Читать книгу Mami Staffel 15 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 6

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Länger als alle anderen blieb Johannes Roteck am offenen Grab stehen. Noch immer konnte er nicht daran glauben, daß seine Frau nie mehr zurückkommen würde. Nie mehr würde er ihre Stimme hören, Felicitas nie mehr in seine Arme schließen. Dabei war sie noch so jung, zweiunddreißig erst, und sie hatten noch so viele Pläne. Auf dem Skihang war sie vor fünf Tagen so unglücklich gestürzt, daß jede Hilfe zu spät kam. Johannes hatte seither kaum geschlafen, kaum etwas gegessen. Er war von Schmerz und Verzweiflung wie betäubt. Die Formalitäten für die Trauerfeier hatten die Schwiegereltern erledigen müssen. Er war nicht dazu in der Lage.

Äußerlich völlig unbeteiligt, in seinen Empfindungen aber aufgewühlt und grenzenlos traurig, nahm er an der Zeremonie teil. Er sah und hörte nicht, was um ihn herum vorging. Er war wie ein entwurzelter Baum: haltlos, kraftlos, herausgerissen aus einem Leben, das glücklich und erfüllt war.

Erst als es dunkel wurde, tappte er den Weg zurück. Er erinnerte sich nicht dran, daß sein Auto auf dem Parkplatz stand, und ging den ganzen Weg zu Fuß. Länger als eine Stunde war er unterwegs, doch auch das nahm er nicht wahr. In dem Haus, das sie bewohnten, ließ er sich in einen Sessel fallen und lehnte sich stöhnend zurück. Weinen konnte er schon lange nicht mehr, und doch brannten seine Augen.

Die ganze Nacht über rührte er sich nicht vom Fleck, und auch am nächsten Tag blieb er sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, ein Bild des Jammers.

Das Telefon läutete, doch Johannes hörte es nicht. Er war in Gedanken weit weg. An die erste Zeit seiner Ehe dachte er und an den Tag, da Jessica, das Kind ihrer Liebe, geboren wurde. Felicitas und er waren unbeschreiblich glücklich gewesen. Das alles war unwiderruflich vorbei.

Später klingelte es an der Tür, doch auch das registrierte Johannes nicht. Niemand konnte seine Trauer stören. Vor elf Jahren hatte er Felicitas bei einem Skiurlaub kennengelernt, und seither waren sie unzertrennlich. Eine ungewöhnlich intensive Zuneigung war es, die sie beide verband. Daß es der gemeinsame Lieblingssport sein würde, der sie für immer trennte, hätte Johannes nie gedacht. Jetzt machte er sich Vorwürfe darüber, daß er den Unfall nicht verhindern konnte. Doch wer hätte geglaubt, daß so etwas passieren würde, denn die Abfahrtsstrecke, auf der das Unglück geschah, galt als sicher und nicht besonders schwierig.

Johannes merkte nicht, daß sich ein Schlüssel im Schloß drehte und seine Schwiegermutter das Haus betrat. Sich neugierig umschauend ging sie durch alle Räume, überzeugt davon, daß niemand zu Hause war. Sie zog Schubladen auf, öffnete Schränke und inspizierte deren Inhalt.

Da sie sich unbeobachtet glaubte, erschrak sie, als sie im Wohnzimmer plötzlich ihrem Schwiegersohn gegenüberstand. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und wich unwillkürlich einige Schritte zurück, wobei sie ihre hochmütige Haltung ablegte und ganz gegen ihre Gewohnheit Angst zeigte.

»Du bist hier?« fragte sie und ließ die gekünstelt vornehme Sprechweise vermissen.

Gleichgültig sah Johannes hoch. »Wo sollte ich sonst sein?« murmelte er, den Körper vornüber gebeugt, das dunkle Haar zerwühlt, grau das Gesicht.

»Hast du Jessicas Sachen gerichtet?« fragte Elfi Schumann. Sie hatte sich gefangen und rasch erkannt, daß ihr von dem gebrochenen Mann keine Gefahr drohte. Deshalb klang ihre Stimme jetzt wieder hochmütig und ironisch, was ihr nirgends Freunde einbrachte. Elfi hob den Kopf und straffte herrisch die Schultern. Wo sie auch hinkam, signalisierte sie ihren Reichtum, der ihr Macht über andere gab. Eine Macht, die sie mit sadistischer Freude ausnutzte.

Johannes öffnete die geröteten Augen und sah seine Schwiegermutter verständnislos an. »Wieso sollte ich Jessis Sachen richten? Wo ist sie überhaupt?« Schwerfällig drehte Roteck den Kopf, um festzustellen, ob sein Töchterchen in der Nähe war.

Doch er konnte nur Elfis große Gestalt ausmachen. Die eitle Frau des Fabrikanten Karl Schumann trug ein elegantes graues Ensemble und darüber einen Nerz von ausgesuchter Schönheit. Diese Nebensächlichkeiten wären Johannes bestimmt nicht aufgefallen, doch die Art, wie sich Elfi präsentierte, zwang sie ihm auf.

»Jessica ist vorübergehend bei uns, nachdem du ja nicht in der Lage warst, sich um sie zu kümmern.«

»Das ist gut. Danke. Ich war so durcheinander und bin es auch jetzt noch, daß ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Nur eines ist mir bewußt: Ich habe Felicitas verloren.« Rotecks imponierend breite Schultern sanken noch ein Stück tiefer.

»Ph!« machte Elfi und setzte sich mit verblüffender Herzlosigkeit über den Schmerz des Schwiegersohns hinweg. »Wir haben unsre Tochter schon vor elf Jahren verloren. Damals, als du ihr voller Berechnung den Kopf verdreht hast.«

»Das ist nicht wahr«, murmelte Johannes, doch seiner Stimme fehlte die Überzeugungskraft. »Ich habe Felicitas geliebt…«

»Wen interessiert das?« fragte Elfi hochmütig. Den verhaßten Schwiegersohn so demütig zu sehen, verschaffte ihr Genugtuung. »Unsere Tochter hätte eine andere Partie machen können. Sie war hübsch, gebildet und vermögend. Aber du hast ihr alle Chancen verdorben.« Elfis schwarze Augen blitzten leidenschaftlich. Sie standen in krassem Kontrast zu den blondgefärbten Haaren, denen ein geschickter Friseur Volumen verlieh.

Johannes hatte diese Vorwürfe oft genug gehört. Früher hatte er sich dagegen gewehrt. Beruflich hatte er im Werk des Schwiegervaters sein Bestes gegeben und entscheidend dazu beigetragen, daß sich die Firma ständig vergrößerte und in diesen Jahren ein Unternehmen von Weltruf geworden war. Jetzt hatte e nicht die Kraft, auf Elfis Gehässigkeit zu antworten. Er wünschte sich, sie möge wieder gehen.

Doch die arrogante Elfi Schumann dachte gar nicht daran. Es machte ihr Freude, den unerwünschten Schwiegersohn noch etwas zu quälen.

»Vielleicht erhebst du dich demnächst und packst Jessicas Koffer. Sonst wäre ich gezwungen, ein Hausmädchen herzuschicken, das diese Arbeit verrichtet.

»Jessi braucht keinen Koffer. Ich werde sie später bei euch abholen.«

»Hast du dir gedacht«, höhnte Elfi feindselig. »Du kannst das Kind nicht versorgen. Du hast es ja nicht einmal vermißt.«

Johannes seufzte laut. »Entschuldige, das war eine Ausnahmesituation. In Zukunft werde ich selbstverständlich für meine Tochter sorgen. Ich werde eine verläßliche Haushälterin einstellen, die Jessi tagsüber beaufsichtigt.«

»Nichts wirst du, denn das ist alles längst entschieden«, belehrte ihn Elfi mit der ihr eigenen Überheblichkeit. »Jessica kommt in ein Schweizer Internat. Das ist eine sehr teure, aber hervorragende Institution. Es werden nur Kinder aus vermögenden Familien aufgenommen. So zum Beispiel der Nachwuchs aus einigen europäischen Fürstenhäusern. Jessica soll eine Ausbildung bekommen, die dem Stand ihrer Großeltern entspricht. Auf diese Weise kann sie vielleicht den Makel ausgleichen, der dadurch entstanden ist, daß ihre Mutter dummerweise den falschen Mann geheiratet hat.« Verächtlich sah Elfi ihren Schwiegersohn an. Er sah gut aus, auch jetzt, und er war ein tüchtiger Ingenieur. Doch nie und nimmer hätte Elfi das anerkannt, denn Johannes stammte aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater war ein biederer Handwerker und seine Mutter eine tüchtige Schneiderin, fleißig und ehrlich, aber eben weit unter Elfis Niveau. Sie verkehrte nur mit Leuten, die entweder viel Geld hatten oder hochrangige Titel.

Johannes wußte aus Erfahrung, daß seine Schwiegermutter gern übertrieb. Deshalb maß er der Schilderung des Internats auch keine Bedeutung zu. Dagegen empörte es ihn, daß er nicht gefragt worden war. »Ihr habt Jessi in einem Internat angemeldet, ohne mich darüber zu informieren?« keuchte er und konnte nicht glauben, daß man ihn derart übergangen hatte. »Das ist doch völlig unnötig. Das Kind bleibt selbstverständlich bei mir!« Beim letzten Satz gewann Rotecks Stimme endlich wieder etwas Festigkeit.

Elfi lachte dunkle und voll Hohn. »Weshalb hätten wir dich einbeziehen sollen? Deine Zeit ist um, Johannes. Du wirst dorthin zurückgehen, woher du gekommen bist. In die Gosse!«

Roteck blinzelte irritiert. Was sollte das nun wieder heißen? Er war daran gewöhnt, daß ihm die Schwiegereltern nur Schwierigkeiten machten, doch glaubte er nicht, daß es noch viel schlimmer kommen würde.

Rotecks Schweigen brachte Elfi erst so richtig in Fahrt. Endlich konnte sie dem Schwiegersohn heimzahlen, was sie elf Jahre lang geärgert hatte. Sie hatte damals für ihre Tochter einen reichen Engländer als Ehemann ausgewählt. Einen, der in den allerersten Kreisen verkehrte. Er besaß ein Schloß in Schottland und ausgedehnte Ländereien in Wales. Elfi war der Ansicht, daß dies der richtige Umgang und die angemessene Umgebung für sie waren. Doch dann mußte Felicitas Johannes Roteck heiraten, weil sie ein Kind von ihm erwartete. Damit waren Elfis ehrgeizige Pläne gescheitert. Die Schuld daran gab sie Johannes, auch jetzt noch.

»Wie willst du denn für das Kind sorgen, nachdem du dich zunächst selbst über Wasser halten mußt?«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Johannes und ahnte Schlimmes. Felicitas zuliebe war er mit seiner kleinen Familie in der Nähe der Schwiegereltern geblieben und hatte manches gute berufliche Angebot ausgeschlagen. Jetzt zeigte sich, daß das ein Fehler war.

»Hast du denn nicht mit meinem Gatten gesprochen?« fragte Elfi herausfordernd. Ihren Ehemann nannte sie im Gespräch mit anderen stets ihren ›Gatten‹, weil sie das für vornehm hielt. Dazu gehörte auch, daß sie die Lippen spitzte und wirkungsvoll die Augenlider senkte.

Johannes fand das lächerlich, aber er nahm es hin. »Karl war nicht hier.«

»Ich weiß, daß er mehrmals versucht hat, dich telefonisch zu erreichen, aber du hast ja nicht abgenommen.«

»Tut mir leid.« Zerknirscht zuckte Johannes die Schultern. Karl Schumann war sein Chef, und er wäre gut mit ihm ausgekommen, hätte Elfi ihn nicht ständig gegen den Schwiegersohn beeinflußt.

»Nun wirst du dich in unsere Villa bemühen müssen«, meinte Elfi schadenfroh.

Johannes dachte daran, daß er dieses Haus immer widerwillig betreten hatte, weil man ihm nur zu offen zeigte, daß er dort nicht willkommen war. »Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?« fragte er und wußte im gleichen Moment, daß er von Elfi kein Entgegenkommen erwarten durfte. Sie konnte wohl nie vergessen, daß er es war, der ihr den Zugang zum englischen Adel vermasselt hatte.

»Nein, ich kann dir den Weg nicht ersparen«, erklärte sie stolz. »Und falls du dein Auto brauchst, es steht noch am Friedhof. Die Verwaltung hat bei uns angerufen, weil du nicht zu erreichen warst. Ich habe ihnen gesagt, daß wir über den verblödeten Schwiegersohn auch nicht glücklich sind, daß sich das Problem aber nun löst. Die übergangenen Telefongespräche und die Sache mit dem Auto sind doch der Beweis dafür, daß es ratsam ist, Jessica deinem schädlichen Einfluß zu entziehen.

Schließlich soll sie später einmal keinen armen Schlucker heiraten, wie es ihre Mutter dummerweise getan hat. Vielleicht hat der englische Earl noch Interesse.« Die ehrgeizige Elfi machte bereits neue Pläne.

Johannes schüttelte verständnislos den Kopf. »Jessi ist noch ein Kind. Und dieser Earl war schon für Felicitas viel zu alt. Mit ihm wäre sie kreuzunglücklich geworden.«

»Jessica ist zehn. Wenn sie ihrer Mutter nachschlägt, wird sie ein sehr hübsches junges Mädchen, und wenn sie dann noch in diesem vornehmen Schweizer Internat erzogen wurde, ist sie genau die richtige Partnerin für einen Mann von Welt, wie es der Earl ist.«

Johannes hielt sich demonstrativ die Ohren zu, denn er konnte die unangenehm laute Stimme seiner Schwiegermutter nicht mehr hören.

»Typisch für dich«, fauchte sie. »Du weißt einfach nicht, was sich gehört. Und du wirst es auch nie lernen!«

*

Johannes hätte seinen Schwiegervater lieber allein gesprochen, doch Elfi ließ es sich nicht nehmen, bei dieser Unterredung dabei zu sein. Herausfordernd schaute sie Karl Schumann an.

»Wir haben dich gestern nach der Trauerfeier vermißt. Viele haben nach dir gefragt«, begrüßte der Unternehmer seinen Schwiegersohn.

»Ich wollte allein sein«, antwortete Johannes wahrheitsgemäß. »Wo ist Jessi?« Roteck hatte erwartet, sein Töchterchen hier zu sehen.

»Ballett-Unterricht«, antwortete Elfi rasch. »Auch etwas, das man dem Kind bisher vorenthalten hat, das aber zur Erziehung einer jungen Dame unseres Standes gehört.« Wieder spitzte Elfi die Lippen, weil sie glaubte, daß dies ihre vornehme Herkunft unterstrich. Daß ihre Eltern eine kleine Bäckerei betrieben, hatte sie stets sorgsam vertuscht.

Karl Schumann haßte die ständigen Prahlereien seiner Frau, aber er war längst im Kampf gegen sie unterlegen. Wenn er sich gegen Elfi stellte, hatte er sofort Streit und Zank im Haus, und das hielt sein geschwächtes Herz nicht aus. Elfi nutzte seinen angegriffenen Gesundheitszustand aus, um ihre Wünsche durchzusetzen. So war es auch jetzt. Es fiel Karl nicht leicht, ihre Forderungen zu erfüllen, aber er hatte keine andere Wahl. Jeder Widerstand war für ihn lebensbedrohend.

»Ich möchte Jessi später mitnehmen.« Johannes sah seinem Schwiegervater fest in die Augen.

Elfi antwortete für ihn. »Das kannst du vergessen. Unser Chauffeur bringt das Mädchen schon morgen in die Schweiz. Je eher Jessica dort am Unterricht teilnimmt, um so besser ist es für sie.«

»Ich bin aber strikt gegen diesen Internatsaufenthalt. Jessi wird Heimweh bekommen. Sie ist noch viel zu klein…«

»Eine harte Erziehung hat noch keinem geschadet«, unterbrach Elfi den besorgten Vater.

Karl Schumann hob beide Hände, was andeuten sollte, daß er unschuldig war an den Beschlüssen, die gefaßt worden waren.

»Es ist besser, glaub’ mir«, meinte er vermittelnd. »Nachdem Felicitas nicht mehr da ist, wollten… äh, müssen wir auf deine Mitarbeit im Werk verzichten. Das bedeutet, daß du auch das Haus räumen… na ja, eben ausziehen solltest.« Karl war nicht so rachsüchtig wie seine Ehefrau, weshalb er wie zur Entschuldigung die Achseln hochzog. Er sah zwar nicht ein, weshalb das alles nötig sein sollte, aber er hatte auch nicht die Kraft, mit Elfi darüber zu diskutieren.

Johannes nahm die Aussage ruhig und gelassen auf. »Ich habe verstanden«, erklärte er schwer atmend. »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.«

»Du warst lange genug der Schandfleck auf unserer Visitenkarte«, giftete Elfi in unüberbrückbarem Haß.

Karl Schumann fand, daß sie dem Schwiegersohn Unrecht tat, denn es hatte schließlich nie etwas an ihm auszusetzen gegeben. Er war ein vorbildlicher Ehemann, ein zärtlicher Vater, und beruflich war er für die Firma ein unschätzbarer Gewinn. So manche Neuentwicklung, die sich später als Renner herausstellte, war sein Verdienst. Elfi wollte von alldem nichts wissen. Sie war nur daran interessiert, Rache zu üben und ihre Macht auszuspielen. Nicht gerne ließ sich Karl dazu mißbrauchen, doch seine Frau ließ keines seiner Argumente gelten.

»Viel Zeit wirst du nicht haben. Schon in einer Woche kommen die Handwerker, um das Haus zu renovieren. Richte dich darauf ein. Wir werden dieses Haus an den neuen Betriebsleiter vermieten.« Es machte Elfi sichtlich Spaß, den Schwiegersohn zu demütigen. »Mit den Möbeln hast du keine Arbeit, denn sie wurden ja seinerzeit von uns angeschafft. Es bleibt also alles stehen. Hast du das verstanden?« Elfi schaute auf Johannes herab wie auf ein ungezogenes Kind. Das war ihr nur möglich, weil sie stehengeblieben war. Ihr Blick war voll Verachtung.

Johannes nickte. Wenn er das Haus, in dem er mit Felicitas glücklich war, verließ, wollte er ohnehin nichts mitnehmen. Auch die Stücke nicht, die er bezahlt hatte. Sie würden ihn immer wieder an jenes Glück erinnern, das unwiderbringlich verloren war.

»In Zukunft hast du also keinen Job, keine Wohnung, keine Freunde. Unter diesen Umständen ist es dir nicht möglich, für unsere Enkelin zu sorgen. Du kannst von Glück sagen, daß wir dir die Verpflichtung abgenommen haben.« Beifallheischend sah Elfi auf ihren Mann.

Er beeilte sich, zustimmend zu nicken.

»Du hast an alles gedacht, Elfi«, brummte Johannes, stemmte sich hoch und verließ schwankend den Raum, den Elfi das Biedermeierzimmer nannte.

*

Der Mann, dem Johannes eine Woche später gegenüber saß, erinnerte ihn stark an seinen Schwiegervater. Er war ebenfalls korpulent, kurzatmig, hatte eine Glatze und trug eine randlose Brille. Auch er war auffallend darum bemüht, jeden Konflikt mit seiner Frau zu vermeiden. Welchen Grund das hatte, sollte Johannes erst viel später erfahren.

»Es hat keinen Sinn«, erklärte Walter Schubart, Hauptaktionär eines bedeutenden Automobilwerks. »Ich kann Sie nicht einstellen, Sie sind überqualifiziert. Einem Mann wie Ihnen kann ich unmöglich zumuten, meine Frau zur Schneiderin zu fahren oder meinen Sohn zur Sporthalle.«

»Die Anforderungen sind meine Sache. Ich brauche den Job«, drängte Johannes. »Ich verspreche Ihnen auch, mich niemals zu beschweren.«

Schubart schüttelte den Kopf. »Sie werden etwas Besseres finden. Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten und Ihrer Erfahrung. Reden Sie mit dem Technischen Direktor des Werks. Früher oder später wird eine passende Stelle frei.«

»Ich brauche die Anstellung nicht irgendwann, sondern jetzt, denn ich sitze auf der Straße, und das wörtlich.«

»Die Frage, wie es dazu gekommen ist, steht mir nicht zu, aber ich möchte Sie nochmals warnen. Sie verdienen nur einen Bruchteil dessen, was Sie gewohnt sind. Sie müssen rund um die Uhr zur Verfügung stehen, auch sonntags, selbst nachts. Sie werden eine blaue Uniform tragen und im Kutscherhaus wohnen, das nicht grade luxuriös ist.« Schubart zählte all diese Nachteile an den dicken Fingern auf.

»Für mich ist das alles nebensächlich. Ich bin mit allem einverstanden«, erklärte Johannes, ohne auch nur einen Augenblick lang zu überlegen.

»Und was wird Ihre Frau dazu sagen? Was Sie da anstreben, ist ein sozialer Abstieg. Damit wird sie nicht glücklich sein.«

»Meine Frau ist…«, Johannes beendete den Satz nicht, denn er fühlte die Tränen hochsteigen.

»Aha«, nickte Schubart in männlicher Loyalität. »Private Probleme. Kenne ich. Für Sie ist das hier so etwas wie ein Verschwinden von der Bildfläche. Verstehe. Wir wohnen weitab von der Stadt, ziemlich isoliert. Niemand wird Sie hier suchen. Und in der blauen Uniform wird Sie auch niemand erkennen. Ich bin ja kein Unmensch. Wenn ich Ihnen helfen kann, warum nicht. Wir Männer müssen doch zusammenhalten.« Schubart lachte polternd.

Johannes verzog höflich den Mund. Sein Gesprächspartner hatte ihn gründlich mißverstanden, aber auch das war ihm gleich. »Ich bin Ihnen dankbar«, versicherte er mit leichter Verbeugung.

Schubart räusperte sich. »Damit wir uns richtig verstehen. Schenken kann ich Ihnen nichts. Ich bin ein Autonarr, das habe ich Ihnen ja schon erzählt. In meiner Garage stehen sechs Oldtimer und acht neue Modelle verschiedener Baureihen. Es wird Ihre Aufgabe sein, dafür zu sorgen, daß alle tadellos in Ordnung sind. Jedes Stäubchen auf der Karosserie stört mich. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Erwartungsvoll sah der Dicke den Bewerber an.

Roteck nickte. »Sie werden zufrieden sein«, versprach er glaubhaft. Ein Traumjob war es mit Sicherheit nicht, was ihm hier geboten wurde. Aber er würde eine Beschäftigung haben und ein Dach über dem Kopf. Seine Ersparnisse hätten gereicht, um für einige Wochen in ein bescheidenes Hotel zu ziehen, doch er hätte die Untätigkeit nicht ertragen, nicht einen Tag lang.

Walter Schubart wandte sich bereits wieder den Geschäftsberichten zu, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Lassen Sie sich von meinem Butler die Uniform geben und Ihre Behausung zeigen«, meinte er so nebenbei.

»Danke«, sagte Johannes und war sich schon jetzt darüber klar, daß der Chef nichts mit ihm zu tun haben wollte. Außer Anweisungen würde er von ihm nichts mehr zu hören bekommen. Roteck war das ganz recht.

*

Angela Steger war schon seit mehr als zwei Jahren im Haushalt der reichen Familie Schubart. Es war ihre Aufgabe, den zwölfjährigen Sohn Alexander zu betreuen und zu unterrichten. Anfangs war das keine leichte Arbeit gewesen, denn das verwöhnte Kind akzeptierte die Hauslehrerin nicht. Schon mehrere Damen hatte Alexander so genervt, daß sie nach kurzer Zeit kündigten. Natürlich hatte es Alexander auch bei Angela probiert, allerdings ohne Erfolg.

Sie reagierte gelassen, wenn sie eine tote Maus in ihrem Bett fand, wenn ihr BH plötzlich am Kronleuchter im Eßzimmer hing oder wenn Käfer, Spinnen oder Mücken halb betäubt zwischen den Buchseiten krabbelten. Sie schrie auch nicht, wenn es unerwartet hinter ihr knallte, wenn der Teppich wegrutschte, weil sich Erbsen darunter befanden, und sie beschwerte sich nicht, wenn ihre Zahnpastatube gegen schwarze Schuhcreme ausgewechselt wurde.

Für sie war dieser Job eine Herausforderung, der sie sich gerne stellte. Das Schwierigste dabei war, den aggressiven Jungen zum Lernen zu bewegen. Alexander war intelligent, aber faul. Deshalb war er in der öffentlichen Schule, wo man sich nicht so intensiv mit ihm befassen konnte, gescheitert. Er war der Ansicht, daß er es gar nicht nötig hatte, etwas zu lernen, denn mit dem Geld seines Vaters würde er sich später genügend Angestellte halten können, die für ihn dachten und arbeiteten.

Angela hatte von Anfang an versucht, ein gutes Verhältnis zu ihrem Schüler aufzubauen. Die Freundlichkeit war zunächst einseitig, und die junge Erzieherin mußte allerhand Rückschläge einstecken. Aber ihre Beharrlichkeit führte schließlich doch zum Ziel. Alexander entdeckte, daß in den Büchern, die er zuvor nie zur Hand genommen hatte, auch interessante Dinge standen.

Als Angela begonnen hatte, ihn zu unterrichten, vermochte er nur mühsam einige Worte zu lesen, doch er lernte schnell, und inzwischen hatte er den Wissensstand gleichaltriger Schüler erreicht. Darauf war die junge Hauslehrerin besonders stolz. Natürlich gab es immer wieder Rückschläge, und dann zweifelte Angela daran, ob es richtig gewesen war, daß sie im schloßartigen Besitz Schubarts ausharrte.

Längst akzeptierte Alexander die Pädagogin. Trotzdem war und blieb er ein Lausbub, dem nie zu trauen war. Als sich Angela an diesem Vormittag auf ihren Stuhl am Schreibtisch setzte, ertönte ein langgezogenes, unanständiges Ge­räusch.

»Oh, oh«, machte Alexander und verdrehte vielsagend die mausgrauen Augen. Zusammen mit dem widerspenstigen roten Haar und der etwas spitzen Nase gaben sie dem Jungen das Aussehen eines lustigen Kobolds.

Angela lachte über den harmlosen Scherz, holte eine Gummiblase unter ihrem Stuhlkissen hervor und ging zur Tagesordnung über.

»Du solltest gestern noch den französischen Text übersetzen. Würdest du ihn mir bitte vorlesen?« Angela lächelte ihren Schüler gewinnend an. Sie war eine hübsche junge Frau, was ihr diesen Job gewiß erleichterte. Mit ihren 29 Jahren war sie jung genug, Verständnis für die Interessen des Zwölfjährigen zu haben. Da er kaum Freunde hatte, spielte sie in der Freizeit Basketball oder Fußball mit ihm und imponierte Alexander durch ihre Sportlichkeit.

»Der Text ist bescheuert«, brummte Angelas Gegenüber trotzig. »So blöde Sachen mag ich nicht übersetzen.« Verächtlich schnaubend hieb der rothaarige Junge auf das Buch.

Angela wußte, es hatte keinen Sinn auf der Forderung zu bestehen. Mit Toleranz kam sie in diesem Fall weiter. Sie überging den Ärger und sah Alexander freundlich an. »Du hast recht, die Texte in den Schulbüchern sind manchmal nicht besonders einfallsreich. Lassen wir das also. Ich schlage vor, wir legen statt dessen eine CD in den Computer und sehen uns einen Film an.« Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen war Angela technisch versiert und benutzte gerne moderne Unterrichtsmethoden. »Ich habe da eine ganz neue Story. Sie wird dich interessieren.«

»Deutsch?« erkundigte sich Alexander mit wachem Blick.

»Natürlich nicht. Wir haben Französischstunde, das weißt du doch.«

»Sch…« zischte der Junge ungezogen.

Angela tat, als bemerkte sie es nicht. Für sie gab es neuerdings einen stichhaltigen Grund, bei den Schubarts zu bleiben. Dieser Grund hieß Johannes Roteck und war der neue Chauffeur. Er war freundlich und pflichtbewußt, aber er sprach mit keinem. Seine schönen braunen Augen wirkten traurig, und wenn Roteck sich unbeobachtet glaubte, ließ er den Kopf hängen wie jemand, der eine schwere Last zu tragen hatte. Der neue Mitarbeiter gefiel Angela. Wie ein Flugkapitän sah er aus in der schicken blauen Uniform mit der Schildmütze. Deshalb war es Angelas Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Das war gar nicht so einfach, denn Roteck verschwand im Kutscherhaus, sobald er nicht mehr gebraucht wurde.

Trotz Alexanders Protest flimmerte gleich darauf ein turbulentes Geschehen über den Bildschirm. Zunächst sah der Junge trotzig zur Seite, denn die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. Doch dann zwangen ihn die vielfältigen Geräusche zum Hinsehen. »Spielt das im Weltall?« fragte er interessiert.

»Ja. Im Hintergrund ist die Weltraumstation zu sehen, das wurde schon mehrmals erwähnt. Wenn du genau hinhörst, verstehst du die Unterhaltung. Es sind einfache Sätze. Außerdem können wir das Ganze mehrmals abspielen.«

Angela hatte sich nicht verrechnet. Die Handlung faszinierte den Zwölfjährigen, und so kam das Interesse an der Sprache ganz von selbst. Schon nach dem zweiten Ansehen vermochte Alexander den Test, der zum Lernprogramm gehörte, einwandfrei zu lösen. Als Belohnung für diesen Erfolg kürzte Angela den Unterricht etwas ab und schlug ein sportliches Wettschwimmen im hauseigenen Hallenbad vor.

Der Junge war begeistert. Er wußte zwar, daß die schlanke, zierliche Angela besser und schneller war als er, doch das spornte seinen Ehrgeiz an. Er wollte sich seiner hübschen Hauslehrerin gegenüber keine Blöße geben und mobilisierte all seine Kraft.

Schließlich waren sie beide erschöpft, standen keuchend am Beckenrand und sahen durch die breite Glasfront hinaus in den gepflegten Park. Die ersten Krokusse blühten auf den weiten Rasenflächen, die Gärtner säuberten die Wege und bei den durch hohe Bäume halb verdeckten Garagen polierte Roteck das Lieblingskabrio seines Chefs, einen roten Jaguar. Das war die Aussicht, die Angela am meisten interessierte.

Alexanders Augen folgten ihrem Blick. »Sieht geil aus, nicht wahr?«

»Hm«, stimmte Angela verträumt zu, wobei sie keine Ahnung davon hatte, daß sie von verschiedenen Objekten schwärmten.

»Mit dem möchte ich mal durch die Gegend brettern. Du auch?«

»Hm.« Angela lächelte bei dem Gedanken. Schubart würde nie erlauben, daß der neue Chauffeur sie irgendwo hin kutschierte.

»Was glaubst du, wieviel PS der hat?«

Erstaunt sah Angela zur Seite und begriff, daß der Junge für den Sportwagen schwärmte, sie hingegen für den Mann, der ihn auf Hochglanz brachte. »Keine Ahnung«, gestand sie erleichtert. Beinahe hätte sie in ihrer Zerstreutheit etwas verraten, das unbedingt geheim bleiben mußte.

»Sollen wir Johannes fragen? Der weiß das bestimmt. Er ist schwer in Ordnung. Echt.« Es kam selten vor, daß Alexander eine solche Behauptung aufstellte. Der Neue mußte Eindruck auf ihn gemacht haben.

»Klar«, antwortete Angela spontan. Die Möglichkeit, auf diese Weise mit Roteck ins Gespräch zu kommen, entsprach ihren Wünschen.

*

Bereitwillig zeigte der neue Chauffeur wenig später dem Jungen den Motor des Sportwagens und erklärte ihm die technische Funktion. Alexander staunte, was der Neue alles wußte, und Angela wunderte sich, wie gut er es verstand, mit dem etwas schwierigen Junior der Familie umzugehen.

Sie hielt sich etwas abseits. Ihre dichten braunen Haare, noch naß vom Schwimmen, hatte sie zu einem besonders hübsch geflochtenen Zopf zusammengenommen. Das betonte ihr schmales Profil mit den vollen Lippen und der reizvollen kleinen Nase.

»Angela gefällt der Jaguar auch«, machte Alexander schließlich auf seine Lehrerin aufmerksam.

Johannes, der noch gar nicht bemerkt hatte, daß Alexander nicht allein gekommen war, drehte flüchtig den Kopf und grüßte.

Diese Geste nahm Angela zum Anlaß, näherzukommen. »Sie erklären das erstaunlich gut«, meinte sie und ließ die Bewunderung erkennen, die sie für den neuen Angestellten empfand.

»Das ist leicht, wenn man selbst eine Tochter in diesem Alter hat. Etwas jünger vielleicht…«, meinte er zögernd. »Jessi ist zehn.«

Angela schluckte. Der Neue war also verheiratet und hatte Familie. Das hätte sie sich ja denken können. Wer so fabelhaft aussah wie er, blieb nicht allein. »Kommt Ihre kleine Tochter Sie mal besuchen? Vielleicht mit der Mama?« fragte Angela und versuchte krampfhaft, ihre Enttäuschung zu überspielen.

Johannes schüttelte traurig den Kopf. »Jessi hat keine Mama mehr. Sie lebt in einem Schweizer Internat. Leider konnte ich sie nicht zu mir nehmen. Es wäre hier unmöglich. Sie wissen ja.«

»Das tut mir leid«, murmelte Angela, obwohl dies nicht die Wahrheit war. Sie war froh dar­über, daß es keine Ehefrau gab, denn sie hatte sich in Johannes Roteck verliebt. Ihr gefiel seine ruhige, besonnene Art, auch die Zurückhaltung, die er zeigte. Ihr Wunsch, ihn zu trösten und etwas aufzuheitern, wurde bei jeder Begegnung stärker. »Sie vermissen Ihre Frau wohl sehr?« fragte sie leise.

Johannes gab keine Antwort, nickte nur. Es gab keinen Tag, keine Stunde, in der er nicht an Felicitas dachte. Doch darüber wollte er nicht reden. Er spürte zwar, daß es die junge Lehrerin gut mit ihm meinte, aber er wollte das gar nicht. Er würde allein bleiben mit seinem Kummer, ganz allein.

»Was ist das?« fragte Alexander und zeigte auf einen schwarzen Kasten mit gelben Knöpfchen.

»Das ist die Batterie. Sie liefert Strom für den Anlasser, für die Lampen und alle elektronischen Teile.« Johannes zeigte dem Kind die technischen Raffinessen, über die dieser Wagen verfügte. Er erklärte ihm auch gleich die Neuerungen, die es inzwischen gab. Aufmerksam hörte der Junge zu.

»Die Belegschaft des Hauses Schubart trifft sich zu den Mahlzeiten immer im Raum neben der Küche«, erwähnte Angela in einer Gesprächspause. »Es ist dort für alle Platz, und es geht meistens recht lustig zu. Ich habe Sie aber noch nie dort unten gesehen. Hat man Ihnen nicht gesagt, daß es diese Möglichkeit gibt?«

»Der Butler sprach davon«, antwortete Johannes steif. »Es war mir bisher allerdings lieber, die Mahlzeiten im Kutscherhaus einzunehmen. Es gibt dort eine kleine Küche.« Daß sie nur aus einem Elektrokocher und einem Waschbecken bestand, verschwieg Johannes. Ihm genügte die primitive Kochgelegenheit ohnehin, weil er nie mehr als eine Suppe oder eine Tasse Tee zubereiten würde. Auch der Rest der Behausung war alt und verwohnt. Die Wände mußten dringend gestrichen werden, und die sanitären Anlagen waren unzumutbar. Johannes fand sich damit ab. In seinen Augen waren das Nebensächlichkeiten, die er gar nicht beachten wollte.

»Heute hat der Koch Geburtstag. Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen, denn zu solchen Gelegenheiten strengt er sich mächtig an. Ich werde einen Platz für Sie freihalten.«

Johannes erschrak. »Bitte nicht«, wehrte er sich. »Mir ist nicht nach feiern. Außerdem braucht mich Herr Schubart heute abend.«

»Schade. Vielleicht können Sie noch reinschauen, wenn Sie wieder zurück sind. Wir sitzen sicher länger beisammen.«

»Ich komme auch«, versprach Alexander, und seine grauen Augen signalisierten Interesse, was er den Angestellten gegenüber noch nie getan hatte.

»Schon gut.« Johannes fuhr dem Jungen zärtlich übers rostrote Haar. »Wir werden noch oft Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.« Alexander nahm seine Arbeit wieder auf. Dabei lächelte er sogar ein bißchen.

Angela beobachtete ihn und fühlte, wie ihr Herz rascher schlug. Alexander rannte den Weg zurück, und Angela ging langsam hinterdrein. »Fang’ mich doch!« schrie er, aber diesmal reagierte seine Betreuerin nicht.

*

Jessica war ein kluges Mädchen. Sie wußte, daß es für sie nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder mußte sie künftig bei den Großeltern wohnen oder in diesem Heim, in das Oma Elfi sie gleich nach der Beerdigung ihrer Mami gebracht hatte. Der Papa konnte vorerst nicht für sie sorgen, das hatte er selbst gesagt, und die Oma hatte gemeint, er wäre fertig für immer und ewig.

Wie das gemeint war, hatte Jessica nicht ganz verstanden. Sie spürte aber, daß sie dem Papi Zeit lassen mußte.

Im Heim fand Jessica nette Kameraden, die ihr über den Kummer der ersten Tage hinweg halfen. Sie war froh und erleichtert darüber, daß sie nicht bei Elfi bleiben mußte, die ständig etwas zu nörgeln fand und der Jessica nichts recht machen konnte.

Neben dem Unterricht bot das Heim ein umfassendes Freizeitprogramm, so daß Jessica nicht viel Zeit zum nachdenken blieb.

Riesengroß war ihre Freude, als der erste Brief ihres Vaters eintraf. Seither schrieben sie einander regelmäßig, und Jessica hatte immer viel zu erzählen.

Sie berichtete von kleinen Ausflügen, von den Tieren, die zum Heim gehörten, und von ihren neuen Freundinnen. Auch über die Vorbereitungen fürs Frühlingsfest, das demnächst stattfinden würde, informierte Jessica den Papa in ihren Briefen.

Wann immer die anderen von ihren Eltern erzählten, prahlte Jessica mit ihrem Papi. Für sie war und blieb er der Größte. Er konnte und wußte alles, und je länger sie getrennt waren, um so mehr idealisierte ihn Jessica in ihren Gedanken.

Auch heute saß sie wieder am Schreibtisch in ihrem Zimmer vor einem langen Brief an Johannes. Ihre Zimmerkameradin Sara drängte sie ungeduldig zur Eile.

»Mach doch! In einer Stunde fängt das Frühlingsfest an, und wir müssen uns noch umziehen. In der Turnhalle haben sie schon alle Stühle aufgestellt. Die ersten Gäste kommen auch schon. Sogar der Bürgermeister.« Sara zappelte voll Unruhe.

»Weiß ich ja«, gab Jessi unbeeindruckt zurück. »Ich schreibe gerade, daß fast alle Eltern zu diesem Fest kommen. Mein Papa kann aber nicht, weil er so wichtig für seinen Chef ist. Nicht einmal sonntags hat er frei.« Was für eine Beschäftigung es war, die ihr Vater ausführte, wußte Jessi nicht. Sie war aber überzeugt davon, daß es etwas sehr Anspruchsvolles war. »Und dann muß ich ihm noch schreiben, daß der Joschi, der Hund vom Hausmeister, in der Küche das Fleisch geklaut und die neuen Schuhe der Oberin zerbissen hat.« Jessi kicherte.

»Du, ich bin so aufgeregt«, gestand Sara der Freundin. »Weil ich doch die Hexe spiele.« Sara war aus Bayern und normalerweise nicht aus der Ruhe zu bringen. Doch seit man ihr in dem Singspiel, das die Kinder aufführen würden, eine Hauptrolle übertragen hatte, war sie nervös.

Jessi hatte dieses Problem nicht, denn sie sang im Chor, und das war für sie keine Belastung. »Cool bleiben, es klappt schon«, riet die Zehnjährige ihrer etwas älteren Freundin.

Für Sara war es nicht leicht, den Rat zu befolgen. Sie war in der nächsten Stunde ständig in Bewegung. Keinen Augenblick konnte sie stillsitzen. Weder bei der Begrüßungsansprache durch den Direktor, noch bei der Einstimmung durch den Schulchor war Sara an ihrem Platz.

Dann war es Zeit für die Kostümierung der kleinen Schauspieler. Sie wurden geschminkt und gestylt und bekamen letzte Anweisungen von der Musiklehrerin, die diese Aufführung einstudiert hatte. Sara trug eine furchterregende Hexenmaske mit großer, warzenbesetzter Nase und einem hämisch grinsenden Mund. Das dunk­le Kleid reichte ihr bis auf die Füße und wies viele bunte Flicken auf. Wenn Sara gebeugt an einem Stock über die provisorisch errichtete Bühne ging, saß eine Katze auf ihrer Schulter. Bei den Proben war es ein Stofftier, das aber nicht die gewünschte Wirkung hatte. Deshalb brachte die Musiklehrerin zur Premiere ihren echten Schmusekater mit, ein ruhiges, phlegmatisches Tier, das alles mit sich machen ließ.

Sara war begeistert, und es klappte auch tadellos. Schläfrig thronte der Kater auf ihrer Schulter, als sie die Tür des Hexenhäus­chens öffnete. Die Kulissen waren von den Kindern selbst fantasievoll bemalt worden. Fara, die eine sehr schöne Stimme hatte, stimmte ihr Solo an.

In der Turnhalle war es mäus­chenstill, selbst die kleinen Zuschauer lauschten aufmerksam. Aufmerksam war auch Joschi, der Riesenschnauzer des Hausmeisters. Er hatte zwar zu dieser Veranstaltung keinen Zutritt, verstand es aber, sich heimlich in die vordersten Zuschauerreihen zu mogeln. Dort sah er wie gebannt auf das Tier, das gelassen auf der Hexenschulter saß. Joschi mochte Katzen nicht, und in Verbindung mit einer Hexe erschienen sie ihm doppelt hassenswert. Stufte er schon die gebückte Gestalt als höchst verdächtig und gefährlich ein, so war es der Kater erst recht. Joschi schlich sich seitlich an, um die Situation besser beobachten zu können. Besonders geschickt machte er das nicht, denn er wurde vom Kater bemerkt, der prompt zu fauchen begann.

Für Joschi war das das Zeichen zum Angriff. Mit gesträubten Nackenhaaren und laut knurrend duckte er sich.

Der Kater wiederum sah darin eine Bedrohung, richtete sich auf und wuchs durch einen Katzenbuckel zu doppelter Größe heran. Sein Schwanz wurde dick und buschig, und sein Fauchen übertönte beinahe Saras Gesang.

Sie hielt sich tapfer, obwohl ihr das Katzentier seine gespreizten Krallen in die Schulter drückte. Sie konnte sich zwar selbst nicht sehen, wußte aber, daß der aufgebrachte Kater den furchterregenden Gesamteindruck noch verstärkte. Hänsel und Gretel wichen erschrocken zurück. Das gehörte zwar zum Konzept, kam aber durch die Situation richtig gut zur Geltung.

Was dann geschah, durchbrach allerdings den Rahmen der Handlung. Der Hausmeister, darum bemüht, den störenden Joschi zurückzuholen, stürmte zur Bühne. Joschi sah sein Herrchen kommen und war sich klar darüber, daß man ihn an der Ausübung seiner Pflichten, nämlich die gefährlichen Gestalten in die Flucht zu jagen, hindern würde. Also mußte er handeln, und zwar sofort. Er wollte den Kater samt Hexe stellen und der strafenden Gerechtigkeit übergeben.

Doch es kam anders. Als Joschi bellend vorpreschte, rettete sich der vierbeinige Akteur durch einen kühnen Sprung auf das Dach des Hexenhäuschens. Sara schrie kurz auf, weil der Absprung für sie sehr schmerzhaft war. Die Musik spielte weiter, aber die Hexe war völlig aus dem Konzept gebracht. Sie sah Joschi auf sich zustürzen und streckte abwehrend die Hände aus.

Doch der Angriff galt gar nicht ihr, sondern dem Kater, der Anstalten machte, Joschi von oben anzuspringen. Um das zu verhindern, versuchte der Hund, auf gleiche Ebene zu kommen. Besonders hoch war das mit aufgemalten Lebkuchen verzierte Häus­chen nicht. Deshalb war Joschi der Ansicht, daß er ebenfalls hinaufspringen konnte. Er konnte ja nicht ahnen, daß die Kulisse nur aus dünnen Pappwänden bestand. Joschi setzte zum Sprung an, und noch bevor der Hausmeister eingreifen konnte, landete er auf der provisorisch errichteten Hexenunterkunft.

Der Kater kreischte empört, und im nächsten Augenblick purzelten beide unsanft in die Tiefe, gefolgt von bunt bemalten Pappwänden. Joschi war für das Provisorium eindeutig zu schwer gewesen.

So dramatisch die Aktion für die beiden Akteure und die sich in der Nähe aufhaltenden Laienspieler war, für das Publikum bedeutete das eine unglaublich lustige Zugabe. Die Kinder lachten vergnügt, und auch Eltern und Lehrer amüsierten sich. Das Internat am Züricher See führte in jedem Jahr irgendwelche Theaterstücke vor, doch noch nie war eine Darstellung so fröhlich und begeistert aufgenommen worden.

Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab, und später sah es fast aus, als hätte diese humorvolle Einlage dazugehört. Die Musiklehrerin reagierte sofort. Sie eilte hinzu, stemmte die umgefallenen Kulissen wieder hoch und fing ihren Kater ein, der durch den unerwarteten Sturz verschüchtert und überhaupt nicht mehr angriffslustig war.

Joschi zog es vor, in die Nähe seines Herrchens zu flüchten und die mutige Verfolgung des Katzentiers anderen zu überlassen.

Sara grapschte nach der heruntergefallenen Maske und drückte sie sich erneut vors Gesicht. Vor lauter Schreck erinnerte sie sich nicht mehr an ihren Text und sah hilflos zum Chor hinüber.

Zum Glück traten jetzt Hänsel und Gretel in Aktion, die ohnehin ungeduldig auf ihren Einsatz warteten. Hand in Hand kamen sie näher und begannen, die an dem inzwischen sehr einsturzgefährdeten Häuschen angebrachten Süßigkeiten zu verzehren.

Nun besann sich auch Sara wieder ihrer Rolle. »Knusper, knusper kneischen«, sagte sie mit hoher, verstellter Stimme.

Der Rest des Singspiels verlief ohne Störungen und doch war Sara als Hexe am Ende total erschöpft, und auch der tosende Beifall konnte sie nicht aus ihrem Tief holen.

»Ich schäme mich«, bekannte sie später Jessi gegenüber.

Die Freundin legte tröstend den Arm um Saras Schultern. »Du warst großartig. Alle haben das gesagt. Ich hätte das nie gekonnt.«

Sara schnaubte wütend. »Alle haben gebrüllt vor Lachen.«

»Ja, aber nur, weil der Joschi sich so ulkig verhalten hat. Er war wirklich super. Du müßtest ihn jetzt mal anschauen. Er hat den unschuldigsten, harmlosesten Blick drauf, den du je gesehen hast.«

»Umbringen könnte ich das Vieh«, zischte Sara und rieb sich dabei die Verletzung auf ihrer Schulter.

*

Für Johannes Roteck war es längst zur Gewohnheit geworden, die dunkelblaue Uniform zu tragen und diensteifrig neben dem Auto auf seinen Chef zu warten. Sobald er erschien, hatte Johannes die Tür zum Beifahrersitz aufzureißen und sich ehrerbietig zu verneigen. Nicht jeder hätte das getan, aber ihm war es gleichgültig. Ohne Widerrede tat er, was von ihm verlangt wurde, auch wenn er oft keinen Sinn darin sah. Es war, als seien mit dem Verlust seiner Frau auch sein Stolz und sein Ehrgeiz verloren gegangen.

»Aufsichtsratssitzung!« sagte Schubart an diesem Morgen so laut, daß es seine Frau, die an der Tür stand, hören mußte.

Johannes wußte inzwischen, daß diese kurze Information keineswegs eine Fahrt zum Werksgelände bedeutete, sondern zur Innenstadt, wo ihn Schubart vor einem mehrstöckigen Geschäftshaus anhalten ließ. Das obere Geschoß dieses Gebäudes bewohnte eine junge Dame, die sich Lola nannte und aufreizend kurze Röckchen zu tragen pflegte. Schubart ging nie ohne ein Geschenk dorthin, und oft mußte ihn Johannes zuvor zum Juwelier fahren. Wenn Schubart in dem betreffenden Haus verschwunden war, hatte Johannes ins Werk zu fahren und dort auf dem Parkplatz zu warten. Wie lange, das wurde ihm übers Handy mitgeteilt. Gewöhnlich waren es zwei oder drei Stunden. Es hatte aber auch schon wesentlich länger gedauert, und in solchen Fällen mußte Johannes die Chefin verständigen, die von der Absteige in der Stadt selbstverständlich nichts wußte. Schubart erwartete von seinem Chauffeur Diskretion, und auf Johannes konnte er sich verlassen, weil Roteck ohnehin mit niemand sprach. Das schloß aber nicht aus, daß er sich darüber Gedanken machte und daß seine Achtung vor dem Chef nicht besonders hoch war.

Wortlos kutschierte Johannes den Unternehmer Schubart zu der bekannten Adresse. Dort wurde der Dicke von Lola mit liebevollen Küßchen begrüßt. Das war ihm wohl peinlich, denn er schob die leichtbekleidete Freundin rasch ins Haus.

Johannes fuhr wie immer auf den Parkplatz am Werk und wartete auf Schubarts Anruf. Diesmal kam er schon nach einer Stunde. Johannes fuhr sofort los, traf seinen Chef, der bereits vor dem Haus wartete, und brachte Schubart zu seinem schloßartigen Anwesen zurück. Vorschriftsmäßig hielt er unmittelbar vor der Freitreppe, sprang aus dem Wagen und hielt für seinen Chef die Beifahrertür auf. So wünschte sich das der Dicke, und wenn es klappte, war er zufrieden. Johannes funktionierte wie ein Roboter, und es gab eigentlich niemand, der sich nicht darüber wunderte. Am meisten aber machte sich Angela Gedanken über dieses Verhalten. Johannes tat ihr leid, denn er war immer allein, blockte all ihre Annäherungsversuche ab.

Heute war Post für ihn gekommen, und Angela nahm die Gelegenheit wahr, ihm den Umschlag selbst zu überreichen. Da es gerade Mittagszeit war, suchte sie Roteck im Kutscherhaus auf. Dort war alles noch im alten Zustand, denn Johannes sah seine Umgebung gar nicht.

Da die Klingel nicht funktionierte, verschaffte sich Angela durch lautes Klopfen Gehör. Johannes, der sich gerade eine Suppe zubereitete, brauchte einige Minuten, ehe er zur Tür kam. Er hatte die Uniformjacke abgelegt und sich zum Schutz vor Spritzern ein Küchenhandtuch in den Hosenbund gesteckt. Es sah merkwürdig aus, und er schien sich ausnahmsweise dessen bewußt zu sein, denn er öffnete nur spaltbreit.

»Post von Ihrer kleinen Tochter«, informierte ihn Angela fröhlich und streckte ihm das Kuvert entgegen.

Johannes griff danach, bedankte sich und wollte die Tür sofort wieder schließen.

»Darf ich kurz hereinkommen?« fragte sie mit jenem ­Charme, der jedem Mann aufgefallen wäre.

Johannes zögerte. Er mochte Angela, denn sie bot nicht nur einen höchst erfreulichen Anblick, sie war auch ein rundum liebenswerter Mensch. Stets fröhlich und ohne Launen war sie der Sonnenschein in Schubarts 58-Zimmer-Häuschen.

Roteck zog voll Unsicherheit die Schultern hoch. »Entschuldigen Sie, aber ich bin auf Gäste nicht eingerichtet. Es sieht nicht besonders gut hier aus.«

Angela winkte ab. »Weiß ich ja. Wir können uns trotzdem ein bißchen unterhalten.« Angela trat einfach ein. Sie war der Ansicht, daß Roteck zu den Männern gehörte, die man zu ihrem Glück zwingen mußte.

»Ich bin gerade dabei, mir einen Teller Suppe…« Man roch, sah und hörte es, denn inzwischen kochte der Topfinhalt über, brannte auf der Kochplatte an und verbreitete einen unangenehmen Gestank. Johannes eilte zum Elektrokocher, zog den Topf herunter und verbrannte sich prompt die Finger. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelte er beide Hände.

»Sofort unters kalte Wasser!« riet Angela, die mit Johannes litt. Er ließ den Brief fallen und befolgte Angelas Rat. Die Brandblasen, die sich sofort bildeten, schmerzten höllisch. Morgen würde er keinen Schraubenschlüssel halten können, dabei gab es täglich etwas zu montieren.

»Ich glaube, das war meine Schuld«, meinte Angela zerknirscht. »Es tut mir leid. Ich mache auch alles wieder sauber, und ich sorge für eine Ersatzmahlzeit.«

Johannes schüttelte etwas schwerfällig den Kopf. »Mit Ihnen hat das gar nichts zu tun, Angela. Mir fehlt eben die Übung als Hausmann. Das ist alles. Danke, daß Sie herübergekommen sind, um mir Jessis Brief zu bringen.« Johannes bückte sich. Dabei fiel ihm das lockige dunkle Haar ins Gesicht, was ihn jünger erscheinen ließ, als er mit seinen 34 Jahren war. »Jessis Briefe sind für mich der einzige Lichtblick. Ich liebe meine kleine Tochter und leide sehr unter der Trennung.« Die letzten beiden Sätze nuschelte Johannes wie im Selbstgespräch vor sich hin. Fast schien es, als habe er Angelas Anwesenheit vergessen. Er riß den Umschlag auf und überflog hastig den Briefbogen mit den kindlichen Schriftzügen.

»Jessi kommt mich besuchen«, verriet er, vor Freude ganz rot im Gesicht. »Sie will die Sommerferien hier verbringen. Oma Elfi hat nämlich bestimmt, daß sie im Internat bleiben soll, was ihr sicher keinen Spaß machen würde. Die meisten Schüler fahren zu ihren Eltern.«

Angela, die inzwischen die Kochplatte gesäubert hatte, freute sich mit Johannes. »Das ist eine gute Nachricht. Nun lerne ich Ihre kleine Tochter doch noch kennen. Ich bin nämlich während der Ferien ebenfalls hier. Unser Chef fliegt mit Frau und Sohn in die Südsee auf irgendeine kleine Insel. Wir werden es also sehr ruhig und gemütlich haben. So richtig zum Erholen.«

»O Gott, es geht ja gar nicht«, ächzte Johannes erschrocken. Die frische Farbe wich aus seinem hübschen Gesicht. »Unmöglich! Ich muß Jessi sofort mitteilen, daß, daß…« Ratlos sah Roteck die Hauslehrerin an.

»Was denn? Warum geht es nicht?« Angela schüttete den Rest der Suppe in einen anderen Topf und setzte sie nochmals auf. Schließlich mußte Johannes etwas essen.

»Schauen Sie sich doch um. Ist das eine Umgebung, in der sich ein Kind wohl fühlen kann? Ich kann Jessi doch nicht in dieses vergammelte Kutscherhaus bringen. Sie ist sehr behütet aufgewachsen und auch etwas verwöhnt. Daß man so leben kann wie ich im Moment, würde sie nicht begreifen. Sie würde mich verachten, denn ich hause hier wie ein Landstreicher.« Johannes war froh, daß er seine Bedenken mit jemand besprechen konnte.

Angela sah sich kritisch um. Es war zwar sauber, aber trotzdem alles andere als gemütlich. »Vielleicht müßte man nur die Wände frisch tünchen und ein paar Blumen aufstellen, vielleicht auch einen Teppich für den Raum drüben kaufen.«

»Nein«, ächzte Johannes. »Ich werde Jessi auf keinen Fall in diese Bruchbude führen. Für eine Person mag der Platz gerade noch ausreichen. Für zwei ist er ohnehin viel zu knapp. Wenn mir der Chef nur Urlaub zubilligen würde, könnte ich mit Jessi in ein Hotel ziehen. Aber Schubart besteht auf den gesetzlichen Regelungen. Vor sechs Monaten besteht kein Anspruch auf Urlaub, sagt er. »Ich bin jetzt fünf Monate hier. Während seiner Abwesenheit soll ich das neueste Automodell im Werk übernehmen und einfahren. Dafür benötige ich ohnehin nur zwei oder drei Tage. Was mache ich nur?« Stöhnend raufte sich Johannes die braunen störrischen Locken.

»Essen Sie zunächst die Suppe. Vielleicht fällt uns etwas ein«, meinte Angela kumpelhaft. Lächelnd stellte sie den gefüllten Teller auf den alten, wackeligen Tisch, der gleichzeitig als Anrichte diente.

Johannes genoß es, seit langem einmal wieder bedient zu werden. Er zog den Hocker her und bedankte sich herzlich bei Angela. Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln.

»Leider kann ich Ihnen keinen Platz anbieten, es gibt nur diese eine Sitzgelegenheit. Sorry.« Johannes zuckte die Achseln und schämte sich für seine primitive Unterkunft.

»Kein Problem.« Ohne zu zögern setzte sich Angela auf die Holzkiste neben dem gußeisernen Ofen. »Ich dachte gerade, ob Sie vielleicht für die Zeit, in der Ihre Tochter hier ist, einen oder mehrere Räume in Schubarts Haus bewohnen könnten. Er braucht es ja nicht zu erfahren. Es sind genügend Gästezimmer da, die so gut wie nie benutzt werden.«

»Was sollen die anderen von mir denken?« Johannes runzelte sorgenvoll die hohe Stirn.

»Während unser Chef Urlaub macht, sind nur der Koch, der Butler und ein Zimmermädchen anwesend. Niemand hätte etwas dagegen, und es würde auch niemand etwas verraten, da bin ich sicher.«

»Ich könnte Herrn Schubart ja fragen«, überlegte Johannes, während er die Suppe löffelte.

Angela schüttelte resignierend den Kopf, daß der lange Zopf nach vorne flog. »Das können Sie vergessen. Ganz am Anfang, als ich hier arbeitete, wollte ich meine Mutter kommen lassen, damit sie die Umgebung, in der ich lebe, kennenlernt. Sie wäre nur zwei Tage geblieben, und sie hätte in meinem Zimmer geschlafen. Selbst das hat der Boss strikt abgelehnt. Er hat kein Hotel, hat er gemeint.«

»Hm. Ich weiß, er ist nicht gerade sozial. Aber ich werde Jessi, ich meine meine Tochter, nicht absagen. Es wäre belastend für das Kind, die Ferien im Heim verbringen zu müssen, während die meisten Kameraden bei ihren Familien sind. Eine derartige Härte kann man doch einem zehnjährigen Mädchen nicht zumuten«, meinte Johannes wie im Selbstgespräch.

»Ich meine, es wäre auch für Sie eine große Hilfe, mit Ihrer kleinen Tochter die Ferien über zusammen sein zu können. Ich werde mit den Hausangestellten, die hier bleiben, reden, und ich bin überzeugt davon, sie spielen alle mit.« Angela verschwieg absichtlich, daß die Kollegen den Neuen mißtrauisch beobachteten, weil er mit niemandem sprach und sich immer abseits hielt. Nicht ein einziges Mal war er in den Raum neben der Küche gekommen, den Schubart ›Speisesaal‹ nannte.

»Danke. Sie sind sehr nett zu mir, Angela. Warum?« Es war Johannes bewußt, daß er bei den Kollegen nicht gerade beliebt sein konnte.

Die junge Hauslehrerin zögerte. Dann entschied sie sich dafür, die Wahrheit zu sagen. »Ich mag Sie«, gestand sie mutig.

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Interesse in Rotecks Augen auf. Es war ihm nicht entgangen, daß Angela eine sehr reizvolle junge Frau war. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit Felicitas, aber das hätte er sich auch nicht gewünscht. »Womit habe ich das verdient?« fragte er und verfiel schon wieder in dumpfe Gleichgültigkeit.

Angela ließ sich nicht entmutigen. »Ich weiß, daß Sie ganz anders sind, als Sie sich geben. Irgendwann werden Sie die Trauer überwinden und wieder ein normales Leben führen. Vielleicht kann Ihnen das Kind dabei helfen.« Angelas Stimme klang mitfühlend. Sie war bestimmt nicht die Frau, die Männer ›anmachte‹, doch sie wußte auch, daß Johannes Roteck nie von sich aus die Initiative ergreifen würde. Er war gefangen in seinem Leid wie in einem ausbruchsicheren Käfig.

»Einerseits wünsche ich mir, daß Sie recht haben, andererseits hätte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Frau nicht vergessen will.«

»Das sollen Sie auch nicht. Aber ich bin sicher, sie wollte nicht, daß Sie sich ewig grämen.« Angela sah ihrem Gesprächspartner in die Augen. Das hatte sie schon öfter versucht, doch er war immer ausgewichen. Diesmal wandte er den Blick nicht ab, und es war, als glimme ein winziger Funken Zuneigung in seinen Pupillen.

»Sie haben recht, und doch fürchte ich, daß ich noch lange ein alter, unausstehlicher Griesgram bleibe. Eine schöne, kluge junge Frau wie Sie sollte keine Minute mit so jemand vergeuden.«

»Immerhin sprechen wir miteinander. Das ist ein Fortschritt.« Angela lachte vergnügt.

Etwas hilflos zuckte Johannes die Achseln. »Danke, daß Sie so viel Geduld mit mir haben, und danke auch für die Suppe. Ohne Sie wäre ich heute hungrig geblieben.«

Angela spürte, daß Roteck allein sein wollte, und respektierte das. Sie verließ das Kutscherhaus und ging leichtfüßig hinüber zu dem langgestreckten Luxusbau. Daß Johannes ihr nachschaute, ahnte sie nicht.

*

Diesmal war Jessica aufgeregt und zappelig. Ihre Reisetasche stand gepackt vor der Zimmertür. Von Sara hatte sie sich schon dreimal verabschiedet. Gern hätte sie unten vor dem Portal gewartet, doch das erlaubte die strenge Oberin nicht.

»Es tut mir leid, Sara, daß deine Eltern noch in Australien sind und du deshalb nicht nach Hause kannst. Wenn mein Papa nicht auch in den Ferien arbeiten müßte, hättest du mitkommen können.«

Die Zimmerkameradin winkte ab. »Ich werd’s überstehen. Im November sind meine Eltern eh zurück. Dann beginnt der australische Sommer, und dann ist es dort unerträglich heiß, haben sie geschrieben.«

Vor dem Portal fuhr ein Auto der Spitzenklasse vor, nagelneu mit superteurer Ausstattung. Jessica sah nicht die Luxuskarosse, sondern nur den Mann, der ausstieg. »Papaa!« schrie sie und stürzte fast aus dem Fenster.

»Mann, ist das ein Schlitten. Dein Vater muß enorm viel Geld verdienen«, staunte Sara ohne Neid.

Diesmal blieb ihr Jessica die Antwort schuldig. Sie schnappte ihre Reisetasche, rannte die Treppe hinunter und lief in der Halle in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters. Achtlos ließ sie das Gepäck fallen und klammerte sich jauchzend an Johannes fest.

Er war dem Ansturm kaum gewachsen, denn seine Knie waren schon zuvor weich und drohten jetzt kraftlos einzuknicken. Tränen hatte er in den Augen, und er schämte sich nicht, als sie ihm über die Wangen liefen. Fast wagte er nicht zu atmen, um den Zauber dieser Minuten länger festzuhalten. So lange hatte er sich nach seiner kleinen Tochter gesehnt, nach dem einzigen Menschen, der ihm geblieben war, der zu ihm gehörte. Seine Erregung war so groß, daß er nicht sprechen konnte, nicht einmal ein ›Hallo‹ zur Begrüßung kam über seine Lippen. Überwältigt schloß er die Augen und wünschte sich, die Zeit möge stehenbleiben.

Jessica war ihm ein Stück voraus, denn in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit ließ sie Sentimentalität nicht aufkommen.

»Endlich, Papa! Ich warte schon so lange. Fahren wir gleich? Du kannst dir das Heim ansehen, wenn du mich wieder zurückbringst.«

Hätte die Oberin, die diese erste Begegnung kritisch beobachtete, einen Zweifel an der Echtheit der Beziehungen gehabt, wäre er jetzt ausgeräumt worden. Jessica überschüttete ihren Vater mit einer Menge kindlicher Küsse und Streicheleinheiten, daß Rotecks Tränen noch reichlicher flossen, und er befangen stammelte: »Jessi… meine kleine Jessi.« Es lag so viel Gefühl in diesen Worten, daß sich die Oberin abwandte. In achtzehn Dienstjahren hatte sie schon manche freudige Wiedersehensszene erlebt, doch noch nie war die innige Bindung zwischen einem Kind und seinem Vater so deutlich geworden.

Jessica verließ das Internat, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Nicht einmal an ihre Freundin Sara dachte sie mehr.

Johannes erledigte die Formalitäten und stolzierte steif und noch immer bewegt zu dem neuen Auto, das er für seinen Chef abgeholt hatte und das er nun weisungsgemäß einfuhr. Entgegen der Dienstvorschrift trug er heute keine Uniform, doch Karl Schubart, der mit seiner Familie in die Südsee geflogen war, sah es ja nicht.

Jessica nahm auf der hinteren Sitzbank Platz. Dort hatte Johannes zu ihrer Überraschung einige Päckchen deponiert. Kleinigkeiten waren es, von denen er glaubte, daß sie seiner Tochter Freude machen würden. In dieser Hinsicht hatte er sich nicht getäuscht. Strahlend packte das Mädchen aus und jubelte immer wieder über den Inhalt. Der Vater hatte Jessis Geschmack genau getroffen. Erfreut beobachtete er das Kind im Rückspiegel. Dabei fiel ihm auf, daß seine Tochter Felicitas immer ähnlicher wurde. Jessica hatte langes goldblondes Haar und große blaue Augen, genau wie ihre Mutter sie gehabt hatte. Die bronzefarbene Haut hatte sie ebenso vom Vater geerbt wie die langen dunklen Augenwimpern und die exakt gezogenen Brauen, die ihr Gesichtchen interessant machten. Schon jetzt war Jessica eine kleine Schönheit, allerdings ohne eitel zu sein. Und das machte sie so liebenswert, daß sie überall sofort Freunde fand.

Ein tiefes Glücksgefühl erfüllte Johannes, als er mit Jessica dem Besitz seines Chefs zufuhr. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau empfand er wieder Freude. Er war richtig erstaunt darüber. Bisher hatte er das Gefühl, sich wie eine lebendige Leiche zu bewegen. Nun stellte er überrascht fest, daß er lebte. Er hatte positive Empfindungen, obwohl er fest geglaubt hatte, daß ihm dies nie mehr möglich sein würde. Die Tatsache verwirrte Johannes.

Jessica, die nichts von diesen Gedanken ahnte, plapperte munter. Sie erzählte allerlei Begebenheiten aus dem Internat, teil lustige, teils Ereignisse, die nachdenklich stimmten.

Johannes war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und gab nur knappe Antworten. Jessica störte sich nicht daran. Sie berichtete unbeirrt weiter. »Habe ich dir schon gesagt, daß der Joschi einen Fisch aus dem See geholt hat? Im Gras hat er ihn fallengelassen. Und keiner hat sich getraut, den armen Fisch anzufassen, weil er so gezappelt hat. Ich hab’ ihn ins Wasser zurückgebracht, und er ist weggeschwommen.«

»Das war gut«, lobte Johannes, der nicht ganz bei der Sache war. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er daran, daß er Jessi gleich erklären mußte, daß ihm weder dieses Auto gehörte noch das Haus, nicht einmal das Kutscherhäuschen. Eben bogen sie nämlich auf die Privatstraße ein, die zu Schubarts Grundstück gehörte. Wie von Zauberhand öffnete sich ein schmiedeeisernes Tor. Der gepflegte Park präsentierte sich dem Besucher von seiner schönsten Seite. Wie ein imposantes Schloß lag Schubarts Heim im Sonnenlicht. Die Ziegel der beiden Rundtürme glänzten, und die Fahne auf dem Dach flatterte im Wind.

»Wow!« machte Jessica überrascht. »Das ist ja galaktisch!«

Dieser Ausdruck bedeutete höchste Anerkennung, dessen war sich Johannes bewußt. Deshalb brachte er es nicht fertig, sein Töchterchen zu enttäuschen. Ich werde ihr alles später erklären, vertröstete er sich.

»Dein Haus ist ja viel schöner als das von Oma Elfi. Das muß ich ihr unbedingt schreiben. Weil sie gesagt hat, daß du es nie mehr zu etwas bringen wirst.«

»Sicher hat sie recht damit«, murmelte Johannes, allerdings so leise, daß Jessi ihn nicht verstand.

»Das sieht ja aus wie das Dornröschenschloß in meinem Märchenbuch. Hat es auch so viele Zimmer?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte Johannes, der sich plötzlich elend fühlte, weil ihm die Lügerei nicht lag. Aber sollte er Jessi gleich den ersten Tag verderben, indem er ihr erklärte, welch ein armer Hund er war? Das Kind mußte ihn ja verachten. Es würde ihn für einen jämmerlichen Versager halten, und das wollte Johannes nicht riskieren.

Er fuhr den neuen Wagen zur Garagenhalle und ließ Jessica dort aussteigen. Das große Tor öffnete sich schon, als sich der Wagen näherte. Die verschiedenen Automodelle, die in Reih und Glied nebeneinander standen, wurden sichtbar.

Jessica bekam große Augen. Ihr Mund blieb vor Überraschung offen. »Die gehören alle dir?« fragte sie mit Bewunderung in der Stimme.

Johannes fühlte sich geschmeichelt, aber er bejahte die Frage trotzdem nicht. Er überging sie kurzerhand und zeigte auf den hauseigenen Tennisplatz. »Schau mal, da drüben können wir miteinander üben.«

»Mann, das ist ja… ist ja sagenhaft.« Jessica kam aus dem Staunen nicht heraus. »Daß du es schön hast, hab’ ich ja gewußt, aber so schön…« Das blonde Mädchen schüttelte den Kopf mit dem langen Pferdeschwanz. »Wenn ich das im Internat erzähle, glauben sie mir nicht. Wir müssen unbedingt Fotos machen, Papa. Daß du der beste Ingenieur auf der ganzen Welt bist, hab’ ich ihnen schon gesagt, aber jetzt muß ich ihnen auch sagen, was dir alles gehört. Die werden staunen.«

»Langsam, langsam. Wir müssen da noch über etwas reden«, versuchte Johannes, sein Töchterchen vorzubereiten. Doch Jessica war viel zu aufgeregt, um drauf einzugehen.

*

Die Angestellten des Hauses Schubart, die während des Urlaubs ihres Chefs die Stellung hielten, hatten in dieser Zeit nicht viel zu tun. Deshalb kamen sie auf die Idee, ein wenig Theater zu spielen. Das brachte Abwechslung in die langweiligen Ferienwochen und machte außerdem Spaß.

Johannes ahnte von dieser Verschwörung nichts. Arglos ging er mit Jessica auf das Herrenhaus zu. Der Butler kam ihnen entgegen, grüßte mit höflicher Verbeugung und nahm Johannes die Reisetasche ab.

Roteck war so verblüfft, daß er wie festgewachsen stehenblieb. Er hatte bisher mit dem Butler seines Chefs nur ein paar belanglose Worte gewechselt, und nun wurde er so ehrerbietig empfangen, daß dies nur ein schlechter Scherz sein konnte.

»Des schönen Wetters wegen habe ich für die Herrschaften den Tisch auf der Terrasse decken lassen. Es ist alles bereit, Sie können sofort essen.«

In Johannes Kopf schrillten tausend Alarmglocken. Das Geräusch war so eindringlich, daß er die Augen schloß und schwankte, als habe sich ein Abgrund vor ihm aufgetan.

Jessica bemerkte nichts davon. Sie hüpfte nach Kinderart fröhlich voraus und schien neugierig darauf zu sein, das neue Zuhause kennenzulernen. Ihre Bewunderung für den Vater stieg von Minute zu Minute.

»Komm, Papa, beeile dich. Ich habe Hunger«, rief Jessica von der Freitreppe her.

Johannes hatte sich das alles etwas anders vorgestellt. Unauffällig wollte er zwei Zimmer im Seitentrakt beziehen und die Räume des Haupthauses meiden. Er wollte weder die Terrasse benutzen noch die Salons, die seinem Chef vorbehalten waren. Er wollte auch nicht vom Butler bedient und vom Küchenchef bekocht werden. In diesem Moment war Roteck fest entschlossen, die Sache sofort zu regeln. Doch dann sah er die Begeisterung in Jessis blauen Augen, und er hatte nicht den Mut, die Freude des Kindes schon in der ersten Stunde zu zerstören.

Fast ehrfürchtig sah sich Jessica um, als sie durch die mit Kunstgegenständen überladene Halle und den protzig eingerichteten Wohnraum gingen, dessen wandhohe Glasfront sich zur Terrasse hin öffnen ließ. Tatsächlich war unter dem bunten Sonnenschirm der Tisch für zwei Personen gedeckt. Sehr aufwendig sogar. Da fehlten weder die frischen Blumen noch die Stoffservietten. Sogar an eine süße Überraschung für Jessi war gedacht. Der Koch erschien in seiner weißen Berufskleidung, die hohe Mütze auf dem Kopf. Auf silbernen Platten servierte er allerlei Leckerbissen.

»Das ist wie im Film«, staunte Jessi. »Muß ich unbedingt Oma Elfi schreiben. Die ärgert sich grün und blau!« Jessi rieb sich kichernd die Händchen.

»Laß das lieber«, bat Johannes, der das Gefühl hatte, auf glühenden Kohlen zu sitzen.

Jessicas reizvolles Gesichtchen wurde ernst. »Die war so gemein zu uns. Da werd ich ihr doch schreiben dürfen, daß es dir jetzt besser geht als vorher, weil du nicht mehr für wenig Geld arbeiten mußt wie beim Opa. Mal hast du erklärt, was wahr ist, darf man immer sagen!« Die Kleine nickte selbstbewußt.

»Es ist aber nicht…« Johannes verstummte, weil ihm der Koch, der dekorativ die Speisen vorlegte, auf den Zeh trat. Johannes unterdrückte einen Schmerzensschrei. Finster sah er auf die Köstlichkeiten, die der Küchenchef gekonnt auf seinem Teller arrangierte. Roteck wußte genau, daß er davon nicht einen Bissen zu sich nehmen würde.

Als sich der Koch entfernte, sprang Johannes auf, als hätte ihn die berühmte Tarantel gebissen. »Entschuldige, ich muß mal telefonieren«, erklärte er Jessica und lief ins Haus.

Auf dem Gang zur Küche holte er seinen Kollegen ein. »Was soll denn das? Bin ich im falschen Film? Ich will weder bedient werden noch setze ich mich an Schubarts Platz. Wenn die Sache auffliegt, bin ich der Dumme. Wie kommen Sie denn dazu…?«

Der Koch behielt die Ruhe, denn er war von Natur aus ein gemütlicher Mensch. »Ganz einfach. Wir wollen Ihnen und Ihrem Töchterchen eine Freude machen. Bei der Kleinen ist es uns auch gelungen, das hab’ ich bemerkt. Und Sie sollten sich keine Gedanken machen. Da fliegt nichts auf. Schubart ist in der Südsee, und von uns wird niemand etwas verraten. Genießen Sie den Service, so schwer kann das doch nicht sein. Oder wollen Sie Ihrer kleinen Tochter lieber erklären, daß sie hier den Schützen Bumm spielen und widerspruchslos jeden bescheuerten Befehl des Chefs ausführen? So ’nen Vater wollte ich auch nicht gerne haben.«

»Hm.« Johannes ließ den Kopf hängen. »Aber in Schubarts Bett schlafe ich nicht«, begehrte er auf.

Der Koch lachte gutmütig. »Das ist auch nicht vorgesehen. Wir haben Ihnen die schönsten Zimmer im Seitenbau reserviert. Die Betten sind frisch bezogen, die Bäder ausgestattet mit allem Pipapo.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich dafür bedanken kann«, stöhnte Johannes unglücklich.

»Das wird auch nicht erwartet. So ein bißchen Sommertheater zu spielen, macht uns allen Spaß. Hier ist doch ohnehin nichts los. Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, Johannes. Dazu gibt es überhaupt keine Veranlassung.«

»Sie haben gut reden, aber ich muß Jessi irgendwann das alles erklären. Und dann?«

»Dann sagen Sie die Wahrheit, und die ist später auch nicht ­schlechter zu verkraften als jetzt. Entschuldigung, ich muß mich um den Nachtisch kümmern.«

Der Koch ließ Johannes einfach stehen.

*

»Deine Sekretärin gefällt mir«, erklärte Jessica mit blitzenden Augen.

»Meine was?« fragte Johannes erschrocken. Es war ihm sehr unangenehm, daß sich die Schwindelei immer mehr ausweitete.

»Angela heißt sie«, erläuterte das blonde Mädchen arglos.

»Hat sie gesagt, daß sie meine Sekretärin ist?« Johannes war enttäuscht darüber, daß sich auch die junge Hauslehrerin an den peinlichen Lügen beteiligte.

»Nein. Aber ich habe es mir gedacht.« Für Jessi war die Berufsbezeichnung überhaupt nicht wichtig. Sie überging die Sache einfach. »Angela hat mir das Hallenbad gezeigt, und sie hat gefragt, ob ich nicht zum Schwimmen kommen will. Du sollst auch mitgehen, hat sie gemeint.« Aufgeregt durchstöberte Jessi ihr Gepäck, um den Badeanzug herauszuziehen.

»Ich?« Johannes dachte sofort daran, was Schubart dazu sagen würde, wenn er erfuhr, daß während seiner Abwesenheit die Schwimmhalle vom Personal benutzt wurde. Normalerweise hatten dort nur die Familie und deren Gäste Zutritt. Angela war die Ausnahme, weil sie den Sohn des Hauses beaufsichtigen mußte.

»Eigentlich gerne«, rettete sich Johannes durch eine Ausrede, »aber ich habe noch zu arbeiten. Ich hoffe, du verstehst das. Wenn du magst, fahren wir morgen an einen See in der Umgebung.«

Jessi hatte den bunten Badeanzug gefunden und schlüpfte eilig aus den Jeans, die sie für die Reise getragen hatte. »Ich finde das Hallenbad super! Es gibt keine Schlingpflanzen wie in einem See, und man kann bei jeden Wetter baden. Schade, daß du nicht mitkommen kannst, Paps!« Jessi schnappte sich ein Handtuch, lief herbei, um ihrem Vater rasch noch einen Kuß zu geben, und wirbelte dann davon. Daß sie sich freute, war keine Frage.

Johannes blieb nachdenklich zurück. Es fiel ihm sehr schwer, sein kleines Mädchen zu enttäuschen, aber es mußte sein. Er mußte Jessi sagen, daß hier nichts ihm gehörte, nur die Sachen, die er trug. Mit einem kleinen Köfferchen war er hier angekommen, und er hatte seither auch nichts angeschafft. Wozu auch? Er trug tagaus, tagein die dunkelblaue Uniform. Auch das Auto hatte er den Schwiegereltern überlassen, da sie der Ansicht waren, daß er ohne ihre Hilfe nie dazu gekommen wäre.

Jessi, die von den Sorgen ihres Papas keine Ahnung hatte, traf etwas außer Atem in der Schwimmhalle ein. Dort wartete Angela schon auf sie.

Die junge Frau trug einen Bikini, in dem ihre schlanke, mädchenhafte Figur gut zur Geltung kam. Die langen braunen Haare hatte sie hochgesteckt. »Hat dein Papa keine Lust?« fragte sie etwas enttäuscht.

»Doch, aber er muß arbeiten. Du weißt ja, er hat unheimlich viel zu tun«, tuschelte das Kind vertrauensselig. Jessi war froh, daß sie Angela duzen durfte, denn vom ersten Augenblick an war sie für das Mädchen eine mütterliche Freundin. »Können wir reingehen?« Sehnsüchtig schaute Jessi auf die spiegelblanke Wasseroberfläche. Jedes Mosaiksteinchen am Grund des Beckens war zu erkennen.

»Zuerst abkühlen.« Angela ging mit der Kleinen zu den Duschen. »Du kannst doch schwimmen, nicht wahr?« vergewisserte sie sich.

»Klaro! Das hat mir mein Papa beigebracht«, antwortete Jessi stolz.

»Du magst deinen Vater wohl sehr?« fragte Angela, die sich zu diesem Kind hingezogen fühlte. Nicht weil es Rotecks Tochter war und auch nicht, weil Jessica keine Mutter mehr hatte. Die Zehnjährige hatte ein liebes Wesen, war klug, verständig und aufgeschlossen. Angela war sicher, daß sie gut miteinander auskommen würden.

»Mein Papa ist der allerliebste Mensch auf der ganzen Welt«, schwärmte die Kleine strahlend. »Er ist auch der Tüchtigste, obwohl Oma Elfi das nicht glaubt. Aber wenn sie sehen könnte, wie er hier lebt, würde sie ganz schön staunen.«

Angela lächelte und sah das Kind dabei nachdenklich an. Die Wassertropfen der Dusche glänzten auf Jessis brauner Haut. Wunderschön sah das aus. »Du hättest deinen Papa bestimmt genauso lieb, wenn er nichts besitzen würde«, vermutete sie leise.

Jessi nickte heftig. »Mir ist es gleich, ob er ein Auto hat oder zehn oder gar keines. Ich mag ihn trotzdem.« Jessi rannte voll kindlichem Übermut zum Becken und hüpfte mit einem Kopfsprung ins Wasser.

»Gut machst du das!« lobte Angela. »Besser als Alexander.« Auch Angela war ins Wasser gesprungen, untergetaucht und neben Jessi wieder hochgekommen.

»Alexander, ist das dein Junge?« griff Jessica das Stichwort sofort auf.

»Nein. Alexander, das ist…« Angela überlegte, ob sie Jessi die Wahrheit sagen sollte. Nein, sie wollte dem Vater nicht vorgreifen. Johannes würde sicher die richtigen Worte finden, um seiner Tochter alles zu erklären. »… das ist ein Junge, den ich gut kenne, zwei Jahre älter als du.« Spielerisch dreht sich Angela auf den Rücken und paddelte gekonnt davon.

»Zeigst du mir, wie das geht?« bat Jessica.

*

Als sie etwa eine Stunde später wieder in das Zimmer kam, das Johannes vorübergehend im Seitenflügel bewohnte, war sie bereits umgezogen. Nur das blonde Haar klebte noch feucht an ihrem Kopf. »Das war klasse!« berichtete sie voll Begeisterung. »Angela hat mir Rückenschwimmen beigebracht. Sie kann das einfach super. Sie ist überhaupt schwer in Ordnung. Mit ihr hast du Glück gehabt, Papa. Und soll ich dir mal etwas verraten, Papa?« Jessi trat dicht zu Johannes.

Er saß am zierlichen Schreibtisch des Wohnraums, der zu den beiden Schlafzimmern gehörte. Vor sich hatte er die Rechnung des neuen Autos, das mit zahlreichen Extras ausgestattet war, die gesondert berechnet wurde. Zwei Positionen waren aufgeführt, die zur Grundausstattung gehörten. Deshalb wollte er auch heftig reklamieren.

Jessi beugte sich etwas hinunter und flüsterte ins väterliche Ohr: »Du, Angela mag dich! Das hat sie mir gesagt. Und sie hat gemeint, es wäre ihr gleich, wenn du auch kein großes Haus hättest und nicht so viele Autos und keinen Park mit Tennisplatz.«

Der erste Teil der vertraulichen Botschaft interessierte Johannes nicht so sehr, dagegen griff er den zweiten Teil dankbar auf. »Und du? Wäre es dir auch gleich, wenn ich arm wäre und überhaupt nichts besitzen würde?« forschte er und sah das Kind aufmerksam an.

Jessica zog die Unterlippe zwischen die Zähne, als fiele es ihr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu finden. »Ich bin froh, daß alles hier dir gehört: das Schwimmbad und der schöne Park. Angela hat gemeint, es gibt weiter hinten einen richtigen Spielplatz. Und da gehen wir später hin.« Aus Jessicas Kinderaugen leuchtete die Vorfreude. »Kommst du mit?«

»Vielleicht komme ich nach.« Johannes wußte schon jetzt, daß er es nicht tun würde. Als Chauffeur hatte er sich bei den Garagen und im Kutscherhaus aufzuhalten. Alles andere war für ihn tabu. Eindringlich genug hatte ihm Schubart das gesagt.

»Papa, es ist so schön bei dir!« schwärmte das kleine Mädchen, das für Johannes der wichtigste Mensch war.

Daß sich Jessica wohl fühlte, war sein dringlichster Wunsch. Trotzdem mußte er ihr endlich sagen, daß sie von falschen Voraussetzungen ausging. Wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre. Schweißperlen traten auf Rotecks Stirn. In seiner Funktion als Betriebsleiter hatte er manch schwierige Verhandlung geführt. Doch noch nie hatte er sich so unbeholfen gefühlt.

»Seit dem Tod deiner Mami sind knapp sechs Monate vergangen. In dieser Zeit kann kein Mensch sich einen derartigen Besitz erschaffen«, begann er unsicher.

»Ich weiß. Aber du hast es gekonnt. Ich hab schon immer gewußt, daß du besser bist als alle anderen. Du bist einfach der Größte!« Jessica drückte einen feuchten Kuß auf die etwas stoppelige Wange ihres Vaters. »Überhaupt hast du mir noch nicht gesagt, ob du Angela auch richtig magst.«

Damit nahm das Gespräch eine Wende, und Rotecks Versuch, die Besitzverhältnisse klarzustellen, war erneut gescheitert. Er räusperte sich und wandte sich rasch wieder der Rechnung zu.

»Ich finde Angela nett. Aber mehr auch nicht«, wich er aus.

Jessi war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Wieso? Gefällt sie dir nicht? Ich finde, sie sieht unheimlich gut aus.«

»Mäuschen, ich denke sehr viel an deine Mami. Verstehst du das?«

Mäuschen, das war der Kosename, den Johannes seinem Töchterchen gegeben hatte, als es noch ein Baby war. Wann immer er diesen Ausdruck benutzte, wurde die Verbundenheit zwischen ihnen deutlich. Das Kind legte tröstend seinen Arm um Rotecks Nacken. »Ich denke auch oft an die Mami, aber sie kommt ja nie mehr zurück. Ist es deshalb schlimm, wenn ich gerne mit Angela zusammen bin?«

»Nein, natürlich nicht«, bestätigte Johannes.

»Dann ist es doch bei dir auch nicht schlimm«, folgerte Jessi mit kindlicher Logik.

»Reden wir nicht mehr darüber«, meinte Johannes, der sich über seine Gefühle selbst nicht im Klaren war. Einerseits war er gerne in Angelas Gesellschaft, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen dabei, denn seinen Grundsätzen nach durfte das nicht sein. Er wollte seiner verunglückten Frau treu bleiben, auch über den Tod hinaus. Dabei sah er mehr und mehr ein, daß es nicht möglich sein würde. Er war nicht der Typ, der als Einsiedler leben konnte.

Da sich Roteck wieder den Unterlagen auf dem Schreibtisch zuwandte, wollte ihn Jessica nicht länger stören. »Darf ich mich noch ein wenig umsehen?« fragte sie schüchtern.

»Warum nicht?« antwortete Johannes, der keine Gefahr darin sah. Er konnte ja nicht ahnen, was das Kind alles so aufstöbern würde.

Schon zehn Minuten später war Jessi wieder zurück, das kleine Gesichtchen rot vor Aufregung. »Wem gehören die Spielsachen in dem Zimmer mit dem großen Balkon?«

»Spielsachen?« wiederholte Johannes, der keine Ahnung davon hatte, was sich in den einzelnen Räumen verbarg. Er hatte das Herrenhaus bisher nur zweimal betreten und war dabei nur bis in die Halle gekommen.

»Weißt du denn nichts davon?« forschte das kleine Mädchen erstaunt. »Hast du denn noch nie in alle Zimmer geschaut?«

»Es ist… ist mir aber noch nicht aufgefallen.« Roteck fühlte sich absolut nicht wohl bei dieser Aussage. Unterm Tisch scharrte er verlegen mit der Schuhspitze auf dem Teppich. Blöde Situation! Wieder einmal holte Johannes tief Luft, um die heikle Angelegenheit zu klären.

Doch Jessica kam ihm zuvor. »Da ist eine riesengroße Autorennbahn mit Boxen und Tankstellen und Tribünen. Und ganz viele Autos sind da, und Flugzeuge, und Drachen und ein Computer mit Spielen…«

»Ach so, das meinst du.« Johannes wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn. »Das gehört alles dem Jungen, der hier wohnt.«

»Wohnt? Du meinst, der hier gewohnt hat, bevor du gekommen bist«, versuchte Jessi richtigzustellen. »Und die Kleider, die in dem Zimmer mit den vielen Schränken hängen, gehören sicher seinen Eltern.«

»So ist es«, bestätigte Johannes aufatmend. Er resignierte, denn er fand einfach nicht den Mut zur Wahrheit.

»Darf ich mit den Sachen spielen?« Jessi hüpfte ungeduldig neben ihrem Vater auf und ab. Für sie war das alles wie ein aufregendes Abenteuer.

Für Johannes war es das noch mehr, denn bei ihm kamen noch quälende Gewissensbisse hinzu, von denen seine kleine Tochter keine Ahnung hatte. »Du darfst nur nichts verändern. Stelle alles wieder an denselben Platz zurück.«

»Wieso? Kommt der Junge denn zurück?«

»Schon möglich«, antwortete Roteck ausweichend. Heimlich schalt er sich selbst als feige. Je länger er das blöde Spiel mitmachte, um so mehr schwand seine Selbstachtung.

»Dann könnte ich ja mit ihm spielen«, freute sich Jessi, die sich über die Hintergründe keine Gedanken machte. »Was meinst du, wann er kommt?« Roteck seufzte. »Weiß ich nicht.« Er stand den Fragen des Kindes sonst gerne Rede und Antwort, doch dieses Thema war ihm mehr als unangenehm.

»Ich werde Angela fragen«, entschied Jessi und wirbelte davon.

»Laß das lieber«, rief ihr der Vater nach.

*

»Wer ist das auf dem Bild?« Jessica stand vor einem Gemälde im Wohnraum und sah kritisch zu dem schweren vergoldeten Rahmen auf.

Nur flüchtig sah Johannes hin. »Das ist Schubart«, gab er Auskunft.

»Der, dem die vielen Anzüge gehören?« Jessica sah ihren Vater leicht nicken und verzog das hübsche Gesichtchen. »Den mag ich nicht.«

Roteck hätte ihr gerne zugestimmt, unterdrückte diesen Wunsch aber. Das Telefon läutete gerade, und er nahm arglos ab. Eine Woche lang wohnte er bereits mit Jessica im Herrenhaus. Während dieser Zeit waren einige Anrufe für Schubart gekommen. Er hatte die Geschäftsfreunde und auch Lola vertröstet. Doch diesmal wollte niemand wissen, wann die Familie wieder zurückkam. Diesmal war der Chef selbst dran.

Johannes verschlug es die Sprache. Vor lauter Schreck konnte er keine Antwort geben. Das war auch gar nicht nötig, denn Schubart erwartete keine Erwiderung. »Wir landen in zwanzig Minuten in Frankfurt. Holen Sie uns ab und seien Sie pünktlich!« polterte der Hausherr.

Noch eine ganze Weile hielt Johannes den Hörer in der Hand, obwohl das Gespräch längst unterbrochen war. Er schaute auf den Kalender, schaute auf seine Uhr und begriff nicht, was er eben gehört hatte. Vier Wochen hatten die Schubarts bleiben wollen. Davon waren noch nicht einmal zwei Wochen um. »In zwanzig Minuten«, murmelte er verwirrt, »dabei weiß jeder, daß man von hier aus mehr als eine Stunde nach Frankfurt fährt, selbst, wenn es bestens läuft.« Käsebleich war Roteck plötzlich im Gesicht, denn es war ihm klar, daß Schubart einen Grund dafür gehabt haben mußte, den Urlaub abzubrechen. Einen triftigen Grund!

»Mußt du weg, Papa?« fragte Jessica, die sich in dieser Woche erstaunlich gut erholt hatte. Das Braun ihrer reinen Haut hatte sich vertieft, die Wangen waren etwas rundlicher geworden, und die Augen strahlten.

»Ja. Ich muß mich beeilen. Bitte gehe zu Angela. Vielleicht kann sie einen Spaziergang mit dir machen. Ihr braucht nicht vor Abend wieder zurück sein.« Johannes bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Es gelang nur unvollständig.

Jessica, die bereitwillig davonschlenderte, bemerkte es, und auch der Butler, der kam, um den Tisch abzuräumen.

»Schubart ist im Anmarsch, besser gesagt Anflug«, informierte er ihn im Hinausgehen. Dieser Hinweis schien auch den sonst so gelassenen Butler zu erschüttern.

»Donner und Doria«, fluchte er ganz gegen seine Gewohnheit, sich betont vornehm zu geben. Er schritt auch nicht wie sonst hoheitsvoll davon, sondern hetzte plötzlich mit wehendem Jackett durch den Flur in Richtung Küche, um auch dort die Hiobsbotschaft zu verbreiten.

In der nächsten Stunde wurde dort auffällig laut und hektisch geklappert. Das Hausmädchen wurde auf den Plan gerufen und mußte die beiden hektisch werkelnden Herren unterstützen. Da wurde geputzt, gescheuert und aufgeräumt. Türen und Fenster wurden geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Der Butler betätigte die Sprayflasche mit dem Rosenduft, den die Chefin so liebte, den aber alle anderen als muffig empfanden

Johannes fuhr inzwischen zum Flughafen, mißachtete dann sämtliche Geschwindigkeits-Beschränkungen und überholte so riskant, daß er befürchten mußte, von der Verkehrsstreife angehalten zu werden. Doch zu diesem Zeitpunkt war ihm alles egal. Er war überzeugt davon, daß Schubart seinetwegen zurückkam, und in diesem Fall war er seinen Job ohnehin los.

Roteck war schweißgebadet, als er schließlich vor der Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens hielt. Vierzig Minuten hatte er gebraucht. Eine Fahrzeit, die an einen Rekord grenzte und die ihm vermutlich noch eine Verwarnung oder gar einen Strafzettel einbringen würde.

Auf etwas unsicheren Beinen näherte sich Johannes dem Meeting-Point, der als Treffpunkt vereinbart war. Tatsächlich stand dort die Familie mit ihren Gepäckstücken und war offensichtlich äußerst schlecht gelaunt.

»Sie haben zwanzig Minuten Verspätung!« maulte Rotecks Chef sofort und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Es ist eine Unverschämtheit, uns so lange warten zu lassen! Das wird ein Nachspiel haben, Roteck!« Schubarts Augen funkelten hinter der Brille.

Johannes erwiderte nichts, denn er hätte seinen Chef ohnehin nicht von seiner Unschuld überzeugen können. Wortlos nahm er die beiden Schrankkoffer, um sie zum Auto zu tragen. Sie waren so schwer, daß Roteck fast in die Knie ging. Ächzend sah er sich nach einem Kofferwagen um.

Schubart, der ihn beobachtete, bemerkte es und schimpfte laut. »Stellen Sie sich nicht so an, Roteck. Wegen dieser zwei Köfferchen einen Wagen zu holen, ist lächerlich. Außerdem haben wir bereits Aufenthalt genug. Nach siebzehn Stunden Flug würden Sie auch keine Verzögerung mehr dulden.«

Mit großer Anstrengung wuchtete Johannes die beiden überdimensionalen Gepäckstücke in den Kofferraum. Es brauchte allerhand Geschick, sie überhaupt unterzubringen. Danach hatte er noch die beiden Reisetaschen und Alexanders Surfbrett einzuladen. Diese Sachen mußten zum größten Teil in den Innenraum, was Schubarts Protest weckte.

»Sie sind unfähig, Roteck«, warf er bösartig seinem Chauffeur vor. »Da kommen Sie mit einem großen neuen Auto und bringen nicht einmal das bißchen Gepäck unter.«

»Es ist zuviel«, antwortete Johannes knapp. Da er das Gefühl hatte, schikaniert zu werden, war er nicht mehr bereit, jede Kritik wortlos einzustecken.

Schubart nörgelte ununterbrochen. Zunächst fuhr Roteck nicht rasch genug weg, dann wählte er eine Schnellstraße, was dem Boss auch nicht gefiel. Als sie endlich auf der Autobahn waren, gab Roteck seinem Chef bald zuviel, bald zuwenig Gas.

Johannes wäre am liebsten ausgestiegen, um Schubart das Steuer zu überlassen. Doch noch beherrschte er sich.

Hausmädchen, Butler und Koch standen zur Begrüßung der Familie bereit, als das schwere Fahrzeug auf das Grundstück einbog. Jeder der Angestellten übernahm bereitwillig ein Gepäckstück, um es ins Haus zu tragen. Doch Schubart wehrte ab.

»Lassen sie das«, polterte er. »Das ist Sache meines Chauffeurs!«

*

Es war nicht sonderlich warm an diesem Tag, doch Rotecks Hemd war durchgeschwitzt, als er mit den beiden Koffern in der oberen Etage war.

»Sie sind unglaublich lahm«, kritisierte Schubart, der ihm zusah, die Hände in den Hosentaschen, ein herausforderndes Grinsen im feisten Gesicht.

Johannes, normalerweise ruhig und friedfertig, stellte die beiden Koffer unmittelbar vor Schubarts Zehen ab. »Vielleicht wollen Sie es mal versuchen«, antwortete er in mühsam unterdrücktem Zorn.

Schubarts rundes Gesicht rötete sich, und sein vorgewölbter Bauch wurde noch dicker. Ähnlich wie bei einem Luftballon, den man aufpumpte.

»Sobald Sie hier fertig sind, melden Sie sich in meinem Büro!« ordnete er mit lauter Stimme an. Im ganzen Haus war dieser Befehl zu hören, und die übrigen Angestellten zogen automatisch den Kopf zwischen die Schultern.

Johannes war entschlossen, sich eine derartige Behandlung nicht länger gefallen zu lassen. Es war, als rüttle ihn Schubarts Geschrei aus einer Starre auf, aus der er sich bisher nicht befreien konnte. Lange genug hatte er sich von diesem Mann herumkommandieren lassen. Gleichgültig hatte er Arbeiten verrichtet, die weit unter dem lagen, was er leisten konnte. Jetzt war Schluß!

»Ich komme gleich in Ihr Büro, denn die beiden Reisetaschen sind nicht schwer. Die kann das Hausmädchen aus dem Auto holen. Und das Surfbrett will der Junior sicher selbst hochtragen.«

»Sie tun, was ich Ihnen sage!« schrie Schubart, der keinen Widerspruch duldete.

»Nicht mehr!« Johannes war die Ruhe selbst. Sein Blick war fest, seine Haltung souverän. Endlich wußte er, was er wollte: heraus aus dem miesen Kutscherhaus und der Abhängigkeit von einem bösartigen, despotischen Mann. Ab sofort hatte er wieder ein Ziel, denn es war ihm klar geworden, daß er die Verantwortung für sein Töchterchen trug. Für Jessi wollte er den Kampf um eine bessere Zukunft aufnehmen.

»Das ist Befehlsverweigerung! Wenn Sie sich nicht sofort entschuldigen, muß ich Ihnen kündigen.« Schubart brüllte, daß dem Hausmädchen vor Schreck das Schminkköfferchen der Hausherrin aus der Hand fiel. Der Verschluß öffnete sich, und die Utensilien kullerten die Treppe hinunter. Es kamen da einige Dinge zum Vorschein, die nicht für die Augen des Personals bestimmt waren.

Auch Schubart bekam das mit, was seine Stimmung nicht gerade verbesserte. Steif wie ein Soldat bei der Wachablösung stolzierte er in sein Büro, gefolgt von Johannes, dem das alles wie eine Theateraufführung vorkam. Fast war es, als sei der Zwang zur Traurigkeit von ihm abgefallen. Er lächelte.

Schubart empfand das als Provokation. »Sie sind fristlos entlassen«, zischte er, sobald Johannes die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Darum wollte ich ohnehin bitten«, antwortete Roteck unbeeindruckt.

Der Dicke verzog das Gesicht, als hätte man ihm Galle eingeflößt. »So? Einen Versager, über den ich mich nur ärgern muß, bekomme ich an jeder Ecke!« Schubart drohte Johannes mit der geballten Faust.

Auf Roteck wirkte das keineswegs einschüchternd. »Aber vielleicht keinen, der stundenlang stillschweigend wartet, wenn sie bei der Aufsichtsratssitzung sind.« Johannes betonte das Deckwort so, daß jedem die entfremdete Benutzung aufgefallen wäre.

»Diese Frechheit kommt Sie teuer zu stehen, Roteck. Ich werde Ihnen Kost und Logis vom Lohn abziehen! Ich habe wahrhaftig Ärger genug mit meiner Familie, da kann ich wohl erwarten, daß wenigstens meine Angestellten spuren.« Schubart hieb mit der geballten Faust auf den Schreibtisch, daß der Papierkram, der dort lagerte, in die Höhe flog.

Trotz dieses Wutausbruchs war Johannes erleichtert, denn Schubart ahnte nichts von der heimlichen Benutzung seiner Räume. Somit hatten wenigstens die übrigen Angestellten nichts von ihm zu befürchten. Wenn er früher zurückgekommen war, dann hatte das vermutlich damit zu tun, daß seine Frau hinter das Geheimnis der ›Aufsichtsratssitzungen‹ gekommen war. Für diese Version sprach auch, daß die Chefin während der Fahrt kein Wort redete und ihren Mann nur mit eisigen Blicken bedachte.

»Wenn Sie glauben, daß Sie für das Kutscherhaus Miete verlangen können, kann ich Sie nicht daran hindern«, erwiderte Johannes großzügig. »Verpflegt habe ich mich allerdings selbst.«

»Das interessiert mich nicht!« geiferte Schubart, der erkannt hatte, daß er in diesem Gespräch der Unterlegene war. »Sie werden auf Ihren Lohn für die letzten beiden Monate verzichten. Und lassen Sie sich bloß nicht einfallen, die Summe einzuklagen! Ich habe einen guten Anwalt.«

Johannes zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich streite mich nicht um Kleinigkeiten! Allerdings muß ich jetzt Ihr Telefon benutzen, um einen Wagen zu leasen.« Ungeniert griff Johannes nach dem Hörer.

Schubart war so verblüfft, daß er es nicht verhinderte.

*

Johannes war froh, daß die Kollegen seine und Jessis Sachen ins Kutscherhaus zurückgebracht hatten, während er den Chef und seine Familie vom Flugplatz abholte. Nun packte Johannes in aller Eile seine wenigen Habseligkeiten zusammen. Das Auto wurde gebracht, und Johannes lud alles ein. Er war froh, daß Angela und Jessi erst von ihrem Spaziergang zurückkamen, als alle Vorbereitungen getroffen waren.

Das kleine Mädchen hielt einen Strauß bunter Wiesenblumen in den Händen, den es glücklich dem Vater entgegenstreckte.

»Für dich!« Jessicas blaue Augen leuchteten dabei.

Johannes fing sein Töchterchen auf und drückte es innig an sich. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich befreit von jenem Druck, der auf ihm lastete. Er konnte wieder durchatmen.

»Den Strauß nehmen wir mit.«

»Wohin?« fragte Jessica erstaunt. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, weshalb Johannes vor den Garagen auf sie wartete, aber sie spürte, daß sich etwas verändert hatte.

»Wir fahren in Urlaub. Irgendwohin…«

»Warum?« erkundigte sich die Kleine verständnislos. »Hier ist es doch so schön, und es ist alles da, was Spaß macht.«

Johannes ging nicht darauf ein. »Wir suchen uns ein schickes Hotel, in dem du dich ebenso wohl fühlen wirst.«

»Kommt Angela auch mit?« Jessica sah sich nach ihrer Begleiterin um.

Die junge Hauslehrerin, die mit bangem Blick dabeistand, schüttelte rasch den Kopf. »Ich habe hier noch zu tun. Aber vielleicht kann ich nachkommen.« Sie ahnte, daß die fast fluchtartige Abreise für Johannes die einzige Möglichkeit war, vor Jessica sein Gesicht zu wahren.

Jessis Blick wurde traurig. »Oh, wie schade«, schnupfte die Kleine betrübt. »Ich mag sie doch so… Papa, kannst du nicht sagen, daß sie mitkommen soll?« Bittend schaute das Kind zu Johannes auf.

Er zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir leid, Jessi. Bitte, steig ein, damit wir losfahren können. Deine Sachen sind bereits im Kofferraum.«

Jessi sah zwischen den Erwachsenen hin und her und fühlte, daß da nichts zu machen war. Spontan rannte sie zu Angela und schlang beide Arme um ihre Taille. »Ich hab’ dich lieb«, flüsterte sie sehnsüchtig.

»Ich hab’ dich auch lieb«, antwortete die junge Frau gerührt. »Und ich verspreche dir, daß ich euch besuchen komme, ganz gleich wo. Hier ist meine Telefonnummer. Du kannst mich immer erreichen.« Angela zog ein kleines Kärtchen aus der Tasche und reichte es Jessi.

Jessica griff danach und drückte den Kartonstreifen an ihre kindliche Brust. »Ich rufe dich an, ganz bestimmt«, versprach sie und stieg rasch in den Fond des Wagens.

Angela war inzwischen nahe zu Johannes getreten. Ihre klaren grünen Augen sahen ihn aufmerksam an. »Sehen wir uns wieder?« fragte sie mit einer Stimme, der man die Erregung anhörte.

Noch am Tag zuvor hätte Johannes nicht gedacht, daß ihm der Abschied schwerfallen könnte. Nun war es doch so. Er wußte, daß er Angela vermissen würde.

»Ich möchte mich bei ihnen bedanken, Angela. Sie haben viel für mich getan. Vielleicht sah es zunächst so aus, als würden all Ihre Bemühungen keinen Erfolg haben. Leider habe ich erst heute begriffen, daß es so nicht weitergehen kann. Und das wird es auch nicht.«

»Was haben Sie vor?« erkundigte sich Angela interessiert.

»Nachdem mir Schubart gekündigt hat, werde ich mir einen neuen Job suchen. Diesmal einen, bei dem ich mehr gefordert bin.«

Angela wurde blaß. »Daß Sie Ihre Stelle verloren haben, ist meine Schuld.«

»Nein. Ich wollte mir nur nicht länger alles gefallen lassen. Schubart hat den Bogen überspannt. Ich bin froh, daß hier niemand wegen mir Probleme bekommen wird. Danke für alles. Irgendwann melde ich mich wieder.«

»Ich mag Sie sehr gern, Johannes«, bekannte Angela mutig. Sie stellte sich etwas auf die Zehenspitzen und küßte Roteck auf den Mund. Es war eine schüchterne, flüchtige Berührung. Und doch fachte sie einen glimmenden Funken zu einer lodernden Flamme an.

Johannes reagierte erschrocken und ängstlich, denn er spürte, daß sich da etwas anbahnte, dem er nicht ausweichen konnte. Und was noch schlimmer war: er wollte es gar nicht. Er fühlte sein Herz rascher schlagen, spürte, wie das Blut mächtig durch seine Adern strömte. Sein Leben war nicht zu Ende, wie er noch gestern geglaubt hatte. Die Erkenntnis war für ihn so neu, daß er sich erst damit anfreunden mußte.

Fast fluchtartig ging er zu dem geleasten Wagen und fuhr weg. Auf seinen Lippen brannte noch Angelas Kuß, und seine Empfindungen waren in Aufruhr. Kein einziges Mal sah er sich um.

Jessica hingegen winkte Angela zu, bis nichts mehr von ihr zu erkennen war. Das Kind wußte zwar nicht, was während seiner Abwesenheit vorgefallen war, aber es ahnte, daß sich etwas Entscheidendes zugetragen hatte.

Still saß die Kleine hinter Johannes und drückte das Stofftier, das ihr Angela geschenkt hatte, so fest wie nur möglich an sich. Schon nach wenigen Kilometern fielen ihr die Augen zu, denn der weite Spaziergang hatte müde gemacht.

Johannes war das ganz recht. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Rosig war seine Situation nicht. Er hatte keinen Job, kein Zuhause und auch nur eine kleine Summe Bargeld, denn Schubart hatte von seinem ohnehin geringen Lohn noch die Hälfte abgezogen. Trotzdem ließ Roteck keine Sorgen in sich aufsteigen. Er besaß etwas, das mehr wert war als alle materiellen Dinge der Welt: die Liebe seiner kleinen Tochter, und die Hoffnung auf ein neues Glück mit Angela.

Mittlerweile konnte er sich das recht gut vorstellen. Angela war eine wunderbare Frau. Das war ihm in dem Moment bewußt geworden, da er ihren Mund auf seinen Lippen spürte. Sie würde Jessica die Mutter ersetzen. Schon aus diesem Grund durfte er sie nicht enttäuschen.

So niedergeschlagen Johannes in den zurückliegenden Monaten war, jetzt gewann die Zuversicht in ihm die Oberhand. Er fuhr den Bergen zu und hielt vor einem Luxushotel, in dem nur vermögende Leute abstiegen.

Ohne zu zögern fuhr Johannes auf den Parkplatz und hielt an. Sobald das Auto stand, wurde Jessica munter. Verschlafen richtete sie sich auf und rieb sich die Augen aus. »Wo sind wir?«

»Wir sind da, Jessi.«

Ungläubig blinzelte das Mädchen auf die breiten Glas­türen, durch die man in die teppichbelegte Halle schauen konnte. Ein riesiger Blumenstrauß prangte in einer kostbaren chinesischen Vase, die fast so groß war wie Jessica selbst.

Ein Hotelboy kam, um das Gepäck der Gäste entgegenzunehmen.

»Bist du sicher, Papa, daß wir hier…?« tuschelte Jessi besorgt. Während des Spaziergangs hatte Angela Andeutungen gemacht, der dem kleinen Mädchen zu denken gaben. Seither gab es einige Fragen, die Jessica ihrem Vater stellen wollte.

»Ganz sicher«, antwortete Johannes, der einen Ausgleich für die erlittenen Demütigungen suchte. Für einige Tage würden seine Ersparnisse reichen. Danach würde man weitersehen.

Vom Portier wurden Johannes und seine Tochter freundlich empfangen und in ein Zimmer geführt, das einen großen Balkon hatte. Außer diesem Raum gab es noch ein Schlafzimmer und ein Bad in weißem Marmor.

Jessi blieb auch dann noch an der Schwelle stehen, als sie bereits allein waren. Noch immer drückte sie Angelas Stofftier an sich. In der freien Hand hielt sie den inzwischen etwas welken Strauß. »Sollen wir wirklich hier wohnen?« nuschelte das Kind ein wenig ängstlich.

»Gefällt es dir nicht?« forschte Johannes verwundert. Er war der Ansicht, daß sich seine kleine Tochter nur in einer luxuriösen Umgebung wohl fühlen würde, denn daran war sie gewöhnt.

»Ist das nicht zu teuer?« piepste Jessi und wagte gar nicht, sich umzusehen.

»Mach’ dir keine Sorgen, Mäus­chen. Geld haben wir genug«, prahlte Johannes und hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. »Mach’ doch wenigstens ein freundliches Gesicht, damit ich sehe, daß du dich freust.«

Sehr ernst sah Jessi in die dunk­len Augen ihres Vaters.

»Ich finde es spitze, daß du mich so verwöhnst. Aber das muß nicht sein. Ich hab’ dich nämlich auch lieb, wenn wir in ein ganz normales Hotel gehen.«

»Du bist sehr vernünftig, Jessi. Das finde ich großartig. Ich bin sehr stolz auf dich. Aber ich mag nicht, wenn sich ein kleines Mädchen wie du mit so ernsten Fragen beschäftigt. Ich mag, daß du fröhlich bist und deine Ferien genießt. Versprichst du mir das?«

Jessica nickte, obwohl ihre Zweifel nicht ausgeräumt waren.

*

Schubart hatte die Szene vor den Garagen vom Fenster aus beobachtet. Was ihn besonders interessierte, war der Kuß zwischen Angela und Johannes Roteck. Zum ersten Mal fiel Schubart auf, daß die Erzieherin seines Sohnes eine ausgesprochene Schönheit war, eigentlich viel reizvoller als die freizügige Lola. Da seine Frau hinter das Geheimnis der ›Aufsichtsratssitzungen‹ gekommen war, konnte er Lola ohnehin nicht wiedersehen. Also war er auf der Suche nach Ersatz.

Was konnte bequemer sein, als eine Liebschaft im eigenen Haus? Schubart träumte bereits von heißen Nächten mit Angela. Da er und seine Frau getrennte Schlafzimmer hatten, würde es nicht auffallen, wenn er für einige Zeit in den Seitenbau ging.

Voll Vorfreude rieb sich Schubart die Hände. Warum war er bloß nicht früher darauf gekommen? Diese Angela war jung, ­hübsch und intelligent. Letztere Eigenschaft hatte er bei Lola immer vermißt. Sie war auch der Grund dafür, daß die Sache aufgeflogen war. Lola, diese dumme Gans, hatte ihn unter seiner Urlaubsadresse angerufen, und seine Frau fing das Gespräch ab. Es war klar, daß er unter diesen Umständen keine ruhige Minute mehr hatte. Da nützten alle Treueschwüre nichts mehr. Madame war beleidigt. Nicht einmal mit einem hochkarätigen Brillanten konnte er sie versöhnen. Die unnötige Ausgabe ärgerte Schubart ungemein. Diesen Frust hatte er an seinem Chauffeur abreagiert, allerdings nur unvollständig. Um wieder ausgeglichen zu werden, bedurfte es eines angenehmen Erlebnisses. Das erhoffte er sich von Angela.

Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie sie durch den Park ging. Sie hatte eine sehr gefällige Art, sich zu bewegen, fast wie ein Mannequin.

Schubart verließ sein Arbeitszimmer und eilte in den Nebenbau. Erstaunlich rasch manövrierte er seinen rundlichen Körper, der Ähnlichkeit mit einer Kugel auf Beinen hatte, vorwärts. Sein feistes Gesicht glänzte, und die kleinen Äuglein glitzerten begehrlich.

Es sollte so aussehen, als begegneten sie sich zufällig, doch Angela wußte sofort, daß der Chef auf sie gewartet hatte. Er kam nämlich normalerweise nie in den Seitenbau, wo die Zimmer kleiner und die Böden nicht mit Marmor, sondern mit Kunststoff-Fliesen belegt waren.

»Hallo, Angela«, tat Schubart erfreut. »Ich hoffe, Sie haben die freie Zeit genossen. Mein Urlaub war zwar teuer, aber trotzdem nicht das Gelbe vom Ei. Die Kannibalen der Südsee haben mich ganz schön ausgenommen. Darauf verstehen sie sich. Meine Familie wäre sicher gern noch länger geblieben, aber mir hat’s gereicht. Die heimischen Gefilde haben doch auch ihre schönen Seiten.« Schubart taxierte Angela wie ein Rennpferd, das er zu kaufen gedachte.

Ihr war das unangenehm. Peinlich fand sie es, daß er sie mit dem Vornamen ansprach, und diese Gepflogenheit wollte sie gar nicht erst einreißen lassen. »Bitte nennen Sie mich Steger, wie das andere auch tun.« Es fiel ihr schwer, Schubart gegenüber freundlich zu sein, doch sie überwand sich.

»Ich wette, es tun nicht alle«, kicherte der Hausherr. »Der Roteck zum Beispiel, den ich hinausgeworfen habe, hat eben noch ein Abschiedsküßchen kassiert, das habe ich genau gesehen. Beziehungen zwischen dem Personal sehe ich nicht gern, das habe ich sicher schon erwähnt.«

»Johannes Roteck gehört ja nicht mehr zum Personal«, rechtfertigte sich Angela, die gar nicht daran dachte, sich einschüchtern zu lassen.

»In Ihrem Fall will ich auch nicht so streng sein. Wer war übrigens das blonde Mädchen, mit dem Sie vom Spaziergang kamen?« Lauernd beobachtete Schubart die junge Frau. Je länger er sie ansah, um so besser gefiel sie ihm.

»Das war Rotecks Tochter, ein sehr liebes Mädchen.«

»Soso. Ich habe den Eindruck, daß sich hier während meiner Abwesenheit so einiges abgespielt hat. Eigentlich müßte ich Rechenschaft von Ihnen verlangen. Aber davon will ich Abstand nehmen, denn es ist mir an einem guten Verhältnis zu Ihnen gelegen. Speziell zu Ihnen. Ich denke, Sie verstehen mich.«

Angela hatte schon lange verstanden. Ihr war daran gelegen, so rasch wie möglich aus Schubarts Nähe zu kommen. »Entschuldigen Sie, aber ich möchte auf mein Zimmer gehen.« Angela versuchte, seitlich an Schubart vorbeizuschlüpfen.

Doch sein massiger Körper verstellte ihr den Weg. »Ist das so eilig? Im Moment sind noch Ferien. Mein Sohn braucht Sie kaum, weil der faule Bengel lieber vor dem Fernseher sitzt. Da wäre doch genügend Zeit, sich etwas mit dem Papa zu beschäftigen, finden Sie nicht?«

»Ich habe mit Alexander eine Tennisstunde vereinbart«, schwindelte Angela und wich gleichzeitig zurück, denn Schubarts unangenehm riechender Atem streifte ihr Gesicht.

»Mein Sohn und Tennis, das ist doch vergebliche Liebesmüh. Der Kerl ist zu bequem, um sich zu bewegen. Sein Papa ist da ganz anders.« Schubarts tiefliegende Äuglein funkelten temperamentvoll.

»Sind Sie an einem Match interessiert?« fragte Angela ironisch. Seit sie hier war, hatte sie Walter Schubart noch nie auf dem Platz gesehen.

»Nein, ich dachte eigentlich an etwas anderes. Manche sehen auch darin einen Sport.« Schubart lachte anzüglich.

»Dafür bin ich nicht die richtige Partnerin«, antwortete Angela kühl.

»Sie sind sogar goldrichtig, Angela«, versicherte der Dicke, dem das Gespräch großen Spaß machte. »Es soll übrigens Ihr Schaden nicht sein. Ich bin bereit, Ihr Gehalt zu verdoppeln. Na, ist das ein Angebot?«

»Und wenn Sie es vervierfachen, stehe ich nicht zu Ihrer Verfügung. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Ich bin als Hauslehrerin hier, und darüber hinaus läuft gar nichts.« Unerschrocken sah Angela ihren Chef an.

»Sie sollten sich das überlegen, bevor Sie rundweg ablehnen. Sie gefallen mir, Angela, und wer weiß, was sich entwickelt. «

»Ich glaube nicht, daß es Ihrer Frau gefallen wird, wenn ich ihr von dieser Unterhaltung erzähle«, drohte Angela.

»Das werden Sie auch nicht tun«, meinte Schubart zuversichtlich. »Ihnen kann ich es ja sagen, Angela. Ich habe die Absicht, mich scheiden zu lassen. Die ständigen Vorwürfe meiner Frau nerven mich ganz schön. In diesem Zusammenhang könnte ich mir vorstellen, daß Sie ihre Stelle einnehmen. Bedenken Sie, was das bedeutet. Ich bin reich und kann dir alles bieten, was du dir nur wünscht.« Unvermittelt ging Schubart zum vertraulichen Du über. »Ein schneller Sportwagen, ein Ferienhaus in Florida, eine Yacht im Mittelmeer. Alles ist möglich. Finanziell gibt es keinerlei Probleme. «

»Kann ich jetzt gehen?«

»Nur wenn du mir versprichst, daß du mir bald Bescheid gibst.« Schubart versuchte, seinen Arm um Angelas schmale Taille zu legen.

Doch sie wich geschickt aus, sein Griff ging ins Leere. »Den Bescheid kann ich Ihnen schon jetzt geben. Ich verzichte. Um Ihre Frau zu betrügen, müssen Sie sich eine andere suchen.«

»Ich will aber keine andere. Ich will dich, Angela.« Schubarts drängende Stimme klang heiser. Er ließ sich durch den Mißerfolg nicht entmutigen und versuchte einen neuen Start. Diesmal streckte er beide Arme aus, um Angela an seine Brust zu ziehen.

Sie nutzte die Situation, bückte sich blitzschnell und schlüpfte unter seinen Armen an ihm vorbei. Eilig huschte sie in ihr Zimmer und schloß ab. Sie war empört, aber sonst völlig ruhig.

Schubart brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, daß er abgeblitzt war. Verärgert biß er die Zähne aufeinander und zischte feindselig: »Blöde Kuh!«

*

Der Speisesaal des Hotels ›Berggipfel‹ war hell erleuchtet. Auf jedem Tisch stand eine brennende Kerze in einem Blumengesteck, das farblich genau auf die Decke und die Servietten abgestimmt war. Edle Gläser und altes Silber glitzerten im Licht. Ober in korrektem Schwarz eilten dienst­eifrig hin und her und bedienten die anspruchsvollen Gäste mit jener Höflichkeit, die in einem Haus wie diesem erwartet wurde.

Mit gewissem Stolz führte Johannes sein Töchterchen an einen Zweiertisch am Fenster. Im Moment war es draußen dunkel, aber morgen beim Frühstück würde man von diesem Platz aus einen wunderschönen Blick haben.

Im Gegensatz zu den übrigen Gästen, von denen viele elegante Abendgarderobe trugen, war Johannes sportlich gekleidet, denn er besaß im Moment nicht einmal einen Anzug. Trotzdem fühlte er sich nicht wie ein Hochstapler.

Jessica empfand eher, daß sie nicht richtig in diese vornehme Gesellschaft gehörten. Schüchtern nahm sie auf der äußersten Kante des gepolsterten Stuhles Platz und sah sich scheu um.

»Was möchtest du essen, Mäus­chen?« fragte Johannes großzügig. Er fühlte sich gut, denn er war endlich befreit von dem Bewußtsein, ein Geduldeter, ein Mensch zweiter Klasse zu sein.

»Kann ich Pommes haben?« erkundigte sich das kleine Mädchen vorsichtig.

Die Antwort ging unter in einem tiefen Donnergrollen. Fast zur gleichen Zeit flackerte ein greller Blitz über den nachtdunk­len Himmel.

Erschrocken zuckte Jessica zusammen. »Ist das ein Gewitter?« piepste sie furchtsam.

»Sieht aus wie ein schweres Gewitter«, antwortete Johannes. Er faßte über den Tisch und drückte beruhigend die Hand seiner kleinen Tochter. »Brauchst keine Angst zu haben.«

Jessi war nicht die einzige, die sich ängstigte. Es gab unter den Gästen einige Damen, die leise aufschrien, als der dumpfe Schlag zu hören war.

Doch kaum hatten sie sich von ihrem Schreck erholt, folgte der nächste Blitz, der mit seinem zackigen Licht die ganze Umgebung erhellte. Sekunden später krachte der Donner, dessen Gewalt sich direkt über dem frei gelegenen Hotel zu entladen schien.

Diesmal blieben die Damen nicht bei kleinen, spitzen Schreien. Jetzt kreischten sie in Panik auf, denn das Licht ging aus, nur die Kerzen auf den Tischen verbreiteten noch unruhig flackernde Helligkeit.

»O Gott, der Blitz hat eingeschlagen! Gleich wird das Haus brennen«, wurde voll Sorge geäußert.

Der Geschäftsführer versuchte, die beunruhigten Gäste daran zu hindern, den Speisesaal zu verlassen. »Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen, es wird Ihnen nichts geschehen. Wir haben die Situation voll im Griff. Draußen geht ein ziemlich starker Wind, der wohl die Stromleitungen beschädigt hat. Wir verfügen selbstverständlich über ein Notaggregat, das unser Elektriker sofort in Betrieb nehmen wird. Bitte, gedulden sie sich, der Schaden wird schnell behoben sein.«

Inzwischen hatte der Regen eingesetzt und klatschte tosend gegen die Fensterscheiben. Unwillkürlich rückte Jessi etwas von den Scheiben ab. Das Geräusch der dagegen trommelnden Tropfen war fast unerträglich.

Die Unterhaltung im Speisesaal war verstummt, auch das leise Klirren der Gläser und Besteckteile. Angesichts der Naturgewalt schien den Gästen der Appetit vergangen zu sein. Das Gewitter tobte mit unverminderter Gewalt über dem Hotel Berggipfel und dem angrenzenden Tannenwald. Zuckende Blitze spalteten die Baumriesen, deren abgetrennte Teile andere Bäume mitrissen. Dieses tosende Naturschauspiel wollte man den illustren Gästen ersparen, weshalb man rasch die Musiker herbeiholte, die eigentlich erst viel später auftreten sollten.

Doch zum einen waren die munteren Töne trotz Verstärker kaum zu hören, und zum anderen stand der Sinn der Herrschaften nicht nach vergnüglicher Unterhaltungsmusik. Unruhig warteten sie darauf, daß das Licht wieder anging. Doch nichts geschah. Die Speisen aus der Küche blieben aus, weil man auch hier auf den Strom angewiesen war.

Die ersten Gäste fingen an zu nörgeln. »Gewitter hin, Gewitter her, so etwas darf nicht passieren«, protestierte ein älterer Herr. »Komm, Emilie, wir gehen!«

Der Geschäftsführer eilte hinzu. »Bitte, bleiben Sie«, meinte er händeringend. »Ich möchte nicht, daß auf den finsteren Gängen jemand stürzt. Außerdem sind auch die Gästezimmer vom Stromausfall betroffen. Es tut mir außerordentlich leid.«

»Davon habe ich nichts«, meinte der ältere Herr verärgert. »Wir warten jetzt seit zehn Minuten darauf, daß die Notversorgung eingeschaltet wird. Daß dies nicht geschieht, ist eine Schlamperei!« Der Sprecher, ein pensionierter Bankdirektor, war so laut, daß die Worte im ganzen Saal verstanden wurden. Einige Gäste schlossen sich seinem Protest an.

»Kann ich dich für einige Minuten allein lassen?« fragte Johannes seine kleine Begleiterin.

»Wohin gehst du, Papa?« fragte sie bang zurück, denn noch immer tobte draußen das Unwetter. Im Schein der Blitze sah man, daß der Sturm die Bäume bis fast zum Boden bog. In den Pausen schnellten sie zurück und sahen aus wie Riesen, die sich gespenstisch bewegten.

»Ich werde mal sehen, ob ich den Elektriker unterstützen kann.«

»Das ist gut. Du weißt, wie das geht, daß das Licht wieder brennt«, seufzte Jessi hoffnungsvoll.

Johannes erhob sich ruhig, wechselte einige Worte mit dem Geschäftsführer und wurde eilig in den Keller geführt, wo für die Stromversorgung ein separater Raum reserviert war. Dort werkelte ein nervöser Elektriker, unterstützt von einigen Helfern, die so ratlos waren wie er. Man hatte das Notaggregat vorschriftsmäßig angeschlossen und eingeschaltet, aber nichts geschah. Jetzt war man dabei, in aller Eile Schaltpläne zu studieren und Bedienungsanleitungen zu lesen.

»Darf ich mal sehen?« Johannes kannte sich mit derartigen Anlagen aus, die im Werk seines Schwiegervaters gebaut wurden.

Mißtrauisch wurde Roteck angesehen, doch man machte ihm bereitwillig Platz, denn der ratlose Elektriker war für jede Hilfe dankbar.

Johannes griff zum Schraubenzieher. Nur zwei Handgriffe waren nötig, dann nahm das Stromaggregat seine Arbeit auf.

*

Die Männer, die sich zuvor erfolglos bemüht hatten, schauten verblüfft auf das Gerät, das ordnungsgemäß arbeitete. »Sagenhaft!« murmelte der Elektriker und sah Roteck bewundernd an. »War das Zufall oder sind Sie auf diesem Gebiet ein absolutes Ass?« fragte er, noch immer verwundert.

»Ich kenne mich mit diesen Dingern ein bißchen aus«, meinte Johannes bescheiden, wischte sich die Hände ab und ging zurück in den Speisesaal.

Lauter Beifall empfing ihn, denn der Geschäftsführer hatte verraten, daß es sein Verdienst war, daß die Kronleuchter wieder brannten.

»Wir danken Herrn Roteck für seine fachliche Unterstützung. Ihm als Elektro-Ingenieur fiel es offensichtlich nicht schwer, die Stromversorgung umzustellen«, verkündete der Geschäftsführer. »Die Leitung des Hotels wird sich erkenntlich zeigen«, raunte er Johannes zu.

Jessica bekam vor Stolz rote Bäckchen und wurde auf ihrem Polsterstuhl sichtlich ein Stückchen größer. Sie hatte ja schon immer gewußt, daß ihr Papa der Größte war, der Allergrößte! Strahlend sah sie auf ihn, dem der Geschäftsführer überschwenglich die Hand schüttelte.

Bescheiden wehrte Johannes ab und verzog sich rasch an den kleinen Fenstertisch.

*

Das Gewitter ließ nach, die Stimmung im Speisesaal war wieder locker und entspannt. Es wurde wieder geplaudert, getrunken und gegessen. Die kleine Kapelle schaltete den Verstärker ab, den man zuvor mit einer starken Batterie betrieben hatte.

Johannes gab seine Bestellung auf, und der Ober flüsterte ihm zu, daß diese und auch weitere Mahlzeiten auf Kosten des Hauses gingen, weil man ihm sehr zu Dank verpflichtet sei.

Dagegen hatte Johannes nichts einzuwenden, denn wenn er an seinen Etat dachte, wurde ihm ohnehin etwas bang. Die Kosten für die Übernachtung würden seine Ersparnisse schon in fünf Tagen völlig aufzehren. Doch darüber mochte er sich jetzt noch keine Gedanken machen. Er hatte es geschafft, die Fesseln abzustreifen, und das machte ihn irgendwie froh und glücklich.

Nun wurde es doch noch ein gemütliches Speisen. Jessi kaute genußvoll an ihren Pommes, die in einer silbernen Schale serviert wurden, garniert mit allerlei köstlichen Häppchen vom Grill

Auch Johannes hatte heute Appetit. Vorbei war die Zeit der Beutelsuppen und der von Schubarts Koch gezauberten Menüs, die er stets hastig verspeiste und die ihm dann schwer im Magen lagen.

Weder Johannes noch seine kleine Tochter ahnten, daß sie aufmerksam beobachtet wurden. Erst als sie auch den Nachtisch verzehrt hatten, trat ein sehr gepflegt wirkender Herr an ihren Tisch. »Bonrath«, stellte er sich mit leichter Verbeugung vor und reichte beiden freundlich lächelnd die Hand. Dabei behandelte er Jessi wie eine junge Dame, was sie nochmals ein Stückchen größer werden ließ.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Herr Roteck?« fragte er höflich.

Johannes hatte nichts dagegen.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich unaufgefordert an Ihren Tisch komme. Ich bin froh, daß ich Sie durch Zufall treffe, Herr Roteck.«

»Kennen wir uns?« erkundigte sich Johannes erstaunt.

»Nicht direkt. Ich weiß aber, daß Sie Betriebsleiter der Schumann-Werke waren, ein sehr tüchtiger sogar. Ich bin Teilhaber der Rheinelektrik, also von der Konkurrenz. Als ich erfuhr, daß ihr Schwiegervater sich von Ihnen getrennt hat, wollte ich Sie bitten, diese Stelle bei uns zu übernehmen. Aber Sie sind weggezogen, ohne eine Adresse zu hinterlassen. So konnte ich Sie leider nicht erreichen. Die Stelle ist noch immer vakant. Das wollte ich Ihnen sagen, Herr Roteck. Wenn Sie sich dazu entschließen könnten, bei uns anzufangen, würden wir dafür sorgen, daß Sie sofort eine Wohnung bekommen, einen Wagen und ein Gehalt, das sich sehen lassen kann.«

Johannes hätte das Angebot freudig angenommen, wäre nicht Jessi Zeuge dieser Unterredung gewesen. Ihr hatte er erzählt, daß er ein gefragter Manager war, der viel Geld verdiente. Diesen Schein mußte er wahren, sonst überführte er sich ja selbst der Lüge. Nie und nimmer wollte er vor seinem Kind zugeben, daß er praktisch arbeitslos war, ohne Geld und ohne Unterkunft. Solange Jessi Ferien hatte, wollte er die Rolle des wohlhabenden Geschäftsmannes spielen, sonst war er für sie ja nicht mehr glaubwürdig, und das wäre für ihn das Schlimmste gewesen, was passieren konnte.

Er lächelte etwas verkrampft. »Ein interessantes Angebot, aber leider bin ich beruflich stark engagiert, Sie verstehen schon.«

»Wir könnten über Sonderkonditionen verhandeln«, lockte Bonrath, der ein starkes Interesse daran zu haben schien, Roteck für sein Unternehmen zu gewinnen. »Zusätzliche Urlaubstage, Alterssicherung, Gewinnbeteiligung.«

Jessica sah ihren Vater erwartungsvoll an. Wenn sie auch nicht alles verstand, begriff sie doch, daß dem Papa eine großartige Chance geboten wurde.

Er zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir leid, aber ich kann meinen jetzigen Job nicht ohne weiteres aufgeben.«

»Schon klar«, meinte Bonrath bedächtig. »Aber vielleicht überlegen sie es sich. Wir können uns in einigen Tagen wieder unterhalten, meinetwegen auch in einer Woche. Ich halte mein Angebot aufrecht. Übrigens geht es dem Unternehmen Ihres Schwiegervaters seit Ihrem Ausscheiden gar nicht mehr so gut. Schumann hat allerlei Verluste hinnehmen müssen. Geschäftlicher und auch privater Art. Seine Frau hat sich von ihm getrennt und hat die Hälfte des Vermögens eingeklagt. Wenn sie auf dieser Forderung besteht, wird Schumann verkaufen müssen. Es ist zu erwarten, daß wir konkurrenzlos werden. Das sollten Sie bei Ihren Überlegungen bedenken, Herr Roteck. Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Sie zu einer Entscheidung gekommen sind. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie positiv für uns ausfallen würde.« Bonrath verabschiedete sich mit festem Händedruck.

Verunsichert schaute Roteck ihm nach. Was er eben über seinen Schwiegervater erfahren hatte, war keine angenehme Neuigkeit. Wenn Johannes auch nicht das beste Verhältnis zu Karl Schumann gehabt hatte, so wünschte er ihm doch nicht, daß er alles verlor, was er in seinem Leben aufgebaut hatte.

»Papi, ich glaube, das war ein guter Job, den der Mann dir angeboten hat«, tuschelte Jessica, sobald der Fremde außer Hörweite war.

Roteck nickte. »Sogar ganz ausgezeichnet für jemand, der nicht gebunden ist. Aber du weißt ja, daß ich mich ohnehin vor Arbeit kaum retten kann.« Johannes trank sein Glas in einem Zug leer, obwohl das sonst nicht seine Art war. Sofort stand der Kellner bereit, um nachzuschenken.

Jessica sah ihren Vater von der Seite her nachdenklich an. Mit ihren zehn Jahren verstand sie nichts von Geschäften, aber sie spürte, daß Johannes ihr nicht die Wahrheit sagte. Auch Angela hatte während des gemeinsamen Spaziergangs Andeutungen gemacht, über die das kleine Mädchen nachgrübelte.

»Dein Vater liebt dich sehr«, hatte sie gesagt. »Und wenn er es mit der Wirklichkeit nicht so genau nimmt, dann nur, um dich nicht zu enttäuschen. Er will deine Zuneigung nicht verlieren, deshalb macht er sich selbst und anderen etwas vor.« Angelas Stimme dröhnte noch jetzt in den Ohren des Kindes.

»Was ist das für eine Arbeit, vor der du dich nicht retten kannst?« erkundigte sich die Kleine schüchtern.

Johannes winkte ab. »Reden wir nicht darüber. Es ist völlig uninteressant. Wenn du magst, spielen wir noch eine Runde ›Mühle‹, dann ist es Zeit, um zu Bett zu gehen.«

Jessica hätte viel lieber erfahren, weshalb ihr Papa etwas vortäuschte, das es gar nicht gab. Doch sie wagte nicht zu fragen. Johannes gab sich betont fröhlich, aber Jessi entging es nicht, daß er fahrig und unkonzentriert war. Nicht ein einziges Spiel gewann er.

*

»Ich habe dich gerufen, Angela, um mit dir über die Bücherliste zu reden«, begann Schubart, als die junge Lehrerin sein Arbeitszimmer betrat.

Sie war seiner Aufforderung nur widerwillig gefolgt, denn sie wußte genau, daß die Zusammenstellung über die neu anzuschaffenden Schulbücher für Alexander nur ein Vorwand war. Schubarts Frau war mit dem Sohn zur Oma gefahren und würde erst morgen wiederkommen. Das war der wahre Grund, weshalb der Chef ihre Gesellschaft suchte. Angela nahm sich vor, auf der Hut zu sein.

»Du hast da aufgeführt: je ein Buch für Geschichte, Mathematik, Physik, Chemie, Sprachen, Deutsch und, und… Es geht mir ja gar nicht um die Kosten, aber ich bin nicht überzeugt davon, daß der Bengel auch nur ein einziges Mal seine Nase da reinsteckt.«

»Die Bücher entsprechen dem Lehrplan für die 7. Klasse«, rechtfertigte sich Angela. Noch nie zuvor hatte sich der Chef dafür interessiert, was sein Sohn lernte. »Alexander hat im letzten Jahr erstaunliche Fortschritte gemacht, und ich bin überzeugt davon, daß er weiter aufholen wird.«

»Ohne dich hätte er es nie geschafft. Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet, Angela.

»Dafür bin ich ja hier«, meinte sie bescheiden. Noch immer stand sie in der Nähe der Tür, stets bereit, sofort zu verschwinden, wenn Schubart zudringlich wurde.

Bis jetzt blieb er hinter seinem Schreibtisch, musterte sie nur mit unverschämtem Blick.

»Ich möchte mich erkenntlich zeigen, Angela. Was hältst du von einem schicken Essen zu zweit?« Voll Vorfreude fuhr sich Schubart mit der Zungenspitze über die wulstigen Lippen.

»Ich glaube, das wäre Ihrer Frau nicht recht«, wich Angela aus.

»Sie braucht es ja nicht zu erfahren. Ich weiß auch nicht, ob sie sich tatsächlich bei der Oma aufhält. Ist ja auch nicht so wichtig. Ich kann diese Kleinlichkeit nicht ausstehen. Sie zeugt von einem beschränkten Horizont. Da bist du doch ganz anders, eine moderne Frau, die ihre Ansichten nicht aus der Mottenkiste holt.

Wenn Schubart glaubte, daß sie sich geschmeichelt fühlte, hatte er sich getäuscht. Ihr war daran gelegen, das Gespräch so rasch wie möglich zu beenden. »Das mit den Schulbüchern geht doch in Ordnung, oder? Ich werde sie besorgen und Ihnen die Rechnung zuschicken lassen.«

»Okay, einverstanden, obwohl ich nicht einsehe, daß für den faulen Bengel so viel Geld ausgegeben wird. Er wird ohnehin viel zu sehr verwöhnt. Meine Frau kauft ihm teure Designer-Klamotten, die er oft genug in den Altkleidersack wirft, ohne sie auch nur einmal getragen zu haben. Ach, lassen wir das, ich will mich nicht ärgern. Sag’ mir lieber, womit ich dir eine Freude machen kann. Wie wär’s mit einem modischen Kleid? Oder einem hübschen Schmuckstück? Such’ dir in der Stadt aus, was du willst. Die Rechnung geht an mich, und der Preis spielt keine Rolle.« Schubart blinzelte vielsagend.

»Vielen Dank, ich brauche nichts«, antwortete Angela reserviert.

Schubart lachte amüsiert. »Je hübscher eine Frau ist, um so lieber sieht sie in den Spiegel. Und je mehr neue Sachen sie hat, um so größer ist der Spaß. So gesehen brauchst du eine ganze Menge, Angela, denn du bist eine sehr hübsche Frau. Selbst Alexander, der Lauser, hat das schon festgestellt. Der Junge hat keinen schlechten Geschmack. Das hat er von mir!« Selbstgefällig reckte Schubart den zu kurz geratenen Hals.

»Ich denke, wir haben alles besprochen.« Angela drehte sich um und wollte gehen.

»Wir treffen uns in einer Stunde an den Garagen. Da ich im Moment keinen Chauffeur habe, fahre ich selbst«, rief er ihr nach.

Angela tat, als habe sie nichts gehört. Sie ging in ihr Zimmer, schloß ab und nahm sich vor, diesen Raum erst wieder zu verlassen, wenn die Hausherrin und Alexander zurück waren. Sobald der Junge in ihrer Nähe war, würde Schubart sie nicht belästigen.

Um auf andere Gedanken zu kommen, schaltete sie den Fernseher ein. Das Geschehen auf der Mattscheibe interessierte sie allerdings wenig. Sie vermißte Johannes und das Kind. In der vergangenen Woche hatten sie jeden Abend miteinander verbracht, und es war immer schön gewesen. Die Erinnerung an diese Stunden stimmte Angela wehmütig. Würde sie je wieder von den beiden hören? Würde Jessica ihr Versprechen halten, sie anzurufen?

Ein leises Geräusch veranlaßte Angela, sich umzudrehen. Erschrocken erkannte sie ihren Chef, der plötzlich hinter ihr stand.

»Wo… wo kommen Sie her?« stotterte Angela verblüfft. Sie schaute auf die geschlossene Tür, deren Schlüssel sich nicht gedreht hatte.

»Da staunst du, was? Ich habe für uns einen Tisch im ›Königsgarten‹ bestellt. Aber du hat mich versetzt. Eigentlich müßte ich sauer sein. Aber ich gehöre zu den Leuten, die jeder Situation eine gute Seite abgewinnen können. Die Idee, hier auf deinem Zimmer zu bleiben, finde ich gar nicht so schlecht.«

Angela war rasch aufgestanden und einige Schritte zurückgewichen. »Wie… wie kommen Sie herein?« keuchte sie ärgerlich.

»Hast du vergessen, daß es eine Verbindungstür zum Nebenraum gibt? Sie ist zwar immer abgeschlossen, doch als Hauseigentümer besitze ich die Schlüssel.«

»Würden sie bitte wieder gehen!« verlangte Angela streng. Gleichzeitig erwog sie, den großen Schrank vor die Tür zum Nebenraum zu schieben. Schubart sollte sie nicht noch einmal überraschen! Einen Keil würde sie unter den Türspalt schieben, so daß ein Öffnen von der Gegenseite unmöglich wurde.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. Jetzt oder nie, war seine Devise. Er ging auf Angela zu, forsch und selbstsicher lächelnd. »Komm, sei ein bißchen lieb zu mir«, schmeichelte er mit hinterhältiger Freundlichkeit. »Es soll dein Schaden nicht sein.«

Angela war bis zur Wand zurückgewichen. Sie fürchtete sich vor dem Dicken, denn jeder wußte, daß er gewalttätig war.

Schubart näherte sich ihr ohne zu zögern, stemmte rechts und links von ihr die Hände an die Wand und fing so Angela zwischen seinen Armen ein. Ohne Vorwarnung küßte er sie. Dabei störte es ihn nicht, daß die junge Pädagogin den Kopf zur Seite drehte und seine Lippen auf ihr Ohr trafen. »Ich bin verrückt nach dir, Angela!« flüsterte er mit heißem Atem. »Dein schlanker Körper, dein aufreizender Gang, das erregt mich unglaublich. Laß mich hierbleiben, Angela. Wir werden eine unvergeßliche Nacht erleben, und viele weitere werden folgen. Ich bin ein Mann mit Erfahrung und weiß, was Frauen glücklich macht.«

»Wenn Sie nicht sofort gehen, schreie ich, daß das ganze Personal zusammenläuft.« Angela versuchte, den Dicken wegzustoßen, doch er war stärker als sie.

»Das wirst du nicht tun, weil ich sehr lieb und zärtlich sein werde.« Schubarts Lippen näherten sich erneut Angelas vor Ärger rotem Gesicht.

In panischer Angst schlug sie zu und traf den Dicken oberhalb des Auges. Sie erwischte eine empfindliche Stelle, und Schubart schrie auf, mehr aus Wut als aus Schmerz.

»Was erlaubst du dir, du hinterhältiges Biest!« Schubart taumelte zurück, wischte sich über die Schläfe, um nachzusehen, ob da Blut war, und stolperte zur Verbindungstür. »Das wird dir noch leid tun!« prophezeite er.

Angela war sicher, daß dies nie der Fall sein würde. Kaum war die Verbindungstür zu, stemmte sie sich gegen den Schrank, um ihn vor die Öffnung zu bringen. Das war gar nicht so einfach. Nur zentimeterweise konnte sie das schwe­re Möbel bewegen. Doch die Entrüstung über die Frechheit ihres Chefs gab Angela ungeahnte Kraft.

*

»Machen wir morgen wieder eine Wanderung?« fragte Johannes mit gespielte Fröhlichkeit. Er setzte sich, wie jeden Abend, zu Jessi ans Bett, um noch ein bißchen mit ihr zu reden. Durch diese Gespräche waren sie vertrauter geworden, als sie es je waren. Dennoch hatte Johannes bis jetzt nicht den Mut gefunden, mit seinem Töchterchen über seine Situation zu sprechen. Er war der Meinung, daß das Kind nichts von seinen Schwierigkeiten ahnte und deshalb noch immer glaubte, daß er der Größte war. Diesen Nimbus wollte Roteck nicht zerstören. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil er die Befürchtung hegte, daß ihn Jessi nicht mehr gern haben könnte. Er litt darunter, daß er ihr und auch seiner Umwelt etwas vorspielen mußte, und deshalb war dieser Urlaub auch keine Erholung für ihn. Ständig lebte er in der Angst vor Entdeckung. Noch mehr aber bedrückte es ihn, daß er sich den vorgetäuschten Lebensstandard nicht länger leisten konnte. Dieses Luxushotel war enorm teuer, auch wenn man, wie er, für die Mahlzeiten nichts bezahlen mußte.

Jessica spürte seine Sorge und war bedrückt.

Wenn sie miteinander eine Burg besuchten oder an einem Bach entlanggingen, vergaß sie die belastenden Überlegungen, doch abends, wenn alles ruhig war, kamen sie zurück.

»Wann gehen wir wieder zu Angela?« fragte die Kleine und sah ihren Vater aufmerksam an.

»Zu Angela?« Roteck tat, als müßte er sich besinnen, dabei gab es keinen Tag, kaum eine Stunde, in der er nicht an die zierliche dunkelhaarige Frau dachte, die ihn zum Abschied liebevoll geküßt hatte. So sehr er sich auch dagegen wehrte, mußte er sich doch eingestehen, daß sie etwas in ihm wachgerüttelt hatte, das er verloren glaubte.

»Ja, in das große Haus mit dem Park und dem Pool und dem Spielplatz. Es war so schön dort.«

»Gefällt es dir hier nicht?« erkundigte sich Johannes besorgt.

»Doch, schon«, räumte Jessi zögernd ein. »Aber hier gibt es keine Angela. Und außerdem sind wir schon mehr als eine Woche hier, und es ist doch so teuer.«

»Darüber brauchst du dir überhaupt keine Gedanken machen, Mäuschen. Wir bleiben, solange es uns gefällt. Weißt du, dieses große Haus mit dem Park habe ich verkauft«, schwindelte Johannes, denn wie sollte er seinem Töchterchen erklären, daß sie dorthin nicht zurückkehren konnten?

»Verkauft?« Jessi zog die Stupsnase kraus. »Und Angela?«

»Angela ist jetzt die Sekretärin des neuen Eigentümers«, antwortete Johannes, was ja auch irgendwie stimmte. Trotzdem versuchte er, rasch das Thema zu wechseln. »Soll ich dir ein Märchen erzählen?« fragte er, obwohl ihm klar war, daß auch seine Aussagen zuvor viel von einem Märchen hatten.

Jessi fühlte sich zu groß für Märchen. Außerdem gab es Dinge, die sie weit mehr interessierten. »Werden wir Angela nicht wiedersehen?« piepste sie enttäuscht.

»Das weiß ich nicht.«

»Aber du magst sie doch auch. Das hast du gesagt.« Das klang leicht vorwurfsvoll. »Hast du denn eine neue Sekretärin?« Jessi blinzelte verunsichert.

»Nein, Mäuschen. Durch Computer und Laptop braucht man sie nicht mehr so sehr. Verstehst du das?«

»Nein«, schnupfte das Kind enttäuscht. Jessi hatte gehofft, daß Angela und ihr Vater zusammenbleiben würden. Dann waren sie wieder eine Familie, und sie, Jessi, mußte nicht ins Internat zurück. »Aber ich habe doch gesehen, daß… daß sie dir einen Kuß gegeben hat.«

»Das tun Erwachsene häufig, das hat nichts zu bedeuten«, redete sich Johannes heraus, obwohl er sich wünschte, daß dieser Kuß nicht in Vergessenheit geriet.

»Nichts zu bedeuten«, wiederholte Jessica und seufzte tief. Sie war fest davon überzeugt, daß ihr Vater da etwas gründlich falsch verstanden hatte. Für Angela hatte der Kuß ganz sicher etwas zu bedeuten. Sie war keine von denen, die jeden küßte, das glaubte Jessi erkannt zu haben.

»Was ist, welches Märchen möchtest du hören?« versuchte Johannes erneut, der Unterhaltung eine Wende zu geben.

Doch auch jetzt ging Jessica nicht darauf ein. »Wo werden wir wohnen, wenn wir doch nicht in das große Haus zurückgehen?« forschte sie.

Die Frage war für Johannes nicht gerade angenehm, denn er wußte keine klare Antwort darauf. Das wollte er aber nicht zu erkennen geben. »Zunächst machen wir Urlaub. Das gefällt dir doch. Und dann bringe ich dich ins Internat zurück, denn dann beginnt ja auch der Unterricht wieder.«

»Ich will aber nicht zurück«, antwortete Jessica trotzig. »Ich will bei dir bleiben. Schulen gibt es überall.«

Johannes hatte das Gefühl, sich an einem heißen Eisen die Finger verbrannt zu haben. Er schüttelte sie nervös. Dabei zog er die Achseln hoch und sah ratlos zum Fenster hinüber.

»Das verstehe ich ja, und es ist auch mein Wunsch, daß wir wieder zusammen sind. Aber ich werde geschäftlich sehr viel unterwegs sein. Mal in Berlin, mal in London oder Paris. Da kann ich dich nicht mitnehmen, weil du doch zum Unterricht mußt. Deine Ausbildung ist sehr wichtig, weißt du.«

Jessica sah ihren Vater groß an. »Und was machst du in Berlin und in London und sonstwo?« erkundigte sie sich weinerlich.

»Geschäfte, Mäuschen«, versicherte Johannes, der um keinen Preis die Rolle des erfolgreichen Managers aufgeben wollte. Er glaubte, daß er dies seinem Ansehen dem Töchterchen gegenüber schuldig war.

Jessica schnupfte laut. »Aber ich könnte… könnte doch bei Angela bleiben, bis du wiederkommst.« Bittend sah sie ihren Vater an.

Für ihn war dieser Blick schmerzhaft, denn es tat ihm weh, der kleinen Tochter einen Wunsch abzuschlagen. »Angela hat ihren Job. Wir dürfen sie nicht belästigen. Das verstehst du doch.«

»Aber sie hat gesagt…«

»Wir wollen nicht darüber diskutieren«, schnitt Johannes dem Kind das Wort ab. Er wollte Angela vergesssen, und Jessi mußte es auch. Wer wie er nur von großen Sprüchen lebte, konnte keine Frau an sich binden.

»Und wo… wo werden wir wohnen, wenn du zurückkommst aus Berlin und aus London?«

Johannes sah hilfesuchend zur holzgetäfelten Decke. Durch Jessis Fragen verstrickte er sich immer mehr in Lügen, was er zwar furchtbar fand, aber für unabänderlich hielt. Schließlich wollte er um jeden Preis der Größte für sie bleiben.

»Wir werden ein neues Haus kaufen. Das ist doch überhaupt kein Problem«, prahlte er. »Vielleicht wird es noch größer und schöner sein als das, was du gesehen hast.«

»Noch größer?« staunte Jessi. »Aber das brauchen wir doch gar nicht. Wir sind doch nur zu zweit und mit Angela zu dritt.«

»Haben wir nicht abgemacht, über Angela nicht mehr zu reden?« Johannes sah das Kind traurig an.

»Aber…« Jessi biß sich auf die Lippen.

»Was ist mit dem Märchen? Willst du Rapunzel hören oder die Geschichte vom kleinen Muck?« Johannes wollte endgültig auf ein unverfänglicheres Thema übergehen.

»Papi, ich bin so müde«, stöhnte Jessica und schloß demonstrativ die Augen.

»Kann ich verstehen«, meinte Johannes erleichtert. So gerne er mit der Kleinen zusammen war, im Moment stand sein Sinn auch nicht nach Märchenerzählen. »Wir sind ein weites Stück gelaufen, immer bergan und dann noch quer durch den Wald. Das ermüdet ganz schön. Mir tun auch die Füße weh. Schlafe gut, Mäus­chen.« Johannes beugte sich hinunter und küßte Jessi auf die Stirn.

*

Diesmal war es Jessica, die geschwindelt hatte. Kaum schloß ihr Vater die Tür, um im Wohnraum noch die Zeitung zu lesen, schlüpfte sie aus dem Bett. Sie lief zum Schrank und entnahm den Taschen ihrer Jeans ein kleines Kärtchen. Angelas Telefonnummer stand darauf. Wie einen kostbaren Schatz hatte Jessi dieses Kärtchen gehütet. Jetzt strich sie glättend darüber, ging zum Telefon auf dem Nachttisch des zweiten Betts und tippte die Zahlen ein.

Mit ängstlich klopfendem Herzen wartete Jessi darauf, daß abgenommen wurde. Hoffentlich erreichte sie Angela.

Endlich meldete sich die vertraute Stimme: »Steger.«

»Hier ist Jessi«, piepste die Kleine und holte tief Luft. »Ich muß mit dir reden, Angela. Es geht um meinen Papa.«

»Was ist mit ihm?« erkundigte sich die junge Erzieherin besorgt. Jeden Tag hatte Angela in der Zwischenzeit auf Rotecks Anruf gewartet. Da er sich nicht meldete, mußte sie annehmen, daß er nichts von ihr wissen wollte, trotz des zärtlichen Kusses beim Abschied.

»Er ist so unglaublich dumm und versteht nicht, daß ich ihn liebhabe und nicht das Geld, das er verdient. Jetzt meint er, er muß nach Berlin und London und Paris reisen und ein großer Manager sein. Dabei war da ein Mann, der ihm einen ganz normalen Job angeboten hat und sogar eine Wohnung. Aber er sagt, das sei nur ein kleiner Fisch und zähle für ihn nicht. Verstehst du das? Du mußt ihm sagen, daß er ganz falsch denkt. Bei mir glaubt er es nicht, und er will mir lieber Märchen erzählen, dabei bin ich doch schon zehn. Und zurückschicken will er mich auch ins Internat. Aber ich mag viel lieber bei ihm bleiben. Das versteht er auch nicht. Meine Ausbildung sei so wichtig, sagt er, aber zur Schule gehen kann ich doch überall. Angela, du bist die einzige, mit der ich darüber reden kann. Hier sind nur ältere Leute, und alle tun so schrecklich vornehm. Die Jungs und die Mädchen im Internat werden es vielleicht klasse finden, daß ich in einem so teuren Hotel wohne, aber ich… ich habe Angst, daß mein Papi das gar nicht zahlen kann. Das große Haus hat nämlich gar nicht ihm gehört. Er hat gesagt, daß er es verkauft hat, aber das stimmt ja nicht. Ich weiß schon gar nicht mehr, was überhaupt stimmt. Nur daß ich ihn liebhabe, den Papi, das weiß ich. Angela, kannst du nichts tun?«

Angela hatte genau zugehört, den etwas verwirrten Bericht aber trotzdem nicht ganz verstanden. »Wo seid ihr denn?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Hotel Berggipfel heißt das, und man kann ganz weit sehen. Berge sind da und Wald und ein Bach und ein Wasserfall.«

»Ja, davon habe ich schon gehört und gelesen. Dieses Hotel gehört zu den allerersten Adressen.«

»Ich glaube, es ist furchtbar teuer. Aber fürs Essen müssen wir nichts bezahlen, weil der Papa das Licht repariert hat. Angela, kannst du dem Papi nicht sagen, daß ich lieber woanders wohnen will? Mit ihm und mit dir!«

Die junge Frau, die den Telefonhörer fest ans Ohr gepreßt hielt, lauschte dem letzten Satz nach. Mit ihm und seiner kleinen Tochter, das war genau das, was auch Angela sich wünschte. Doch Johannes war noch lange nicht soweit, das zu begreifen. Er hatte sich ins Labyrinth seiner Trauer zurückgezogen und fand nicht mehr heraus.

»Soll ich deinen Papi mal anrufen?« fragte Angela, um das Kind zu beruhigen.

Jessi schnupfte unglücklich. »Kannst du… kannst du nicht herkommen? Ich möchte dich so gerne wiedersehen, und der Papi will das auch. Er spricht nur nicht darüber.«

»Ich weiß nicht«, zögerte Angela. »Vielleicht glaubt er, daß ich ihm nachspionieren will, wenn ich plötzlich auftauche.«

»Dann sage ich einfach, daß ich dich eingeladen habe. Das geht schon in Ordnung. Bitte, Angela. Vielleicht kannst du ihn dazu bewegen, die Stelle anzunehmen, die ihm dieser Mann versprochen hat. Du mußt aber bald kommen, sonst entscheidet der sich für jemand anders. Er hat gemeint, daß er ihm eine Frist gibt oder wie das heißt. Hast du Zeit, Angela?«

Es klang ziemlich jämmerlich. »Für dich immer, Jessi«, antwortete die junge Frau deshalb mit ­fe­ster Stimme. »Ich habe dich doch viel zu gern, um dich im Stich zu lassen. Ehrlich. Ich habe in der Zwischenzeit viel an dich gedacht, und auch an deinen Papa.« Angela erwähnte nicht, daß Schubart inzwischen einen neuen Chauffeur eingestellt hatte. Dieser war ihr ebenso unsympathisch wie der Chef, denn er hatte gleich versucht, mit ihr anzubändeln.

Vor Schubart hatte sie seit ihrem Schlag gegen seine Schläfe Ruhe. Doch sie spürte, daß er auf Rache sann, und irgendwann würde sie seine Vergeltung zu spüren bekommen, das war ihr klar.

»Während der Woche kann ich nicht weg, aber am Sonntag könnte ich euch besuchen. Was hältst du davon?« Angela wußte schon jetzt, daß sie die Tage, ja, sogar die Stunden zählen würde, bis sie die beiden Menschen, die sie liebgewonnen hatte, wiedersah.

»Super!« jauchzte Jessi und gab Angela ein Küßchen durchs Telefon. »Und den Papa, den überraschen wir. Was glaubst du, wie er sich freut.« Es war förmlich zu hören, wie das Kind vor Ungeduld und Freude zappelte.

Angela war sich nicht so sicher, daß auch Johannes Freude zeigen würde. Immer wieder hatte er ihr zu verstehen gegeben, daß er allein bleiben wollte. Er sah in ihrem Auftauchen ganz sicher ein Hinterherlaufen, und das stand eigentlich keiner Frau gut.

»Wäre Jessica nicht gewesen, hätte sich Angela damit abgefunden, daß ihre Liebe einseitig bleiben würde. Doch dem Kind zuliebe wollte sie sich um Roteck kümmern, auch wenn sie dadurch Gefahr lief, als aufdringlich zu gelten. Gerade was sein Verhältnis zu Jessica betraf, war es sicher gut, wenn ihn jemand auf den richtigen Weg brachte.

»Angela, ich bin so froh«, japste die Kleine, »weil ich weiß, daß der Papa auf dich hört. Du bringst das schon hin und sagst ihm, was er tun muß. Er ist so klug und so tüchtig, aber seit die Mami verunglückt ist, benimmt er sich richtig komisch. Bis bald, Angela, und danke dafür, daß du mich ver­stehst.« Wieder schmatzte Jessi ein Küßchen ins Telefon und legte dann auf. So traurig sie noch vor wenigen Minuten in die Welt geschaut hatte, seit eben strahlte sie. Sie schlüpfte rasch ins Bett, nahm das Stofftier, das ihr Angela geschenkt hatte, fest in den Arm und kuschelte sich in die Kissen. »Angela, liebe Angela«, flüsterte sie, bevor sie einschlief.

*

Das Ehepaar Schubart trat selten gemeinsam auf. Deshalb war Angela erstaunt, daß die beiden am nächsten Tag am Rand des Tennis-Spielfeldes standen und mit ernsten Gesichtern zuschauten, wie sie Alexander die gängigsten Regeln beibrachte. Bisher hatte er sich strikt geweigert, diesen Sport auszuüben. Angela war es gelungen, ihn davon zu überzeugen, daß es viel schöner war, sich sportlich zu betätigen als passiv vor dem Fernseher zu sitzen.

Flink rannte sie hin und her, um Alexanders ungeschickt geschlagenen Bälle aufzunehmen. Es gab vieles an seinem Spiel auszusetzen, doch sie wollte dem Jungen die Freude an der Bewegung nicht verderben. Die Feinheiten würde er nach und nach lernen, auch wenn er sich im Moment noch reichlich unbeholfen anstellte.

Angel trug kurze weiße Hosen und ein knappes T-Shirt. Die helle Farbe betonte die Sonnenbräune ihrer Arme und Beine. Den dicken braunen Zopf hatte sie hochgesteckt. Einige Strähnen hatten sich gelöst und wippten bei jeder Bewegung. Das sah äußerst reizvoll aus, was nicht nur Schubart, sondern auch seine Frau bemerkte. Da der Dicke kein Auge von der reizvollen Angela ließ, beendete die Hausherrin rasch die Vorstellung.

»Fräulein Steger, wir warten auf Sie!« rief sie hinüber. Das Geräusch der aufschlagenden Bälle verstummte.

Leichtfüßig eilte Angela herbei. Sie nahm an, daß Alexanders Eltern sich von den Fortschritten ihres Sohnes überzeugen wollten. »Der Junge hat schon eine Menge gelernt«, meinte sie nicht ohne Stolz.

Die Schubarts reagierten nicht darauf. Ihre Gesichter blieben starr. Beide versuchten, auf Angela herabzusehen, was allerdings nicht gelang, da sie wesentlich größer war. »Es fragt sich nur, was Sie ihm beibringen«, meinte Schubart feindselig.

Angela schwieg verblüfft. Ihr war sofort klar, daß dies die Rache war, die der hinterhältige Dicke sich ausgedacht hatte. Er wollte sie vor seiner Frau demütigen, was vermutlich ihre Zweifel an seiner Treue zerstreuen sollte.

»Alexander hat enorme Fortschritte auf allen Gebieten gemacht.« Angela gab sich arglos, obwohl es ihr schwerfiel.

»Mag sein. Trotzdem werden Sie unseren Sohn nicht mehr unterrichten. Sie geben ihm ein schlechtes Beispiel«, behauptete Schubart arrogant.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Angela befremdet.

Schubart reckte den runden Kopf auf dem kurzen Hals in die Höhe. »Es ist nicht nur meiner Frau aufgefallen, sondern auch den übrigen Angestellten, daß Sie mir nachstellen.«

Angela mußte lachen. Wenn eine Behauptung aus der Luft gegriffen war, dann diese. Denn genau das Gegenteil war der Fall. Sie vermied es ängstlich, Schubart zu begegnen, wich ihm aus, wo sie nur konnte. »Das ist eine Lüge«, antwortete sie ruhig, aber sehr bestimmt. Sie verzichtete drauf, davon zu sprechen, daß es Schubart war, der heimlich in ihr Zimmer kam und sie zu Zärtlichkeiten zwingen wollte.

Er wußte genau, was sie dachte, und war fest entschlossen, alles abzustreiten. Nicht der geringste Verdacht sollte auf ihn fallen. Schließlich mußte man ihm mehr glauben als diesem hübschen Gänschen. Er war der Chef, und alle hatten ihn zu respektieren, weil sie sonst mit unangenehmen Folgen rechnen mußten.

»Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß Sie während der Abwesenheit meiner Frau in mein Arbeitszimmer kamen und…«

»Ich kam, weil Sie mich ausdrücklich darum gebeten haben. Sie wollten sich mit mir über die Lehrbücher unterhalten, die anzuschaffen sind.« Der Ärger färbte Angelas Gesicht rot.

»Genau! Das war Ihr fadenscheiniger Aufhänger. Statt über die Bücher zu reden, haben Sie mir ein eindeutiges Angebot gemacht, das ich natürlich abgelehnt habe. Schließlich bin ich ein Ehrenmann. Meine Frau weiß das und auch alle Angestellten. Die Sache war mir sehr peinlich, doch ich hätte geschwiegen, wenn sie sich in den letzten Tagen nicht wiederholt hätte. Das bringt meine Ehe in Gefahr, und das kann ich nicht dulden.«

»Das muß ich mir nicht anhören!« erklärte Angela aufgebracht. »Ich werde Sie wegen übler Verleumdungen belangen, Herr Schubart.«

»Frech sind Sie auch noch. Alles andere als ein Vorbild für unseren Sohn. Wir müssen uns deshalb trennen. Das war es, was ich Ihnen hauptsächlich sagen wollte.«

»Ihr seid gemein, so gemein!« schrie Alexander dazwischen, der herübergelaufen war und die letzten Worte mithörte. »Wenn Angela geht und für sie wieder so eine bescheuerte Vogelscheuche kommt, laufe ich weg. Nur, damit ihr es wißt!« Alexander war den Tränen nahe.

Der Junge tat Angela leid, während seine Eltern den Gefühlsausbruch unbeteiligt übergingen.

»Ich nehme die Kündigung gerne an. Auf die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist verzichte ich. Allerdings muß ich darauf bestehen, daß Sie mir den noch ausstehenden Jahresurlaub bezahlen.« Angela hatte mit dieser Aktion gerechnet und fühlte sich deshalb ihren Widersachern überlegen. Der einzige, der unter dieser Maßnahme leiden würde, war Alexander. Doch so weit dachten seine Eltern nicht. Der Junge war zu bedauern.

»Angela war die einzige Lehrerin, bei der mir der blöde Unterricht Spaß gemacht hat. Wenn ihr sie rausschmeißt, werde ich nie mehr etwas lernen«, drohte Alexander außer sich vor Empörung.

»Sie war die einzige, die nicht hier her gepaßt hat und die nur Unfrieden gestiftet hat«, klärte Schubart seinen Sohn auf. Es geschah in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Das ist ja gar nicht wahr!« schrie der Junge unbeherrscht. Er war in einem Alter, in dem er seinen Eltern nicht mehr bedingungslos gehorchte. »Ich will Angela behalten! Und wenn das nicht läuft, mache ich dicht!«

»Was soll das nun wieder heißen?« wunderte sich Frau Schubart und sah mißbilligend auf ihren Sohn.

»Das bedeutet, daß Alexander bereits verdorben ist, und schleunigst dem schädlichen Einfluß entzogen werden muß.«

Angela fühlte sich verpflichtet, sich auf die Seite des Jungen zu stellen. »Wenn Sie etwas mehr Zeit für Alexander hätten, würden Sie ihn verstehen.«

»Mischen Sie sich nicht ein«, drohte Schubart mit erhobenem Zeigefinger. »Sie geht das gar nichts an!«

»Gott sei Dank!« Es erging Angela ähnlich wie Johannes: Sie fühlte sich erleichtert. Ruhig ging sie zum Haus, um ihre Sachen zu packen. Alexander ließ seine Eltern ebenfalls stehen und rannte in entgegengesetzter Richtung davon. Sie würden es in den nächsten Jahren nicht leicht mit ihm haben, doch das war der Preis, den sie für ihre Arroganz zu zahlen hatten.

*

»Angela kommt!« Dieser Ruf hallte in einer Lautstärke durch den Frühstücks-Salon, daß die vornehmen älteren Herrschaften zusammenzuckten und der Geschäftsführer des Hotels ›Berggipfel‹ besorgt die Zusammenstellung der Speisekarte unterbrach. Mißbilligend sah er auf das kleine Mädchen, das die Müsli-Schüssel im Stich ließ, vom Stuhl rutschte und quer durch den Raum lief, noch bevor sein Vater erfaßt hatte, was da vor sich ging. Jessi kurvte geschickt um die kleinen Tische herum und wich dem Kellner aus, der zwei gefüllte Kaffeekannen auf einem silbernen Tablett trug. Obwohl sie den Mann nicht behinderte, kam er ins Stolpern. Das Tablett bekam Schieflage, die Kaffeekannen rutschten und konnten nur durch eine rasche Gegenbewegung vor dem Herunterfallen bewahrt werden. Der Ober, normalerweise steif und würdevoll, konnte sich an einer Stuhllehne abfangen. Die Dame, die dort saß, gab vor Schreck einen schrillen Ton von sich, der überhaupt nicht zu ihrem vornehmen Image paßte.

Jessi sah und hörte das alles nicht. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits in der Halle. Dort hüpfte sie wie eine Hürdenläuferin über die Gepäckstücke neu angekommener Gäste, rannte den verblüfften Portier fast um und stürmte ins Freie. Jauchzend flog sie in Angelas ausgebreitete Arme. Sie klammerte sich an ihr fest und schmiegte ihren zierlichen Körper an den der jungen Frau.

Angela hatte Jessi hochgehoben, und so war es dem Kind möglich, sie stürmisch zu küssen. Es war ein Empfang, wie ihn sich Angela nicht herzlicher hätte wünschen können.

»Ich bin so froh, daß du da bist!« keuchte Jessi zwischen zwei heftigen Umarmungen. »Jetzt wird alles gut, das weiß ich.«

Angela war da überhaupt nicht sicher, denn ihre Position hatte sich verschlechtert. Sie war jetzt arbeitslos und wußte nicht, wie sie rasch eine neue Stelle finden sollte. Bis sie wieder etwas verdiente, mußte sie von ihren Ersparnissen leben, die nicht besonders üppig waren.

»Ich bin auch froh, dich wiederzusehen.« Angela drückte das kleine Mädchen innig an sich, konnte damit allerdings nicht ihre Unruhe unterdrücken, die der Begegnung mit Jessis Vater galt. Über Jessis blonden Schopf hinweg sah sie zu den gläsernen Schiebetüren. Dort stand nur der Portier, rückte die Krawatte zurecht und nahm Haltung an, denn es kam nicht jeden Tag vor, daß eine so hübsche junge Frau dieses Hotel besuchte.

Lange nicht so rasch wie seine Tochter hatte Johannes erkannt, daß der Wunsch, von dessen Erfüllung er bisher nur zu träumen gewagt hatte, in Erfüllung gehen sollte. Angela hatte draußen ihr kleines Auto abgestellt und ging auf den Eingang zu.

Rotecks Herzschlag stockte, während er in Gedanken etwas sah, das schwerlich Wirklichkeit werden konnte. Alles in ihm strebte danach, Angela in seine Arme zu schließen. Doch das war unmöglich, weil sie sich wohl kannten, aber doch nicht so vertraut miteinander waren.

Durch diese Überlegungen entging Johannes die Verwirrung, die Jessi unter den betagten Gästen des Hotels angerichtet hatte. Sie sahen dem Kind verwundert nach und stellten die abenteuerlichsten Vermutungen an.

Johannes erhob sich so steif, als wäre seine Wirbelsäule ein starres Gebilde. Mit gemessenen Schritten ging er durch die Halle und vermied alles, was auf seine innere Erregung schließen ließ. Die war allerdings gewaltig. Ganz heiß war ihm vor Aufregung.

»Ist das nicht klasse, Papa, daß Angela uns besucht!« schrie Jessi, ungeachtet der vornehmen Umgebung, in der alle leise waren. Sie nahm die mütterliche Freundin fest an der Hand und zog sie hinter sich her zum Eingang.

Dort begrüßte sie Johannes höflich und beherrscht.

Angela lächelte verkrampft und hoffte, daß niemand bemerkte, wie schwer es ihr fiel, sich zurückzuhalten.

»Ich freue mich. Darf ich Sie zum Frühstück einladen?«

»Danke, ich habe schon. Ich wollte auch nicht stören, nur mal vorbeischauen.« Angela war verlegen, denn Rotecks Augen signalisierten mehr, als sie erwartet hatte. Wenn sie diesen Blick richtig deutete, gab es keinen Zweifel daran, daß Johannes sie liebte.

»Sie bleiben selbstverständlich«, bestimmte Johannes, ungewöhnlich entschlußfreudig. Endlich schien er die Gleichgültigkeit abgelegt zu habe. »Ich habe Ihnen eine ganze Menge zu erzählen.«

»Bei mir gibt es auch allerhand Neues.«

»Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang?« Gewinnend sah Johannes die hübsche junge Frau an. »Das Frühstück haben wir ohnehin schon beendet«, meinte er, obwohl das nicht stimmte.

Jessi stand dabei und beobachtete die Erwachsenen aufmerksam. Sie war alt genug, um zu erkennen, daß sie nur stören würde. Was sich die beiden zu sagen hatten, war nicht für Dritte bestimmt. »Ich esse noch das Müsli auf und dann wollte ich Sara einen Brief schreiben und ihr ein paar Fotos schicken. Sie hat mir am Telefon gesagt, daß ihre Eltern nun doch früher zurückkommen und daß sie gleich nach den Ferien nach Hause darf.«

»Wir sind spätestens zum Mit­tag­essen zurück«, informierte Johannes das Kind und legte gleichzeitig den Arm um Jessis schmale Schultern.

»Alles klar!« antwortete sie burschikos. Nur für Angela erkennbar, blinzelte sie verschwörerisch. Sie sah dem Paar nach, das langsam den Weg bergan stieg.

»Stellen Sie sich vor, ich habe einen neuen Job«, überraschte Johannes seine Begleiterin. »Jessi weiß noch nicht, daß ich das Angebot angenommen habe. Zwischen ihr und mir gibt es noch so vieles zu klären, und ich bin ein verdammter Feigling, weil ich es noch nicht geschafft habe. Verliert ein Vater, der lügt, nicht sein Gesicht? Das ist die Frage, die ich mir immer wieder stelle.«

»Jessi wird Verständnis haben. Außerdem ahnt sie manches.«

»Echt?« frage Johannes erschrocken.

»Jessi ist ein kluges Mädchen. Ihrem wachen Blick entgeht kaum etwas. Sie erkennt nicht nur die Zusammenhänge, sondern auch die Beweggründe.«

»Au weia. Da sehe ich ganz schön alt aus«, seufzte Roteck schuldbewußt.

»Sie vergessen, daß Jessi Sie liebt und daß sie sehr genau weiß, was Sie durchgemacht haben. Sie wird Ihnen nicht böse sein.«

»Angela, Sie verstehen es, mir Mut zu machen. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.« Johannes schritt langsam bergan und hatte das Gefühl zu schweben. Wie lange hatte er sich nicht mehr so frei und so wohl gefühlt. Er war nicht mehr allein. An seiner Seite ging die Frau, an die er in der Zwischenzeit ständig gedacht hatte. »Entschuldigung, wir reden nur von mir. Dabei haben Sie doch sicher viel zu erzählen, Angela.«

»Nichts Erfreuliches. Schubart hat mich entlassen, weil ich nicht bereit war, Lolas Nachfolge anzutreten.«

Jetzt blieb Johannes stehen und sah Angela überrascht an. »Das darf ja nicht wahr sein! Der Kerl scheut vor nichts zurück! Angela, ich bin so froh, daß Sie abgelehnt haben. Dieser Wüstling und Sie… der Gedanke ist unerträglich.« Roteck schüttelte verständnislos den Kopf.

Angela vermied es, ihn anzusehen. Mit hängenden Schultern war auch sie stehengeblieben. »Jetzt bin ich in derselben Situation wie Sie: kein Job, keine Wohnung, nur ein kleines Zimmer in einer Pension hier in der Nähe. Ich habe bereits einige Bewerbungen weggeschickt und kann nur hoffen, daß ich von irgendwo eine Zusage erhalte.«

»Das werden Sie ganz bestimmt, Angela. So tüchtig wie Sie sind, finden Sie rasch einen neuen Job. Im übrigen sehe ich darin, daß Sie jetzt frei sind, einen Wink des Schicksals.« Johannes holte tief Luft, denn was er jetzt mit Angela besprechen wollte, war für ihn ungeheuer wichtig. »Als meine Frau verunglückte, dachte ich, daß ich nie mehr Liebe empfinden könnte. Ich habe mich getäuscht. Das Leben allein liegt mir nicht. Ich sehne mich nach einem Menschen, mit dem ich alles teilen kann. In Ihnen Angela, habe ich ihn gefunden, diesen Menschen, der mir alles bedeutet, den ich liebe, verehre, den ich glücklich machen möchte.« Viel leichter, als Johannes gedacht hatte, kamen diese Worte über seine Lippen. Liebevoll schaute er in Angelas schöne grüne Augen. »Angela, ich wollte dich bitten, meine Frau zu werden, Jessis Mama. Das Kind hat dich genauso lieb wie ich, und ich denke, wir werden eine glückliche kleine Familie sein. Meine neue Firma stellt mir ein Reihenhaus zur Vergnügung, recht hübsch und recht geräumig. Später können wir dann…«

»Johannes, das ist nicht wichtig«, unterbrach Angela die lange Rede. »Ich hätte dich auch ohne Job geheiratet, ohne Reihenhaus und ohne glänzende Zukunftsaussichten, denn ich habe dich sehr gern.« Angela lächelte sanft und voll jugendlicher Anmut.

Da tat Johannes das, was er in seinen Träume schon oft getan hatte: er nahm die geliebte Frau fest in seine Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit und ehrlicher Zuneigung.

Es wurde ein langer, langer Kuß, der mehr zwischen ihnen klärte, als es Worte vermocht hätten. Über ihnen rauschte der Wind in den Tannenwipfeln, und neben ihnen plätscherte ein klares Bäch­lein. Das alles nahmen sie nicht mehr wahr. Sie hielten sich liebevoll umschlungen, spürten den Herzschlag des anderen und empfanden ein tiefes, nie gekanntes Glück.

Die Mittagszeit war längst vorbei, als Angela und Johannes zum Hotel zurückkamen. Jessica erwartete sie bereits ungeduldig. »Habt ihr euch verlaufen?« rief sie ihnen entgegen und lachte dabei schelmisch.

»Im Gegenteil. Wir haben endlich den richtigen Weg gefunden. Wir haben dir unheimlich viel zu erzählen, Mäuschen«, informierte Johannes das Töchterchen.

»So einiges weiß ich schon«, behauptete Jessi fröhlich. »Herr Bonrath hat angerufen und gesagt, daß er damit einverstanden ist, wenn du nächsten Monat bei ihm anfängst. Du bekommst das noch schriftlich, hat er gemeint. Und daß Angela meine Mami wird, habe ich der Sara auch schon geschrieben. Vielleicht kann sie uns mal besuchen, wenn wir in dem neuen Haus wohnen. Daß mein Papa der Größte ist, weiß sie ja schon, aber ich habe es trotzdem noch mal…«

Johannes, der den Arm um Angelas Schultern gelegt hatte, war inzwischen nähergekommen und unterbrach das kleine Mädchen. »Jessi, ich muß da einiges richtigstellen«, meinte er ernst. »Es tut mir leid, ich habe dir etwas vorgemacht. Es soll aber nicht mehr vorkommen.«

Das blonde Mädchen winkte lässig ab. »Vergiß es, Papa! Das Wichtigste ist, daß ich nicht ins Internat zurück muß. Daß ich bei dir und Angela bleiben darf.« Ängstlich sah Jessi zu den Erwachsenen auf.

»Versprochen!« antwortete Johannes ernst.

Mami Staffel 15 – Familienroman

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