das ernüchterte sie so gründlich, daß sie fast aus dem Bett gesprungen wäre. Aber da kam Torsten herein, in der Hand die Champagnergläser und angetan mit einem hübschen Morgenmantel. Julia atmete tief ein. Sie wollte jetzt nicht an solche Dinge denken wie Kinder, die krank werden konnten. Das war ihre Nacht – ihre und Torstens…
»Ich liebe dich, Julia, habe ich dir das schon einmal gesagt?«
Die Zauberworte… Julia mußte die Lippen befeuchten, die vor Aufregung ganz trocken waren, um ihm antworten zu können. Ja, sie liebte ihn auch. Das war keine Episode…
*
Frau Bernsdorf schaute noch einmal nach Patrick. Er schlief wie ein kleiner Engel. Nach dem ausgiebigen Fernsehabend war das auch kein Wunder. Erstaunlicher fand sie, daß ihm nicht schlecht geworden war bei dem Durcheinander, das er genascht hatte. Aber kleine Jungen hatten in diesem Alter starke Mägen. Vermutlich würde das Frühstück ein wenig schmaler ausfallen als sonst, aber Spaß hatte ihm der Abend wenigstens gemacht. Ob ihre Julia genausoviel Spaß hatte? Angelika Bernsdorf wünschte es ihr von Herzen. Julia nahm ihre Pflichten immer sehr genau, aber sie gönnte sich selbst zuwenig Spaß. Für die Kinder war das auch nicht gut, sie nutzten das schon weidlich aus, besonders Nele.
Nele hatte Julia weh getan mit ihrem überraschenden Wunsch, zu ihrem Vater gehen zu wollen. Frau Bernsdorf befürchtete sogar, daß es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde.
Dabei war Thomas wirklich ein miserabler Vater. Na gut, er schlug die Kinder nicht oder tat ihnen sonst etwas Böses an. Aber ein permanentes Übersehen konnte seelisch genauso einen Schaden anrichten. Gerade für ein kleines Mädchen…
Seufzend nahm sie das Buch vom Tisch, in dem sie seit einigen Tagen las. Aber dann legte sie es doch wieder zur Seite. Sie mußte immer an Julia denken, die heute wohl endlich wieder einmal die Freuden der Liebe kosten durfte. Hoffentlich war es ein netter Mann, der sie zu schätzen wußte.
»Ach was. Natürlich war er nett. Einen anderen würde Julia gar nicht aussuchen«, sagte sie leise und mußte dann über sich selbst lächeln. Einmal Mutter, immer Mutter…
Als das Telefon mitten in die Stille hinein zu klingeln begann, zuckte sie erschrocken zusammen. Wer rief um diese Zeit noch an? Es war nach elf…
»Hier spricht Angelika Bernsdorf.«
»Städtisches Krankenhaus, Schwester Marie am Apparat. Sind Sie die Mutter von Nele Bogner?«
»Nele? Was ist ihr passiert?« stieß Angelika Bernsdorf entsetzt hervor.
»Sind Sie die Mutter? Ich darf nur den Angehörigen Auskunft geben.«
»Ich bin ihre Großmutter!«
»Ach so. Wir haben die Telefonnummer in Neles Tasche gefunden. Nele hatte einen Unfall. Sie liegt hier auf der… äh… Intensivstation. Können Sie die Eltern verständigen?«
»Ja… natürlich… o Gott, was ist denn los mit ihr? Ist es sehr… schlimm?«
Natürlich mußte es sehr schlimm sein, denn sonst wäre Nele nicht auf der Intensivstation. Die Frage gab Angelika Bernsdorf Zeit, das Unfaßliche zu begreifen.
»Bitte rufen Sie die Eltern an. Es sollte jemand herkommen.«
»Ja, ja, ich… sofort…«
Sie legte auf. Und wollte wählen, aber dann wurde ihr bewußt, daß sie Julias Telefonnummer gar nicht besaß. Sie versuchte es bei Julia zu Hause, aber natürlich meldete sich niemand.
Thomas. Er mußte doch etwas wissen…
Irgendwo hatte sie die Nummer ihres Ex-Schwiegersohnes. Fieberhaft blätterte Angelika Bernsdorf in den abgegriffenen Seiten ihres alten Telefonbüchleins. Da war sie…
Es meldete sich lediglich der Anrufbeantworter. Zuerst wußte sie gar nicht, was sie sagen sollte. Dann sprach sie hastig in den Hörer.
»Ich weiß zwar nicht, wie das zustande kommt, aber Nele ist im Städtischen Krankenhaus, weil sie einen Unfall hatte. Ich fahre jetzt dorthin. Bitte melde dich dort.«
Dann mußte sie noch ihre Nachbarin aus dem Bett klingeln, damit sie gegebenenfalls auf Patrick aufpassen konnte. Das war kein Problem, denn sie halfen sich ständig gegenseitig. Nur daß die Nachbarin natürlich wissen wollte, warum Angelika Bernsdorf, die sonst immer ruhig und besonnen wirkte, so aufgeregt war, brachte Julias Mutter fast um die restliche Fassung.
»Nele ist im Krankenhaus. Ich muß sofort hin.«
»Aber wo ist denn ihre Mutter?«
»Ich habe jetzt keine Zeit für Fragen. Ich brauche ein Taxi.«
Endlich… Der Wagen fuhr vor. Angelika Bernsdorf gab dem Fahrer den Namen der Klinik und lehnte sich dann zurück, um gleich wieder wie eine Feder nach vorn zu schnellen.
»Bitte, fahren Sie so zügig wie es geht. Es eilt…«
»Ja, ja, aber die roten Ampeln muß ich trotzdem beachten«, gab der Mann mürrisch zurück.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Taxi vor dem Krankenhaus hielt. Neles Großmutter knetete immer wieder die Hände im Schoß, ohne es zu merken. Dabei betete sie wortlos, daß es doch bitte nicht so schlimm sein möge…
Es war so schlimm, wie man nur denken konnte. Als sie endlich in die Intensivstation vorgelassen wurde, was sie schon mehr Kraft gekostet hatte, als sie zu haben glaubte, weil man sie ständig aufhalten wollte, schaute Angelika Bernsdorf entsetzt auf das zerschundene Kind mit dem weißen Kopfverband. Es lag ganz still, ohne eine Regung.
»Ist sie… ich meine…«
»Nein, sie ist nur im Koma. Wir wissen noch nichts Genaueres, außer daß sie mit Sicherheit eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hat. Und einen Arm- und Schulterbruch und mehrere Schürfwunden. Sie ist dem Auto direkt vor den Kühler gelaufen und wurde durch die Luft geschleudert«, erklärte der junge Arzt, der hier Nachtdienst hatte, leise.
»Aber sie wird doch… durchkommen?«
Angelika Bernsdorf umklammerte den Arm des Arztes. Er machte sich sanft los und sah ihr in die Augen. Die Antwort war klar. Er wußte es nicht.
»Ich… möchte hierbleiben…«
»Das ist im Moment wirklich nicht nötig. Nele bekommt nicht das geringste mit.«
»Ich bleibe hier.«
»Na gut. Dann setzen Sie sich dorthin. Aber fassen Sie bitte nichts an. Die Apparate sind nötig.«
Glaubte er, sie würde eine der Kanülen herausziehen, die irgendwo unter der Bettdecke verschwanden? Angelika Bernsdorf wollte nur bei Nele wachen, so lange, bis ihre Mutter kam. Arme Julia… sie würde zusammenbrechen vor Angst und schlechtem Gewissen.
Nach zwei Stunden sah Angelika Bernsdorf ein, daß sie hier wirklich nichts ausrichten konnte. Patrick war auch allein. Es war besser, wenn sie jetzt nach Hause fuhr. Und noch einmal versuchte sie, Thomas zu erreichen. Er hätte sich doch eigentlich längst melden müssen… Wie war es nur möglich, daß Nele hier lag, ohne daß er etwas davon wußte?
Um zwei Uhr nachts klingelte das Telefon wieder. Mit zitternden Händen griff Angelika Bernsdorf zum Hörer. Sie hatte nicht geschlafen, und doch war das Klingeln wie ein scharfer Schnitt in die Stille. Das Krankenhaus… Nele…
»Angelika? Hier ist Thomas. Kannst du mir sagen, was das bedeuten soll? Nele liegt nicht im Bett, wo sie sein sollte!«
Natürlich klang seine Stimme aggressiv, aber Angelika ließ sich davon nicht täuschen. Er hatte Angst – und ein verdammt schlechtes Gewissen.
»Sie ist in der Klinik. Ich wurde von dort angerufen. Sie hatte einen Unfall. Wie ist das möglich, wenn sie doch bei dir sein sollte?«
Ihre Stimme klang erschöpft und keinesfalls anklagend. Das war auch nicht nötig, denn die Tatsachen sprachen für sich.
»Ich hatte noch einmal weggehen müssen. Nele ist schließlich kein kleines Kind. Wenn man ihr sagt, sie soll im Bett bleiben und schlafen, könnte man wohl davon ausgehen, daß sie das auch tut!«
»Du hast sie also allein gelassen… Dann wollte sie sicher nach Hause…«
Bei dieser Vorstellung brach Angelika Bernsdorf fast das Herz. Die arme kleine Nele – sie hatte sich so auf das Beisammensein mit ihrem Vater gefreut. Und der hatte nicht einmal einen einzigen Abend für seine Tochter übrig. Er hatte sie allein gelassen. Wahrscheinlich, um noch einmal ins Büro zu gehen. Angelika wußte, daß ihre Tochter ihm das niemals verzeihen würde.
»Wo ist denn Julia? Ist sie in der Klinik?«
»Nein, sie ist nicht da. Ich werde es ihr morgen sagen…«
»Du weißt also nicht, wo sie ist?« legte Thomas sofort den Finger auf die Wunde.
Seine Stimme klang jetzt empört.
Er sollte nur nicht wagen, auch nur ein Wort dazu zu sagen! Offenbar merkte er selbst, daß er sich auf gefährlichem Boden bewegte. Außerdem gab es jetzt Wichtigeres als Schuldzuweisungen.
»Wie… geht es Nele? Ist es… schlimm?«
»Die Ärzte wissen es noch nicht genau. Sie liegt im Koma.«
»Oh, mein Gott…«
Seine Stimme war nun leiser, müde.
Angelika spürte sogar so etwas wie Mitempfinden. Ein Mensch, der soviel arbeitete, daß er darüber seine Familie vergaß, war ja auch nicht glücklich…
»Ich fahre sofort zu ihr. Darf ich… wieder anrufen?«
»Ja.«
»Danke, Angelika. Danke, daß du nichts sagst. Ich weiß… das zu schätzen.«
Was gab es dazu noch zu sagen? Er würde ebenso mit dieser Schuld leben müssen wie andere Menschen, die jeder für sich ihr Päckchen zu tragen hatten.
Das Schlimmste stand ihr noch bevor. Morgen im Laufe des Vormittags würde sich Julia sicher bei ihr melden und danach fragen, ob alles in Ordnung wäre. Und dann mußte Angelika ihrer Tochter einen solchen Schlag verpassen, daß sie sich die Wirkung lieber gar nicht ausmalte.
Sie schaute auf die Uhr. Halb drei. Sie mußte Vernunft bewahren. Ein wenig Schlaf finden, auch wenn es ihr kaum möglich erschien. Aber Patrick sollte sie am Morgen nicht so vorfinden, hier auf der Couch, mit zerzaustem Haar und so blaß, als hätte sie den Unfall gehabt.
Hin und wieder spürte sie das Alter. Jetzt, als sie sich taumelnd erhob, fühlte sich Angelika so schwach, daß es ihr Angst machte.
*
»Guten Morgen, meine Liebste… Du bist ja eine kleine Schlafmütze…«
Julia stieg der Geruch von frischem Kaffee in die Nase. Als sie Torstens Stimme hörte, wurde sie mit einem Schlag wach.
Sie sah ihn an. Er stand lächelnd über sie gebeugt, wieder in dem schönen Morgenmantel. In der Hand trug er ein reich beladenes Tablett.
»Ich bringe das Frühstück…«
»Du verwöhnst mich…«
Sie lächelten sich zu. Julia erschien es ganz natürlich, daß sie hier in seinem Bett lag. Ohne Scham setzte sie sich auf. Erst dann zog sie langsam die Bettdecke über die Brust.
»Dann laß mal sehen… Hmm, das sieht gut aus…«
»Das kannst du jeden Morgen haben. Ich frühstücke immer gut, weil ich im Laufe des Tages dann oft nicht mehr zum Essen komme.«
Jeden Tag… Jeden Tag neben ihm aufwachen… Ja, das wäre schön. Aber da waren noch die Kinder…
»Ich müßte kurz bei meiner Mutter anrufen…«
»Das habe ich erwartet. Aber erst wird gefrühstückt. Es ist gerade neun. Wahrscheinlich schläft sie noch.«
»Ach, du meine Güte! Da kennst du meinen Patrick schlecht. Er läßt keinen länger als bis acht schlafen. Und das erscheint ihm schon sehr spät!«
»Ich kenne ihn noch gar nicht. Aber ich würde die Kinder nun gern kennenlernen«, gab er mit einem Anflug von Ernst in der Stimme zurück.
Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen wieder. Nach dieser Nacht, in der sie so unverschämt glücklich gewesen war, würde sie ihn nicht mehr ausblenden können aus ihrem Alltag. Nele mußte das akzeptieren. Julia war wild entschlossen, sich ihr Glück nicht nehmen zu lassen. Torsten war der richtige Mann für sie. Und er würde den Kindern sicher sympathisch sein, wenn sie ihm eine Chance gaben.
»Bald. Ein bißchen Zeit noch…«
»Ich möchte dich jeden Morgen neben mir im Bett aufwachen sehen, Julia. Du weißt, daß ich das nicht nur so dahinsage. Ich liebe dich wirklich.«
»Und ich dich…«
Sie legte die Arme um seinen Hals.
Das Tablett geriet gefährlich ins Wanken. Torsten schob es ein Stück weiter und ließ sich einen Kuß geben.
»Komm, der Kaffee und die Eier werden kalt. Möchtest du ein Brötchen? Oder lieber Schwarzbrot?«
»Beides. Das Schwarzbrot mit Käse, das Brötchen mit Marmelade und Honig.«
»Wie ich. Das ist ja noch eine Übereinstimmung. Über die anderen müssen wir wohl nicht reden…«
Er schmunzelte, als Julia rot wurde.
»Es ist süß, wenn du so errötest. Meine kleine englische Rose…«
Natürlich waren es Albernheiten, die sie jetzt austauschten. Julia war ihres Wissens noch nie englische Rose genannt worden, aber Verliebte hatten ihre eigene Sprache. Es gefiel ihr.
Genüßlich leckte sie sich die Finger ab, nachdem sie das letzte Stückchen Brötchen aufgegessen hatte. Der süße Honig hinterließ einen Hauch von Bitterkeit in ihrem Mund.
Torsten wollte sie umarmen, aber Julia schob ihn energisch zur Seite.
»Jetzt muß ich erst telefonieren. Dann komme ich zurück und…«
»Und?« fragte er lächelnd.
»Wir werden sehen. Wo ist das Telefon?«
»Nimm das hier. Ich gehe ins Bad und dusche.«
Wie rücksichtsvoll, sie allein zu lassen. Julia war sicher, daß es nicht nötig war. Ihre Mutter würde sie wahrscheinlich auslachen, weil sie überhaupt anrief, statt ihr Glück noch so lange zu genießen, wie die Zeit reichte.
Sie wählte die Nummer, ein Lächeln im Gesicht. Es war alles so traumhaft schön… Wenn doch die Kinder nur keine Schwierigkeiten machen würden…
»Bernsdorf.«
Sie hörte sofort an der Stimme ihrer Mutter, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
»Mama? Was ist passiert?« fragte sie angstvoll.
»Oh, Julia… es tut mir so leid…«
»Mama! Bitte, sag es mir«, keuchte Julia in wilder Panik. So hatte ihre Mutter noch nie geklungen, nicht einmal, als ihr Vater einen schweren Infarkt gehabt hatte, an dem er dann schließlich auch gestorben war.
»Nele… Sie hatte einen Unfall.«
»Einen Unfall? Aber… das kann doch nicht sein. Sie ist doch bei… Thomas.«
»Ja, aber sie ist gestern abend weggegangen. Wir wissen noch nicht warum, vermutlich weil Thomas sie kurz… allein lassen mußte.«
Die bittere Wahrheit würde Julia schon früh genug erfahren. Angelika Bernsdorf hatte entschieden, es so auszudrücken.
»Aber… das verstehe ich nicht. Er kann sie doch nicht allein gelassen haben… Und Nele ist doch vernünftig… Ich meine, sie ist doch kein kleines Kind mehr…«
»Julia, bitte, du mußt in die Städtische Klinik fahren. Nele liegt noch im Koma. Aber sie wird bestimmt wieder…«
»Im… Koma?« hauchte Julia und umkrampfte den Hörer mit solcher Kraft, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ja. Sie hat eine Gehirnerschütterung. Da kann das vorkommen.«
Julia drehte sich alles vor Augen. Es durfte nicht wahr sein, sie wollte das nicht. Nicht nach so einer glücklichen Nacht, einem so schönen Morgen. Alles war ein Irrtum. Es handelte sich nicht um Nele. Nele lag bei Thomas wohlbehütet im Gästezimmer und wachte vielleicht gerade auf.
»Kind, bitte. Ich weiß genau, was du jetzt durchmachst. Aber du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren. Nele wird bestimmt wieder gesund. Ich fahre später zu ihr, aber jetzt mußt du erst einmal hin. Die Ärzte wollen mit dir sprechen.«
»Und… Thomas?«
»Er war die ganze Nacht da. Er hat vorhin angerufen, es gibt keine Veränderungen. Das kann auch ein gutes Zeichen sein…«
Der letzte Satz machte mehr als deutlich, wie ernst es wirklich stand. Julia hörte und begriff ihn übergenau. Es war, als hätte ihre Mutter die Worte direkt in ihr Hirn gemeißelt.
»Ich… fahre dann gleich. Und… Patrick?«
»Oh, mit ihm ist alles in Ordnung. Ich habe ihm gesagt, daß Nele einen Unfall hatte, aber er hat es ziemlich ruhig aufgenommen. Jetzt spielt er im Wohnzimmer.«
»Ich komme dann später…«
»Julia, laß dir Zeit. Soviel, wie du brauchst, hörst du? Ich kümmere mich um Patrick.«
»Ja… ja, danke.«
Wie betäubt legte Julia den Hörer auf. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht aufstehen, nicht schreien, nicht weinen. Alles war einfach so unfaßbar grausam, so gemein… so…
»Julia? Mein Gott, Julia, was ist passiert?«
Sie merkte gar nicht, daß Torsten ihr den Arm um die Schultern legen wollte.
»Ich… Nele… sie hatte einen Unfall. Ich muß…«
»Verdammt!« fluchte er unterdrückt.
Julia sah ihn an wie einen Fremden.
»Julia, zieh dich an. Ich bringe dich zu ihr.«
»Nein. Nein, das will ich nicht«, gab sie fast feindlich zurück.
»Julia? Warum sagst du das so…«
»Ich will es nicht. Ich bin ihre Mutter. Es… geht dich nichts an.«
Torsten wandte den Blick ab. Julia war zu durcheinander, um den Schmerz in seinen Augen wahrzunehmen. Sie konnte sich nicht von Torsten in die Klinik bringen lassen. Nele mochte ihn nicht, wollte nicht, daß er für ihre Mutter überhaupt existierte. Wenn sie sich von Torsten umsorgen ließe, käme es einem Verrat an ihrer Tochter gleich.
Sie erhob sich mühsam vom Bett. Die Decke rutschte herunter. Hastig griff sie danach, als bedeutete jetzt ihre Nacktheit etwas anderes als vorher.
Sie schwankte ins Badezimmer, wusch sich hastig und hatte keinen Blick für ihr Bild in dem großen Spiegel. Mit fahrigen Bewegungen streifte sie ihre Kleidung über. Das Kleid wirkte heute morgen natürlich ganz fehl am Platze, zumal auf einer Intensivstation…
»O Gott, Nele… meine Nele«, schluchzte sie trocken auf.
Die Tränen wollten noch nicht kommen.
»Ich muß gehen.«
»Ich habe dir ein Taxi gerufen. Wenn ich dir helfen kann, laß es mich wissen.«
Torstens Stimme klang ganz ruhig. Julia preßte die Lippen zusammen. Sie fand keine Worte für ihn, weil sie das Gefühl hatte, schon gar nicht mehr hier sein zu dürfen. Als könne Nele es spüren, daß sie hintergangen worden war.
»Julia, hast du mich verstanden?«
»Ja, natürlich. Danke…«
Sie rannte die Treppe hinunter, so schnell es eben ging. Torsten folgte ihr nicht. Er blieb oben stehen und sah ihr nach. Er war klug genug, um zu wissen, daß er die Frau, die er liebte, lange nicht wiedersehen würde.
Julia hatte ihn schon vergessen, als sie die Tür zum Taxi öffnete.
Neles Zustand hatte sich stabilisiert, wie sie kurze Zeit später in der Klinik vom verantwortlichen Arzt erfuhr. Er erklärte ihr lang und umständlich, was alles festgestellt worden war. Julia begriff davon nur, daß man noch nicht sagen konnte, ob Nele bleibende Schäden zurückbehalten würde, wenn sie nach der schweren Gehirnerschütterung aus dem Koma erwachte.
»Wann das sein wird, wissen wir nicht, es kann theoretisch in fünf Minuten oder in fünf Wochen passieren. Das ist nie einschätzbar. Sie sollten viel mit ihr sprechen. Es ist nicht so tief, wie es anfangs aussah.«
Julia hatte schon über Kinder im Koma gelesen, aber natürlich niemals geahnt, daß sie dieses Wissen eines Tages brauchen würde.
»Ich weiß, daß das ein schwerer Schock für Sie ist, Frau Bogner. Wollen wir jetzt zu Nele gehen?«
»Ja.«
Julia brauchte seine Unterstützung, weil ihre Beine wackelten, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Immer wieder streifte sie ein besorgter Blick des Arztes. Sie wünschte, daß er nicht so voller Mitleid wäre. Er wußte ja nicht, welch schlechte Mutter sie war.
»Nele…«, flüsterte sie erschüttert, als sie ihre Tochter so still und blaß im Bett liegen sah.
»Sie können ihre Hand halten oder sie streicheln, aber nur da, wo keine Verletzungen sind.«
»Ja… Nele, Nele, bitte, schlag die Augen auf…«
Es war unsinnig, Julia wußte es. Und doch fuhr sie fort, leise auf Nele einzureden. Es war das einzige, was sie tun konnte und wenig genug.
Der Arzt schien sich davon überzeugt zu haben, daß sie nicht zusammenbrechen würde. Leise verließ er den Raum, nachdem er noch einen Blick auf den Monitor geworfen hatte.
Julia merkte nichts von dem, was um sie herum vorging. Auch als Thomas erschien, nahm sie ihn gar nicht gleich wahr.
»Es… tut mir leid, Julia…«, sprach er sie leise an.
Sie zuckte so zusammen, als habe er sie geschlagen. Langsam drehte sie sich auf dem unbequemen Stuhl um und sah ihn an. Ihr Blick wirkte wie erstarrt.
»Wir müssen mit ihr reden…«
Sein Erstaunen war offenkundig. Alles hatte er erwartet, er wußte, wie temperamentvoll Julia sein konnte, aber diese stille, fast demütige Haltung überraschte und erschütterte ihn. Sie war schlimmer zu ertragen, als wenn sie über ihn hergefallen wäre.
»Ja, natürlich. Wir werden uns abwechseln…«
»Nein, ich mache das… allein.«
»Julia, das kannst du nicht. Da ist auch noch Patrick…«
Sie schloß kurz die Augen und öffnete sie dann wieder, als habe sie sich erinnern müssen, wer Patrick sei.
»Du… hast recht. Ja…«
Es war jetzt nicht mit ihr zu reden. Thomas schaute sich nach einem weiteren Stuhl um. Dann saß er neben seiner ehemaligen Ehefrau und hatte das Gefühl, als wäre Nele von ihnen allen noch am besten dran.
*
Ein neuer Rhythmus in Julias Leben spielte sich schnell ein. Ihr Arbeitgeber hatte Verständnis dafür, daß sie für die nächste Zeit nur noch halbtags arbeiten konnte. Vormittags, wenn ihre Mutter bei Nele war, weil Patrick den Kindergarten besuchte. Nachmittags löste Julia diese ab, nachdem sie Patrick abgeholt hatte. Abends kam Thomas, immer pünktlich, ohne sich je zu beschweren, daß er eigentlich arbeiten müßte.
Nele blieb weiterhin im Koma, während die äußeren Wunden langsam heilten. Die Ärzte teilten ihnen mit, daß sie genaugenommen vor einem Rätsel stünden.
»Es gibt keinen Grund, warum sie nicht aufwacht. Die Erschütterungen haben nichts verletzt, was uns nachweisbar wäre. Aber es gibt solche Fälle. Manche Patienten scheinen lieber im Koma zu bleiben, als sich erinnern zu müssen.«
Julia ahnte, warum ihre Tochter nicht erwachen wollte. Nele hatte ja gewußt, daß sie nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von ihrer Mutter verlassen worden war. So bezeichnete Julia es bei sich, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Niemand konnte sie von ihrer Schuld freisprechen. An Torsten durfte sie überhaupt nicht denken. Ihre Liebesnacht hätte ihre Tochter fast das Leben gekostet. Das konnte sie nicht wiedergutmachen, aber sie mußte alles tun, um Nele wieder ins Leben zurückzuholen. Nur das war ihre Aufgabe, die noch zählte.
Julia sprach überhaupt kaum noch. Nur Patrick gegenüber tat sie so, als ginge es ihr gut, obwohl die traurigen Blicke, die er ihr zuwarf, sie nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß er mehr begriff, als gut für ihn war.
Angelika Bernsdorf machte sich große Sorgen um Julia, mehr noch als um Nele. Sie kannte Julia viel zu gut, um nicht zu wissen, was in ihr vorging. Es brach ihr fast das Herz zu sehen, wie Julia sich selbst bestrafte. Sie verdiente es, glücklich zu sein, und es war nicht leicht, einen Menschen zu finden, der gut zu einem paßte und das Gefühl gab, angekommen zu sein. Nach der gescheiterten Ehe hatte Julia sich schwergetan, mit dem Gefühl fertig zu werden, schuld zu sein, weil sie nicht genug Geduld bewiesen hätte. Nur im Unterschied zu jetzt hatte Julia mit ihrer Mutter darüber gesprochen.
Erstaunt war Angelika Bernsdorf über Thomas. Sie hätte nicht geglaubt, daß er so lange durchhalten würde. Jeden Abend erschien er pünktlich im Krankenhaus, saß bis gegen dreiundzwanzig Uhr an Neles Bett und ging dann bis zum nächsten Tag wieder. Sie wußte das von den Schwestern, die von ihm offenbar ziemlich beeindruckt waren.
»So ein toller Vater…«, beendeten sie ihre Schwärmerei dann immer.
Angelika hätte ihnen natürlich sagen können, was ihn dazu brachte, sich so um Nele zu kümmern. Aber sie tat es nicht, es ging niemanden etwas an. Dagegen beobachtete sie genau, wie Julia es aufnahm.
Ihre Tochter schien in gewisser Weise eifersüchtig auf die Zeit zu sein, die Thomas mit Nele verbrachte. Wollte sie das Opfer ganz allein auf sich nehmen?
Julia vermied es, mit Thomas sprechen zu müssen. Wenn sie ihn sah, dachte sie automatisch an Torsten und wieviel er ihr bedeutete. Aber das mußte sie vergessen.
Die Ärzte, mit denen sie jeden Tag kurz sprach, bemerkten die Veränderung, die mit ihr vorging.
»Frau Bogner, Sie dürfen sich nicht so erschöpfen. Sonst brechen Sie zusammen. Bleiben Sie ein paar Tage zu Hause, erholen Sie sich, schlafen Sie. Es ist doch immer jemand da für Nele.«
»Es ist meine Aufgabe. Ich weiß, daß ich es schaffen kann, daß sie aufwacht.«
Julia war überzeugt, daß ihre tägliche stundenlange Anwesenheit Nele unterbewußt zeigen würde, wie ernst es ihr war, sich um sie, und zwar ausschließlich, zu kümmern. Nele würde es irgendwann glauben, daß sie ihrer Mutter wieder vertrauen konnte, und dann würde sie aufwachen. Sie durfte nicht nachlassen in ihrem Bemühen, nicht schwach werden. Und deshalb würde sie auch nicht zusammenbrechen.
Als sie an diesem Abend nach Hause fahren wollte, stand Torsten vor dem Krankenhaus. Er ging auf sie zu, versuchte, sein Erschrecken bei ihrem Anblick zu verbergen.
Julia geriet für Sekunden in Panik. Er war ihr so vertraut… Aber ihr Gesicht zeigte nichts davon. Kühl sah sie ihn an.
»Julia…, warum höre ich nichts von dir? Warum schließt du mich so aus? Ich möchte dir helfen.«
»Das kannst du nicht. Das geht nur mich und die Familie etwas an.«
Harte Worte. Thomas zuckte unter ihnen zusammen, aber er versuchte, es nicht allzu persönlich zu nehmen.
»Bitte, Julia… Wir gehören doch zusammen. Hast du das vergessen?«
»Ich gehöre zu meinen Kindern. Mehr nicht. Wir werden uns nicht wiedersehen. Und jetzt entschuldige. Ich muß Patrick abholen.«
Sie ließ ihn einfach stehen und ging steif aufgerichtet zu ihrem Wagen hinüber.
Torsten sah ihr nach. Er hatte das Gefühl, als habe sie ihm ein Messer in den Bauch gestoßen. Warum war sie so hart zu ihm? Konnte er mehr beweisen, wie ernst es ihm war? Vielleicht mußte er noch ein wenig warten, möglicherweise stand sie noch unter Schock.
*
Drei Wochen verstrichen. Julia arbeitete wie ein Roboter und war froh, daß sie nur selten vorn im Laden stehen mußte. Sie wäre eine schlechte Verkäuferin. Die Arbeit mit den Bestellungen und den Zahlen war reine Konzentration. Sie verlangte nicht, daß sie lächelte.
Hin und wieder mußte sie aber doch einspringen, zum Beispiel, wenn wie heute, eine der Verkäuferinnen krank wurde und nach Hause gehen mußte. Sobald mehr als zwei Kunden im Laden waren, mußte Julia nach vorn kommen, damit die Kunden nicht ungeduldig wurden und gingen, ohne etwas zu kaufen.
Ihre Kundin war Frau Dorn. Julia bemühte sich um ein Lächeln, was vermutlich mehr zu einer Fratze geriet, denn Frau Dorn sah sie unverwandt sehr ernst an.
»Was ist passiert? Sind Sie krank? Was machen Sie dann hier im Laden?«
»Ich bin nicht… krank. Kann ich Ihnen helfen?«
»Sie sehen aus, als bräuchten Sie dringend Hilfe. Wollen wir darüber reden? Ich habe eine Menge Lebenserfahrung, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich würde es gern tun, denn ich mag Sie.«
Die herzlichen Worte trieben Julia die Tränen in die Augen.
Frau Dorn zog sie in eine Ecke. Sie reichte Julia ein spitzenbesetztes Taschentuch.
»Hier, nehmen Sie. Was ist denn nur los?«
»Meine Tochter… sie liegt im Koma.«
»Oh, meine Arme… , ja dann ist es kein Wunder, daß Sie so verzweifelt sind. War es ein Un-
fall?«
Julia begann ihr kurz zu erzählen, was passiert war.
»Ich verstehe. Die Ärzte sind gut? Ich kann sonst Professor Martin bitten, sich Nele anzuschauen. Er ist ein enger Freund der Familie und ein begnadeter Arzt.«
»Ich glaube…, die Ärzte können nichts tun. Es gibt keinen konkreten Grund, sagen sie, warum Nele nicht aufwacht.«
Frau Dorn war eine kluge Frau, die sofort den zweifelnden Unterton heraushörte.
»Und Sie glauben, Sie kennen den Grund?«
Julia sah sie erschrocken an. Sie konnte nicht darüber sprechen, was der Grund für Neles Weigerung war, aufzuwachen…
»Sie fühlen sich schuldig, ist es das?«
Julia nickte stumm.
»Das sind Sie sicher nicht wirklich. Als Mutter glaubt man, man habe unfehlbar zu sein, aber das ist kein Mensch. Es ist anmaßend, das zu glauben und zu verlangen. Wir machen alle Fehler, immer wieder. Wir lernen hier auf der Erde, Kind, deshalb sind wir hier. Daran glaube ich fest. Sonst wären manche Dinge einfach nicht logisch.«
»Aber… ich hätte es verhindern können.«
»Ich glaube, wir sollten uns einmal in Ruhe unterhalten, meinen Sie nicht? Zu einem Fremden spricht es sich oft leichter. Und ich verspreche Ihnen, daß alles vertraulich bleibt. Kommen Sie zu mir, wann immer es Ihnen paßt.«
Julia fühlte einen Hauch von Erleichterung. Der Druck schien ein wenig zu weichen bei der Vorstellung, sich Frau Dorn anzuvertrauen.
»Wollen Sie morgen abend kommen? Um acht?«
»Ja… das ginge.«
Ihre Mutter würde sicher gern auf Patrick aufpassen. Julia ließ ihn keine Sekunde mehr ohne Aufsicht.
»Dann sehen wir uns morgen. Fein. Ich möchte Ihnen zeigen, daß es immer Wege gibt, wo es scheinbar ausweglos ist.«
»Danke…«
»Nichts zu danken. Wie gesagt, ich mag Sie. So, dann gehe ich jetzt. Ich mag mir jetzt keine neuen Ohrringe anschauen. Ach, die kleine Nele… Sie wird wieder gesund. Ich weiß es.«
Julia brachte ein schwaches Lächeln zustande.
Am nächsten Abend fuhr sie zu Frau Dorn.
Die Adresse führte sie in eine elegante Villengegend. Zuerst hatte sie noch absagen wollen, aber irgendwie brachte sie es nicht fertig.
Sie klingelte. Eine ältere Frau, wahrscheinlich die Haushälterin, öffnete die Tür.
»Guten Abend. Frau Dorn erwartet Sie. Wenn ich vorgehen darf…«
Julia wurde wie eine gute Freundin begrüßt. Frau Dorn bot ihr einen weichen Sessel an und schenkte ihr dann ein Glas Wein ein.
»So, und nun erzählen Sie. Was ist es, was Sie so bedrückt?«
»Ich war nicht da, als es passierte…«
»Sie können und müssen, nein, Sie dürfen doch nicht rund um die Uhr um die Kinder herum sein. Sie müssen den Kontakt zu anderen Menschen haben, das ist so wichtig wie ein Dach über dem Kopf und Essen.«
»Aber… sie war bei ihrem Vater. Ich hätte wissen können, daß es nicht gutgeht.«
»Warum denn nicht? Hat ihr Vater ihr je ein Leid angetan? War sie nicht freiwillig dort?«
»Doch, schon… Sie wollte unbedingt hin. Ihr Vater hat ihr kein Leid angetan, aber sich nie sonderlich um sie gekümmert. Ich war schon erstaunt, daß er überhaupt so schnell bereit war.«
»Gut, er war bereit, zu Ihrem Erstaunen, und Nele freute sich darauf. Das ist doch wunderbar. Was ist daran belastend für Sie?«
»Er hat sie allein gelassen. Er ist einfach weggegangen, um noch etwas zu erledigen. Nele hat sich im Stich gelassen gefühlt, ist aufgestanden und weggegangen. Und dann ist es passiert. Mitten in der Nacht… Und ich war nicht da. Sie hat mich nicht einmal anrufen können.«
»Aber sie hätte Ihre Mutter anrufen können, nicht wahr? Also wollte sie nicht telefonieren. Sie wollte ihren Vater bestrafen, indem sie einfach ging. Ich kann immer noch nicht sehen, wo Ihre Schuld liegen sollte.«
»Ich war bei… meinem Freund. Nele mag ihn nicht.«
»Aha. Ich verstehe. Sie fühlen sich schuldig, weil Sie glücklich waren. Während es Nele schlecht ging.«
Julia schlug die Hände vor die Augen. Sie weinte nicht, aber es klang alles so… merkwürdig, wenn es ausgesprochen wurde.
»Julia?«
»Ja. Ja, so ist es.«
»Lassen Sie mich raten. Jetzt haben Sie sich geschworen, Ihr Leben Ihren Kindern zu widmen. Kein Mann mehr, schon gar nicht der, bei dem Sie waren?«
»Ich komme Ihnen wohl sehr dumm vor?« fragte Julia kleinlaut.
»Aber nein«, gab Frau Dorn weich zurück. Sie strich Julia über die Hand und lächelte.
»Ich verstehe das besser, als Sie denken. Ich glaube, ich würde im ersten Moment genauso empfinden. Aber haben Sie schon einmal daran gedacht, daß jeder die Aufgabe hat, erst einmal selbst sein Leben in Ordnung zu halten, sich wohl zu fühlen? Erst dann kann man ein Beispiel geben. Menschen, die in sich ruhen, haben eine unbezwingbare Ausstrahlung auf alle, die mit sich im unreinen sind. Und wie wichtig ist das für die Kinder, die man aufziehen will, zu glücklichen Menschen machen will?«
Julia begann sich zu entspannen. Sie erkannte, daß Frau Dorn so ein Mensch war. Sie wirkte entspannt, gelassen, mit sich im reinen.
Deshalb war sie wohl auch hergekommen. Ihre Mutter gehörte auch dazu, aber die war ihr zu nah. Ja, solche Menschen hatten eine Wirkung, auch jetzt auf sie, die sie sich so verschlossen hatte, vor allem gegenüber ihren eigenen Gefühlen.
»Wissen Sie, Julia, so eine Frau wie Sie hätte ich mir für meinen Sohn gewünscht. Nein, keine Angst, ich will Sie nicht mit ihm verkuppeln. Er wäre ein guter Ehemann, liebevoll, freundlich. Aber nicht sehr aufregend, fürchte ich. Nun, eines Tages wird er eine Frau finden, die ihn zu schätzen weiß. Aber wenn Sie so jemanden haben, einen Mann, der Sie wert ist, dann lassen Sie ihn um Gottes willen nicht einfach fallen. Oder kümmert er sich nicht?«
»Er wollte, ich habe es nicht… zugelassen.«
»Ich verstehe. Dann rufen Sie ihn an. Fordern Sie ihn. Wenn er Sie in der Krise nicht im Stich läßt, ist es gut. Dann wissen Sie, daß Sie sich auf ihn verlassen können. Was ist mit Ihrem ehemaligen Ehemann?«
»Er geht jeden Abend ins Krankenhaus zu Nele.«
Ihre Stimme klang zurückhaltend. Julia merkte es gar nicht.
»Das gefällt Ihnen nicht. Sie wollen es allein auf sich nehmen? Das wäre falsch. Er muß die Chance haben, es wiedergutzumachen. Haben Sie schon mal überlegt, wie es ihm dabei gehen muß? Er hat sich doch immerhin Mühe gegeben, indem er bereit war, seine Tochter zu sehen, schnell, wie Sie sagten. Und dann… ja, das ist Schicksal. Das hätte ebensogut alles wunderbar laufen können. Er muß sich schrecklich fühlen.«
Julia wollte schon sagen, daß es ihr egal sei. Aber das stimmte gar nicht, wie sie zu ihrem Erstaunen merkte.
»Haben Sie noch Gefühle für ihn? Könnte es eine neue Chance für Sie beide werden?«
»O nein!«
Wieder lächelte Frau Dorn.
»Das klang überzeugend. Vielleicht führt es einfach zu einem besseren Verständnis.«
»Ja, das könnte sein.«
»Sehen Sie? In allem ist noch etwas Gutes. So, wenn Sie wollen, rufe ich Professor Martin an und…«
»Was möchtest du von Professor Martin, Mutter? Bist du etwa krank? Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie gar nicht gesehen. Guten Abend.«
Julia schaute Dr. Marius Dorn an. Er stand vor ihr und reichte ihr die Hand, nachdem er seiner Mutter einen Kuß auf die Wange gehaucht hatte.
»Guten Abend, Marius. Was verschafft mir die Ehre deines überraschenden Besuches?«
»Ich habe Premierenkarten, die ich dir bringen wollte.«
»Das ist lieb von dir. Möchtest du auch ein Glas Wein?«
»Ich will nicht stören. Es ging wohl um ernstere Dinge? Sie sehen erschöpft aus.«
»Julia und ich haben über das Leben und seine absonderlichen Einfälle gesprochen. Ich glaube, wir haben schon alles geklärt.«
»Das Leben?« fragte Marius Dorn lächelnd.
»Ja, im einzelnen und allgemeinen. Ist es Ihnen recht, Julia?«
»Ja, natürlich. Ich möchte Ihnen danken, ich glaube, ich sollte jetzt gehen.«
»Aber nein, ich will Sie doch nicht vertreiben. Sie haben Ihren Wein ja noch gar nicht getrunken.«
Julia konnte jetzt nicht gehen, ohne ihm das Gefühl zu geben, sie vertrieben zu haben. Also nippte sie an ihrem Wein und lehnte sich zurück.
Für einen Moment übernahmen Mutter und Sohn das Gespräch. Sie hörte nur zu und fand die Atmosphäre sehr harmonisch und entspannend. Ob sie später auch so mit ihren Kindern reden konnte? Man merkte, daß Marius die größte Hochachtung und Liebe für seine Mutter empfand. Umgekehrt war es genauso.
Wieder stellte sie fest, daß er ein sehr netter Mann war. Wenn es Torsten nicht gäbe… Aber es gab ihn. Und nach dem, was Frau Dorn zu ihr gesagt hatte, würde es ihn auch weiter geben dürfen. Da war nur ein Problem. Nele akzeptierte ihn nicht…
Sie sank wieder in sich zusammen. Wenn Nele nein sagte, gab es keinen Weg.
*
Sie schaffte es nicht, Torsten wirklich anzurufen, aber langsam löste sich die einengende Furcht, allein Neles Schicksal in der Hand zu haben. Das Gespräch mit Frau Dorn trug Früchte. Marius hatte ebenfalls sehr erschrocken auf Neles Unfall reagiert, als sie es ihm erzählte, ohne Einzelheiten zu nennen. Auch er hatte seine Hilfe angeboten. Julia war gerührt über die Menschen, die sie nun fast zu ihren Freunden zählen konnte.
Als sie an diesem Nachmittag ins Krankenhaus kam, hatte der Arzt eine überraschende Nachricht für sie.
»Neles Bewußtlosigkeit ist nicht mehr so tief. Sie hat heute schon einmal leicht reagiert, als die Schwester sie mittags gedreht hat.«
»Wirklich? Sie wacht auf?«
Julia war so aufgeregt, daß sie am liebsten sofort zu Nele gelaufen wäre. Aber der Arzt hielt sie am Arm fest.
»Moment. Seien Sie nicht enttäuscht, wenn es jetzt wieder tagelang keinen Erfolg gibt. Alles ist möglich, nicht vergessen.«
»Nein, schon gut. Ich muß Geduld haben.«
»Richtig. Na, dann gehen Sie schon.«
Er lächelte. Julia konnte das Lächeln erwidern. Sie hatte das Gefühl, daß ihr ein Wunder bevorstand und wollte es sich auch nicht ausreden lassen.
Nele lag da wie immer. Die Augen geschlossen, die leichten Atemzüge hoben und senkten ihren Brustkorb. Es war warm im Zimmer.
»Nele, ich bin es, Mama.«
Julia beobachtete ihre Tochter voller Spannung. Sie merkte nicht, daß ihre Stimme viel optimistischer, kraftvoller klang.
»Nele, wach auf. Draußen ist es jetzt so schön! Wir können Eis essen gehen. Patrick wartet so sehr darauf, daß du wieder nach Hause kommst. Er mag gar nicht allein losziehen. Immer sagt er, daß ihm das Eis nicht schmeckt, wenn er nicht mit dir streiten kann, wer schneller fertig ist.«
Sie sog sich diese Geschichte aus den Fingern. Sie klang so… lebendig. Geschwisterstreit, das Normalste der Welt. Normal, wenn nicht ein Kind im Koma lag. Dann sehnte man sich sogar nach solchen Banalitäten, über die man sich sonst vielleicht aufregen würde.
»Nele…, ich möchte dein Zimmer gern neu tapezieren. Aber du mußt dir die Tapete selbst aussuchen. Ich weiß nicht, ob du gelb oder lieber blau möchtest…«
Neles Hand in ihrer zuckte. Julia starrte darauf, als könnte das gar nicht möglich sein.
»Nele, deine Hand… drück noch mal…«
Wieder spürte sie das eindeutige, wenn auch schwache Zucken.
»Oh, Nele, wach auf! Du kannst es! Alles ist gut! Du kannst bald nach Hause…«
Nele schlug die Augen auf. Sie sah blicklos vor sich hin. Julia bekam einen furchtbaren Schreck, aber dann zog sich der Schleier von den Augen ihrer Tochter zurück. Ihr Blick wurde klarer, als er ihre Mutter erfaßte.
»Mama…«
»Ja, Nele, ich bin es… Ach, ist das wunderbar! Du bist wieder aufgewacht…«
Ihre Stimme hatte eine Schwester herbeigelockt. Sie kam jetzt ans Bett und schaute fassungslos auf Nele hinunter. Dann sah sie Julia an.
»Sie haben es geschafft… Wie schön. Ich hole gleich den Doktor.«
»Mama…«, flüsterte Nele noch einmal.
Dann schloß sie die Augen wieder.
Der Arzt sah anhand des Monitors, daß Nele nicht wieder in die Bewußtlosigkeit zurückgesunken war, sondern schlief.
»Na, sehen Sie, Frau Bogner. Sie wird wieder gesund. Jetzt wird sie bald wieder munter sein.«
»Ich bin so glücklich…«
Julia fühlte sich schwach und taumelig, aber eher so, als hätte sie zuviel Champagner getrunken.
»Bleiben Sie schön sitzen. Die Schwester bringt Ihnen einen Kaffee. Sie müssen ja einen richtigen Schock erlitten haben.«
»Ja, irgendwie schon.«
»Das ist verständlich. Obwohl man jeden Tag, jede Stunde auf diesen Augenblick wartet, ist es doch überraschend.«
Immer wieder schaute Julia ungläubig Nele an. Sie hätte sich am liebsten überzeugt, daß sie wirklich nur schlief, indem sie sie aufweckte. Aber das durfte sie natürlich nicht tun. Der Arzt belog sie sicher nicht. Leider konnte sie die Linien und Zahlen auf dem Monitor nicht deuten.
Nele bewegte sich und stöhnte leise.
Dann hob sie die Hand an die Wange und schlief in ihrer vertrauten Haltung weiter. Julia begann zu weinen. Ja, Nele war auf dem Weg, gesund zu werden. So hatte sie ihre schlafende Tochter oft betrachten können.
Sie betete leise vor sich hin, dankte Gott für seine Güte, daß er ihr ihr Kind neu geschenkt hatte. Julia wollte am liebsten alle Welt anrufen, um über das Wunder zu sprechen, aber sie blieb sitzen.
Diesmal wartete sie, bis Thomas kam. Er sollte es von ihr hören. Auch hier hatten die Worte von Frau Dorn etwas bewegt.
Er kam herein und stutzte, als er sie sah.
»Guten Abend, Julia…«
»Guten Abend, Thomas. Ich habe eine wunderbare Nachricht. Nele ist heute aufgewacht. Sie schläft jetzt.«
»Ist das… wahr?«
Sie sah die Tränen, die in seine Augen stiegen. Noch nie hatte Thomas geweint.
»Ja, es ist wahr. Es ist ein Wunder. Sie wird wieder gesund.«
»Oh, Julia…, danke, daß du es mir selbst sagst. Ich komme mir vor wie… ein Schwein…«
»Ich weiß. Ich kann dich verstehen. Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht, und auch… dir. Ich habe dich… gehaßt. Aber jetzt, nein, das tue ich nicht mehr. Ich bin dir nicht mehr böse. Ich würde mich freuen, wenn wir uns wie… Freunde verhalten könnten…«
Thomas umarmte sie. Julia spürte nichts als eine große Erleichterung.
»Ja, das möchte ich auch. Und ich werde mich in Zukunft mehr um die Kindern kümmern. Wenn du es noch erlaubst.«
»Ja. Sie brauchen dich, du bist ihr Vater.«
»Kein guter Vater, aber eines kannst du mir glauben, ich liebe sie wirklich. Ich wußte, daß sie es bei dir gut haben.«
»Wir wollen die alten Geschichten ruhen lassen. Ich vertraue dir.«
Woher kam die Ruhe? Julia fühlte eine Weite in ihrem Herzen, die sie überraschte und ein wenig atemlos machte. Es war ein gutes Gefühl, sie tat es für die Kinder, für Thomas und für sich. Sie war absolut sicher, das Richtige zu tun.
Als sie dann eine halbe Stunde später bei ihrer Mutter ankam und ihr alles erzählt hatte, was passiert war, sprach diese sie auf Torsten an.
»Wenn doch jetzt alles wieder gut wird, willst du dir dann nicht auch eine Chance geben, mein Schatz? Ich meine, der Mann, in den du dich verliebt hast, wird sicher warten, daß du dich meldest.«
»Ich…, ja, ich denke, ich werde es tun. Aber ich hab’ ein bißchen Angst, daß er böse auf mich ist. Ich habe ihn nicht nett behandelt.«
»Wenn er der richtige ist, wird er dich verstehen.«
Julia wußte das. Und doch zögerte sie. Am liebsten hätte sie erst mit Nele darüber gesprochen. Aber vermutlich würde sie ihre Tochter damit überfordern. Sie selbst mußte entscheiden, was sie tun wollte.
Patrick schlief an diesem Abend sehr viel schneller ein. Er spürte wohl auch, daß die schlimmste Zeit überstanden war. Julia hatte wieder dasselbe herzliche Lächeln und die vertraute Zärtlichkeit für ihren Sohn, als sie ihm gute Nacht gesagt hatte.
Jetzt saß sie im Wohnzimmer, ließ den Tag noch einmal an sich vorüberziehen und schaute immer wieder zum Telefon hinüber. Sollte sie?
Sie wählte Torstens Nummer. Nach dem dritten Klingeln wurde abgehoben.
»Hier bei Köhler«, meldete sich eine Frauenstimme.
Julia erstarrte. Lange hatte Torsten nicht gebraucht, sich zu trösten. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie den Hörer auf. Da hatte sie ihre Antwort. Sie machte sich Sorgen, ob und wie es weitergehen sollte und Torsten hatte sie längst vergessen. Jetzt kam sie sich albern vor, sie hatte sich lächerlich gemacht, als sie an tiefe Gefühle glaubte.
Nun war alles geklärt. Sie würde sich wieder um die Kinder kümmern, vielleicht Thomas mehr zur Seite haben als bisher und sich wieder ganz dem widmen, was vor Torsten ihr Leben ausgemacht hatte.
Das war doch eigentlich ganz gut, versuchte sich Julia einzureden, aber die tiefe Traurigkeit wollte nicht weichen. Sie fühlte sich undankbar, daß sie so empfand, doch es war nicht zu ändern.
*
Am nächsten Tag rief sie Frau Dorn an, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen. Frau Dorn freute sich sehr darüber.
»Das ist die beste Nachricht, die Sie mir mitteilen konnten. Sehen Sie, Julia, das Leben ist doch schön, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nanu? Höre ich da etwa eine kleine Unsicherheit heraus?«
»Nein, nein, es ist wunderbar. Nele hat heute morgen schon ein paar Sätze gesprochen.«
»Und wie geht es mit Ihrem Freund?«
»Das ist vorbei. Die Gefühle sind nicht, wie ich dachte.«
»Oh, das überrascht mich aber. Sie waren doch so sicher.«
»Na ja, ich habe mich eben geirrt. Er hat eine andere. Ich verstehe das sogar.«
»Hmm. Nun ja, vielleicht brauchen Sie beide noch Zeit. Jetzt genießen Sie erst einmal die
Freude über Nele. Sie werden sich bestimmt bald besser fühlen.«
»Das glaube ich auch. Schon jetzt kommt es mir vor, als hätte unser Leben neu begonnen.«
»Das ist die richtige Einstellung. Es wird kommen, wie es kommen soll.«
Julia mußte auflegen. Sie wurde im Laden gebraucht. Aber das war ihr auch ganz lieb, denn sie wollte das Thema Torsten auf keinen Fall vertiefen. Als sie heute morgen aufgewacht war, hatte sie zuerst die Freude über Nele erfüllt, aber dann war die Stimme der Frau wieder in ihrem Ohr gewesen und hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben.
Am Nachmittag im Krankenhaus vergaß sie diese trüben Gedanken jedoch. Nele schenkte ihr das erste Lächeln seit Wochen.
»Mama…«
»Meine Nele! Wie schön, daß du wieder aufgewacht bist.«
Sie küßte ihre Tochter, die sich schließlich beschwerte, daß Julias Tränen sie ganz naß machten. Lächelnd setzte sich Julia auf den Stuhl und griff nach Neles Hand.
»Jetzt wird alles wieder gut, mein Schatz. Papa tut es schrecklich leid, daß er dich allein gelassen hat. Er hofft, daß du ihm noch eine Chance gibst.«
»Er ist einfach weggegangen. Ich bin gar nicht wichtig für ihn…«
»Doch, Nele, das bist du. Er hat jeden Abend viele Stunden hier an deinem Bett gesessen. Er fühlt sich schrecklich, daß er dir das angetan hat. Bitte, verzeih ihm. Du wirst sehen, es ist ihm ernst.«
»Echt?«
»Ganz bestimmt.«
»Na gut…«
Julia erzählte, was sie alles vorhatte. Die Zimmer sollten neu tapeziert werden, Nele durfte sich ein neues Bett aussuchen. Julia wußte, daß Nele sich ein Himmelbett wünschte. Auch das würde sie bekommen.
»Toll, Mama…«, murmelte Nele, die noch schnell erschöpft war.
Sie schloß die Augen und schlief wieder ein. Diesmal war Julia nicht beunruhigt. Die Wangen ihrer Tochter waren rosig, nach Auskunft des Arztes würde Nele in einer Woche nach Hause entlassen werden können. Es standen nur noch ein paar abschließende Untersuchungen aus, und dann sollte Nele natürlich noch Ruhe haben, um sich ganz zu erholen.
Nele war wieder wach, als ihr Vater kam. Mit Staunen sah sie, daß er ihre Mutter mit einem Kuß auf die Wange begrüßte, bevor er sich an sie wandte, um sie ganz fest zu umarmen.
»Habt ihr euch wieder vertragen?« fragte Nele beide Eltern.
»Ja, wir werden wieder öfter etwas gemeinsam unternehmen«, gab Julia unbedacht zurück.
Nele strahlte. Julia war einen Moment beunruhigt, vergaß es aber schnell wieder, als Thomas von einer Urlaubsreise sprach, zu der er sie einladen wollte.
»Wir fliegen irgendwohin, wo es euch gefällt, dir und Patrick. Zwei Wochen lang.«
»Du auch? Ich meine, du kommst mit?«
»Natürlich komme ich mit.«
»Mußt du dann nicht arbeiten?«
»Ich habe mir meine Arbeit anders eingeteilt. Ich war ganz schön dumm, daß ich immer nur an die Arbeit gedacht habe. Dabei ist mir ganz entgangen, wie toll es ist, eine Tochter wie dich zu haben. Und einen Sohn wie Patrick.«
Nele war selig. Julia konnte nicht länger bleiben. Ihre Mutter war allmählich auch erschöpft, sie sollte wieder mehr Zeit für sich haben. Deshalb mußte sie Patrick abholen.
Als sie später mit ihm nach Hause kam, klingelte gerade das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, einen Moment hoffend, daß es Torsten sein könnte. Es war Marius Dorn.
»Ich habe von meiner Mutter gehört, daß es Nele wieder bessergeht. Das freut mich sehr. Ich wollte Ihnen das nur sagen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen.«
»Falls Sie einmal wieder ein bißchen Spaß brauchen nach all der Aufregung, dann würde ich Sie gern einladen. Zum Essen, wann immer Sie wollen.«
»Danke, ich nehme das gern an…«
»Wollen wir schon etwas ausmachen?«
»Ich rufe Sie an, ja?«
»Gut. Alles Gute weiterhin, Julia.«
»Mama, war das dein Freund?« wollte Patrick wissen, als Julia aufgelegt hatte.
»Nein, das war ein anderer Freund. Du wirst ihn noch kennenlernen, er ist sehr nett.«
Julia dachte nicht daran, nun von Torsten zu Marius überzuwechseln, aber als guter Freund war er ihr willkommen. Er strahlte eine Ruhe aus, die sie jetzt gut gebrauchen konnte.
Christine wurde jeden Tag auf dem laufenden gehalten. Auch jetzt, als Patrick im Bett lag, rief Julia ihre Freundin an. Christine erfuhr nun, daß Torsten in Julias Leben keine Rolle mehr spielen würde. Julia konnte das schon sehr glatt über die Lippen bringen und achtete darauf, daß ihre Stimme sie nicht verriet.
»Ich hätte nicht gedacht, daß es doch nichts Ernstes ist. Komisch, dabei täusche ich mich in dir so selten…«, erwiderte Christine verwundert.
Julia kämpfte mit sich. Aber letztendlich siegte die Angst, daß sie sich auf eine lange Diskussion einlassen mußte. Christine würde sich von einer weiblichen Stimme am Telefon nicht einschüchtern lassen, sondern Aufklärung verlangen. Und dasselbe von ihr erwarten.
»Na gut, es gibt schließlich noch mehr Männer. Mach dir nichts daraus. Jetzt ist erst einmal die Hauptsache, daß ihr wieder auf die Füße kommt.«
»Thomas will uns zu einer vierzehntägigen Reise einladen, die Kinder und mich. Er kommt auch mit.«
Das verschlug Christine für einen Moment die Sprache. Dann holte sie tief Luft. Julia sah ihre Freundin jetzt genau vor sich. Sie runzelte bestimmt die Stirn und versuchte dahinterzukommen, was das bedeuten konnte.
»Willst du damit etwa sagen, daß ihr wieder zusammenkommt?« fragte sie dann mit düsterer Stimme.
»Nein, aber daß wir vielleicht Freunde werden könnten.«
»Meine liebe Julia, dann gebe ich dir mal einen Rat. Kläre das gleich mit ihm, von vornherein. Ich glaube nicht, daß er dich als Schwester sieht. Ihr werdet am Strand liegen, du in einem süßen Bikini, nee, nee, eher würde ich einem Tiger über den Weg trauen.«
»Unsinn, das weiß er genau.«
»Julia, sei nicht so naiv!«
»Ich bin nicht naiv. Thomas will nichts mit mir anfangen.«
»Und wie stellt sich das dann für die Kinder dar? Meinst du nicht, daß zumindest Nele glauben wird, daß ihr wieder eine richtige Familie werdet?«
Julia wollte schon verneinen, aber dann dachte sie daran, wie Nele reagiert hatte.
Angst überfiel sie mit solcher Macht, daß sie am liebsten sofort ins Krankenhaus gestürzt wäre, um Nele zu erklären, wie es sein würde.
»Ich sehe, du beginnst nachzudenken«, unterbrach Christine ihre innere Panik.
»Ich werde morgen mit ihr reden.«
»Na, dann viel Glück. Ich finde es wunderbar, wenn Thomas mit den Kindern verreist. Du kannst bestimmt sicher sein, daß er gut aufpaßt nach dem Schock. Aber du solltest tunlichst verzichten, oder dir allein eine schöne Reise vornehmen.«
»Meinst du wirklich, daß es nicht anders geht?«
»Absolut.«
»Na gut, ich werde noch einmal darüber nachdenken…«
»Aber schnell, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.«
Julia war sehr nachdenklich, als sie das Gespräch beendete. Wahrscheinlich hatte Christine recht mit ihrer Vermutung, daß Thomas nicht nur an ein freundschaftliches Verhältnis dachte. Er war ein sinnlicher Mann, wenn er seine Arbeit einmal vergaß.
Nein, Julia war sich ganz sicher, daß sie diesen Weg nicht mehr gehen wollte. Sie hatte Thomas einmal geliebt, aber das war vorbei. Nicht einmal für die Kinder würde sie wieder mit ihm zusammenleben wollen. Auch nicht, wenn es keinen Torsten gegeben hätte.
Na, wenigstens diese Klarheit hatte sie. Julia lächelte leicht resigniert über sich selbst. Ihr Leben war ganz schön durcheinander geraten.
Im Geschäft gab es am nächsten Tag nicht allzuviel zu tun. Julia hatte etwas Zeit und beschloß, gleich ihr Gespräch mit Thomas zu führen. Es lag ihr etwas auf dem Magen, sie wollte es hinter sich haben.
Sie erreichte ihn im Büro. Er schien sich über ihren Anruf zu freuen.
»Thomas, ich muß mit dir über diesen Urlaub sprechen.«
»Ja, was ist denn? Hast du einen bestimmten Wunsch, wohin wir fahren sollten?«
»Nein, nein, du verstehst mich falsch. Ich wollte dir sagen, daß ich mich freue, wenn du mit den Kindern fährst, aber ich komme nicht mit.«
Schweigen. Julia merkte, wie er überlegte, was das bedeuten sollte.
»Ist es dir so unangenehm, mit mir zu verreisen? Früher hast du dir das gewünscht.«
Julia mußte an Christines Worte denken. Es stimmte, Thomas dachte wirklich daran, eine Neuauflage zu starten.
»Früher hätte ich das. Aber heute muß ich ganz klar sagen, daß ich mich freuen würde, wenn du dich um die Kinder kümmerst, aber mich schließt das nicht mehr mit ein. Wir beide sind geschieden, und dabei soll es auch bleiben.«
Wenn sie sich nun doch täuschte? Wenn er jetzt lachen oder sagen würde, daß er an so etwas nicht im mindesten gedacht habe? Das wäre peinlich. Aber Julia stand zu ihren Worten und wartete gespannt auf seine Antwort.
»Ich glaube, Nele hofft auf etwas anderes. Sollte sie jetzt nicht wichtiger sein? Sie glaubt sicher, daß wir wieder zusammenfinden werden. Und warum sollte es nicht so sein? Ich war ein Idiot, als ich nur meine Arbeit im Kopf hatte. Das habe ich schon lange begriffen. Ich habe erlebt, wie ein Kollege plötzlich von einer Minute zur anderen an einem Infarkt starb. Er hat das Leben auch immer auf morgen verschoben. Das soll mir nicht passieren. Du solltest also nicht vorschnell urteilen und uns eine Chance geben.«
»Ich verstehe, was du meinst. Ich freue mich für dich, daß du jetzt klüger bist. Aber ich habe damit nichts zu tun. Wenn Nele einen falschen Eindruck hat, werde ich heute mit ihr reden.« Julia wunderte sich über ihre Festigkeit. Sie würde nicht erlauben, daß Nele sie zu etwas drängte, was sie ganz sicher nicht wollte. Bei aller Rücksicht auf sie.
»Das ist bestimmt nicht der richtige Augenblick, um ihr die Hoffnung zu nehmen. Sei doch froh, daß sie sich so freut. Nach allem…«
Ausgerechnet er nahm den Unfall zum Anlaß, um sie unter Druck zu setzen? Julia lag schon eine bissige Antwort auf der Zunge. Wäre er wirklich so geläutert, hätte er Nele nicht allein gelassen. Aber sie sprach es nicht aus.
»Tut mir leid. Nein, Thomas. Ich komme nicht mit. Wirst du trotzdem fahren?«
»Muß ich wohl. Ich habe es versprochen.«
»Wenn du es nicht gern tust, solltest du es lassen. Die Kinder merken das.«
»Ich tue es gern. Mach dir keine Gedanken um mich.«
»Gut. Dann ist das also klar. Tut mir leid, daß ich dich enttäusche. Aber ich dachte, ich müßte das klarstellen.«
»Natürlich.«
Thomas war sauer. Julia kannte seinen Tonfall. Aber das war in Ordnung, falls er sich wirklich Hoffnungen gemacht hatte, dann mußte er jetzt enttäuscht sein.
Puh, wie schwierig das alles war!
Noch viel schlimmer würde es sein, Neles Hoffnungen zu zerstören. Aber gleich heute mußte Julia mit ihrer Tochter sprechen. Sie würde nicht kneifen.
Nele saß im Bett, als Julia hereinkam. Wieder ein Fortschritt, der sie glücklich machte.
»Wie geht es dir, Schatz?«
»Gut. Ich hab nur noch Kopfschmerzen, aber ich bekomme etwas dagegen. Papa bringt mir heute Reiseprospekte mit. Er sagt, ich darf aussuchen, wohin wir fahren.«
»Fein. Darüber wollte ich auch gerade mit dir sprechen.«
»Wieso?«
Sofort hörte Julia Mißtrauen aus Neles Stimme heraus. Sie versuchte, entspannt zu bleiben, obwohl es ihr nicht leichtfiel.
»Nele, ich freue mich sehr, daß Papa diese Reise machen will. Ich denke, es wird wirklich schön. Aber ich fahre nicht mit. Ich werde in der Zeit die Wohnung tapezieren und…«
»Nein, Mama, das kannst du doch nicht machen!«
Sofort hatte Nele Tränen in den Augen. Julia kämpfte mit sich. Sie durfte auf keinen Fall nachgeben. Hinterher wäre es noch schlimmer für Nele, wenn sie sähe, daß sich ihre Träume nicht erfüllten.
»Doch, Schatz. Papa und ich werden nicht mehr zusammenleben, weißt du? Wir sind geschieden, und das wird auch so bleiben. Als euer Vater kann er euch jederzeit besuchen oder abholen, und auch mit euch verreisen. Aber ich glaube, du denkst, daß wir wieder eine richtige Familie sind. Das wird nicht gehen, es tut mir leid.«
»Du bist gemein, Mama! Papa will alles wiedergutmachen, hat er gesagt! Und du willst das nicht!«
»Liebes, du wirst später verstehen, warum das nicht geht. Eines Tages, wenn du die Liebe kennenlernst, glaub mir. Ich bin nicht böse, daß du jetzt mit mir schimpfst, aber ich muß über mein Leben allein bestimmen.«
»Du willst ja nur diesen… Freund nicht aufgeben«, schleuderte Nele ihr entgegen.
Das habe ich schon, lag Julia auf der Zunge, aber merkwürdigerweise konnte sie es nicht aussprechen. Sie schaute Nele an, auf deren Gesicht sich alle inneren Kämpfe spiegelten. Es war schwer zu ertragen.
»Das hat damit nichts zu tun«, sagte sie statt dessen.
»Ich will den nie, nie sehen, das sage ich dir!«
»Nele, hör auf. Du sollst dich nicht so aufregen.«
»Dann komm mit!«
»Das ist nicht nett von dir. Du weißt, daß ich dich sehr liebhabe, aber über mein Leben lasse ich ich dich nicht bestimmen.«
Nele mußte wohl etwas von ihrer Entschlossenheit gespürt haben. Sie sah ein wenig erstaunt aus, als sie Julia jetzt anschaute. Dann rutschte sie im Bett herunter und zog die Decke bis ans Kinn.
Sie wollte nicht mehr mit Julia sprechen. Julia akzeptierte das schweren Herzens.
Als Thomas kam, überfiel sie ihn gleich mit ihren Anklagen.
»Papa, Mama will nicht mitkommen! Sag du ihr, daß sie das muß.«
»Schatz, du weißt doch, daß wir geschieden sind. Ich habe ihr nichts zu sagen. Wenn sie nicht mitkommt, ist das zwar schade, aber nicht zu ändern. Wir werden uns ganz bestimmt trotzdem amüsieren.«
Seine Stimme klang ruhig und gelassen. Julia war ihm dankbar und noch viel froher darüber, daß sie bereits mit ihm gesprochen hatte.
So war ihm Zeit geblieben, sich an den Gedanken zu gewöhnen und sich seine Antwort für Nele zu überlegen. Daß sie davon anfangen würde, war ja klar gewesen.
Sie versuchte auf kindliche Art, ihren Willen durchzusetzen.
»Mama hat einen Freund!«
Thomas schaute Julia nicht an.
»Das darf sie doch auch, nicht wahr? Sie hat bestimmt trotzdem immer Zeit für euch.«
»Aber du bist allein…«
»Ich war auch nicht immer allein. Nur im Moment habe ich keine Freundin. Das kann sich auch wieder ändern.«
Nele sah fassungslos aus. Julia tat ihre Tochter leid. Sie wurde ganz schön gefordert, jetzt, wo sie eigentlich Schonung brauchte. Aber vielleicht war die Wahrheit doch wichtiger…
»Aber ich will nicht, daß jemand mitkommt außer Patrick und mir.«
»Nein, das mußt du nicht befürchten, Schatz. Ich fliege mit euch beiden allein. Hier, die Prospekte.«
Thomas legte sie Nele auf das Bett.
Zuerst widerwillig, dann mit immer mehr Begeisterung, begann sie darin zu blättern. Für Julia war es der richtige Zeitpunkt, um sich zu verabschieden. Nele reichte ihr huldvoll die Wange, um den Abschiedskuß entgegenzunehmen.
Julia war ziemlich erschlagen, als sie bei ihrer Mutter ankam. Sie erzählte ihr, was vorgefallen war.
Angelika Bernsdorf lachte.
»Da hast du ja gerade noch die Kurve bekommen, mein Schatz. Ich verstehe Thomas, daß er sich Hoffnungen gemacht hat. Wenn er wirklich begonnen hat nachzudenken, wird ihm klar sein, was er verloren hat.«
»Jedenfalls ist das für mich kein Thema mehr.«
»Nein, das ist auch gut so. Und noch viel besser ist, daß du dich Nele gegenüber stark gemacht hast. Wärest du jetzt zu nachgiebig, würde sie immer weiter versuchen, dir ihren Willen aufzudrängen.«
»Ich glaube, sie ist sehr enttäuscht, aber sie wird mir schon verzeihen.«
»Und dein Freund? Was ist mit ihm?«
»Nichts.«
Endlich erzählte Julia, wie sie Torsten angerufen und eine Frauenstimme am Telefon gehört hatte.
»Und daraus schließt du, daß er eine andere hat? Julia, du spinnst.«
»Aber Mama!«
»Entschuldige, aber so einen albernen Grund, gleich aufzugeben, habe ich wirklich noch nie gehört. Es könnte eine Angestellte gewesen sein, die noch etwas abgegeben hat, eine Schwester, eine Bekannte, ja, sogar die Putzfrau!«
»Oder eine neue Freundin!« beharrte Julia.
»Natürlich, oder eine neue Freundin. Aber da fragt man doch wohl mal, oder? Ich habe jetzt Zweifel daran, ob es dir wirklich ernst war, oder ob du die erste Gelegenheit beim Schopf packst, um dir einreden zu können, daß er es nicht ernst gemeint hat.«
»Ich habe es ernst gemeint!«
»Dann können deine Gefühle aber trotzdem nicht sehr tief sein.«
»Das sind sie gewesen.«
Julia kam sich so trotzig wie ein Kind vor, wenn sie ihrer Mutter widersprochen hatte. Ihr fehlten die richtigen Argumente, denn natürlich hatte sie aus gekränkter Eitelkeit wirklich sehr schnell aufgegeben. Das wurde ihr jetzt klar.
Torsten. Hatte er nun eine Freundin oder nicht? Vielleicht sollte sie ihn doch noch einmal anrufen…
»Ich behalte Patrick heute hier.«
»Aber warum denn?«
»Weil ich es möchte. Wir wollen zusammen einen Videofilm sehen, über eine Maus, die schlauer ist als die Menschen. Patrick hat ihn entdeckt. Er freut sich schon darauf.«
»Aber…«
»Ich bringe ihn morgen in den Kindergarten. Mach dir keine Gedanken. Wenn Nele wieder zu Hause ist, habe ich ja auch wieder mehr Zeit für mich. Es ist schon in Ordnung so.«
»Mama, du bist…«
»Ich weiß. Ich bin unersetzlich.«
Sie lachte und ließ sich von Julia umarmen.
Julia war plötzlich sehr unruhig. Ein freier Abend, eine freie Nacht… So hatte es schon einmal angefangen…
Auf dem Nachhauseweg war sie noch fest entschlossen, auf keinen Fall bei Torsten anzurufen. Als sie zu Hause ankam, es waren ja nur ein paar Meter von Haus zu Haus, konnte sie es gar nicht abwarten, seine Nummer zu wählen. Sie mußte Gewißheit haben. Dann könnte sie ihn ein für allemal vergessen.
Diesmal war er selbst am Apparat. Julias Herz klopfte bis zum Hals. Sie mußte etwas sagen…
»Hallo? Julia…?«
Wieso glaubte er, daß sie es war? Warum klang seine Stimme so unsicher und gleichzeitig hoffnungsvoll? Und wer war die Frau gewesen?
»Ich… ja, ich bin es… Ich wollte dich fragen, ich meine… ich wollte…«
Sie brach ab. Es war schrecklich. Sie kam sich sehr dumm vor.
»Ich bin froh, daß du endlich anrufst«, hörte sie ihn sagen.
»Es… gibt keine andere?« stotterte sie.
»Wie kommst du denn darauf?«
Jetzt klang seine Stimme wieder kraftvoll und fast ein bißchen böse.
»Die Frau neulich… als ich anrief… vor ein paar Tagen…«
»Abends? Das war meine Mutter. Sie hat mich besucht, weil sie sich Gedanken machte.«
»Gedanken?«
»Ich hatte mich länger nicht gemeldet. Weil ich niemanden sehen wollte.«
»Meinetwegen?«
»Natürlich deinetwegen. Ich liebe dich, glaubst du, es ist mir egal, daß du mich nicht mehr sehen wolltest?«
»Oh, Torsten, es tut mir so leid. Ich war so dumm…«
»Heißt das, du bist jetzt bereit…«
»Ja, ja, das bin ich!«
»Können wir uns sehen?«
Julia mußte über ihren Schatten springen. Die Erinnerung an die Nacht, in der Nele verunglückt war, konnte sie nicht einfach verdrängen. Aber es würde nicht wieder passieren. Sie mußte ihre Angst überwinden, sonst würde sie nie in der Lage sein, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
»Ich könnte zu dir kommen…«
»Worauf wartest du noch? Komm… schnell…«
Eine Viertelstunde später stand sie vor seinem Haus. Er riß die Tür auf und nahm sie in die Arme.
Bevor Julia sich ganz auf ihre Gefühle einlassen konnte, mußte sie noch etwas erledigen.
»Darf ich eben telefonieren?«
»Du willst deine Mutter anrufen, und ihr sagen, wo du bist, nicht wahr?« fragte er lächelnd.
»Ja. Ich weiß, das ist blöd, aber…«
»Nun beeil dich, Liebling. Ich verstehe das schon.«
Ihre Mutter schien sehr zufrieden über den Anruf. Sie notierte die Nummer und wünschte Julia viel Glück.
Wieder schloß Torsten sie in die Arme. Plötzlich schob er sie jedoch ein Stück von sich und sah sie ernst an.
»Eines muß allerdings klar sein, Julia. Morgen komme ich mit ins Krankenhaus und werde Nele besuchen. Sie muß wenigstens wissen, wen sie ablehnt. Wir stehen das gemeinsam durch. Ich erlaube nicht, daß du mich noch einmal aus deinem Leben ausschließt.«
Julia wartete auf die Angst, die sich doch jetzt eigentlich einstellen müßte. Aber sie sah die Liebe in Torstens Augen, seine Erleichterung, daß sie den Weg zu ihm zurückgefunden hatte. Da war keine Angst.
Es würde vielleicht nicht leicht werden, aber letztendlich mußte Nele doch erkennen, daß ihr nichts genommen wurde. Daß sie einen Freund hinzugewinnen konnte und deshalb auch ihren Vater nicht aufgeben mußte. Julia vertraute auf das, was Frau Dorn Schicksal genannt hatte. Nele hatte eine Menge Menschen, die ihr helfen konnten, mit den neuen Umständen fertigzuwerden. Ihr Vater gehörte nun auch dazu, und das hatte sie sich immer gewünscht. Es würde sie vielleicht milder stimmen.
»Ja. Einverstanden. Und mit Patrick essen wir morgen abend. Dann lernst du auch gleich meine Mutter kennen.«
»Wunderbar. Eine richtige Familie. Mit Kindern und Schwiegermutter. Wir werden heiraten, Julia, sobald Nele nicht mehr dagegen ist.«
»Oh, Torsten, war das jetzt ein Heiratsantrag?«
»Ja, wenn auch nicht sehr elegant. Aber wir haben so viel Zeit verloren…«
Endlich küßte er sie. Julia schmolz dahin in seinen Armen. Alles fühlte sich gut und richtig an. Und es war richtig.