Читать книгу Mami Staffel 15 – Familienroman - Lisa Simon - Страница 9

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Fassungslos legte Ilona Struve den Hörer auf. Noch weigerte sich ihr Verstand zu glauben, was der freundliche Polizeibeamte gerade gesagt hatte.

Volker Gundlach, Ilonas Verlobter, hatte nichts von dem Telefongespräch mitbekommen – zu spannend war das Golfturnier im Fernsehen. Er bickte daher auch nur flüchtig auf, als Ilona wieder ins Wohnzimmer trat.

»Ich glaube, der Australier gewinnt«, sagte er verärgert. »Dabei hätte ich dem Iren den Sieg viel mehr gegönnt.«

Erst als Ilona nicht antwortete, sondern sich stumm neben ihn setzte, wandte Volker erneut den Blick von der Mattscheibe.

»Was ist denn mit dir los?« fragte er erschrocken. »Du bist ja leichenblaß.«

Starr blickte Ilona an Volker vorbei, ohne seine Worte zu registrieren.

»Jetzt sage doch was!« Er war unsicher geworden angesichts des Gesichtsausdruckes seiner Verlobten. »Was, um Gottes willen, ist passiert?«

Ilona senkte plötzlich den Kopf. Am Zucken ihrer Schultern bemerkte Volker, daß sie weinte.

»Liebling, was ist geschehen?« Volker stellte augenblicklich den Fernseher aus und legte seinen Arm um ihre bebenden Schultern. »Willst du es mir nicht endlich sagen?«

»Sabine«, schluchzte sie hemmungslos. »Es ist etwas mit ihr passiert.«

»Was ist mit deiner Schwester passiert?« bohrte er leicht ungeduldig weiter.

»Sie hatten einen schweren Verkehrsunfall«, kam es unter Schluchzen zurück. »Sie und mein Schwager Uwe hatten auf regennasser Straße einen Unfall – es war nicht ihre Schuld, hat der Polizeibeamte gesagt.«

»Du meine Güte«, erwiderte Volker ergriffen. »In welchem Krankenhaus liegen die beiden?«

Ilona schüttelte kraftlos den Kopf. »Sie sind in keinem Krankenhaus…«

»Soll das heißen, daß…?«

»Ja, sie haben das schreckliche Unglück beide nicht überlebt.«

Volker starrte Ilona ungläubig an. Er wußte, wie sehr sie an ihrer um drei Jahre älteren Schwester gehangen hatte und was der Verlust für seine lebenslustige Verlobte bedeutete.

Hilflos hob er die Arme, ließ sie jedoch gleich wieder sinken. Wie sollte er Ilona trösten? Schließlich räusperte er sich.

»Wann… ist es denn passiert?«

»Vor ungefähr zwei Stunden. Die Polizei brauchte eine Weile bis sie mich als einzige nähere Verwandte in der Nähe ausfindig gemacht hatte.«

»Ist Uwes Bruder Jörg auch schon benachrichtigt worden?«

Ilona nickte. »Er sollte gleich nach mir angerufen werden. Oh Gott, warum mußte es ausgerechnet ihnen passieren? Sie waren doch noch so jung und hatten so viel vor.« Ruckartig hob sie den Kopf. »Und was wird jetzt aus den Kindern?«

»Sie werden wohl in ein Waisenhaus kommen, fürchte ich«, gab er langsam zurück. Er mochte die fünfjährige Miriam und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Rebecca nicht sonderlich; für seinen Geschmack waren sie zu laut und überhaupt nicht erzogen.

»Das kann ich nicht zulassen!« rief Ilona in diesem Moment, und sie wischte sich mit einer heftigen Geste die Tränen von den Wangen.

»Was kannst du nicht zulassen?« fragte Volker zurück, obwohl er eigentlich schon ahnte, was kommen würde.

»Miriam und Rebecca dürfen nicht ins Waisenhaus gebracht werden, dafür sorge ich.«

Volker legte seinen Arm um ihre Schultern. »Jetzt beruhige dich erst einmal. Ich bringe dir einen Kognac, und dann reden wir in Ruhe darüber – immerhin geht es um unsere Zukunft.«

»Ich verstehe nicht«, gab sie tonlos zurück, »du kannst doch nicht erwarten, daß meine Nichten abgeschoben werden, wo sie eine Tante haben, die sich um sie kümmern möchte.«

»Ilona, sei doch vernünftig. Wie willst du dich bei deinem Job um zwei quirlige Mädchen kümmern?«

»Ich kann meinen Job aufgeben«, sagte sie mit fester Stimme.

Volker hielt ihr das gefüllte Kognacglas hin. »Das meinst du sicherlich nicht so. Du hast nicht so hart dafür gearbeitet, eine erfolgreiche Grafikerin zu werden, um jetzt all deine Pläne über den Haufen zu werfen.«

»Ich kann auch später noch Karriere machen«, erwiderte sie. »Das Wohl der Kinder geht jetzt vor. Du weißt, wie sehr mich Miriam und Rebecca mögen, ihnen ist es bestimmt auch lieber, bei mir statt im Waisenhaus zu leben.«

Volker schüttelte den Kopf. Für ihn als Geschäftsmann war es unbegreiflich, daß es für jemanden etwas Wichtigeres gab als die berufliche Karriere. »Du weißt doch selbst, wie schnellebig heutzutage alles ist. In ein paar Jahren kennt dich niemand mehr, und ich glaube nicht, daß du dann noch einmal ganz von vorne anfangen möchtest. Außerdem denke ich, daß deine Nichten viel besser bei Jörg aufgehoben sind, immerhin ist er Uwes Bruder. Er hat eine reizende Frau und einen gutgehenden Tischlereibetrieb. Sicher wird er die Kinder mit Kußhand zu sich nehmen.«

Ilona blickte grübelnd in ihr Kognacglas, aus dem sie noch keinen einzigen Schluck getrunken hatte. »Ja, bestimmt wird Jörg die Mädchen zu sich nehmen, zumal seine eigene Ehe bisher kinderlos geblieben ist.«

»Na, siehst du!« rief Volker erleichtert und goß sich bereits den zweiten Kognac ein. »Wo sind die Mädchen eigentlich im Moment?«

»Bei einer Nachbarin. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes bringt ihnen gerade schonend bei, daß ihre Eltern nie wieder zurückkehren werden.« Wieder schossen Ilona Tränen in die Augen; diesmal wischte sie sie nicht ab, sondern ließ sie achtlos über die Wangen rollen. »Morgen sollen sie bereits ins Waisenhaus gebracht werden – aber das kommt nicht in Frage. Solange, bis geklärt ist, ob Jörg sich in Zukunft um sie kümmert, werden Rebecca und Miriam bei mir leben.«

»Natürlich, Liebling.« Volker hauchte einen Kuß auf Ilonas dunkles Haar. Er war erleichtert, daß er ihr die Idee hatte ausreden können, die nächsten Jahre für die Mädchen zu sorgen.

Als das Telefon erneut mitten in die Stille läutete, eilte Ilona mit schnellen Schritten zum Apparat. Es war Jörg, der gerade das Unfaßbare gehört hatte.

Volker lehnte sich zurück. Er konnte trotz der angelehnten Tür hören, wie Ilona über die Zukunft der Kinder sprach. Und wie es schien, war Uwes Bruder durchaus einverstanden, die Mädchen zu sich zu nehmen.

Als Ilona das Gespräch beendet hatten, sah ihr Volker erwartungsvoll entgegen. »Nun, wie hat Jörg das Ganze aufgenommen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist genauso schockiert wie ich, kann noch immer nicht glauben, was passiert ist. Er kommt morgen aus Nürnberg und wird bis nach der Beerdigung bleiben. Susanne kann ihn allerdings nicht begleiten, wegen ihrer Arbeit als Chefsekretärin bekomme sie nicht von heute auf morgen frei.«

»Klar. Wie hat sich Jörg übrigens zu der Zukunft der Mädchen geäußert?« Dieses Thema interessierte Volker am meisten.

»Er schlug es mir sogar von sich aus vor«, gab Ilona zurück. »Allerdings müßte er sich erst einmal in Ruhe mit seiner Frau darüber unterhalten, immerhin geht sie in ihrem Beruf auf und könnte ihn dann nur noch stundenweise ausüben.«

»Es wird alles wieder gut werden«, sagte Volker und streichelte Ilonas Hand. »Und für die nächsten Wochen läßt du dir Urlaub geben, damit alles geregelt werden kann.«

»Ja, es gibt so viel zu tun.« Ilona fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch das Haar. »Ob Miriam und Rebecca inzwischen wissen, was mit ihren Eltern geschehen ist? Bestimmt können sie heute nacht nicht schlafen und werden nur weinen – und ich bin nicht da, um sie zu trösten. Der Polizeibeamte meinte, es wäre besser, wenn ich mich erst morgen um die Kinder kümmern würde.«

»Du willst sie tatsächlich vorübergehend hier unterbringen?« fragte Volker skeptisch. »Deine Wohnung ist doch viel zu klein.«

»Unsinn, im Arbeitszimmer steht ein Bett, und ein Klappbett habe ich noch im Keller stehen. Fürs erste wird es genügen.«

»Aber dein Computer steht doch auch dort. Wie willst du abends arbeiten, wenn die Mädchen schlafen?«

Ilona seufzte. »Das wird sich finden. Volker, ich bin todmüde und würde gerne schlafen – obwohl ich weiß, daß ich nicht schlafen kann.«

»Dann nimm eine Schlaftablette. Es wird dir helfen, ein paar Stunden tief zu schlafen.«

Sie nickte ergeben. Wenn sie doch die Zeit für ein paar Stunden zurückdrehen und damit das Unglück rückgängig machen könnte…

*

Ängstlich klammerten sich die beiden blonden Mädchen aneinander, als Ilona das altmodisch eingerichtete Wohnzimmer von Frau Mertens betrat. Die rundliche Nachbarin von Sabine und Uwe erzählte mit Tränen in den Augen: »Sie können noch immer nicht begreifen, daß ihre Mama und ihr Papa nicht zurückkommen werden. Die Mädchen denken bei jedem Klingeln an der Tür, ihre Eltern holen sie wieder ab.«

Ilona kämpfte mit den Tränen und setzte ein Lächeln auf, als sie zu Rebecca und Miriam trat. »Kommt doch einmal her zu mir, ihr beiden Süßen.«

Zögernd lösten sich die Kinder voneinander und kamen langsam näher.

»Tante Ilona«, sagte Miriam mit ihrem feinen Stimmchen, »es stimmt doch nicht, was uns gestern die fremde Frau gesagt hat, nicht wahr? Sie wollte uns nur Angst machen.«

Ilona bückte sich und drückte die Kleine liebevoll an sich.

Mit dem anderen Arm umfing sie die kleine Rebecca. »Ich fürchte, diese Frau hat die Wahrheit gesagt.«

»Wo sind Mama und Papa jetzt, Tante Ilona?« fragte Rebecca kaum hörbar.

Ilona schluckte hart. »Sie sind im Himmel, mein Schätzchen.«

»Und wann kommen sie wieder zurück zu uns?«

»Wenn man einmal dort ist…« Verzweifelt suchte Ilona nach den richtigen Worten, »… dann kann man niemals wieder zurückkommen.«

»Aber warum sind denn Mama und Papa dorthin gegangen, wenn sie nicht mehr zu uns können?« Der Kleinen rollten dicke Tränen über die rosigen Bäckchen, und sie sah ihre Tante hilfesuchend an. »Ich glaube nicht, daß Mama und Papa irgendwo hingegangen sind, ohne uns mitzunehmen.«

»Paßt mal auf, ihr beiden.« Ilona gab ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Klang. »Wir packen jetzt ein paar Sachen für euch zusammen, und dann kommt ihr mit zu mir.«

»Und wie lange?« fragte Miriam mit traurigem Gesichtchen.

Eine Moment überlegte Ilona. »Das werden wir sehen.«

An der Wohnungstür sagte Frau Mertens mit unterdrücktem Schluchzen zu Ilona: »Die Mädchen sind noch so klein und hilflos. Bitte geben Sie gut auf sie acht.«

»Das werde ich, Frau Mertens«, versprach sie und erwiderte den Händedruck der anderen. »Das werden ich ganz gewiß.«

*

Die Beerdigung, die Auflösung der Wohnung und den Schreibkram mit den Behörden nahm Ilona nur wie durch einen dichten Schleier wahr.

Jörg nahm seiner Schwägerin soviel wie möglich von den Belastungen ab, doch er konnte nur ein paar Tage in Kiel bleiben. Er war froh, daß Miriam und Rebecca fürs erste bei Ilona untergekommen waren, denn noch hatte er nicht mit seiner Frau Susanne über die Kinder gesprochen.

Noch immer waren die Mädchen verstört, lachten kaum, aßen und schliefen schlecht. Wenn Volker da war, wurden sie noch stiller und zogen sich in das kleine Gästezimmer zurück. Sie spürten, daß Volker sie ablehnte, und mochten ihn aus diesem Grund auch nicht besonders.

Drei Wochen nach dem Unfall sagte Ilona eines Abends, als die Kinder schliefen: »Das Zimmer ist für zwei Betten viel zu klein, die Mädchen können sich kaum dort rühren. Ich werde mir morgen mal ein paar Etagenbetten in den Möbelhäusern ansehen.«

Volker horchte überrascht auf. »Warum diese unnötige Geldausgabe? In ein paar Wochen sind die Kinder längst in Nürnberg bei Jörg.«

»Das kann sich noch etwas hinziehen, wie mir das Jugendamt bestätigte. Jörg erkärte mir erst gestern am Telefon, daß sich Susanne noch immer nicht entschlossen hat, sich beruflich einzuschränken.«

Empört sprang Volker auf. »Das sind ja tolle Neuigkeiten! Die feine Susanne will nicht auf ihre Karriere verzichten – dafür mußt du es tun.«

»Jetzt sei doch nicht so laut«, bat Ilona. »Du weckst ja die Mädchen auf.

Volker ließ sich wieder auf die Couch fallen. »Weißt du eigentlich, daß sich alles nur noch um die Mädchen dreht? Du räumst dein Arbeitszimmer, läßt dir unbezahlten Urlaub geben und hast kaum noch Zeit für mich.

»Aber es ist doch nur vorübergehend«, lenkte Ilona ein. »Miriam und Rebecca brauche mich jetzt, ich kann sie doch nicht im Stich lassen.«

»Und was ist mit mir? Mich läßt du links liegen. Wann waren wir das letzte Mal essen oder im Theater?«

Ilona seufzte. »Du weißt so gut wie ich, daß ich die Kinder abends nicht alleine lassen kann.«

»Die Kinder, die Kinder! Manchmal glaube ich, daß sie dir wichtiger sind als ich – und daß du mit deinem unbezahlten Urlaub deine Stelle riskierst, brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen.«

»Volker«, sagte Ilona leise. »Ich versuche, allem gerecht zu werden – aber das ist nicht so einfach, wenn man plötzlich zwei Kinder hat.« Sie holte tief Luft. »Ich habe mit meinem Chef bereits gesprochen, er ist einverstanden, daß ich die nächste Zeit zu Hause arbeite. Und es tut mir sehr leid, daß du dich so benachteiligt fühlst; ich werde versuchen, es wieder gutzumachen. Gib mir nur ein wenig Zeit dazu, ja?«

Volker war noch immer verärgert, doch er hielt es für angebracht, keine Kritik mehr von sich zu geben. Unter keinen Umständen wollte er sich wegen der Mädchen mit Ilona vollends überwerfen.

»Tut mir leid, wenn ich eben so heftig war«, sagte er und setzte eine entschuldigende Miene auf. »Mir ist doch klar, daß das Ganze für dich sehr schwer ist.«

Er nahm die zierliche Frau in seine Arme und küßte sie zärtlich. Doch Ilona konnte den Kuß nicht richtig genießen, es störte sie, daß Volker so egoistisch war…

*

»Tante Ilona, was machst du da?« Rebecca hielt das Köpfchen schief und blickte angestrengt auf den Monitor, in dem Ilona allerlei Zeichen und Figuren hin und her schob.

»Ich versuche, ein Plakat für ein neues Parfüm zu entwerfen«, erwiderte Ilona zärtlich lächelnd. »Wenn es mir gut gelingt, lobt mich mein Chef und gibt mir einen noch größeren Auftrag.«

»Darf ich auch mal ein Plakat entwerfen?«

Ilona lachte. Rebecca wurde Tag für Tag gesprächiger und lachte hin und wieder. Auch hatte sie das Interesse an ihrer Umwelt wiedergewonnen. Miriam dagegen schien mittlerweile schon zu begreifen, daß ihre Eltern nie wiederkommen würden.

»Weißt du, Schatz«, Ilona setzte sich Rebecca auf den Schoß, »wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin, darfst du auch ein Plakat entwerfen. Vielleicht hast du sogar eine gute Idee, die ich meinem Chef zeigen kann.«

»Verdienen wir dann viel Geld?«

»Ja, ich denke schon.«

Schweigend sah die Kleine zu, wie Ilona mehrere Computergrafiken speicherte und ausdruckte. Sie war froh, daß Rebecca in den letzten Wochen so zutraulich geworden war – daß sie längst nicht so konzentriert arbeiten konnte wie in ihrem Büro, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle.

»Nun, welches Bild gefällt dir am besten?« fragte Ilona, nachdem sie die fertigen Drucke auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte.

»Dieses da.« Rebecca zeigte spontan auf das Bild, daß auch Ilonas heimlicher Favorit war. »Das gefällt mir am besten.«

»Du hast einen guten Geschmack, kleine Dame.« Ilona küßte das seidige blonde Haar des Mädchens. »So, und jetzt darfst du etwas entwerfen.«

In diesem Moment läutete das Telefon, und Ilona nahm sich zum wiederholtesten Male vor, demnächst endlich einen schnurlosen Apparat anzuschaffen, damit sie nicht bei jedem Anruf in den Flur gehen mußte.

»Solange ich telefoniere, kannst du schon einmal üben«, sagte sie und warf einen unauffälligen Blick zu Miriam, die auf der Couch saß und in einem Bilderbuch blätterte.

Barbara Arnecke, die Beamtin vom Jugendamt, die den Fall der Mädchen bearbeitete, war am Apparat.

Wie immer, wenn sie mit der Frau sprach, beschlich Ilona ein beklemmendes Gefühl.

»Guten Tag, Frau Struve. Wie geht es Ihren beiden kleinen Schützlingen?«

»Nun, Rebecca taut langsam auf, bei Miriam wird es etwas länger dauern, bis sie sich wieder gefangen hat.«

»Ja, es muß sehr schwer für die Kleinen sein, gleichzeitig beide Elternteile zu verlieren«, sagte Frau Arnecke teilnahmsvoll. »Hat sich Ihr Schwager schon bei Ihnen wegen der Mädchen gemeldet?«

»Wir telefonieren hin und wieder. Seine Frau ist sich noch nicht sicher, wie sie die Kindererziehung mit ihrer beruflichen Karriere vereinbaren soll.«

»Hm, Sie wissen aber, daß die jetzige Situation nur eine vorrübergehende ist, nicht wahr?«

»Natürlich weiß ich das. Ich habe mich bereits darauf eingerichtet und arbeite zur Zeit zu Hause.«

»Das ist schön, Frau Struve, aber wir sollten trotzdem schnellstmöglich eine endgültige Lösung für die Kinder finden.« Frau Arneckes Stimme klang ernst.

Ilona seufzte leise. »Ich weiß, aber man kann meine Schwägerin doch nicht zu einer schnellen Entscheidung zwingen. Ich habe die Mädchen übrigens für die Vormittagsstunden in einem Kindergraten angemeldet; ich denke, es wird ihnen guttun, wieder mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen.«

»Das ist eine gute Idee. Aber lassen Sie mich sofort wissen, wenn Ihr Schwager und seine Frau die Kinder zu sich nehmen werden. Sie wissen ja, welche Berge von Schreibkam erledigt werden müssen, bis die Adoption abgeschlossen ist.«

Ilona nickte, obwohl die Beamtin dies gar nicht sehen konnte. »Was geschieht denn mit den Kindern, wenn mein Schwager sie doch nicht zu sich nimmt?«

»Tja dann werden sie wohl oder übel ins Waisenhaus kommen.«

»Nein!« entfuhr es Ilona. »Ich bin ihre Tante, können die Mädchen denn nicht auf Dauer bei mir bleiben?« Insgeheim hatte sich Ilona oft überlegt, dies vorzuschlagen – aber sie hatte zum ersten Mal darüber gesprochen.

Einen Augenblick schwieg Frau Arnecke. »Im Grunde genommen wäre nichts dagegen einzuwenden, nur…«

»Ja?«

»Sie sind nicht verheiratet, da spielt das Jugendamt leider nicht mit.«

»Aber ich bin verlobt!« rief Ilona und wußte im selben Moment, daß Volker wohl nicht der richtige Ersatzvater für Rebecca und Miriam war.

»Ich habe die Gesetze nicht gemacht, Frau Struve«, sagte Frau Arnecke traurig. »Ich weiß, daß Sie eine großartige Bezugsperson für die Kinder sind – aber leider müßten Sie heiraten, bevor das Jugendamt einer Adoption oder Pflegschaft zustimmt.«

Ilona schluckte. Volker würde sich niemals auf eine Ehe wegen der Mädchen einlassen. Er war sowieso der Meinung, daß ein Trauschein nicht nötig wäre, um eine gute Beziehung zueinander zu haben.

»Frau Struve, sind Sie noch am Apparat?«

Ilona räusperte sich. »Ja, entschuldigen Sie bitte. Ich werde versuchen, meinen Schwager ein wenig zu einer Entscheidung zu drängen. Wissen Sie, er ist ein herzensguter Mensch und würde alles für seine Nichten tun – aber seine Frau muß schließlich auch mit der Adoption einverstanden sein.«

»Sicher, richten Sie Herrn Schlicht aus, daß es keinen Zweck hat, seine Frau dazu zu überreden – damit ist den Kindern keinesfalls geholfen. Sie würden merken, daß sie nicht willkommen sind. Ihre Schwägerin muß schon aus freien Stücken damit einverstanden sein.«

Nachdenklich ging Ilona nach dem Telefonat zurück ins Wohnzimmer. Miriam saß noch immer über ihrem Bilderbuch, während Rebecca begeistert den Computer bearbeitete. Auf dem Monitor waren Männchen, bunte Kreise und Blumen aller Art durcheinandergewürfelt zu sehen.

»Oh, das ist aber schön geworden«, lobte Ilona das kleine Mädchen, das vor Aufregung ganz rote Bäckchen bekommen hatte. »Für was soll denn das Muster sein?«

»Für eine Tapete natürlich, Tante Ilona. Kannst du das nicht sehen?«

»Ja, jetzt wo du es sagst.« Ilona beugte sich zu Rebecca hinunter. »Soll ich dir dein Meisterwerk ausdrucken?«

»Au ja!«

»Was ist mit dir, Miriam? Möchtest du auch so ein schönes Muster wie deine Schwester entwerfen?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Vielleicht später.«

Ilona machte sich große Sorgen um die einst so fröhliche Miriam, sie schien an nichts mehr richtiges Interesse zu haben. »Freust du dich wenigstens auf den Kindergarten?«

Wieder zuckte Miriam nur interesselos mit den Schultern.

»Aber ich freue mich, Tante Ilona.« Rebecca hielt ihr fertiges Bild prüfend in den Händen. »Wann dürfen wir denn endlich hin?«

»Nächsten Montag geht es los. Was haltet ihr davon, wenn wir zum Italiener um die Ecke gehen und Pizza essen?«

»Ja, und hinterher einen Eisbecher!« rief Rebecca und hüpfte vor Freude in die Höhe.

»Meinetwegen.« Ilona freute sich, daß die Kleine ihren Appetit zurückbekommen hatte. »Kommt, zieht euch an. Was ist mit dir, Miriam? Keine Lust?«

»Doch«, kam es gedehnt zurück.

»Na also, dann hoch vom Sofa!« Ilona redete bewußt so burschikos, weil sie nicht genau wußte, ob Miriam für ihre Zärtlichkeiten schon zugänglich war.

*

Es war bereits dunkel, als die kleine Gruppe nach Hause kam. Erschrocken stellte Ilona fest, daß hinter dem Wohnzimmerfenster ihrer Wohnung Licht brannte – und im nächsten Moment fiel ihr siedendheiß ein, daß Volker für den Abend seinen Besuch angekündigt hatte. Zum Glück hatte er einen Schlüssel für Ilonas Wohnung.

Mit schlechtem Gewissen schob Ilona die Kinder schnell in den Fahrstuhl. Warum hatte sie ihm nur keine Nachricht hinterlassen? Volker würde sicherlich sehr ärgerlich sein.

»Warum haben wir es denn plötzlich so eilig, Tante Ilona?« fragte Rebecca, während ihre Tante ungeduldig wartete, daß der Lift im zehnten Stockwerk hielt.

»Ja, weißt du, Onkel Volker wartet schon auf uns.«

»Auf mich und Rebecca wartet er bestimmt nicht«, erwiderte Miriam leise. »Ich glaube, er mag uns nicht.«

»Ach, das bildet ihr euch bestimmt nur ein«, gab Ilona leichthin zurück, obwohl sie ganz genau wußte, daß Miriam den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Onkel Volker hat nur keine Erfahrung mit kleinen Mädchen, weißt du?«

»Aber du hast auch keine Erfahrung und bist trotzdem immer so lieb zu uns.«

Ilonas Herz machte einen freudigen Sprung. Also hatte Miriam die ganzen schweren Wochen hindurch trotz ihrer Lethargie gemerkt, wieviel Mühe sich ihre Tante mit ihr gab und wie lieb sie sie hatte.

»Wir sind da«, sagte Rebecca überflüssigerweise, als sich die Lifttür geräuschlos öffnete. »Müssen wir gleich ins Bett?«

»Ich denke schon, kleine Maus. Immerhin ist es fast acht Uhr, um diese Zeit liegst du normalerweise schon längst im Bett.«

»Ich bin aber noch gar nicht müde.« Rebecca hüpfte den Gang zur Wohnung hin. »Siehst du ich bin noch ganz munter.«

Ilona lachte, während sie ihren Wohnungsschlüssel suchte. »Wenn du erst im Bett liegst, wird ganz schnell der Sandmann kommen.«

»Wann wird denn unser Hochbett gebracht?«

»Am Samstag. Freust du dich schon darauf?«

Rebecca nickte. »Und wie. Ich will aber oben schlafen.«

Noch bevor Ilona den Schlüssel im Schloß umdrehen konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen.

»Mein Gott, Volker. Hast du mich erschreckt«, entfuhr es ihr.

»Wo seid ihr denn gewesen?« fragte er mit gerunzelter Stirn. »Ich warte bereits seit einer Stunde.«

»Entschuldige bitte, wir waren Pizza essen und haben die Zeit vergessen. Nächstes Mal werde ich dir rechtzeitig Bescheid geben.« Am Rande registrierte Ilona, wie die Mädchen ängstlich an Volker vorbeischlüpften.

»We lange soll dieses Theater noch weitergehen?« fragte Volker mit in die Hüften gestemmten Fäusten, als die Kinder im Badezimmer verschwunden waren. »Sieh dir doch bloß mal deine Wohnung an, der reinste Saustall. Erinnerst du dich nicht, mit wieviel Liebe du jedes Zimmer eingerichtet hast und wie stolz du immer warst, wenn deine Besucher deinen tollen Geschmack gelobt haben?«

»Pscht«, machte Ilona und zeigte auf die verschlossene Badezimmertür. »Sei doch bitte ein bißchen leiser. Die Mädchen haben schon richtig Angst vor dir.«

»Blödsinn!« schnaubte Volker, senkte dann aber tatsächlich seine Stimme. »Kannst du mir bitte verraten, wie es mit uns weitergehen soll? Ich habe keine Lust, in Zukunft ständig die zweite Geige zu spielen.«

»Aber es wird sich alles regeln, so oder so«, erwiderte Ilona niedergeschlagen und mußte wieder an das Gespräch mit Frau Arnecke vom Jugendamt denken. »Rede mir doch bitte nicht ständig ein schlechtes Gewissen ein, weil ich mich um die Kinder meiner Schwester kümmere. Es ist doch alles so schon schwer genug.«

Volker hatte Rebeccas Tapetenentwurf entdeckt und hielt ihn Ilona dicht vor die Nase. »Du hast den Kindern doch nicht etwa erlaubt, an deinem Computer zu spielen? Du weißt doch ganz genau, daß alleine das Grafikprogramm etliche tausend Mark gekostet hat.«

»Mein Gott, Volker, jetzt stell dich doch nicht so an. Was können die Mädchen schon kaputtmachen, wenn sie ein paar Tasten drücken?«

»Dein PC ist kein Spielzeug, das solltest du den beiden klarmachen.« Noch immer bebte Volker vor Wut über Ilonas Vermeintlichen Leichtsinn. »Ich kann dich beim besten Willen nicht verstehen.«

Ilona betrachtete den gutaussehenden Mann im maßgeschneiderten Anzug vor sich. Warum war ihr früher nie aufgefallen, welch ein materiell eingestellter Mensch Volker war?

»Laß uns ein anderes Mal dar­über reden, ja?« bat sie schließlich und fuhr sich über die Augen. »Es war ein anstrengender Tag, und ich bin ziemlich müde.

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Du verbrauchst deine ganze Energie für die Kinder – aber für mich bist du zu müde.«

Ilona senkte den Kopf. »Wenn Rebecca und Miriam unsere eigenen Kinder wären, würdest du dann auch so reden?«

Für einen Moment schwieg Volker verblüfft. Doch dann fing er sich schnell wieder. »An eigene Kinder habe ich nie gedacht.«

»Du willst niemals eine Familie gründen?« fragte sie fassungslos. »Weshalb wolltest du dich dann unbedingt mit mir verloben?«

»Weil…« Er machte eine vage Handbewegung. »… weil es sich vor den Leuten besser anhört, als wenn man nur befreundet ist.«

Ilona lachte hart auf. »Das ist natürlich ein Argument! Und ich dachte, du hast dich mit mir verlobt, weil du mich liebst.«

Sofort lenkte er ein. »Aber sicher liebe ich dich – deshalb will ich dich ja für mich alleine haben. Das ist auch der wahre Grund, warum ich nie über eigene Kinder nachgedacht habe.«

Ilona verschränkte die Arme unter der Brust. »Aber die Mädchen sind nun einmal hier, und es ist meine Pflicht, für sie zu sorgen.«

»Das sollst du ja auch – vorübergehend.« Er lächelte sein charmantes Lächeln, in das sich Ilona einst verliebt hatte.

»Ich kann nun mal nichts mit Kindern anfangen, und das wird sich auch nie ändern.«

Ilona schwieg. Sollte sie Volker sagen, daß sie am liebsten ihre Nichten für immer bei sich aufnehmen würde, weil sie sie so ins Herz geschlossen hatte?

»Tante Ilona, sagst du uns gute Nacht?« Unbemerkt war Rebecca in ihrem rosa Nachthemd ins Zimmer getreten und trat verlegen von einem Füßchen auf das andere.

»Aber natürlich, mein Engel.« Ilona war froh, die unangenehme Unterhaltung mit Volker unterbrechen zu können. »Ist Miriam schon im Bett?«

»Nein, sie putzt sich noch die Zähne.« Rebecca preßte ihre Lieblingspuppe fest an sich und betrachtete den Mann, der mürrisch blickend neben ihrer Tante stand, skeptisch.

»Entschuldige mich einen Moment«, sagte Ilona zu Volker und hob das kleine Mädchen hoch, um es ins Gästezimmer zu tragen.

»Tante Ilona?« Rebecca klammerte sich fest an ihre Tante. »Warum hat Onkel Volker immer schlechte Laune?«

Ilona setzte die Kleine auf ihrem Bett ab. Es war nicht einfach, eine passende Erklärung für eine Dreijährige zu finden. »Tja, weißt du, er hat immer so viel zu tun, daß er abends ganz doll müde ist und keine Lust mehr zum Lachen hat.«

Inzwischen war auch Miriam in ihr Klappbett geschlüpft. »Onkel Volker möchte bestimmt, daß wir wieder weggehen von dir.«

»Unsinn!« rief Ilona hastig und wunderte sich einmal mehr, wie feinfühlig die Mädchen waren, obwohl sie Volker nicht sehr oft zu Gesicht bekamen. »Und außerdem ist dies meine Wohnung, und nur ich bestimme, wer bei mir lebt.«

»Dann können wir für immer bei dir bleiben?« fragte Rebecca mit vor Überraschung aufgerissenen Augen.

Ilona zögerte. »Nun, euer Onkel Jörg würde sich freuen, wenn ihr bei ihm leben würdet.«

»Och, der wohnt so weit weg von hier, dann können wir dich ja gar nicht mehr besuchen«, maulte Rebecca.

»Aber Onkel Jörg hat ein schönes großes Haus, in dem jede von euch ein eigenes Zimmer haben wird. Ihr wart doch schon bei ihm und habt von dem tollen Haus geschwärmt.«

»Aber Tante Susanne ist eine blöde Ziege«, warf Miriam ein, »bei ihr möchte ich nicht leben.«

»Ja, genau. Sie hat uns immer verboten, auf dem Rasen hinter dem Haus zu spielen und mit Schuhen ins Haus zu kommen«, empörte sich Rebecca.

Ilona senkte den Kopf und mußte schmunzeln. Susanne hatte einen Reinlichkeitswahn, und die Mädchen würden sicherlich ihr schmuckes Zuhause in kürzester Zeit in ein Schlachtfeld verwandeln.

Energisch zog Ilona Rebeccas Bettdecke hoch. »So, jetzt ist aber Schluß mit der Diskussion. Wir werden darüber reden, wenn es soweit ist.«

Sie gab jedem der Kinder einen Kuß und löschte das Licht im Zimmer.

Volker stand am Fenster und starrte mit düsterem Blick auf die Straße hinunter. Ansonsten lenkte Ilona stets ein, wenn sie merkte, daß ihren Verlobten etwas verärgert hatte – aber wenn es um die Kleinen ging, konnte sie nicht nachgeben.

»Hast du dich wieder etwas beruhigt?« fragte sie statt dessen und machte sich daran, Miriams Bilderbücher und Rebeccas Spielsachen zusammenzusuchen.

Volker antwortete nicht.

»Soll ich dir einen Kaffee kochen?« fragte sie sanft. »Ich könnte jetzt auch einen vertragen.«

»Nein, dann kann ich heute nacht nicht schlafen.«

Ilona hob ratlos die Arme. »Möchtest du etwas anderes trinken oder essen?«

Abrupt drehte sich der Mann um. »Das einzige, was ich jetzt möchte, ist, daß du etwas Zeit für mich hast.«

»Warum regst du dich so auf?« Nun wurde auch Ilona ärgerlich. »Ich habe doch jetzt Zeit für dich.«

Gerade wollte Volker zu einer Antwort ansetzen, als ein klägliches Stimmchen erklang: »Tante Ilona, ich habe Bauchschmerzen.«

Sofort war sie bei der kleinen Rebecca. »Sicherlich hast du deine Pizza zu schnell gegessen. Komm her, ich koche dir jetzt einen Kamillentee, und dann sind die Bauchschmerzen ganz schnell wieder fort.«

Die Kleine nickte und ließ sich willenlos zurück ins Bett tragen. Mit einem schnellen Seitenblick erfaßte Ilona, daß Volker entnervt zur Zimmerdecke sah.

Eine halbe Stunde später war Rebecca eingeschlafen. Volker hatte inzwischen den Fernseher eingeschaltet und zappte wütend von einem Programm zum nächsten.

»Du wirst noch die Fernbedienung kaputtmachen, wenn du sie so heftig drückst«, bemerkte Ilona und setzte sich neben Volker.

»Dann kaufe ich dir eine neue.« Er lehnte sich zurück. »Kann ich jetzt einmal mit dir reden, ohne daß eines der Kinder plötzlich im Zimmer steht?«

»Sicher, die beiden schlafen jetzt wie die Murmeltiere.«

»Gut. Du weißt, daß ich in vier Wochen geschäftlich nach New York reisen muß…«

»Ja, du hast mir davon erzählt.«

»Ich möchte gern, daß du mich begleitest. Wir könnten an die geschäftlichen Besprechungen ein romantisches Wochenende anhängen – ich weiß doch, wie gerne du einmal nach New York möchtest.«

»Das wäre wirklich sehr schön, doch ich werde nicht mitkommen können, Volker.«

Er sah überrascht aus. »Aber warum denn nicht?«

»Du hast die Mädchen vergessen. Ich kann sie doch nicht tagelang alleine lassen.«

»Die Reise ist doch erst in ein paar Wochen; bis dahin wird sie Jörg ja endlich geholt haben.«

»Und wenn nicht?« fragte Ilona leise.

Volker spring auf. »Dann werde ich die Kinder höchstpersönlich zu ihm schaffen. Du hast dich lange genug um die Mädchen gekümmert, jetzt ist dein Schwager dran!«

»Sei doch nicht schon wieder wütend«, bat Ilona verzweifelt. »Susanne muß doch erst mit ihrem Chef sprechen, ob er damit einverstanden ist, daß sie nur noch halbtags arbeitet. Warum hast du nicht noch ein bißchen Geduld?«

»Weil ich mein Leben nicht nach fremden Leuten richten will«, gab er ungehalten zurück. »Wie lange soll dieses Spielchen denn noch weitergehen?«

Ilona holte tief Luft und antwortete ruhig: »Bis sich eine Lösung gefunden hat.«

Er lachte unfroh auf. »So viel Geduld habe ich nicht. Was ist, wenn Susanne die Kinder partout nicht haben will? Sie können doch nicht ewig bei dir bleiben.«

»Sie werden in ein Waisenhaus geschickt werden, das hat mir gerade heute Frau Arnecke vom Jugendamt mitgeteilt«, gab sie kaum hörbar zurück.

Volker atmete auf. »Das wird vielleicht das beste sein.«

»Das meinst du dich nicht im Ernst?« Ilona starrte den Mann, von dem sie dachte, ihn in- und auswendig zu kennen, fassungslos an. »Du ziehst es vor, die Kinder ohne Liebe in einem Waisenhaus sitzen zu sehen, statt dein Leben ein wenig zu ändern? Ich glaube es einfach nicht!«

»So habe ich das nicht gemeint«, lenkte er schnell ein, doch Ilona wußte, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. »Du kannst die Mädchen schließlich nicht ewig hierbehalten, oder?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nur, wenn ich heirate.«

»Das schlage dir mal ganz schnell wieder aus deinem hübschen Köpfchen. Ich werde ganz bestimmt nicht heiraten, um freiwillig für fremde Kinder aufzukommen.«

»Miriam und Rebecca sind keine fremden Kinder, sondern das einzige, was mir meine Schwester hinterlassen hat.« Mit Ilonas Fassung war es vorüber. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.

Etwas hilflos setzte sich Volker wieder neben sie. »Es tut mir leid, ich habe wohl ewas übertrieben.«

Er legte seinen Arm um seine weinende Verlobte. Ilona lehnte sich aufschluchzend an ihn – doch beruhigen konnte sie sich nicht. Etwas in ihr war zerbrochen, und sie wußte plötzlich mit Bestimmtheit, daß Volker nicht der Mann war, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte…

*

Jörg kündigte seinen Besuch zu der Zeit an, in der Volker auf dem Weg nach New York sein würde. Zähneknirschend hatte er aufgegeben, Ilona zu überreden, ihn zu begleiten.

»Wie lange bleibt Onkel Volker denn in Amerika?« fragte Miriam beim Frühstück. »Bist du traurig, daß du nicht mitkommen konntest?«

Liebevoll strich Ilona dem Kind über die Wange. »Ganz bestimmt nicht, ich freue mich doch darauf, daß euer Onkel Jörg uns besuchen kommt. Nach Amerika kann ich immer noch fahren, das läuft mir nicht weg.«

»Kann es ja auch nicht, weil es keine Beine hat«, kicherte Rebecca hinter vorgehaltener Hand.

Ilona lachte auf. »Du kommst vielleicht auf Ideen.«

»Was will Onkel Jörg denn hier?« fragte Miriam mit mißtrauischem Blick. »Will er uns etwa nach Nürnberg mitnehmen?«

»Nein, so schnell geht das nicht. Er muß erst einmal mit den Leuten vom hiesigen Jugendamt reden.«

»Ich will nicht nach Nürnberg ziehen!« rief Rebecca. »Bei dir ist es viel schöner, und den Kindergarten mag ich auch sehr.«

Ilona sah auf die Uhr. »Wenn wir uns nicht beeilen, kommen wir zu spät in euren geliebten Kindergarten. Miriam, wisch dir bitte die Marmelade aus dem Gesicht, bevor wir losgehen, ja?«

Zu Ilonas großer Erleichterung gingen die Mädchen gerne in den Kindergarten. Auch Miriam war in den letzten Wochen merklich aufgeblüht und zeigte wieder Interesse an ihrer Umwelt. Nur hin und wieder überzog noch ein trauriger Schatten ihre feinen Gesichtszüge.

Der Kindergarten lag nur zwei Querstraßen von Ilonas Wohnung entfernt, gleich neben einem großen Supermarkt, in dem sie einkaufte, wenn sie die Mädchen in der Tagesstätte abgeliefert hatte.

»Was möchtet ihr denn heute mittag essen?« fragte sie, als sie die Eingangstür des Kindergartens passierten.

»Spaghetti!« rief Miriam.

»Nein, Pommes frites!« verlangte Rebecca.

Ilona lachte. »Aber ich kann doch nicht jeden Tag dasselbe kochen! Wie wäre es mit einer schönen Gemüsesuppe?«

»Och«, machten beide Mädchen gleichzeitig.

»In Ordnung, ich gebe mich geschlagen. Heute gibt es Spaghetti und morgen Pommes frites.«

Als Ilona wenig später nach Hause kam, seufzte sie auf. Der Küchentisch sah aus wie nach einem Bombenanschlag, und sie war froh, daß Volker dieses Chaos nicht sah.

Ihr Leben hatte sich vollkommen geändert – und es gefiel ihr. Freilich verdiente sie nicht mehr so viel wie früher, weil sie nur noch stundenweise zu Hause arbeiten konnte. Doch das fröhliche Lachen der Kinder entschädigte sie mehr als genug dafür.

Bevor sich sich an ihrem Computer setzte, gönnte sie sich noch eine Tasse Kaffee und setzte sich damit an den nun wieder aufgeräumten Tisch.

Ob Jörg sich inzwischen mit Susanne geeinigt hatte? Ein bißchen Angst hatte Ilona schon, daß er die Mädchen gleich mitnehmen könnte – sie waren inzwischen zu ihrem Lebensinhalt geworden. Daran, daß sie sich früher oder später von ihnen trennen mußte, mochte sie gar nicht denken…

*

Jörg traf am darauffolgenden Tag in Kiel ein. Ilona bemerkte zum ersten Mal, welch warmherziges Lächeln dieser sympathische Mann hatte, und flüchtig verglich sie ihn mit dem eleganten, selbstsicheren Volker.

»Susanne konnte leider nicht mitkommen«, entschuldigte sich Jörg. »Wie geht es den Mädchen?«

»Sie haben sich ganz gut von dem Schock erholt, denke ich. Im Moment sind sie im Kindergarten.«

»Ich störe dich hoffentlich nicht bei deiner Arbeit?« Er wies auf den Computertisch, der eingezwängt zwischen Schrank und Vitrine stand.

»Aber nein. Ich habe meine Entwürfe bereits fertig. Wenn du möchtest, können wir nachher gemeinsam die Kinder abholen.«

»Gern. Ich freue mich darauf, die beiden Mäuschen wiederzusehen.«

Ohne Aufforderung ging Ilona in die Küche und setzte Kaffeewasser auf.

Jörg folgte ihr. »Schön hast du es hier.«

»Ja, aber ziemlich beengt. Hat sich Susanne schon entschieden, wann ihr die Kinder zu euch nehmt?«

»Tja, das ist so eine Sache. Ihrem Chef gefällt es nicht, daß sie nur noch vormittags arbeiten kann, wenn die Mädchen bei uns leben.«

»Mein Chef war auch nicht sonderlich begeistert von der Idee, daß ich die nächste Zeit zu Hause arbeite. Aber ich meine, das Wohl der Kinder geht in diesem Fall vor.«

Jörg nickte. »Der Meinung bin ich auch – aber ich glaube, Susanne ist ganz froh, daß ihr Chef sie nicht gehen lassen will.«

Ilona fuhr herum. »Was soll das heißen?«

»Ich denke, sie ist nicht sehr glücklich darüber, Miriam und Rebecca bei uns aufzunehmen. Sie meint, sie kenne die Mädchen kaum und würde nur Schwierigkeiten mit ihnen haben.«

»Und was meinst du? Du weißt, daß die Kinder ins Waisenhaus kommen, wenn du und Susanne sie nicht zu euch nehmt«, erwiderte Ilona leise. »Das kannst du doch nicht zulassen.«

Jörg hob hilflos die Arme. »Was soll ich denn machen? Ich kann Susanne nicht zwingen, Ersatzmutter zu spielen und ihren schönen Beruf aufzugeben.«

»Nein, das geht natürlich nicht.« Ilona stellte Kaffeetassen auf den Tisch und setzte sich ihrem Schwager gegenüber. »Ich würde die Mädchen am liebsten hierbehalten, aber dann bekomme ich Schwierigkeiten mit dem Jugendamt – und Volker macht nicht mit.«

»Was macht er nicht mit?«

»Wegen der Kinder zu heiraten.« Ilona lachte kurz auf. »Eigentlich sind wir beide in derselben Situation: Wir können uns nicht um unsere Nichten kümmern, weil unsere Partner andere Pläne haben – es ist doch wie verhext.«

Nachdenklich starrte Jörg in seine Kaffeetasse. »Ob Rebecca und Miriam wirklich ins Waisenhaus kommen werden?«

»Daran besteht kein Zweifel.« Und dann erzählte Ilona von dem Telefongespräch mit Barbara Arnecke.

»Das ist ja schrecklich, haben die denn gar kein Herz? Die Kleinen haben doch weiß Gott schon genug durchgemacht!« rief Jörg empört und hieb wütend mit der Faust auf die Tischplatte. »Die Beiden sind auf uns angewiesen, und wir können sie nicht enttäuschen.«

»Darüber zerbreche ich mir Tag und Nacht den Kopf.« Ilona blickte ihren Schwager niedergeschlagen an. »Ich habe dem Jugendamt bereits vorgeschlagen, nur noch zu Hause zu arbeiten, um Geld zu verdienen – doch die bleiben stur und haben kein Einsehen. Lieber lassen sie die Kinder ins Heim abschieben, als daß sich jemand darum kümmert, der sie liebte, der aber leider nicht verheiratet ist. Angeblich geht es ausschließlich um das Wohl der Kleinen.«

Jörg nickte zustimmend. »Ich werde in den nächsten Tagen mit dieser Frau Arnecke persönlich reden; vielleicht gewährt sie mir noch ein paar Wochen Aufschub.«

»Ja, versuchen kannst du es ja.« Ilona stand auf. »Es ist Zeit, die Mädchen vom Kindergarten abzuholen. Möchtest du mitkommen?«

»Aber sicher.«

Bedrückt schweigend legten die beiden die kurze Strecke zur Tagesstätte zurück.

Miriam und Rebecca warteten schon sehnsüchtig, obwohl sie gerne mit den anderen Kindern zusammen waren, freuten sie sich jeden Mittag darauf, daß Ilona sie wieder abholte.

»Hallo, Onkel Jörg!« rief Rebecca freudig und warf sich in seine Arme. »Soll ich dir meine neuen Freunde zeigen?«

»Gerne.« Lachend ließ sich Jörg von dem kleinen Mädchen mitziehen. Er war erleichtert, die Kleine so fröhlich vorzufinden.«

»Guten Tag, Frau Struve«, grüßte die Kindergartenleiterin freundlich. »Ihre Nichten haben sich hier gut eingelebt. Mit jedem neuen Tag werden sie aufgeschlossener und nehmen inzwischen mit Begeisterung an den Aktivitäten, die wir den Kindern bieten, teil.«

»Ich bin auch sehr froh, daß sich die Mädchen wieder gefangen haben. Miriam ist schon etwas verständiger, bei ihr wird es wohl noch etwas länger dauern, bis sie wieder wie vor dem Unglück ihrer Eltern wird.«

»Die Zeit heilt alle Wunden, Frau Struve. Miriam und Rebecca sind noch sehr jung und können das Geschehene besser verarbeiten als ältere Kinder.«

»Das mag wohl stimmen. Ach, da kommt ja Miriam.« Ilona winkte ihr zu. »Hast du deinen Onkel Jörg schon begrüßt?«

Miriam nickte. »Ja, Rebecca zeigt ihm gerade unsere selbstgemachten Marionetten. Kommst du auch zu der Vorführung, Tante Ilona?«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte!« rief Ilona aus. »Jetzt lauf und hole deine Schwester, damit wir gehen können. Ihr habt doch sicherlich schon großen Hunger.«

»Sie können sehr gut mit Kindern umgehen, Frau Struve«, bemerkte die Kindergärtnerin. »Schade, daß die Mädchen nur vorübergehend bei Ihnen sind, sie wären eine gute Mutter für sie.«

Ilona nickte traurig. »Ich möchte sie am liebsten nicht mehr hergeben, wie Sie sich denken können. Leider hat das liebe Jugendamt etwas dagegen.«

»Ja ja, die Behörden legen jedem, der es gut meint, unzählige Steine in den Weg.«

Jörg tauchte mit den kichernden Mädchen im Schlepptau auf, und Ilona fragte sich wehmütig, warum Volker nicht ein klein wenig von Jörgs Gutmütigkeit und Sanftmut besaß…

*

Jörg konnte erreichen, daß ihm noch ein paar weitere Wochen blieben, um seine Frau entscheiden zu lassen, ob sie Miriam und Rebecca zu sich nehmen wollte.

Ansonsten verbrachte Ilona mit ihm und den Kindern ein paar schöne Tage, während der sie Volker kaum vermißte, wie sie sich fast erschrocken eingestand.

Die Mädchen war begeistert vom Zoo-Besuch und der Kahnfahrt; Dinge, auf die Volker nie gekommen wäre. Als ein älteres Ehepaar bei einem Spaziergang bemerkte, wie hübsch doch ihre Kinder wären, strahlten Jörg und Ilona vor Stolz um die Wette.

Nach einer Woche mußte Jörg jedoch zurück nach Nürnberg, zu lange konnte er seinen Betrieb nicht alleine lassen.«

»Kommst du bald wieder, Onkel Jörg?« fragte Rebecca traurig, und Miriam fügte hinzu: »Wird es dann wieder so lustig?«

»Wir werden sehen, ihr Rasselbande«, erwiderte er schmunzelnd. Was würde sein nächster Besuch bringen? Würde er die Mädchen mit nach Hause nehmen oder um einen weiteren Aufschub beim Jugendamt bitten müssen?

Jörg hinterließ eine schmerzliche Einsamkeit in Ilonas Innerem. Ihr Schwager war ganz anders als Volker, man konnte mit ihm über alles reden, ohne daß er sich selbst zu wichtig nahm.

Erschrocken stellte Ilona fest, daß sie die schöne Susanne um ihren Mann beneidete!

*

»Morgen kommt Onkel Volker zurück«, verkündete Ilona am nächsten Tag betont fröhlich. »Freut ihr euch?«

»Freust du dich?« fragte Miriam zurück und betrachtete ihre Tante aufmerksam.

Ilona wandte sich mit errötendem Gesicht ab. »Natürlich freue ich mich.«

»Ich möchte lieber, daß Onkel Jörg zurückkommt«, quengelte Rebecca. »Mit ihm ist es immer so lustig, Onkel Volker lacht nie, der schimpft immer nur mit dir, wenn wir nicht ganz leise sind.«

Ilona beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter. »Er wird sich an euch noch gewöhnen.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Rebecca beharrlich und schüttelte heftig den Kopf.

»Aber sicher wird er das.« Ilonas Stimme klang fest, obwohl sie es besser wußte.

»Sagst du Onkel Volker, daß wir ganz artig waren, wenn du gearbeitet hast?« fragte Miriam.

»Natürlich werde ich ihm davon erzählen. Ich bin sehr stolz auf euch, daß ihr schon so vernünftig seid.«

»Wir möchten doch bei dir bleiben und werden alles tun, was du möchtest.«

Ilona durchfuhr ein schmerzhafter Stich. Noch ahnten die Kinder nichts von ihrem möglichen Schicksal, und sie wollte ihnen, solange es ging, eine heile Welt vorspielen. Mehr denn je war Ilona davon überzeugt, daß Susanne, die Mädchen nicht bei sich aufnehmen wollte – der arme Jörg, wie sehr mußte es ihm weh tun, so eine kaltherzige Frau zu haben…

*

Gutgelaunt war Volker von seinem Amerika-Aufenthalt zurückgekehrt. Er schwärmte von den gigantischen Hochhäusern, den unbeschreiblichen Verkehr und den vielen Sehenswürdigkeiten. Ilona hatte den Verdacht, daß er sie dazu bringen wollte zu bereuen, daß sie nicht mitgekommen war.

»Ich hatte eigentlich gedacht, daß die Mädchen mit Jörg gegangen sind«, bemerkte er abschlie­ßend. »Oder hat er kalte Füße bekommen und ist gar nicht erschienen?«

»Oh doch, er war hier und hat beim Jugendamt sogar einen Aufschub erwirkt.« Es ärgerte Ilona, wie abwertend Volker über ihren Schwager redete. »Liebend gern hätte er die Kinder mit sich genommen, aber…«

»Laß mich raten: Seine Frau will die Mädchen nicht.«

»Sie hat sich noch nicht entschieden. Immerhin hat Susanne nicht die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten. Du scheinst vergessen zu haben, daß sie sich von der einfachen Schreibkraft zur Top-Sekretärin hochgearbeitet hat. Gerade du solltest doch verstehen, wie wichtig die berufliche Karriere im Leben einer Frau ist.«

»Schon, aber Susanne braucht nicht zu arbeiten. Jörg verdient mit seinem Tichlerei-Betrieb genug, um eine Familie gut zu ernähren.«

Ilona gab es auf, Volker Erklärungen über Susanne abzugeben – er würde es ja doch nicht verstehen. Wenn das Waisenhaus nicht drohen würde, wäre es Ilona sogar sehr recht gewesen, wenn Susanne die Kinder nicht haben wollte.

»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Volker lächelte und griff in die Brusttasche seines Jacketts.

»Was ist es?« fragte Ilona und nahm das kleine Kästchen an sich.

»Mach es auf und sieh nach«, schlug er vor und lehnte sich zufrieden zurück.

»Oh, Volker, es ist unheimlich schön.« Mit glänzenden Augen nahm Ilona das schwere goldene Armband aus der Schatulle heraus.

»Ich habe auf der Rückseite etwas eingravieren lassen«, bemerkte Volker.

Neugierig las Ilona, was dort in winzigen verschnörkelten Buchstaben eingraviert stand: »Nur du und ich.«

Sie wußte genau, was das bedeutete, tat aber, als würde sie sich über die kleine Widmung freuen. »Du bist wirklich ein Schatz. Ich danke dir sehr.«

»Keine Ursache. Ich wollte nämlich nicht den Eindruck hinterlassen, daß ich dich während meiner Reise vergessen hätte.«

Ilona legte das Armband an, es stand ihr vorzüglich.

»Bekomme ich dafür jetzt endlich einen richtigen Kuß?« fragte er schmunzelnd und zog Ilona an sich.

Richtig genießen konnte sie den innigen Kuß nicht, und sie riß erschrocken die Augen auf. Sie hatte tatsächlich an Jörg gedacht!

*

Einige Tage später rief Volker aus seinem Büro an, um Ilona zu bitten, in seine Wohnung zu fahren und ihm ein paar Unterlagen vorbeizubringen, die er morgens vergessen hatte.

Wie er für ihre Wohnung, so besaß auch Ilona für Volkers Wohnung einen Schlüssel.

»Nach dem Mittagessen müssen wir Onkel Volker einige wichtige Akten ins Büro bringen, bevor wir auf das Schützenfest fahren«, erklärte Ilona den Mädchen.

»Dauert das lange?« wollte Rebecca augenblicklich wissen.

Ilona fuhr ihr zärtlich über das Haar. »Keine Sorge, es geht ganz schnell. Wenn wir die Unterlagen im Büro abgeliefert haben, haben wir noch den ganzen Nachmittag Zeit, um Karussell zu fahren.«

Beruhigt löffelte die Kleine ihre Nudelsuppe weiter. »Darf ich mir auch ein Los kaufen, Tante Ilona?«

»Selbstverständlich, ihr dürft euch beide Lose kaufen.«

»Ich möchte so gern eine dieser großen Puppen mit den tollen Kleidern gewinnen«, schwärmte Miriam und schüttelte den Kopf, als ihre Tante ihr noch etwas Suppe anbot. »Aber bestimmt gewinnen ich nur wieder einen Kaugummi oder einen Lutscher.«

Gleich nach dem Essen machte sich das Trio auf den Weg zu Volkers Wohnung. Er brauchte seine Unterlagen für eine Sitzung, die um fünfzehn Uhr angesetzt war, da war Eile geboten.

»Tut mir einen Gefallen«, flehte Ilona, als sie die Tür zu Volkers eleganter Penthouse-Wohnung aufschloß. »Rührt nichts an, was kaputtgehen könnte. Onkel Volker wird sonst sehr böse auf uns sein.«

Die Mädchen staunten nicht schlecht, als sie die Möbel sahen, die fast nur aus Chrom und Glas zu bestehen schienen. Ilona fühlte sich nicht wohl in dieser Wohnung, sie fand sie zu kalt und unpersönlich.

»Wartet hier; ich hole die Akten aus dem Arbeitszimmer.« Ilona fand schnell, worum Volker sie gebeten hatte, und verließ den Raum wieder.

Vor dem Schlafzimmer blieb sie zögernd stehen. Einer plötzlichen inneren Eingebung nachgehend drückte sie den Türgriff.

Drinnen sah alles so aus wie immer – zumindest auf den ersten Blick.

Suchend sah sich Ilona um; sie wußte nicht genau, wonach sie suchte, bis ihr Blick an dem gläsernen Nachttischchen hängenblieb.

Neben einem schnurlosen Telefon befand sich außer einem Wecker ein in Leder gebundenes Notizbuch, das Ilonas Neugierde anzog.

Zaghaft öffnete sie es, und heraus rutschten einige Fotos. Ilona stockte der Atem: Auf den Hochglanzfotos war eine attraktive blonde Frau zu sehen, die aufreizend lächelnd in die Kamera blickte.

Auf der Rückseite eines jeden Fotos stand auf englisch geschrieben: »Zur ewigen Erinnerung an unsere schöne Zeit in New York, Charlene.«

Ernüchtert ließ Ilona die Fotos sinken. So war das also! Volker hatte sich mit dieser Frau ein paar schöne Stunden gemacht und ihr eingeredet, ausschließlich an sie gedacht zu haben!

»Tante Ilona, wann fahren wir denn?« rief Rebecca aus dem Wohnzimmer, und ertappt steckte diese die Bilder wieder zurück in das Notizbuch.

»Nur noch eine Minute!« Mit zitternden Händen blätterte Ilona das Büchlein durch und fand schnell die Telefonnummer dieser Charlene aus New York. Volker hatte also noch Kontakt zu seiner amerikanischen Bekanntschaft!

Eigentlich hätte sie verzweifelt über ihre Entdeckung sein müssen, doch sie war es nicht. In ihr blieb es kühl – sie glaubte sogar, eine Spur von Erleichterung zu bemerken.

»Tante Ilona, wann kommst du denn?« war wieder Rebeccas ungeduldiges Stimmchen zu hören. »Wir wollen doch Karussell fahren!«

Ilona legte das Notizbuch zurück und erhob sich. Dann warf sie einen letzten Blick durch das Zimmer und wußte im selben Moment, daß sie es nie wieder sehen würde.

»So, mein Engelchen, jetzt bringen wir Onkel Volker seine wichtigen Unterlagen und dann geht es zum Schützenfest.«

Unter dem Jubelschrei der Mädchen verließen sie die Wohnung.

Die Kinder waren tief beeindruckt von dem modernen Hochhaus, in dem Volker arbeitete. Ilona bat sie, im Auto zu warten, denn sie hatte nicht vor, Volker persönlich zu treffen, sondern wollte die Akten beim Pförtner abgeben.

Der Rest des Nachmittags verging mit Eisessen, Karussellfahren und anderen Kirmesvergnügen. Ilona kam sich selbst wieder wie ein Kind vor und verdrängte immer wieder die Gedanken an das unausweichliche ernste Gespräch mit Volker.

Die Mädchen lehnten müde in ihren Sitzen, als Ilona gegen Abend ihr Auto heimwärts lenkte.

»Hat es euch denn gefallen?« fragte sie und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ich fand es sehr lustig.«

»Das war ein toller Tag«, murmelte Miriam und versuchte vergeblich, ihre Augen offenzuhalten. »Machen wir das bald wieder einmal, Tante Ilona?«

»Aber natürlich, Schätzchen. Sobald wieder irgendwo in der Stadt ein Schützenfest ist, fahren wir dort hin.«

»Versprochen?«

Einen Augenblick zögerte Ilona. Durfte sie ein Versprechen geben, das sie möglicherweise gar nicht halten konnte?

»Warum sagst du nichts?« fragte Miriam mißtrauisch vom Rücksitz her.

»Entschuldige bitte, ich mußte eben auf den Verkehr achten. Ja, ich verspreche es euch.«

Rebecca war mittlerweile fest eingeschlafen. Mit dem Daumen im Mund sah sie wie ein kleiner Engel aus. Ilona schnitt dieser unschuldige Anblick ins Herz – wie lange noch durfte sie die Gegenwart ihrer kleinen Nichten genießen?

*

Niedergeschlagen sank Ilona auf die Couch. Die Mädchen waren sofort eingeschlafen, als sie in ihren Betten lagen. Nu wartete sie auf Volkers Eintreffen und horchte in sich hinein. Über drei Jahre waren sie ein Paar gewesen, und sie hatte immer geglaubt, ihn zu lieben. Doch der schreckliche Unfalltod ihrer Schwester hatte Ilona die Augen über Volker geöffnet.

Nie zuvor hatte sie bemerkt, was für ein oberflächlicher Mensch ihr Verlobter war – oder war sie selbst früher auch so gewesen?

Noch bevor sich Ilona die Antwort auf diese schwierige Frage geben konnte, hörte sie den Schlüssel im Türschloß.

»Gute Abend, mein Liebling!« Volker strahlte über das ganze Gesicht und hielt eine Flasche Champagner hoch. »Du darfst mir gratulieren, ich habe heute nachmittag einen hervorragenden Geschäftsabschluß gemacht!«

»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte Ilona ohne Interesse und blickte Volker dabei nicht an.

Dessen triumphierendes Lä­cheln erstarrte ihm auf den Lippen. »Was ist denn mit dir los? Freust du dich denn gar nicht über meinen Erfolg?«

»Doch, doch.«

Volker stellte die Flasche ab und setzte sich neben sie. »Danach siehst du mir aber ganz und gar nicht aus. Ich glaube, die Verantwortung für deine Nichten wächst dir langsam über den Kopf. Wo sind die Mädchen eigentlich?«

»Sie schlafen bereits.«

Volker beugte sich über sie. »Das war sehr aufmerksam von dir, die kleinen Nervensägen beizeiten ins Bett zu schicken, damit wir mal wieder einen gemütlichen Abend zu zweit verleben können. Warum hast du mir eigentlich die Unterlagen nicht persönlich ins Büro gebracht, sondern lediglich beim Pförtner abgegeben?«

»Weil ich den Kindern versprochen habe, zum Schützenfest zu fahren und mich nicht länger als nötig aufhalten wollte«, gab sie tonlos zurück.

Er seufzte. »Die beiden tanzen dir auf dem Kopf herum, hast du das noch nicht bemerkt? Wenn sie etwas wollen, tanzt du nach ihrer Pfeife.«

»Aber das stimmt doch gar nicht.« Wütend blitzte Ilona ihren Verlobten an. »Mußt du für alles den Kindern die Schuld geben?«

Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Du hast dich verändert, weißt du das eigentlich?«

»Mag sein, aber mir gefällt meine Veränderung. Ich lebe bewußter als früher, und du kannst mir keinen Vorwurf daraus machen, daß Miriam und Rebecca ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden sind.«

»Ist ja schon in Ordnung.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich verstehe nicht, daß du immer gleich so gereizt bist, wenn die Sprache auf die Mädchen kommt. Aber ich kann warten, bis du dich wieder beruhigt hast – immerhin kann es nicht mehr lange dauern, bis deine Nichten ein neues Zuhause gefunden haben.«

»Ja, das wäre dir am liebsten, nicht wahr?«

»Ilona, wir haben doch schon oft genug darüber gesprochen, daß ich meine Zukunft mit dir verbringen will – aber ausschließlich mit dir.«

Sie holte tief Luft; jetzt war der Zeitpunkt gekommen, endlich reinen Tisch zu machen. »Aber ich will meine Zukunft nicht mehr mit dir verbringen.«

Sekundenlang blieb es still im Raum. Volker starrte Ilona fassungslos an, bevor er fragte: »Was soll das heißen?«

»Ich werde mich von dir trennen.« Sie sah ihm fest in die Augen, als sie diese Worte sprach.

Volker lachte belustigt auf. »Der Scherz war wirklich gut. Ich wußte gar nicht, daß du so ein Witzbold sein kannst.«

»Ich habe keinen Scherz gemacht.« Der Klang ihrer Stimme ließ keinen Zweifel darüber, daß sie die Wahrheit sprach. »Also höre bitte mit dem albernen Gelächter auf.«

Augenblicklich verstummte Volkers viel zu lautes Lachen. »Würdest du mir bitte verraten, aus welchem Grund du dich von mir trennen willst?«

Ilona schluckte. »Weil du mir nichts mehr bedeutest.«

Erregt sprang Volker auf und begann, mit langen Schritten im Zimmer auf und ab zugehen. »So, so, dir fällt urplötzlich ein, daß du mich nicht mehr liebst. Und das soll ich dir glauben?«

»Glaube es oder laß es sein, es spielt keine Rolle. Es ist aus zwischen uns, das mußt du einfach akzeptieren.«

Er drehte sich ruckartig um. »Ich akzeptiere es aber nicht! Die Kinder sind schuld daran, habe ich recht? Sie mögen mich nicht und haben dich gegen mich aufgehetzt.«

Trotz der ernsten Situation huschte ein amüsiertes Schmunzeln über Ilonas Lippen. »Deine Phantasie geht mit dir durch, mein Lieber. Die Mädchen sind zwar nicht gerade begeistert von dir – was bei deiner Unfreundlichkeit ihnen gegenüber kein Wunder ist – aber sie haben einen Einfluß auf meine Entscheidung. Allerdings sind mir durch die Kinder die Augen über dich geöffnet worden.«

»Ach ja? Was bin ich denn in deinen Augen? Ein Schuft, weil ich nicht vorhabe, mich die nächsten Jahre mit fremden Kindern herumzuplagen? Jeder andere Mann hätte wahrscheinlich genauso gehandelt wie ich.«

»Sicherlich fast alle, aber nicht jeder«, verbesserte Ilona. »Es gibt viele Gründe, warum ich mich von dir trennen will. Ich habe zum Beispiel festgestellt, daß ich nicht den Rest meines Lebens mit einem Mann verbringen möchte, der nichts anders als seine Karriere im Kopf hat und dasselbe auch von mir erwartet.«

Volker sank auf einen der Sessel. »Du weißt nicht, wovon du redest. Andere Frauen würden solch einen erfolgreichen Geschäftsmann wie mich mit Kußhand nehmen.«

»Wie eine gewisse Charlene aus New York, nehme ich an.« Ilona biß sich auf die Lippen, eigentlich hatte sie von dieser anderen Frau gar nicht reden wollen.

»Ach, das ist es.« Volker nickte fast erleichtert. »Du hast in meiner Wohnung herumspioniert und ihre Fotos entdeckt.«

»Nenne es, wie du willst, das macht die Sache nicht ungeschehen.«

»Aber das war doch nur eine kleine Episode, an der du nicht unschuldig bist.«

»Wie bitte?« Ilona horchte auf. »Du willst mir die Schuld daran geben, daß du mich betrogen hast?«

»Indirekt schon.« Er nickte wieder. »Hättest du mich auf der Reise begleitet, wäre es nie soweit gekommen. Ich fühlte mich einsam und ging in eine Bar, dort traf ich Charlene. Wir sind…«

»Bitte erspare mir die Einzelheiten.« Ilona wandte sich angewidert ab. »Dein Fremdgehen hat übrigens nur das Faß zum Überlaufen gebracht und mein Bild über dich vervollständigt. Ich möchte, daß du jetzt gehst.«

»Was? Du wirfst mich aus deiner Wohnung?« fragte er in ungläubigem Entsetzen. »Noch nie hat das eine Frau mit mir gemacht.«

»Dann bin ich eben die erste, die es tut. Und laß bitte den Schlüssel hier, deiner liegt bereits auf dem Garderobentischchen.«

Erst jetzt schien Volker zu begreifen, daß es Ilona vollkommen ernst war. »Dir ist wirklich nicht zu helfen. Meinetwegen, wenn es dich glücklich macht, gehe ich – aber glaube ja nicht, daß ich zu dir zurückkehre, wenn du heulend vor mir stehst und mich darum bittest.«

»Keine Sorge, dazu wird es nicht kommen«, gab Ilona kühl zurück. »Und den Champagner kannst du auch wieder mitnehmen.«

Sie sah nicht auf, als Volker ging, und atmete erleichtert auf, als sie die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte.

Eine merkwürdige Stille herrschte plötzlich im Zimmer. Ilona saß ganz still da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen…

*

Trotz ihrer Erleichterung stellte Ilona während der nächsten Tage fest, daß sie Volker vermißte – oder war es nur die Gewohnheit? Tagsüber hielte sie ihre Arbeit und die Mädchen auf Trab, doch abends, wenn Ilona ganz alleine in ihrem Wohnzimmer saß, fühlte sie sich sehr einsam.

Große Sorgen machte sie sich weiterhin um die Zukunft ihrer Nichten. Jörg hatte vage bei einem seiner Anrufe angedeutet, daß Susanne mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht für die Mädchen sorgen wollte, und einen erneuten Besuch angekündigt, um gemeinsam über eine andere Lösung nachzudenken.

Die Mädchen im Waisenhaus zu sehen, machte Ilona ganz krank, und sie mußte sich immer mehr zusammenreißen, damit Rebecca und Miriam nicht mitbekamen, wie düster ihre Zukunft aussah.

Über die Ankündigung, daß ihr geliebter Onkel Jörg in wenigen Tagen kam, freuten sich die Kinder sehr. Sie hatten noch seinen letzten Besuch lebhaft vor Augen und beratschlagten bereits vor Jörgs Eintreffen, was man alles mit ihm unternehmen könnte.

Mit wehem Herzen hörte Ilona dem sorglosen Geplapper der Mädchen zu. Wenn sie wüßten, daß ihre schöne Zeit sehr bald zu Ende sein würde, wären sie sicherlich weniger unternehmungslustig und begeistert…

*

Bereits am Tag seiner Ankunft in Kiel wurde Jörg überredet, in den Zoo zu gehen, weil es dort ganz viele Tier-Babys gab. Er und Ilona waren gemüht, heitere Gesichter zu machen. Die Kinder waren so aufgekratzt, daß sie die aufgesetzte Fröhlichkeit der beiden Erwachsenen gar nicht bemerkten.

»Was haltet ihr davon, wenn Tante Ilona und ich einen Kaffee trinken gehen, während ihr im Streichelzoo seid?«

»Geht nur, ich passe auf Rebecca auf«, versprach Miriam und nahm ihre kleine Schwester fürsorglich bei der Hand. »Wir laufen auch bestimmt nicht weg.«

Ilona und Jörg winkten den Kindern nach, dann lenkte er sie zu einem Café mit Terrasse. »Dort haben wir die Mädchen im Auge und können uns ungestört unterhalten.«

Sie nickte bedrückt. Um sie herum lachten die Menschen sorglos – niemandem schien solch ein schweres Gewicht auf der Brust zu lasten wie ihr und Jörg.

»Hast du eine Idee, was nun geschehen soll?« fragte sie vorsichtig, nachdem sie sich an einen der kleinen runden Tisch gesetzt hatten. »Wie können wir verhindern, daß die Mädchen mir fortgenommen werden?«

Jörg sah Ilona fest in die Augen. »Es bleibt nur eine Möglichkeit.

Sie hielt den Atem an. »Und die wäre?«

»Ich habe lange darüber nachgedacht. Susanne will die Kinder nicht, und ich alleine kann nichts entscheiden. Wenn du die Mädchen bei dir behalten willst, müssen du und Volker heiraten. Vielleicht hat er ja doch ein Einsehen.«

Enttäuscht senkte Ilona den Kopf. »Schade, ich glaubte, dir wäre eine bessere Lösung eingefallen.«

»Es gibt keine bessere Lösung. Begreif das doch endlich, Ilona! Wenn Volker genauso stur wie Susanne ist, haben wir keine Chance, die Mädchen vor dem Heim zu bewahren.«

Sie sah angestrengt auf ihre Hände, als sie tonlos sagte: »Ich habe mich vor kurzem von Volker getrennt.«

Jörg blickte sie entgeistert an. »Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?«

»Selbstverständlich darfst du fragen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich empfinde nichts mehr für ihn. Aber auch, wenn ich noch mit ihm zusammen wäre – er hatte mir bereits vorher klipp und klar gesagt, daß er nicht an eine Heirat denkt – und wegen der Mädchen schon gar nicht.«

»Du mußt dir bestimmt keine Vorwürfe machen.« Jörgs Stimme klang sanft. »Jetzt kann ich dir ja ruhig sagen, daß mir dein Verlobter schon immer ein wenig suspekt war. Eigentlich bin ich froh, daß du ihm den Laufpaß gegeben hast.«

Überrascht blickte Ilona auf, und dummerweise begann ihr Herz schneller zu schlagen. »Warum bist du darüber froh?«

Er wurde rot. »Nun, ich fand immer, Volker paßt nicht zu dir. Er ist ein berechnender, selbstgefälliger Typ, und du bist so warmherzeig und natürlich. Ich glaube nicht, daß Volker dich auf Dauer glücklich gemacht hätte.«

Ilona dachte an Jörgs Frau – Susanne und Volker wären ein großartiges Paar gewesen! Doch sie hütete sich davor, Jörg dies zu sagen, immerhin waren er und die schöne Susanne bereits seit sieben Jahren verheiratet.

»Nein, das glaube ich mittlerweile auch nicht«, gab sie leise zurück. »Für ihn zählt nur Geld und Ansehen, zum Glück habe ich das rechtzeitig bemerkt.«

»Tante Ilona, Onkel Jörg!« rief Rebecca von der Streichelwiese zu dem nur wenige Meter entfernten Café hinüber und winkte aufgeregt.

Lachend winkten die Erwachsenen zurück. Wie ausgelassen die Mädchen wieder geworden waren, dabei waren erst wenige Monte seit dem Verlust der Eltern vergangen.

»Du hast ein wahres Wunder vollbracht«, sagte Jörg in diesem Augenblick anerkennend und wies mit dem Kinn auf die mit den kleinen Ziegen um die Wette laufenden Mädchen. »Bei der Beerdigung dachte ich, daß sie wohl nie wieder lachen könnten.«

Ilona errötete verlegen. »Ich habe ihnen einfach all meine Liebe gegeben, das war doch nichts Großartiges.«

»Oh doch, das war es! Ich hatte sehr oft ein schlechtes Gewissen, weil ich dich mit der Verantwortung für Miriam und Rebecca alleingelassen habe – und ich hätte es so gern wiedergutgemacht, indem ich den Kindern ein neues Zuhause gebe.«

Ilona legte tröstend ihre Hand auf seinen Arm. »Du kannst doch nichts dafür, daß die Behörden stur bleiben und deine Frau sich gegen deinen Willen stellt. Den Mädchen wäre nicht damit geholfen, wenn sie Susannes Ablehnung gespürt hätten.«

Jörg nickte ernsthaft. »Da magst du recht haben, ich selbst hätte ja nicht den ganzen Tag Zeit für die Kinder gehabt. Was sollen wir jetzt nur tun, damit sie bei dir bleiben können?«

»Ich weiß es nicht. Frau Arnecke vom Jugendamt ist ja sehr entgegenkommend, aber auch ihr sind die Hände gebunden. Wenn also nicht ganz schnell ein Wunder geschieht, werden die Mädchen ins Heim gesteckt.«

Jörg wirkte bedrückt, als er erwiderte: »Ich werde ganz krank bei diesem Gedanken, und es macht mich wütend, daß ich vor dem Gesetz so machtlos bin. Warum glauben die Leute vom Ju­gend­amt eigentlich, daß zwei Kinder, die sich bei ihrer leiblichen Tante pudelwohl fühlen, im Waisenhaus besser aufgehoben sind? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Ilona schluckte hart. »Soviel ich verstanden habe, sollen die Mädchen nicht ewig im Heim bleiben, sondern in eine intakte Familie vermittelt werden.«

»Was soll das bedeuten?« Jörg blickte sein hübsches Gegenüber kritisch an. »Was meinen die mit ›Vermitteln‹?«

»Genau weiß ich es auch nicht, nur daß Rebecca und Miriam in eine passende Pflegefamilie kommen sollen.«

Jörg schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch nicht zu fassen! Möglicherweise werden die Mäd­chen über unseren Kopf hinweg von völlig fremden Personen adoptiert, und wir werden jeglichen Kontakt zu ihnen verlieren.«

»Das befürchte ich auch«, stimmte Ilona zu. »Jörg, wir können nicht zulassen, daß die Behörden etwas derartiges tun.« Sie seufzte. »Ich habe mir sogar schon überlegt, eine Heiratsannonce aufzugeben, um einen Mann zu finden, mit dem ich eine Vernunftehe den Kindern zuliebe eingehen kann.«

»Also, das wirst du schön bleiben lassen«, gab Jörg streng zu­rück. »Es nützt den Kindern nichts, wenn du niedergeschlagen bist, weil du nicht glücklich bist.«

Sie lächelte. »Du hast ja recht, war nur so eine dumme Idee von mir.«

»Aber eine sehr dumme Idee. Sieh mal, da kommen unsere kleinen Schätzchen zurück.«

»Tante Ilona, darf ich eines der kleinen Zicklein mit nach Hause nehmen?« bettelte Rebecca. »Es kann mit in meinem Bett schlafen.«

»Das fehlte noch«, erwiderte Ilona lachend. »So, jetzt geht ihr eure Hände waschen, und dann essen wir noch ein Eis, bevor wir zurückfahren.«

Zufrieden sah sie den Kindern nach, wie sie in einem der Waschräume auf dem Gelände verschwanden. Wie gut, daß die Kleinen nicht wußte, was ihnen bevorstand…

*

Jörg war unverrichteterdinge zurück nach Nürnberg gefahren und hinterließ eine große Lücke bei Ilona und den Mädchen.

Ein erneuter Besuch beim Jugendamt, bei dem Ilona ihren Schwager begleitet hatte, brachte nichts Erfreuliches. Wie üblich hieß es, daß die Geschwister Miriam und Rebecca Schlicht nur vorübergehend eine Bleibe bei ihrer Tante gefunden hatten und schnellstmöglich eine endgültig Lösung gefunden werden mußte.

Frau Arnecke hatte bereits einmal Ilona zu Hause gesucht, um sich von dem Zustand der Kinder zu überzeugen, wie sie meinte. Nun hatte sie einen weiteren Besuch angekündigt – eine Woche, nachdem Jörg abgereist war.

»Habt ihr euer Zimmer auch schön aufgeräumt?« fragte Ilona mit gespielter Strenge. »Ihr wißt, daß die Dame, die heute nachmittag kommt, immer einen Blick hineinwirft.«

»Wir haben alles weggeräumt, was auf dem Fußboden lag«, erklärte Rebecca eifrig. »Meine Puppen sitzen alle in ihrem Regal, und meine Malbücher liegen auf dem Schreibtisch.«

Das Zimmer hatte in der Tat nichts mehr mit dem früheren nüchtern eingerichteten Arbeitszimmer gemeinsam.

Inzwischen hatte Ilona die langweilige Rauhfasertapete durch eine lustige Kindertapete ersetzt, bunte Vorhänge hingen am Fenster, und ein Teppich in fröhlichen Farben ließ das Zimmer hell und geräumig erscheinen.

Durch das Etagenbett in heller Kiefer war viel Platz zum Spielen vorhanden.

»Tante Ilona?« Miriam schob sich an ihre Tante heran. »Warum kommt diese Frau eigentlich schon wieder und kontrolliert unser Zimmer und stellt uns und dir so viele alberne Fragen?«

»Tja, Frau Arnecke möchte eben sichergehen, daß es euch bei mir gutgeht.«

»Früher…, ich meine, als Mama und Papa noch nicht im Himmel waren, kam auch nie jemand zu uns, um zu fragen, wie es uns bei unseren Eltern gefällt.«

Ilona überlegte fieberhaft, wie sie ihrer kleinen Nichte behutsam erklären konnte, weshalb dies eine völlig andere Situation war. Doch zu ihrer Erleichterung klingelte es in diesem Moment an der Wohnungstür.

»Das wird Frau Arnecke sein«, sage Ilona, während sie in den Flur eilte. »Seid bitte besonders nett zu ihr, ja?«

Barabara Arnecke war eine mütterlich wirkende Frau Ende Fünfzig, die sich mit Leib und Seele für die Kinder aus zerrütteten Ehen und Waisenkinder einsetzte.

»Guten Tag, ihr beiden«, begrüßte sie Miriam und Rebecca, die schüchtern nebeneinander standen. »Was für hübsche Kleid­chen ihr tragt.«

»Die hat uns Tante Ilona gekauft«, sagte Rebecca und gab der Frau knicksend die Hand.

Frau Arnecke lachte. »Und gut erzogen seid ihr auch, wie ich sehe. Gefällt es euch denn im Kindergarten?«

»Ja, sehr«, erhob Miriam das Wort. »Wir haben viele neue Freunde gefunden.«

»Das ist aber schön.« Barbara Arnecke fuhr erst Miriam, dann der kleinen Rebecca über die Köpfchen. »Und wie versteht ihr euch mit Herrn Gundlach?«

»Mit Onkel Volker?« fragte Miriam. »Ach, der war immer so brummig, wenn er uns gesehen hat. Aber jetzt kommt er nicht mehr, weil Tante Ilona ihn weggeschickt hat. Nicht wahr, Tante Ilona?«

Diese wurde rot vor Verlegenheit und nickte zaghaft. Frau Arnecke sah überrascht aus. Sie fing sich jedoch schnell und sagte mit sanfter Stimme: »Was haltet ihr davon, in euer schönes Zimmer zu gehen und ein wenig zu spielen? Dann kann ich mich ein wenig mit eurer Tante unterhalten.«

»Wollen Sie denn heute gar nicht sehen, wie brav wir aufgeräumt haben?« fragte Rebecca enttäuscht, und Miriam fügte hinzu: »Wir möchten viel lieber hierbleiben.«

»Euer Zimmer sehe ich mir später an«, gab Barbara Arnecke zurück. »Aber ich habe etwas sehr Wichtiges mit eurer Tante zu besprechen, das ihr kleinen Wichte sowieso nicht verstehen würdet.«

»Och«, sagte Rebecca und zog eine Flunsch.

»Seid lieb und tut, was Frau Arnecke gesagt hat«, bat Ilona, und die Kinder trollten sich ohne weitere Widerrede.

»Sie haben die beiden gut im Griff«, bemerkte Frau Arnecke, nachdem Ilona ihr Platz angeboten hatte. »Sie wären eine gute Dauer-Bezugsperson für die Mädchen.«

»Das wäre ich so gerne«, sagte Ilona niedergeschlagen, »aber das Gesetz gibt mir leider keine Möglichkeit zu beweisen, daß ich den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater ersetzen kann.«

Frau Arnecke machte ein mitleidiges Gesicht. »Ich kann Ihren Zorn durchaus verstehen, Frau Struve. Sie möchten auch in Zukunft Ihren Nichten ein geborenes Zuhause geben. Ich persönlich bin der Meinung, daß Sie Ihre Sache gut machen würden, doch ich kann das leider nicht alleine entscheiden.«

»Das ist mir klar«, lenkte Ilona sofort sein. »Ich wollte Sie nicht beschuldigen. Möchten Sie Kaffee?«

»Vielen Dank«, sagte Barbara Arnecke und hielt ihre Tasse hoch. »Ihr Kaffee schmeckt mir immer besonders gut.«

Ilona lächelte geschmeichelt, machte sich jedoch nichts vor. Sie wußte, daß das Gespräch mit der Beamtin des Jugendamtes alles andere als erfreulich verlaufen würde.

»Stimmt es, daß Sie und ihr Verlobter sich getrennt haben?« fragte Frau Arnecke nach dem ersten Schluck.

»Ja, aber das hatte nichts mit den Kindern zu tun – ich meine, es war eine rein persönliche Entscheidung von mir.«

Die andere nickte verstehend. »Also scheidet die vage Möglichkeit, daß Sie demnächst heiraten werden, hiermit aus.«

Ilona blickte starr auf ihre Hände. »Ja, wie es scheint. Volker… Herr Gundlach wäre auch kein besonders guter Vater gewesen. Er hat nie etwas mit den Mädchen anfangen können, sie stets nur als Störfaktor angesehen.«

»Was ist mit Ihrem Schwager? Herr Schlicht machte sich bei unserem Gespräch letztens in meinem Büro nicht viel Hoffnung, daß seine Frau doch noch einlenkt und für die Mädchen ihren Beruf aufgibt.«

Ilona holte tief Luft. »An Herrn Schlicht liegt es nicht, das können Sie mir glauben. Er würde alles für die Mädchen tun, doch ihm sind die Hände gebunden.«

»Natürlich.« Frau Arnecke öffnete ihre Aktentasche, zog einen blauen Hefter heraus und begann, darin zu blättern.

»Was wird denn nun geschehen?« fragte Ilona bange und kam sich dabei wie ein kleines Mädchen vor, das etwas ausgefressen hatte und jetzt die Strafe fürchtete.

»Nun, Frau Struve, Sie können sich sicherlich denken, was passiert, wenn Ihr Schwager nicht bald die Einwilligung gibt, die Kinder zu sich zu nehmen. Ich habe mich zu diesem Zweck bereits mit dem Jugendamt in Nürnberg in Verbindung gesetzt.«

»Können Sie denn nicht noch ein bißchen warten?« fragte Ilona verzweifelt. »Die Mädchen fühlen sich wohl hier und hängen sehr an mir; man kann sie doch nicht brutal aus ihrer gewohnten Umgebung reißen und in ein Waisenhaus stecken?«

Barbara Arnecke seufzte. »Ich weiß, daß Ihnen das ungerecht erscheint – aber wie ich Ihnen bereits gesagt habe, werden Ihre Nichten nur vorübergehend in einem Kinderheim leben. Sowie wir eine passende Pflegefamilie gefunden haben, werden sie dort untergebracht.«

»Das tröstet mich nicht im geringsten.« Ilona spürte, wie Zorn auf die nette Frau in ihr hochstieg. »Sie scheinen nicht zu begreifen, was den Kindern angetan wird, wenn sie plötzlich mit wildfremden Menschen zusammenleben müssen.«

»Oh doch, ich begreife das sehr gut, Frau Struve. Sie dürfen mich nicht für ein Ungeheuer halten, aber auf Dauer wird es das beste für die Mädchen sein, in einer richtigen Familie auszuwachsen. Kinder gewöhnen sich beneidenswert schnell an neue Situationen; Ihre Nichten wird es nicht anders gehen. Und dabei haben sie sich ja auch noch gegenseitig.«

Ilona verschränkte die Arme unter der Brust und sah resigniert zu der Frau ihr gegenüber. »Gibt es wirklich nicht die geringste Hoffnung für mich, die Mädchen bei mir zu behalten?«

»Wenn es eine gäbe, hätte ich Ihnen dies schon mitgeteilt«, gab die andere sanft zurück. »Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muß, sich von den Kindern zu trennen, aber das wäre es für Sie schließlich auch, wenn Miriam und Rebecca nach Nürnberg zu ihrem Onkel zögen.«

»Aber das ist doch etwas völlig anderes!« rief Ilona und machte eine hilflose Geste. »Bei meinem Schwager wüßte ich die Kinder gut aufgehoben.«

»Das werden sie in ihrer Pflegefamilie auch sein«, gab Barbara Arnecke geduldig zurück. »Sie können mir glauben, daß die Ehepaare, die sich für eine Pflegschaft entscheiden, von uns sehr gründlich unter die Lupe genommen werden.«

»Davon bin ich überzeugt. Wann… wird es denn soweit sein?«

Frau Arnecke zuckte die Achseln. »Eine festen Termin gibt es natürlich nicht, doch wir müssen in den nächsten Wochen eine Entscheidung Ihres Schwager fordern. Es tut mir so leid, daß ich Ihnen keine erfreulichere Nachricht überbringen kann.«

Bald darauf verabschiedete sich die Beamtin. Allerdings warf sie tatsächlich einen Blick in das Kinderzimmer und lobte die Mäd­chen, die stumm dastanden, und gar nicht mehr so geschwätzig waren.

»Ob sie spüren daß ihre sorglosen Tage bei mir gezählt sind?« fragte sich Ilona, nachdem sie Barbara Arnecke zur Tür begleitet hatte. Bevor sie wieder zu den Kindern ging, setzte sie eine heitere Miene auf – die Kleinen sollten nicht merken, wie besorgt und traurig ihre Tante war…

*

»Sag’, daß das nicht wahr ist«, stöhnte Ilona, als Jörg einige Tage nach dem Besuch Frau Arneckes anrief. »Ist Susanne wirklich fest entschlossen weiterzuarbeiten?«

»Leider.« Auch Jörg war enttäuscht. Er hatte bis zum Schluß gehofft, seine Frau würde ein Einsehen haben mit den beiden Waisenkindern. »Ich habe ihr gesagt, welche Konsequenzen es für die Mädchen hat, wenn sie sich weigert, die Kinder bei uns wohnen zu lassen.«

»Und wie hat Susanne darauf reagiert?« fragte Ilona und hielt vor Anspannung den Atem an. »Hat sie denn gar kein Mitgefühl für die Kinder?«

»Ich schäme mich direkt, es zu sagen: Susanne kann sich nicht vorstellen, ohne ihren Beruf zu leben – und Kinder möchte sie erst später haben, eigene natürlich.«

Kraftlos sank Ilona auf den kleinen Hocker neben dem Telefontischchen. »Weißt das Jugendamt in Nürnberg schon darüber Bescheid?«

»Noch nicht, aber wir haben bereits ein Formular zugeschickt bekommen, in dem wir in den nächsten Tagen angeben müssen, ob wir die Pflegschaft für Rebecca und Miriam übernehmen oder nicht.«

»Dann werden sie bald vor der Tür stehen und die Kinder einfach abholen«, brachte Ilona mühselig hervor und kämpfte mit den Tränen. »Vielleicht sollte ich die Mädchen nehmen und mich einfach irgendwo mit ihnen verstecken, wo uns niemand kennt.«

»Ilona, damit würdest du alles nur noch verschlimmern!« rief Jörg erschrocken aus. »Bitte versprich mir, daß du vernünftig bleibst.«

»Das kann ich dir nicht versprechen«, gab sie schluchzend zurück. »Und es ist egal ob ich dafür bestraft werde oder nicht.«

»Denk doch an die Mädchen! Was sollen sie davon halten, wenn du dich mit ihnen wie ein Verbrecher vor der Öffentlichkeit versteckst?«

Ilona wischte die Tränen fort. »Du hast recht, ich würde damit alles nur verschlimmern und die Kinder vielleicht nie wieder sehen.«

Sie hörte Jörg erleichtert aufatmen. »Das Waisenhaus ist doch nicht endgültig – und daß die beiden zu einer fremden Pflegefamilie kommen, ist auch noch nicht amtlich. Laß die Zeit für uns arbeiten, ja?«

Ilona zögerte. »Was kann die Zeit daran ändern?«

»Ich werde einen Anwalt beauftragen, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Sicherlich gibt es einige Gesetzeslücken, von denen wir Laien keine Ahnung haben.«

Sofort horchte Ilona auf. »Auf diese Idee hätte ich auch kommen können.«

»Da bin ich dir ja ausnahmsweise einmal zuvorgekommen«, gab Jörg lachend zurück. Er war froh, daß er ihr die dumme Idee schnell hatte wieder ausreden können. »Ich halte dich auf dem laufenden.«

»Ja, bitte.« Die Aussicht, daß ein Rechtsanwalt möglicherweise etwas Positives erreichen konnte, ließ sie etwas zuversichtlicher in die Zukunft blicken.

Als sie schließlich das Telefonat beendet hatte, blieb sie noch ein paar Minuten nachdenklich sitzen. Plötzlich hob sie den Kopf. War da nicht gerade leise die Tür zum Kinderzimmer ins Schloß gefallen?«

Ilona sprang wie gehetzt auf. Nicht auszudenken, wenn eines der Mädchen gelauscht hätte! Doch als sie nachsah, lagen beide friedlich schlafend in ihren Betten…

*

Mit einem mißmutigen Hieb brachte Ilona am nächsten Morgen ihren Wecker zum Schweigen. Sie hatte in der vergangenen Nacht erst spät in den Schlaf gefunden und fühlte sich dementsprechend zerschlagen.

Sie reckte sich und schlug seufzend die Bettdecke zurück. Es nützte ja alles nichts; die Mädchen mußten pünktlich in den Kindergarten, und das neue Projekt, an dem sie arbeitete, wurde sehnsüchtig von ihrem Chef erwartet.

Ilona hatte sich zur Gewohnheit gemacht, erst zu duschen und die Zähne zu putzen, bevor sie die Kinder weckte, dann konnten sie noch eine Viertelstunde länger schlafen.

Betont munter öffnete Ilona die Tür zum Kinderzimmer und rief: »Aufwachen, meine Süßen! Die Sonne scheint!«

Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als keine Reaktion aus dem Etagenbett kam. Ilona eilte zu den Betten und hob die Decken – die Betten waren zwar benutzt, aber von Rebecca und Miriam fehlte jede Spur!

Fieberhaft überlegte Ilona, ob sich die Mädchen irgendwo in der Wohnung versteckt hatte, um ihre Tante zu ärgern. Und sie begann, alle Zimmer abzusuchen, in jeden Schrank zu sehen und schließlich niederzusinken und hysterisch zu schluchzen. Die Mädchen mußten während der Nacht ausgerückt sein!

In panischer Angst sprang Ilona ein paar Sekunden später wieder auf und sah in den Kleiderschrank im Kinderzimmer. Bis auf wenige Wäschestücke lagen die Sachen ordentlich gestapelt übereinander.

Ilona rieb sich die Augen. War dies alles ein böser Traum, aus dem sie gleich erwachte? Doch leider träumte sie nicht, und als ihr auffiel, daß Rebeccas Lieblingspuppe fort war, wurde die bange Befürchtung zur Gewißheit.

Schnell warf sich die junge Frau in einige Kleidungsstücke und wählte die Nummer des Jugend­amtes. Doch ein unpersönlicher Anrufbeantworter teilte ihr mit, daß die Arbeitszeit erst um neun Uhr begann.

Wütend warf Ilona den Hörer auf die Gabel und blickte sich hilflos um. Irgend etwas mußte sie doch tun! Siedendheiß fiel ihr das Geräusch am vergangenen Abend ein, nachdem sie mit Jörg telefoniert hatte – eines der Kinder mußte dem Gespräch gelauscht und seine Schlüsse daraus gezogen haben!

Jörg! Nur er würde wissen, was nun zu tun war. Mit zitternden Händen wählte Ilona seine Nummer und atmete auf, als er sich bereits nach dem zweiten Läuten meldete.

Schluchzend erzählte ihm Ilona kurz, was passiert war. »Jörg, was soll ich nur tun? Es ist meine Schuld, daß die Mädchen weggelaufen sind.«

»Aber Ilona, warum sagst du das?« fragte er erschrocken. »Du mußt dir keine Schuld geben.«

»Doch, immerhin habe ich dir ausführlich berichtet, was das Jugendamt mit Miriam und Rebecca vorhat.«

»Du konntest aber nicht wissen, daß eines der Mädchen das Gespräch belauscht hatte. Immerhin war es bereits nach neun Uhr. Und da schlafen die beiden doch normalerweise längst.«

»Ich hätte trotzdem daran denken müssen, daß sie noch wach sein könnten. Ich mache mir solche Vorwürfe, Jörg. Was soll ich denn jetzt tun? Wenn den Mädchen etwas passiert ist, dann…«

»Nun male nicht gleich den Teufel an die Wand.« Obwohl auch Jörg außer sich war vor Sorge, behielt er einen kühlen Kopf. »Sowie diese Frau Arnecke in ihrem Büro ist, rufst du sie und schilderst ihr alles. Sie kann dann entscheiden, ob die Polizei eingeschaltet wird oder nicht. Und ich setze mich in die nächste Maschine.«

»Du kommst her?« Eine Spur von Erleichterung mischte sich in Ilonas besorgte Stimme. »Ich bin sehr froh, daß du mich jetzt nicht alleine läßt.«

»Das ist das mindeste, was ich tun kann. Wenn Susanne nicht so stur gewesen wäre, gäbe es dieses ganze Theater mit dem Jugendamt gar nicht.«

»Ich danke dir trotzdem«, hauchte Ilona in den Hörer. »Wohin können die Mädchen denn gegangen sein? Sie sind doch noch so klein.«

»Ich glaube nicht, daß sie sich weit von dir entfernt haben; vielmehr denke ich, daß sie sich ganz in deiner Nähe versteckt haben.«

»Vielleicht haben sie sich im Keller oder auf dem Dachboden versteckt!« rief Ilona hoffnungsvoll. »Ich werde gleich mal nachsehen.«

»Das ist eine gute Idee. Ich werde derweil beim Flughafen anrufen und einen Platz in der nächstmöglichen Maschine nach Kiel buchen. Melde dich kurz, wenn du die kleinen Ausreißer gefunden hast.«

Beinahe vergaß Ilona, ihren Wohnungsschlüssel einzustecken, als sie sich auf die Suche nach den Kindern machte. Im Treppenhaus kam ihr Frau Schubert, eine Nachbarin, entgegen. Augenscheinlich hatte sie gerade die Morgenzeitung aus dem Briefkasten geholt.

»Guten Morgen, haben Sie meine Nichten gesehen?« fragte Ilona außer Atem.

Die ältere Frau im Morgenmantel und mit Lockenwicklern auf dem Kopf erwiderte verwundert: »Um diese Zeit? Nein, leider nicht.«

Ilona dankte und lief in den Keller. Es war ihr egal, was die neugierige Frau Schubert jetzt von ihr denken mochte – nur die Mädchen zählten.

Trotz gründlichster Suche, zunächst im Keller, dann auf dem Dachboden, gab es keine Spur von Rebecca und Miriam. Resigniert betrat Ilona wieder ihre Wohnung und hoffte einen winzigen Augenblick, daß die Mädchen kichernd aus irgendeiner verborgenen Ecke hervortraten – doch das taten sie natürlich nicht.

Der Zeiger der Uhr schien sich kaum in Richtung neun Uhr zu bewegen. Ilona machte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich mit in die Hände gestütztem Kopf an den Küchentisch.

Als das Telefon in die Stille schrillte, zuckte sie zusammen. Mit wenigen Schritten war sie beim Apparat und hoffte, daß es nicht die Polizei war, die ihr etwas Schreckliches mitzuteilen hatte.

Doch es war Jörg, der erklärte, daß er am frühen Nachmittag in Kiel eintreffen würde.

»Ich habe jeden Winkel im Keller und auf dem Dachboden abgesucht«, sagte Ilona verzweifelt, »aber ich habe sie nicht gefunden.«

»Sie werden wieder auftauchen«, versicherte Jörg zuversichtlich, doch seiner Stimme war anzuhören, daß er sich ebenso große Sorgen machte wie seine Schwägerin im fernen Kiel. »Ich mache mich jetzt gleich auf zum Flughafen, meine Maschine geht in zwei Stunden.«

»Gott sei Dank«, sagte sie leise. »Ich werde noch wahnsinnig vor Angst.«

»Gemeinsam stehen wir die Sache durch.« Jörgs weiche Stimme ließ Ilona etwas ruhiger atmen. »Warum versuchst du nicht, die Frau vom Jugendamt unter ihrer privaten Nummer zu erreichen? Immerhin ist dies ein Notfall, sie wird dir bestimmt nicht böse über die frühe Störung sein.«

»Darauf hätte auch ich kommen können!« rief Ilona. Sie war froh, endlich etwas tun zu können.

Sie stöhnte erleichtert auf, als sie tatsächlich Barbara Arneckes private Nummer im Telefonbuch fand. Ohne lange nachzudenken, wählte Ilona diese Nummer.

»Bitte gehen Sie dran«, flehte Ilona leise und hörte schon im nächsten Moment, wie am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde.

So ruhig wie möglich schilderte Ilona der Frau, was vorgefallen war.

»Wann haben Sie denn entdeckt, daß die Kinder verschwunden sind?« fragte Frau Arnecke ohne Vorwurf in der Stimme.

»Heute morgen gegen sieben Uhr, als ich sie wecken wollte. Außer etwas Wäsche und Rebeccas Lieblingspuppe scheint nichts zu fehlen.«

»Was haben Sie denn bisher unternommen, Frau Struve?«

Ilona stutzte. »Nichts, außer meinen Schwager in Nürnberg zu informieren und die Wohnung sowie Keller und Boden zu durchsuchen. Hätte ich die Polizei einschalten sollen?«

»Nein. Sie haben sich richtig verhalten, Frau Struve. Ich werde mich jetzt gleich auf den Weg zu Ihnen machen, dann können wir alles weitere besprechen. Wenn die Mädchen allerdings bis heute nachmittag nicht wieder aufgetaucht sind, müssen wir wohl oder übel die Polizei benachrichtigen.«

»In Ordnung«, gab Ilona zurück. Sie war froh, daß sie nun eine kompetente Person an ihrer Seite hatte.

*

»Ich habe Hunger«, maulte Rebecca müde. »Und laufen kann ich auch nicht mehr.«

»Sei still, da hinten in dem alten Haus können wir uns verstecken.« Miriam zog ihre kleine Schwester energisch hinter sich her. Seit den frühen Morgenstunden – die Kirchturmuhr hatte fünfmal geschlagen – waren die beiden Mädchen unterwegs.

»Ich will zurück zu Tante Ilona«, quengelte Rebecca. »Ich finde Weglaufen doof.«

Miriam drehte sich abrupt um. »Ich habe dir doch gesagt, daß wir nicht bei Tante Ilona bleiben dürfen.«

»Das hast du dir bestimmt nur ausgedacht, um mich zu ärgern.« Rebeccas Stimmchen klang wei­nerlich, und sie preßte ihre zerzauste Puppe fest an sich.

»Habe ich nicht!« rief Miriam wütend. »Als ich gestern abend in die Küche wollte, um noch etwas zu trinken, habe ich ganz genau gehört, wie Tante Ilona gesagt hat, daß wir bald ins Waisenhaus müssen, weil sie keinen Mann hat. Warum hätte ich dich sonst heute so früh, als Tante Ilona noch schlief, wecken sollen?«

»Weiß nicht.« Rebecca wischte sich mit der Faust über die Augen. »Ich kann nicht mehr laufen, Miriam. Meine Füße tun schon ganz weh.«

»Hör auf zu jammern«, gab die andere energisch zurück und wies auf das verlassene Haus am Ende der Vorortsiedlung. »Da hinten bekommst du etwas zu essen.«

»Du hast ja gar nichts zu essen.«

»Habe ich wohl! Als du heute morgen noch geschlafen hast, habe ich aus Tante Ilonas Küche ein paar Sachen mitgenommen.«

Die Kleine schien beruhigt, zumindest für den Moment.

Vorsichtig öffnete Miriam inzwischen die morsche Holztür eines Nebengebäudes des alten Siedlungshäuschens. Drinnen roch es muffig, und es war schummerig.

»Ich habe Angst, Miri!« wimmerte Rebecca. »Ich mag hier nicht sein. Laß uns doch bitte wieder zu Tante Ilona gehen, ja?«

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß wir nicht bei ihr bleiben dürfen. Oder möchtest du lieber ins Waisenhaus?«

»Was ist ein Waisenhaus?«

»Das… weiß ich auch nicht so genau, aber es muß etwas Schlimmes sein, weil Tante Ilona nicht will, daß wir da hinkommen.«

Rebecca ließ sich müde in eine Ecke fallen, und ihre große Schwester hockte sich neben sie. Sie begann, in ihrem kleinen Rucksack zu wühlen und brachte eine Packung Kekse und ein paar Äpfel zutage.«

»Hier, das kannst du erst einmal essen.«

Gierig riß Rebecca die Kekspackung auf und nahm gleich eine ganze Handvoll heraus.

»Wir müssen uns unser Essen einteilen«, mahnte Miriam. »Also schling’ nicht so und laß mir auch noch etwas übrig.«

Sie sah sich um. Auch ihr gefiel der dunkle Raum, der früher eine Art Waschküche gewesen sein mochte, nicht. Immerhin lagen ein paar alte Kartoffelsäcke in einer Ecke, auf denen man bestimmt einigermaßen gut schlafen konnte.

Nachdem Rebecca ihren Hunger gestillt hatte, legte sie sich auf den Haufen alter Säcke und verdrehte die Augen. »Müssen wir jetzt für immer hierbleiben?«

»Quatsch«, erwiderte Miriam burschikos. »Hier kann man doch nicht für immer wohnen.«

»Wir lange wollen wir denn hierbleiben?« Rebeccas Stimme klang vor Müdigkeit ganz leise.

»Ein paar Tage.«

»Und dann?«

Miriam zögerte. Genau wußte sie das auch nicht. »Mal sehen.«

Dann sank sie neben ihre kleine Schwester und war ebenso schnell eingeschlafen wie sie.

*

Vor zwei Jahren hatte Ilona erfolgreich das Rauchen aufgegeben; nun saß sie mit einer glimmenden Zigarette ängstlich neben dem Telefon und betete, daß es klingelte und ihr jemand sagte, daß die Mädchen wohlauf gefunden worden waren.

Es war später Nachmittag, und Jörg mußte bald eintreffen. Vom Nürnberger Flughafen hatte er noch einmal angerufen, daß seine Maschine Verspätung hatte und sich daher seine Ankunft in Kiel um etwa zwei Stunden hinauszögern würde.

Nervös fuhr sich Ilona durch das zerzauste Haar. Barbara Arnecke war mehrere Stunden bei Ilona geblieben und hatte ihr mit ihrer ruhigen, besonnenen Art etwas die Angst genommen.

Doch nun, wo sie wieder alleine war, kam die Angst zurück, die so groß war, daß es Ilona die Kehle zuschnürte.

Auch, daß inzwischen die Polizei eingeschaltet worden war und alles getan wurde, damit die Kinder gefunden wurden, ließ Ilona nicht aufatmen.

Immer wieder starrte sie zur Uhr, die Zeiger schienen am Zifferblatt festzukleben. Einerseits wünschte sich Ilona, daß die Zeit schneller verging, damit endlich Jörg bei ihr war – aber auf der anderen Seite fürchtete sie, daß die Nacht anbrechen würde, bevor die Mädchen gefunden wurden.

Als es an der Wohnungstür klingelte, zuckte Ilona zusammen. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, öffnete sie und lag im nächsten Moment schluchzend in Jörgs Armen. »Gott sei Dank, daß du da bist.«

Er streichelte ihr beruhigend den Rücken. »Es wird alles wieder gut.«

Sie hob ihr tränennasses Gesicht. »Ich habe solche Angst, daß den Kindern etwas passiert ist.«

»Hast du denn noch keine Nachricht von der Polizei bekommen?« fragte er und stellte seine Reisetasche in den Flur. »Ich habe mir noch kein Hotelzimmer gesucht, wollte erst sehen, ob es etwas Neues gibt.«

»Du kannst im Wohnzimmer auf der Couch schlafen, wenn dir das nicht zu unbequem ist«, gab Ilona spontan zurück. »Mir wäre es lieber, nicht alleine zu sein.«

»Mit dem größten Vergnügen, wenn es keine Umstände macht.«

Ilona winkte ab. »Überhaupt nicht. Um auf deine Frage zurückzukommen: Frau Arnecke hat mich vorhin nur kurz angerufen, um mir mitzuteilen, daß die Polizei ihre Suchaktion begonnen hat. Wenn man einen Hinweis über den Verbleib der Mädchen habe, wolle man mich sofort anrufen.«

»Armes Ding«, sagte Jörg und legte seinen Arm auf Ilonas Schulter. »Du bist ja völlig mit den Nerven am Ende. Willst du dich nicht eine Stunde hinlegen?«

Wild schüttelte sie den Kopf. »Ich könnte kein Auge zubekommen.«

Jörg schob sie sanft in Richtung Schlafzimmer. »Du sollst ja gar nicht schlafen, nur ein wenig ausruhen. Wenn die Kinder gefunden werden, hole ich dich sofort, das verspreche ich dir.«

Zögernd öffnete Ilona die Schlafzimmertür. »Vielleicht hast du recht, einige Minuten Ruhe könnte ich schon vertragen – ich kann ja sowieso nichts tun.«

»Eben. Ich halte die Stellung.«

Ilona wies mit dem Kinn zur Küche. »In der Thermoskanne ist noch genügend Kaffee, falls du welchen möchtest.«

»In Ordnung, ich werde schon alles finden.«

Dankbar lächelnd zog sich Ilona zurück. Jörg hatte recht gehabt; nun, wo sie in dem abgedunkelten stillen Raum lag, kamen ihre aufgewühlten Gedanken allmählich zur Ruhe – und bevor sie noch lange über den vergangenen schrecklichen Tag nachdenken konnte, war sie bereits eingeschlafen…

*

Der Mond schien Miriam direkt ins Gesicht, und sie erwachte. Zunächst war sie sich nicht bewußt, wo sie sich befand – doch dann traf die die Erkenntnis mit voller Wucht: Sie und ihre kleine Schwester befanden sich in einem alten, verlassenen Haus, das bei Tageslicht schon nicht sehr einladend ausgesehen hatte. Doch nun, mitten in der Nacht, schienen in jeder Ecke Gespenster zu lauern, die nur darauf warteten, daß sich das verängstigte Mädchen bewegte, um es dann zu erschrecken.

Ganz vorsichtig zog Miriam einen der löchrigen Kartoffelsäcke bis über das Gesicht. Neben ihr bewegte sich Rebecca und seufzte im Schlaf.

Miriam hoffte, daß die Kleine nicht erwachte und vor Angst zu schreien begann. Das könnten irgendwelche Leute hören – und schwups, wären sie und Rebecca in dem gefürchteten Waisenhaus.

Schlafen konnte die Fünfjährige nicht mehr. Nachdenklich blickte sie hinauf zum Mond und fragte sich, ob ihre Eltern sie wohl sehen könnten und sie und die kleine Schwester beschützen würden. Irgendwann schlief Miriam dann doch wieder ein in der beruhigenden Gewißheit, daß Mama und Papa im Himmel auf sie achtgeben würden…

*

Jörg hatte erleichtert festgestellt, daß Ilona eingeschlafen war. Er hatte sich bei ihrem abgekämpften Anblick erschrocken, als er ankam. Die ganze Sache hatte Ilona genauso schwer mitgenommen, als wäre sie die leibliche Mutter Rebeccas und Miriams.

Der Kaffee in der Thermoskanne war noch heiß, und Jörg goß sich eine Tasse ein. Er sah sich in der modernen Küche um und stellte fest, daß Ilona nicht nur eine hervorragende Werbegrafikerin, sondern auch eine gute Hausfrau war – und ohne Zweifel genau die Bezugsperson, die die Mädchen brauchten.

Wütend ballte Jörg die Hände zu Fäusten. Wenn das Jugendamt nicht so stur gewesen wäre und Ilona die Kinder gelassen hätte, wäre das alles nicht passiert. Kein Wunder, daß die Mädchen in Panik geraten waren, als sie unfreiwillig davon erfuhren, daß sie in ein unpersönliches Waisenhaus abgeschoben werden sollten!

Auch Susanne war nicht ganz unschuldig an dem Malheur. Wenn sie nicht so karrierebesessen wäre, hätten die Mädchen zumindest ein neues Zuhause – auch wenn Susanne ihnen wohl nie so viel Liebe entgegengebracht hätte, wie es Ilona tat.

Jörg dachte verbittert an den vergangenen Abend zurück. Nach dem Telefonat mit Ilona war es – wie so oft in letzter Zeit – zum Streit zwischen dem Ehepaar gekommen. Immer wieder hatte Susanne ihrem Mann vorgeworfen, daß er aus ihr ein Hausmütterchen machen wolle, weil er es nicht ertragen konnte, daß sie als Frau so erfolgreich war.

Doch das stimmte natürlich nicht. Jörg war eine Weile sogar stolz darauf gewesen, daß seine Frau die einzige Vertrauensperson des mächtigen Elektronik-Fabrikanten Duderstadt war.

Nun, diese hohe Position hatte allerdings ihren Preis. Keinen Abend war Susanne vor zwanzig Uhr zu Hause, und dann war sie meistens zu müde, um sich noch zu unterhalten.

Im selben Moment, als Jörg ihr vorschlug, die Kinder seines verstorbenen Bruders zu sich zu nehmen, hatte er an Susannes Gesichtsausdruck gesehen, daß sie damit nicht einverstanden war.

Immer wieder hatte Jörg versucht, an Susannes Mitleid zu appellieren – doch es war vergeblich. Und gestern dann hatte seine Frau ihm erklärt, daß sie nicht mehr mit einem Mann zusammenleben wollte, der ihr die Karriere nicht gönnte.

Jörg mußte sich im Nachhinein gestehen, daß er sogar erleichtert gewesen war, nachdem ihm Susanne die Scheidung vorgeschlagen hatte. Während ihrer Ehe hatte sich das Paar mehr und mehr auseinandergelebt – nun gab es nichts Gemeinsames mehr bis auf die zermürbenden Streitereien.

Noch traute sich Jörg nicht, sich einzugestehen, weshalb er sogar sehr einverstanden war mit der Trennung von seiner Frau. Doch im Grunde genommen wußte er es schon lange: Er hatte sich in Ilona verliebt!

Die warmherzige Art, wie sie mit ihren Nichten umging, ihr hübsches Äußeres und die Natürlichkeit, die Susanne völlig fehlte, hatten Jörgs Herz höher schlagen lassen, als er Ilona und die Kinder das erste Mal nach der Beerdigung besuchte.

Er hatte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, zu bedauern, daß sie sich von ihrem langjährigen Verlobten Volker getrennt hatte.

Das unvermittelte Schrillen des Telefons riß Jörg aus seinen Gedanken. Mit wenigen Schritten war er am Apparat.

»Ach, Herr Schlicht. Schön, daß Sie so schnell kommen konnten«, sagte Barbara Arnecke am anderen Ende. »Wie geht es Frau Struve?«

»Ich habe sie überredet, sich etwas hinzulegen. Mittlerweile ist sie eingeschlafen.«

»Das war eine gute Idee. Die arme Frau ist ja außer sich vor Sorge um die Mädchen.«

»Wissen Sie inzwischen etwas Neues?« fragte er mit angehaltenem Atem. »Auch ich mache mir natürlich große Sorgen um die Kinder.«

»Die Polizei hält mich auf dem Laufenden. Bisher weiß ich nur, daß die Beamten trotz der Dunkelheit die Gegend absuchen.«

»Was glauben Sie, wo die Kinder sein könnten? Sie haben doch sicherlich Erfahrung mit kleinen Ausreißern.«

Barbara Arnecke schmunzelte. »Das stimmt. Immer wieder müssen wir uns um Kinder kümmern, die von zu Hause oder aus dem Heim ausgebüxt sind – aber…«, ihre Stimme wurde wieder ernst, »… aber in der Regel handelt es sich um ältere Kinder, die sich in der Gegend besser auskennen.«

»Um Gottes willen«, stöhnte Jörg. »Wenn die beiden sich nun verlaufen haben und einem Verbrecher in die Hände gefallen sind! Immerhin werden sie schon seit den frühen Morgenstunden vermißt.«

»Aber sie sind zu zweit, das ist der Vorteil«, gab Frau Arnecke schnell zurück. »Ich denke, die Kinder haben sich gaz in der Nähe in einem Keller oder ähnlichem versteckt. Ich glaube nicht, daß sie die Stadt verlassen haben.«

»Hoffentlich nicht. Ich weiß nicht, wie meine Schwägerin und ich es ertragen sollen, nach unseren Geschwistern auch noch unsere Nichten zu verlieren.«

»Machen Sie sich bitte nicht zuviel Sorgen.« Trotz der ernsten Situation klang Frau Arneckes Stimme ruhig und vertrauenerweckend. »Ich bin sicher, daß wir die kleinen Ausreißer spätestens morgen im Laufe des Tages finden werden.«

»Schön wäre es.« Jörg zögerte einen Moment, dann fragte er: »Was geschieht mit den Mädchen, wenn sie gefunden werden? Müssen sie sofort in ein Heim?«

»Nein, so schnell geht das nicht. Mir ist klar, daß die Kinder nur fortgelaufen sind, weil sie Angst vor dem Waisenhaus haben – doch ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, damit die Mädchen wenigstens noch eine Weile bei ihrer Tante bleiben können.«

»Das wäre wunderbar.« Jörg verblieb mit der Beamtin vom Jugendamt so, daß sie sich sofort meldete, wenn es etwas Neues gab – egal, wie spät es war.

*

Ilona hatte tief und traumlos geschlafen. Als sie weit nach Mitternacht aufwachte, blickte sie sich zunächst benommen in der Dunkelheit um. Etwas Furchtbares war geschehen, da war sie ganz sicher.

Die Mädchen sind fort! Die Erinnerung kam so unvermittelt, daß Ilona fast aufschrie. Hastig schwang sie die Beine aus dem Bett und lief ins Kinderzimmer – vielleicht hatte sie doch nur schlecht geträumt?«

Doch das Zimmer war leer, und niedergeschlagen verließ sie es wieder. Hinter der angelehnten Küchentür war ein Spalt Licht zu sehen, und siedendheiß fiel Ilona ein, daß Jörg da war.

Jörg hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und die Augen geschlossen. Beim Öffnen der Tür fuhr er erschrocken hoch und rieb sich das Gesicht.

»Mein Gott, hast du die halbe Nacht hier gesessen?« fragte sie mit schlechtem Gewissen. »Ich habe mich nur ein wenig ausruhen wollen.«

»Du warst völlig mit den Nerven am Ende«, erwiderte Jörg und fuhr sich verlegen durch das Haar. »Ich bin froh, daß es dir gelungen ist, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Tut mir leid, daß ich eingeschlafen bin.«

»Aber das muß dir doch nicht leid tun.« Sie setzte Kaffeewasser auf. »Schließlich hattest auch du einen langen Tag. Hast du etwas über die Mädchen gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Arnecke rief an, kurz nachdem du eingeschlafen warst.« Er schilderte in knappen Worten, daß die Beamtin vom Jugendamt der Meinung war, die Kinder müßten ganz in der Nähe sein.

»Das beruhigt mich überhaupt nicht«, gab Ilona heftiger zurück, als sie vorgehabt hatte. »Entschuldige meinen Ton, du kannst ja nichts dafür.«

»Ist schon gut.« Jörg streckte sich. »Deine Küchenstühle sind nicht besonders bequem zum Schlafen.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Sie sind ja eigentlich auch nicht zum Schlafen gedacht. Wenn du deinen Kaffee getrunken hast, ­legst du dich auf die Couch im Wohnzimmer und schläfst dich richtig aus. Ich bin jetzt munter genug, um den Rest der Nacht wachzubleiben.«

Jörg widersprach nicht, sondern beobachtete fast liebevoll, wie Ilona den Tisch deckte. Er ertappte sich dabei, daß er sie schon wieder mit Susanne verglich – dabei gab es im Moment weit Wichtigeres als die Liebe zu seiner Schwägerin.

Ilona setzte sich schießlich seufzend Jörg gegenüber. »Ich mache mir große Vorwürfe, daß ich nicht vorsichtiger am Telefon war.«

»Ich glaube, die Mädchen haben gespürt, daß sich bald etwas in ihrem Leben ändert. Du hast mir doch von dem letzten Besuch Frau Arneckes berichtet.«

»Ja, und?«

»Sagtest du nicht, daß die Kinder danach merkwürdig bedrückt wirkten? Möglicherweise haben sie da schon etwas aufgeschnappt, was nicht für ihre Ohren gedacht war.«

Ilona nickte bedächtig. »Das könnte natürlich sein, aber ich habe trotzdem ein wahnsinnig schlechtes Gewissen.«

Ohne es eigentlich zu wollen, glitt Jörgs Hand über die Tischplatte und berührte sanft ihren Handrücken. »Hör bitte auf, dir den Schwarzen Peter zuzuschieben. Wenn jemand Schuld hat, daß die Kinder weggelaufen sind, dann ist es das Jugendamt mit seinen verschrobenen Vorschriften. Du hast alles dafür getan, damit Rebecca und Miriam ein neues Zuhause bekamen.«

»Aber wahrscheinlich habe ich nicht genug getan.«

»Was hättest du denn noch tun sollen?« Jörg sah sie eindringlich an. »Volker überreden, daß er dich wegen der Mädchen heiratet?«

Ilona sah ihn unglücklich an. »Ich weiß auch nicht…«

»Hast du dir schon mal überlegt, daß die Mädchen aus einem anderen Grund fortgelaufen sein könnten? Du vermutest doch nur, daß sie dich belauscht haben?«

»Das haben mich die Polizisten auch schon gefragt. Doch aus welchen Grund sollten die Kinder sonst ausgerissen sein? Sie fühlen sich wohl bei mir – das weißt du doch selber.«

»Stimmt.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Du wirst wohl doch mit deiner Vermutung recht haben.«

Sie nickte. »Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie lange du hier bleiben kannst.«

»So lange, bis die Kinder wieder hier sind. Ich habe meinem besten Mitarbeiter die Führung meines Betriebes anvertraut – ich kann mich hundertprozentig auf ihn verlassen.«

»Und deine Frau?«

Er blickte erstaunt auf. »Was soll mit Susanne sein?«

»Nun, vielleicht paßt es ihr nicht, daß du so oft in Kiel bist.«

Jörg stand langsam auf. Er hatte keine Lust, jetzt über seine zerbrochene Ehe zu reden, der Zeitpunkt dafür war äußerst ungünstig. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir jetzt gerne eine Mütze voll Schlaf holen.«

»Natürlich. Ich werde dir Bettzeug bringen.« Sie stand hastig auf.

»Nicht nötig, eine Decke und ein kleines Kissen genügen vollkommen.«

Als es wieder still in der Wohnung war, stellte sich Ilona an das Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwo da draußen irrten zwei kleine Mädchen umher und fürchteten sich wahrscheinlich sehr. Ilona preßte ihre Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen…

*

»Miri! Miri!« schrie Rebecca gellend.

Miriam fuhr aus dem Schlaf hoch und sah sich benommen um. »Was… ist denn los?«

Mit zitternden Fingern zeigte Rebecca auf einen Haufen alter Zeitungen in der gegenüberliegenden Ecke. »Da bewegt sich was!«

Miriam rieb sich die Augen, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches an dem Stapel entdecken. »Ich sehe nichts.«

»Aber da hat sich ganz bestimmt etwas bewegt!« rief Rebecca ängstlich. »Und ein Rascheln habe ich auch gehört.«

»Schrei nicht so laut sonst werden wir noch gehört«, mahnte Miriam mit gedämpfter Stimme und erhob sich von ihrem unbequemen Lager.

»Was machst du da?« kam Rebeccas Stimmchen aus der Ecke.

»Ich sehe mal nach, was dich erschreckt hat.«

»Oh bitte, paß gut auf. Vielleicht hat sich da ein Gespenst versteckt.«

»Es gibt keine Gespenster«, sagte Miriam mit fester Stimme und ging langsam Schritt für Schritt zu dem Zeitungsstapel hinüber. Daß auch sie hin und wieder noch an Gespenster glaubte und sich im Augenblick überhaupt nicht wohl fühlte, brauchte sie ja ihrer kleinen Schwester nicht unbedingt auf die Nase zu binden.

Miriam schrie auf und sprang erschrocken einen Schritt zurück, als die kleine Maus neugierig ihr Köpfchen hob und schnupperte.

»Was… ist denn?« klang Rebeccas dünne Stimme aus dem Hintergrund.

Miriam lachte befreit auf. »Eine Maus! Becky, du hast eine Maus gehört!« Mit leichtem Schritt ging sie zu ihrer kleinen Schwester zurück, die sich noch immer zwischen den Kartoffelsäcken verbarg.

Doch die Beine der Älteren zitterten nach dem Schreck noch immer stark, deshalb kniete sie sich zu ihrem Rucksack hinunter. »Hast du Hunger?«

»Und Durst.« Rebecca erhob sich vorsichtig, ohne die Ecke mit den Zeitungen aus den Augen zu lassen.

»Mit dem Sprudel müssen wir sparsam umgehen, wir haben nur noch eine halbe Flasche.«

»Ich habe aber großen Durst«, nörgelte Rebecca. »Können wir nicht neue Limonade kaufen?«

Miriam kramte in ihrer Jeanstasche. »Mal sehen, wieviel Geld wir dabei haben.« Miriam hatte vor ihrem Verschwinden wohlweislich das Sparschwein geplündert, das Tante Ilona den Kindern geschenkt hatte.

»Oh, das sind aber viele Münzen«, staunte Rebecca und nahm einen langen Zug aus der Sprudelflasche. »Dafür können wir aber viel Limonade kaufen.«

»Das ist doch alles nur Kleingeld, du Dummchen«, erwiderte ihre Schwester altklug. Ein wenig kannte sie sich mit Geld bereits aus; ihre Mama hatte sie des öfteren zum Einkaufen einiger Kleinigkeiten geschickt, damit sie lernte, mit Geld umzugehen.

»Wieviel Kleingeld haben wir denn?« fragte Rebecca neugierig.

Miriam zählte angestrengt.

»Achtzehn Mark und vierundsiebzig Pfennige«, erklärte sie schließlich stolz. »Das reicht bestimmt für ein paar Tage.«

»Sind wir jetzt reich?«

»Nein, du Baby. Komm, zieh ein sauberes T-Shirt an und kämme deine Haare. Wir sehen uns ein bißchen in der Gegend um.«

»Au ja! ich will nicht mehr in diesem blöden Haus sein.«

»Freue dich nicht zu früh. Später müssen wir uns hier wieder verkriechen.«

Rebecca klopfte ihre verstaubte Hose sauber. »Können wir uns denn nicht woanders verkriechen?«

Miriam zuckte die Schultern. »In ein paar Tagen vielleicht.«

»Ich will wieder in unser schönes Zimmer bei Tante Ilona.«

»Jetzt hör endlich auf zu jammern. Willst du wirklich, daß die böse Frau uns wegbringt?«

Rebecca zog eine Flunsch. »Ich fand die Frau aber nett.«

»Aber du hast doch gehört, was sie zu Tante Ilona gesagt hat, nicht wahr? Das hast du doch, oder?«

Der Kleinen traten dicke Tränchen in die Augen, und weinend nickte sie. »Ja, sie will, daß wir nicht mehr bei Tante Ilona bleiben.«

»Genau. Und als ich Tante Ilona danach belauscht habe, als sie mit der bösen Frau telefoniert hat, habe ich ganz deutlich mitbekommen, daß wir ganz bald weg sollen.«

»Nein, nein!« Rebecca schüttelte wild den Kopf. »Das will ich nicht!«

»Ich auch nicht, und deshalb müssen wir uns verstecken. Hast du das jetzt verstanden?«

Rebecca nickte. »Kann ich einen Keks haben?«

Miriam atmete erleichtert auf. Nur gut, daß sich die kleine Schwester so schnell beruhigen ließ – nicht auszudenken, wenn sie die ganze Nachbarschaft mit ihrem Geheule aufmerksam gemacht hätte!

Diese Angst war allerdings unbegründet, als die Mädchen zögernd das Haus verließen. Rings um sie herum standen nur leere, alte Häuser. Wo waren sie nur gelandet?

Forsch nahm Miriam die Kleine bei der Hand. »Wir gehen jetzt die Straße zurück, die wir gestern gekommen sind. Da hinten wohnen auch wieder Leute.«

»Ich habe auch einen Laden gesehen«, gab Rebecca zurück. »Da können wir uns doch etwas zu essen kaufen.«

Die Straße gabelte sich und dort gab es wieder bewohnte Häuser und Autos.

Angestrengt versuchte Miriam das Straßenschild zu entziffern.

»Was machst du da, Miri?« wollte Rebecca wissen.

»Ich versuche mir den Namen der Straße einzuprägen«, erklärte diese.

»Wozu?«

Miriam stöhnte auf. »Du kannst vielleicht Fragen stellen! Damit wir nachher wieder zurückfinden.«

Etwas lesen konnte Miriam bereits, das hatte sie schon im Kindergarten gelernt. »Bu…«

»Na, ihr Kleinen, kann ich euch behilflich sein?«

Erschrocken fuhren die Mädchen zusammen und blickte ängstlich zu dem älteren Mann hinauf, der da vor ihnen stand.

»Wir… äh… Können Sie uns sagen, wie diese Straße heißt?«

»Na klar, kleines Fräulein. Das ist der Buchenweg. Sonst noch einen Wunsch?«

»Nein, vielen Dank.« Hastig zog Miriam die kleine Schwester mit sich fort, bevor die sich noch verplappern konnte.

»Wenn wir etwas gefragt werden, laß du nur mich reden, verstanden?« zischte sie. »Du hältst den Mund.«

»Warum?«

»Becky, du geht mir mit deiner Fragerei auf die Nerven. Tu einfach, was ich dir sage.«

»Na gut«, kam es beleidigt zurück. Und einen Moment später: »Da hinten ist der Laden, den ich gestern gesehen habe!«

»Gott sei Dank, ich habe nämlich jetzt auch großen Hunger.«

»Willst du einen Keks haben?«

»Nein, ein Brötchen mit Wurst oder Käse«, erwiderte Miriam schwärmerisch, und vor Freude knurrte ihr Magen so laut, daß Rebecca aufhorchte.

In dem kleinen Tante-Emma-Laden war nicht viel Betrieb, und die Mädchen warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

»Wir möchten Milch, ein paar Brötchen und Scheibenkäse«, sagte Miriam höfllich.

Die dicke Frau hinter dem Verkaufstresen packte das Gewünschte zusammen und fragte dann: »Wo wohnt ihr beiden denn? Ich habe euch noch nie in dieser Gegend gesehen.«

»Ach, wir sind neu hergezogen«, beeilte sich Miriam zu sagen und kniff Rebecca unbemerkt in den Arm, bevor die den Mund aufmachen konnte.

»So, wo genau wohnt ihr denn?« Die Frau reichte Rebecca einen Lutscher, den diese sich auf der Stelle begeistert in den Mund steckte.

»Auf dem Buchenweg«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus Miriam.

»Aha, und welche Hausnummer?«

»Eines der letzten Häuser, da, wo die Felder beginnen.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Aber das stehen doch nur noch die alten Siedlungshäuser.«

Miriam überlegte blitzschnell. »Unsere Eltern haben unser Haus renoviert; jetzt sieht es aus wie neu.«

»Ach so.« Die Frau sah aus, als glaubte sie den Kindern nicht recht. »Das macht acht Mark dreißig.«

»Puh«, machte Miriam, als sie wieder auf dem Gehweg standen. »Nur gut, daß mir so eine tolle Ausrede eingefallen ist.«

»Ja, das war sehr schlau von dir.« Rebecca hüpfte neben ihrer Schwester her. »Was machen wir jetzt?«

»Jetzt bringen wir unsere Vorräte zu unserem Versteck und frühstücken erst einmal richtig.«

*

Kraftlos ließ Ilona den Hörer auf die Gabel zurücksinken.

»Und?« fragte Jörg gespannt.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Überall, wo die Polizeibeamten nach den Kindern gefragt haben, wußte man nichts über sie.«

»Nun, wenn sich die Mädchen verstecken…«

»Aber irgendwann müssen sie doch mal aus ihrem Versteck herauskommen. Sie werde Hunger und Durst haben – die wenigen Vorräte, die sie mitgenommen haben, reichen höchstens ein paar Stunden.«

Jörg schwieg betreten.

»Wenn die Kinder nicht bis achtzehn Uhr gefunden wurden, wird im Fernsehen eine Suchmeldung in den Nachrichten durchgegeben.«

»Aber das ist vielleicht eine einzige Chance, die Kinder bald zu finden.« Jörg sprang auf. »Die Polizei hat sich nur in der näheren Nachbarschaft umgesehen, stimmt doch?«

Ilona nickte. Dann ging sie zum Wohnzimmerschrank und nahm ein paar Fotoalben heraus.

Jörg folgte ihr und fragte verwundert: »Was tust du da?«

»Die Polizei möchte neuere Fotos von den Mädchen.« Ilonas Stimme klang weinerlich. »Ich habe solche Angst.«

Er trat hinter sie und legte seine Arme um sie. »Ich bin ja bei dir, zusammen stehen wir das durch.«

Sie nickte unter Tränen und fühlte sich geborgen, wie sie sich nie bei Volker gefühlt hatte. Ihr Herz klopfte plötzlich schneller, und über sich selbst erschrocken löste sie sich von Jörg. Er war ein verheirateter Mann, seine Frau war so schön, daß jeder ihn um sie beneiden mußte!

*

Aufgeregt saßen Jörg und Ilona später vor dem Fernseher und warteten auf die Nachrichten. Als dann die Fotos der hübschen kleinen Mädchen eingeblendet wurden, schossen Ilona erneut Tränen in die Augen.

Sie sahen so niedlich aus, die Haare zu Zöpfen geflochten und beide in den gleichen Spitzenblüs­chen. Als diese Fotos gemacht worden war, war die Welt Rebeccas und Miriams noch in Ordnung gewesen – da hatten ihre Eltern noch gelebt, und die Kinder konnten sorglos in die Zukunft sehen.

*

Barbara Arnecke befand sich auf dem Polizeipräsidium, als die Sendung lief. Auf dem Weg zu Ilona hatte sie eigentlich nur hereinschauen wollen, um eventuell etwas Neues zu erfahren.

»Gehen die Anrufe hier direkt an die Zentrale?« wollte sie von einem der Beamten wissen.

»Ja«, nickte dieser. »Unsere Abteilung ist mit dem Fall beauftragt.«

Barbara Arnecke wollte sich gerade verabschieden, als das Telefon klingelte. Der Beamte nahm ab und gab Frau Arnecke ein Zeichen, zu warten.

»Wie ist denn Ihr Name?« fragte er.

Die Frau beugte sich tief hinunter, und der Polizist stellte den Apparat auf »Mithören«.

»Mein Name ist Trude Paulsen«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung in diesem Augenblick. »Mir gehört ein kleines Lebensmittelgeschäft in der Helenenstraße.«

»Und sie glauben, daß Sie die vermißten Kinder gesehen haben?«

»Nun, ganz sicher bin ich mir nicht. Die beiden Mädchen, die heute morgen in den Laden kamen, trugen die Haare offen und sahen nicht sehr ordentlich aus. Aber sie könnten es ihrem Benehmen nach gewesen sein.«

»Wie haben sich denn die Kinder benommen, Frau Paulsen?«

»Sie sahen ziemlich hungrig aus, und ich befürchtete schon, daß sie nicht bezahlen konnten. Aber sie hatten tatsächlich Geld dabei.«

Der Beamte sah enttäuscht aus. »Das ist alles?«

»Nicht ganz. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß mir die Mädchen verdächtig vorkamen. Auf meine Frage, wo sie wohnten, meinte das ältere Mädchen, am Ende des Buchenweges.«

»Was ist daran so Besonderes?«

»Am Ende der besagten Straße stehen einige alte Siedlungshäuser, die nicht mehr bewohnt sind. Das Mädchen erklärte mir, daß sie neu in die Gegend gezogen wären und ihre Eltern eines der Häuser angeblich gekauft und renoviert hätten.«

»Auch dies ist noch nichts Außergewöhnliches.« Der Polizeibeamte zuckte mit den Schultern und warf Barbara Arnecke einen ratlosen Blick zu.

»In diesem Fall schon«, erklärte Frau Paulsen. »Die Häuser sind nämlich verlassen, weil sie demnächst abgerissen werden. Dort wird doch die neue Schnellstraße gebaut. Zunächst dachte ich, daß die Kinder mich aus Spaß beschwindelt haben, Sie wissen ja, wie Kinder sind. Aber nachdem ich die Vermißtenanzeige im Fernsehen sah, dachte ich mir, daß es sich um dieselben Mädchen handeln könnte.«

Barbara Arnecke nickte heftig. Sie war überzeugt davon, daß es sich um Miriam und Rebecca handelte, die sich in einem der alten Häuser versteckten.

»Vielen Dank für Ihren Hinweis, Frau Paulsen. Wir werden uns darum kümmern.« Der Polizist legte auf und sah fragend zu Frau Arnecke. »Sollen wir die Tante der Mädchen informieren?«

»Nein, ich denke, das ist keine gute Idee. Vielleicht handelt es sich doch um falschen Alarm, und wir müssen Frau Struve dann enttäuschen; Die Ärmste hat weiß Gott in letzter Zeit genug durchgemacht. Aber ich werde Ihre Kollegen begleiten, wenn es Ihnen recht ist. Falls es sich tatsächlich um die vermißten Kinder handelt, wäre es angebracht, wenn sich zunächst eine für sie bekannte Person um sie kümmert.«

»In Ordnung.« Der Beamte gab Anweisungen, und nur wenige Minuten später verließ ein Polizeiwagen den Parkplatz.

»Wissen Sie schon, wie Sie vorgehen werden, damit sich die Kinder nicht zu sehr erschrecken?« fragte Barbara Arnecke nervös. »Sie werden doch hoffentlich den Buchenweg nicht mit eingeschaltetem Martinshorn absuchen.«

»Natürlich nicht. Der Wagen wird am Anfang der Straße geparkt, und wir machen uns zu Fuß auf die Suche.«

»Aha. Darf ich Sie begleiten?«

»Wenn Sie sich ganz ruhig verhalten?«

Der Polizist grinste. »Worauf Sie sich verlassen können.«

*

Als das Telefon schrillte, zuckten Jörg und Ilona gleichzeitig zusammen und sahen sich ängstlich an.

»Soll ich an den Apparat gehen?« fragte Jörg, doch Ilona sprang auf.

»Laß mich nur machen.« Mit schnellem Schritt eilte sie zum Telefon.

»Hallo Ilona! Ich habe vorhin in den Nachrichten gesehen, was geschehen ist. Auch wenn du mir nicht glaubst – es tut mir wirklich leid.«

»Danke, Volker«, erwiderte sie enttäuscht.

»Sind die Mädchen denn schon gefunden worden?«

»Nein, bisher habe ich noch keine Nachricht erhalten.«

Er räusperte sich. »Ilona, ich weiß, daß dies für eine Versöhnung ein ungünstiger Augenblick ist…«

»Wovon redest du?«

»Ich habe wohl etliche Fehler begangen – vielleicht bin ich ein wenig schuld daran, daß die Kinder fortgelaufen sind.«

»Das hatte nichts mit dir zu tun«, gab sie schnell zurück und erklärte kurz von dem drohenden Umzug der Mädchen ins Waisenhaus. Dann holte sie tief Luft und fügte hinzu: »Volker, es wird keine Versöhnung für uns geben.«

»Aha, du bist also noch immer sauer, weil du mich bei einem harmlosen Seitensprung erwischt hast«, gab er mit ironischem Unterton zurück.

Sie schloß die Augen. »Du hast dich überhaupt nicht geändert. Kannst du es nicht ertragen, daß du mir nichts mehr bedeutest?«

»Das glaube ich dir nicht ganz, mein Schatz«, gab er überheblich lachend zurück. »Immerhin waren wir sehr lange zusammen, da vergißt man den Partner nicht so leicht.«

»Ach, glaube doch, was du willst.« Ilona runzelte zornig ihre Stirn. »Ich möchte dieses Gespräch nicht fortsetzen und dich bitten, nicht mehr anzurufen. Ich habe momentan andere Probleme, als mich mit deinem Egoismus herumzuplagen.«

»Ilona, so kenne ich dich ja gar nicht.«

»Dann wird es Zeit, daß du mich so kennenlernst«, gab sie schagfertig zurück und hoffte, daß Volker endlich aufgab.

»Wie willst du das alles ohne Unterstützung durchstehen? Gerade jetzt brauchst du jemanden, der dir beisteht.«

»Darüber mußt du dir wirklich keine Sorgen machen.« Sie wickelte sich die Telefonschnur um den Finger. »Außerdem ist Jörg hier,«

»Ach, der liebe, langweilige Onkel Jörg. Na, da kann man dann nichts machen. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück für deine Zukunft.«

Als er endlich aufgelegt hatte, fragte sich Ilona, ob Volkers Wünsche ehrlich gemeint waren – aber eigentlich spielte es keine Rolle.

Jörg sah erwartungsvoll auf, als Ilona wieder das Wohnzimmer betrat.

»Es war Volker, der versucht hat, wieder mit mir anzubandeln«, sagte sie ohne großes Interesse.

»Und?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Hast du dich darauf eingelassen?«

Sie lachte bitter auf. »Selbstverständlich nicht. Volker ist mir völlig egal – ich weiß gar nicht, wie ich ihn früher ertragen konnte.«

Ilona registrierte nicht Jörgs heimliches Aufatmen; sie war viel zu nervös. »Ob ich mal bei der Polizei anrufe?«

»Nein, das würde ich nicht tun. Wahrscheinlich gibt es jede Menge Hinweise, die sich später als Irrtum herausstellen. Wir würden uns nur falsche Hoffnungen machen.«

Sie nickte bedächtig. »Du hast recht. Ich koche jetzt Tee, möchtest du auch eine Tasse haben?«

»Gerne.« Und als Ilona schon fast das Zimmer verlassen hatte, sagte er sanft: »Mach dir bitte nicht allzu große Sorgen. Wenn sich die Mädchen noch in der Gegend aufhalten, werden sie gefunden.«

Sie seufzte. »Das wäre zu schön.«

*

Etwa zur selben Zeit schlichen drei Polizeibeamte, begleitet von Barbara Arnecke, durch die dunkle Straße. Die verlassenen Häuser sahen gespenstisch aus und verursachten bei Frau Arnecke eine Gänsehaut.

»Hier sieht es aus wie in einer Geisterstadt«, flüsterte sie. »Die Mädchen müssen schon sehr große Angst vor ihrem Schicksal haben, wenn sie sich in dieser verlassenen Gegend verstecken. Können Sie nicht wenigstens eine Taschenlampe anmachen?«

»Lieber nicht, das könnte die Mädchen zu sehr erschrecken, wenn sie tatsächlich in einem dieser alten Gemäuer Schutz gesucht haben.«

»Aber es ist so schrecklich finster hier.«

»Die Straßenbeleuchtung wurde schon vor Wochen abgeschaltet«, erklärte der junge Beamte neben ihr. »Da die Häuser in den nächsten Wochen sowieso abgerissen werden, müssen sie auch nicht mehr beleuchtet werden.«

»Einer der Polizisten tastete sich zu jedem Haus und sah in die dunklen Fensterhöhlen jedes Zimmers, während Barbara Arnecke und die beiden anderen Beamten wartend an der Straße standen.

Bei jedem Haus schüttelte der Polizist den Kopf. Beim vorletzten Haus sagte Frau Arnecke: »Ich bin jetzt wirklich froh, daß wir Frau Struve nichts von dem Hinweis gesagt haben. Wie es scheint, werden wir doch nicht mehr fündig.«

»Noch haben wir nicht alle Häuser durchsucht«, tröstete der junge Polizist, der gut und gerne vom Alter her Barbaras Sohn hätte sein können.

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich zwei kleine Kinder freiwillig in dieser Einöde verstecken.«

Der Beamte wollte gerade antworten, als der zweite Polizist sagte: »Sehen Sie mal, unser Kollege gibt ein Zeichen. Es sieht aus, als hätte er etwas gefunden.«

Mit wild klopfendem Herzen schritt Frau Arnecke zu dem kleinen Anbau, zu dem sie der Polizeibeamte hinwinkte. Er wies zuerst auf ein kleines Fenster und dann auf seine Lippen. Augenblicklich verlangsamte sie ihren Gang.

Ohne ein Wort zu sagen, zeigte der Mann auf das Fenster, und Barbara Arnecke legte die Hand auf ihren Mund, um nicht vor Erleichterung laut aufzuschreien.

In der Dunkelheit kaum zu erkennen, lagen da in einer Ecke zwei schlafende Mädchen aneinandergekuschelt.

»Sind dies die vermißten Kinder?« fragte der Beamte leise, und Frau Arnecke konnte nur ergriffen nicken. Obwohl man nur die Umrisse der Mädchen sah, wußte sie sofort, daß es Miriam und Rebecca waren.

»Wie sollen wir weiter vorgehen?« Auch die drei Beamten waren froh, daß die Kinder gefunden worden waren. »Sie werden sich fürchterlich erschrecken, wenn plötzlich so viele Menschen um sie herumstehen.«

»Lassen Sie mich hineingehen«, bat Barbara. »Ich werde die Mädchen vorsichtig wecken. Bitte geben Sie mir dazu eine Taschenlampe, damit sie sehen, daß kein Fremder vor ihnen steht.«

*

Es war fast Mitternacht, als das Telefon erneut klingelte.

»Jetzt haben sie die Kinder gefunden!« rief Ilona und eilte zum Apparat, gefolgt von einem nicht minder aufgeregten Jörg. Angespannt verfolgte er das Gespräch, und erst, als Ilona unter Tränen hauchte: »Gott sei Dank ist ihnen nichts passiert«, wagte auch er aufzuatmen.

Als das Gespräch beendet war, fiel Ilona dem Mann um den Hals. Lachend und weinend zugleich sagte sie: »Die Polizei hat gleich nach der Suchmeldung den entscheidenden Hinweis bekommen. Die Mädchen sind unverletzt und gerade auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Ins Krankenhaus?« fragte er erschrocken. »Ich denke, Rebecca und Miriam ist nichts passiert.«

»Ist es auch nicht.« Ilona löste sich von ihm und fuhr sich durch das Haar. »Die Kinder sind nur zur Beobachtung dort; morgen dürfen sie wieder nach Hause.«

»Nach Hause?«

Ilona lächelte. »Frau Arnecke hat mir versprochen, daß die Kinder bis auf weiteres bei mir bleiben können.«

»Das ist ja wunderbar!« rief er. »In welchem Krankenhaus sind die beiden?«

»Im St. Joseph, laß uns gleich hinfahren.«

*

»Tante Ilona! Onkel Jörg!« Rebecca riß beide Arme hoch, als sie die beiden erblickte. Sie und ihre Schwester lagen in einem ruhigen Zimmer auf der Kinderstation.

Ilona beugte sich zu der Kleinen, während Jörg Miriam in seine Arme schloß. »Ihr habt uns aber einen großen Schrecken eingejagt. Warum seid ihr denn fortgelaufen, ohne mit mir zu reden?«

»Bist du jetzt böse auf uns?« Rebeccas kleines Gesichtchen verzog sich traurig. »Ich will nicht, daß du böse auf uns bist.«

»Aber nein, ich bin überhaupt nicht böse – nur sehr, sehr froh, daß ihr wieder da seid. Ihr müßt mir versprechen, nie wieder solch eine Dummheit zu begehen.«

Rebecca nickte ernst.

»Es hätte euch etwas ganz Schlimmes passieren können.«

Ilona setzte sich auf den Bett­rand. »Wir haben uns alle große Sorgen gemacht, daß wir euch nicht wiederfinden.«

»Wir sind doch nur weggelaufen, weil wir nicht in dieses Heim wollen. Miriam hat genau gehört, daß wir nicht bei dir bleiben können – und bei Onkel Jörg auch nicht, weil Tante Susanne uns nicht haben will.«

Ilona schlang ihre Arme um das kleine Mädchen. Ihr Herz tat ihr weh bei dem Gedanken, welch große Ängste Rebecca und ihre ältere Schwester wohl dazu bewogen haben mußten, sich in einem verlassenen Gemäuer zu verstecken.

»Wir werden eine Lösung finden, damit ihr für immer bei mir bleiben dürft«, sagte Ilona mit fester Stimme. »Aber ihr macht nie wieder solch einen Blödsinn, versprochen? Es hätte so viel geschehen können.«

»Miriam hat aber gesagt, daß es keine böse Gespenster gibt.«

»Nun, böse Gespenster nicht, aber es gibt genügend böse Menschen.«

»Frau Arnecke ist ein böser Mensch«, gab Rebecca zurück. »Sie will, daß wir nicht mehr bei dir bleiben.«

Ilona streichelte zärtlich die Wange der Kleinen. »Nein, Frau Arnecke möchte das auch nicht, aber leider kann sie das nicht alleine entscheiden.«

»Und warum kannst du das nicht entscheiden?« fragte Rebecca traurig.

Ilona warf Jörg einen hilflosen Blick zu.

Der räusperte sich und sagte: »Weil es Gesetze gibt, an die wir uns alle halten müssen. Weder Tante Ilona noch Frau Arnecke noch ich können machen, was wir wollen.«

»Ich gehe jedenfalls in kein Heim!« rief Miriam empört. »Lieber gehe ich wieder in dieses gräßliche alte Haus.«

»Das wirst du schön bleiben lassen, junge Dame«, erwiderte Jörg schnell. »Frau Arnecke hat zugestimmt, daß ihr erst einmal bei eurer Tante bleiben dürft.«

»Aber ihr müßt mir versprechen, nicht wieder davonzulaufen«, füge Ilona hinzu.

Die Mädchen sahen sich einen Augenblick schweigend an, dann nickten beide gleichzeitig…

*

Eine Woche später durften Miriam und Rebecca wieder den Kindergarten besuchen. Natürlich war es bei den anderen Kindern wie ein Lauffeuer herumgegangen, daß die Geschwister nach einer abenteuerlichen Suche in einem abbruchreifen Haus gefunden wurden.

Die Mädchen wurden wie Helden gefeiert, was ihnen sehr zu gefallen schien. Stolz erzählten sie von den aufregendsten Stunden ihres Lebens. Natürlich wurde die Geschichte noch sehr fantasievoll ausgeschmückt, so daß die anderen Kinder staunend mit offenen Mündern um Rebecca und Miriam herumstanden.

»Zum Glück haben die Kinder keinen seelischen Schaden davongetragen«, sagte Ilona, als sie Jörg belustigt davon berichtete, daß die Mädchen unter die Alleinunterhalter gegangen waren.

Jörg schmunzelte. »Von ihrem Ruhm werden die beiden Rangen wohl noch eine ganze Weile zehren können. Wir können froh sein, daß das Jugendamt vorerst noch ein Einsehen hat.«

Ilona nickte besonnen. »Ich frage mich nur, wie lange? Früher oder später steht Frau Arnecke wieder vor der Tür. Nicht auszudenken, wenn die Kinder wieder versuchen zu entwischen.«

»Es darf kein nächstes Mal geben«, erwiderte Jörg. »Wir müssen Frau Arnecke davon überzeugen, daß sie dich nur aufsucht, wenn die Mädchen nicht da sind. Ich glaube, sie haben eine Heidenangst vor dieser Frau, obwohl sie sehr sympathisch ist.«

»Die Mädchen sehen das aber anders. Für sie ist Frau Arnecke eine böse Person, die sie wegschicken will, und sie können nicht begreife, daß die arme Frau nur ihre Pflicht erledigt«, gab Ilona zurück. Und dann: »Sag’ mal, mußt du dich nicht langsam wieder um deinen Betrieb und um Susanne kümmern? Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich deine Hilfe so lange in Anspruch nehmen.«

»Ich telefoniere doch fast jeden Tag mit meiner Vertretung, da geht alles reibungslos weiter, auch wenn der Chef mal nicht da ist. Und Susanne – sie wird mich kaum vermissen.«

Ilona horchte auf. »Warum sagst du so etwas? Natürlich wird sie dich schrecklich vermissen, und ich hoffe nur, sie ist nicht wütend auf mich.«

»Auf dich kann man gar nicht wütend sein.« Er machte eine kurze Pause, in der er überlegte, ob nun wohl der richtige Zeitpunkt gekommen sei, Ilona von seiner zerbrochenen Ehe zu erzählen.

Sie sah ihn erwartungsvoll an.

»Susanne und ich haben uns entschlossen, die Scheidung einzureichen«, sagte er schließlich und vermied es, Ilona dabei anzusehen.

Sie sah betroffen aus, als sie leise erwiderte: »Das tut mir leid. Ist es wegen der Mädchen?«

»Die Pflegschaft für die Kinder war eigentlich nur noch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.« Er schluckte hart. »Vielmehr haben Susanne und ich uns im Laufe der Jahre auseinandergelebt – so etwas passiert schon mal bei Ehepaaren.«

»Schon, aber…« Ilona fragte sich im Stillen, warum ihr Herz plötzlich höher schlug. Eigentlich hätte sie bestürzt über diese überraschende Neuigkeit sein müssen. »Dann wirst du ja demnächst kaum Zeit haben, die Mädchen zu besuchen, nicht wahr?«

Er lächelte. »Davon kann mich niemand abhalten. Aber ich muß natürlich zurück nach Nürnberg, um mir einen Anwalt zu suchen.«

»Ja, das mußt du wohl.« Ilona erschrak bei dem Gedanken, daß sie sich in Jörg verliebt hatte. Doch davon durfte er selbstverständlich nichts erfahren – sicherlich hatte er zunächst die Nase voll von den Frauen.

*

Ilona erkannte an Barbara Arneckes Stimme, daß sie sehr besorgt war. Vorsorglich hatte sie zu einer Zeit angerufen, als Miriam und Rebecca im Kindergarten waren.

»Schön, daß sich die Mädchen von ihrem Abenteuer so gut erholt haben«, sagte sie. »Sie haben uns ja alle einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

Ilona war auf der Hut; die freundliche Stimme der Frau vom Jugendamt konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie wegen etwas ganz anderem anrief. »Ja, auch Miriam ist nun soweit, daß sie nicht mehr ständig an ihre Eltern denkt. Der Unfall ist jetzt ein halbes Jahr her, und von Tag zu Tag akzeptieren die Kinder ihr neues Leben besser.«

Frau Arnecke schwieg einen Augenblick. »Sie haben Großartiges geleistet, Frau Struve. Daher tut es mir auch besonders leid, Ihnen schon wieder auf die Pelle rücken zu müssen. Sie wissen, was ich meine?«

Ilona seufzte. »Es geht mal wieder um die Zukunft der Mädchen, nicht wahr?«

»Glauben Sie mir, wenn ich das Sagen hätte, würde ich noch heute bei Ihnen mit den Adoptionspapieren vor der Tür stehen – Sie haben hinreichend bewiesen, daß Sie gut für Ihre Nichten sorgen können, aber…«

»… aber die Behörde will endlich geordnete Verhältnisse, wie es so schön heißt«, vollendete Ilona traurig den Satz.

»Leider sitzen mir meine Vorgesetzten im Nacken«, gab Barbara Arnecke zurück. »Ich habe mich wirklich dafür eingesetzt, daß die Mädchen bei Ihnen bleiben dürfen, habe das Ausreißen der Kinder angeführt – doch davon will niemand etwas hören. Es heißt immer nur: Die Kinder sollen nicht nur eine Mutter, sondern auch einen Vater haben.«

»So ein Unsinn!« schimpfte Ilona. »Gerade heutzutage gibt es Tausende von alleinerziehenden Müttern, die hervorragend für ihre Kinder sorgen.«

»Leider ist das bei leiblichen Kindern etwas anderes.«

»Was… wird jetzt passieren?«

Frau Arnecke zögerte einen Moment. Dann holte sie tief Luft und sage: »Nun, da Sie nicht die Absicht haben, in nächster Zeit in den Stand der Ehe zu treten, und ihr Schwager und seine Ehefrau das Nürnberger Jugendamt über ihre bevorstehende Scheidung unterrichtet haben….«

»… werden mir die Kinder dem­nächst weggenommen, so ist es doch, oder?«

»Ich fürchte, ja.«

»Wann?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, weil ich es nicht weiß.«

Wütend warf Ilona kurze Zeit später den Hörer auf die Gabel. Hatten die Mädchen nicht genügend bewiesen, daß sie sich vor dem Waisenhaus fürchteten, indem sie sich lieber in einem furchtbaren Abrißhaus versteckt hatten?

*

»Was ist denn, Tante Ilona?« fragte Miriam am nächsten Morgen stirnrunzelnd, als ihre Tante beim Klingeln an der Tür erschrocken zusammenzuckte. »Du siehst so traurig aus.«

Ilona fuhr dem hübschen Mädchen über das seidige Blondhaar und zauberte ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. »Nein, ich bin nicht traurig, nur etwas müde. Du weißt ja, daß ich die letzten Tage bis spät in den Abend an meinem neuen Auftrag gearbeitet habe, weil mein Chef ihn dringend braucht.«

Mit dieser Antwort gab sich Miriam zufrieden. Ilona wandte sich schnell ab, damit das Kind nicht ihre feuchten Augen sehen konnten. Es tat ihr weh, die Mädchen in dem Glauben lassen zu müssen, daß sie für immer bei ihrer Tante bleiben durften. Doch jedesmal, wenn es an der Wohnungstür klingelte oder das Telefon läutete, hatte Ilona Angst davor, daß das Jugendamt die Herausgabe der Kinder forderte.

Gleich, nachdem sie die Mädchen im Kindergarten abgeliefert hatte, rief sie Jörg in seinem Betrieb an. Wie sie wußte, war er bereits aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen und schlief in seinem kleinen Büro.

»Das ist ja unfaßbar!« schimpfte er, als Ilona ihm von Frau Arneckes Anruf erzählt hatte. »Haben die denn gar kein Mitleid mit zwei Waisenkindern?«

»Anscheinend nicht, denen geht es nur darum, die Kinder ordnungsgemäß zu verwalten. Frau Arnecke hat alles versucht, damit Miriam und Rebecca bei mir bleiben können, doch sie hat leider nichts erreicht. Diese Verwaltungsfritzen wissen doch gar nicht, was sie mit ihren hirnrissigen Entscheidungen anrichten«, gab Ilona niedergeschlagen zurück. »Und ich bin so machtlos und kann absolut nichts tun.«

»Mach dir keine Vorwürfe, du hast getan, was du konntest.«

»Aber ich kann den Mädchen kaum noch in die Augen sehen, weil sie mir vertrauen und ich weiß, daß sie bald fortgeholt werden.«

Ilona konnte hören, wie Jörg hart schluckte, bevor er antwortete. »Wenn du erfährst, daß die Kinder abgeholt werden, informiere mich bitte auf der Stelle. Ich bin dann noch am selben Tag bei dir und werde mit den Leuten vom Jugendamt reden.«

»Das wird nicht viel nützen, fürchte ich«, erwiderte Ilona, doch sie war froh, daß sie nicht alleine mit ihren Sorgen dastand. Auf Jörg konnte sie sich verlassen. »Entschuldige bitte, daß ich dich noch gar nicht gefragt habe, wie es dir geht.«

»Davon abgesehen, daß die Klappcouch in meinem Büro alles andere als gemütlich ist, geht es mir ausgezeichnet.«

»Ja, bereust du es denn kein bißchen, daß Susanne und du kein Paar mehr seid?« fragte sie mit angehaltenem Atem. »Ihr wart doch über sieben Jahre verheiratet.«

»Ich weiß erst jetzt so richtig, daß Susanne und ich eigentlich nie zusammengepaßt haben«, erklärte er, und Ilona bemerkte mit Freude, daß seine Stimme dabei gelöst und fast heiter klang.

*

Sie kamen, als Ilona am wenigsten damit gerechnet hatte. Die Mädchen hatten sich gerade ihre Pyjamas angezogen und waren im Badezimmer damit beschäftigt, sich für die Nacht zurechtzumachen.

Als es an der Tür läutete, rief Ilona: »Das wird der Bote sein, der meine Arbeiten abholt!«

Sie griff zu dem dicken Umschlag, den sie bereits auf dem Tischchen im Flur deponiert hatte, und öffnete mit einem Lächeln die Tür. Ilona mochte den Jungen, der immer die Botengänge für die Werbeagentur erledigte.

Das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen, als sie eine ältere Frau und zwei Polizeibeamte erblickte. Die Frau, die wie eine strenge Gouvernante aussah, zückte ein Schreiben und hielt es Ilona direkt vor die Nase. »Sind Sie Frau Ilona Struve?«

»Ja«, erwiderte diese mit brüchiger Stimme. »Und wer sind Sie?« Dabei wußte sie es eigentlich schon.

»Mein Name ist Ilse Graumann vom hiesigen Jugendamt. Ich habe den Auftrag, ihre Nichten Rebecca und Miriam Schlicht noch heute in das Städtische Waisenhaus zu überführen.«

»Aber Sie können doch nicht einfach…«

»Doch, wir können. Falls Sie sich weigern, die Kinder herauszugeben, müssen Sie mit einer hohen Strafe rechnen.«

Die Frau drängte sich einfach an Ilona vorbei, die Polizisten blieben vor der Tür stehen und blickten betreten auf ihre Schuhspitzen. Es war ihnen anzusehen, daß diese Art von Arbeit zu ihren unangenehmsten Pflichten gehörten.

Frau Graumann hatte bereits das Wohnzimmer betreten und sah sich suchend um. »Wo sind die Mädchen?«

Ilona hätte diese unverschämte Person mit den eiskalten Augen am liebsten aus der Wohnung geworden – doch sie war intelligent genug zu begreifen, daß sie damit die Situation nur noch verschlimmerte. »Sie sind im Badezimmer.«

In diesem Moment kamen die beiden kichernd aus dem Bad und blieben wie erstarrt stehen, als sie die fremde Frau mit den streng zurückgekämmten Haaren erblickten. Mit einem Blick schienen sie zu erfassen, was auf sie zukam.

»Bitte, Tante Ilona!« rief Miriam verzweifelt. »Wir wollen bei dir bleiben!«

Mit wenigen Schritten waren sie und ihre kleine Schwester bei Ilona angelangt und umklammerten ängstlich ihre Beine.

»Sagt jetzt euer Tante ›auf Wiedersehen!‹ und zieht euch wieder an. Und Sie, Frau Struve, können in der Zwischenzeit die Sachen der Kinder packen.«

Die Mädchen schrien und weinten, und am liebsten hätte Ilona in ihr Wehklagen eingestimmt. Doch sie beherrschte sich, so gut sie konnte, als sie sagte: »Es ist nur vorübergehend, das verspreche ich euch.«

»Warum läßt du das zu?« Miriam hob ihr tränennasses Gesicht. »Du hast gesagt, daß wir bei dir bleiben dürfen!«

*

Zitternd saß Ilona da, um ihre Beherrschung war es vollends geschehen; die letzte Stunde war die schlimmste ihres Lebens gewesen. Nie würde sie die verzweifelten Gesichter der Kinder vergessen und den enttäuschten Ausdruck in ihren Augen, als sie Ilona ansahen, bevor sie weggebracht wurden.

Schluchzend barg Ilona ihr Gesicht in den Händen. Warum hatte sie nicht verhindern können, daß den Mädchen etwas derartig Furchtbares angetan wurde?

Irgendwann erhob sie sich und schleppte sich zum Telefon. Sie atmete auf, als Jörg schon beim zweiten Klingelzeichen am Apparat war.

Weinend schilderte sie, was vorgefallen war, und Jörg versprach, sich sofort auf den Weg nach Kiel zu machen.

*

Ilona fiel ihm weinend um den Hals, als er in frühen Morgenstunden vor ihrer Tür stand. Stockend erzählte sie noch einmal von dem Alptraum am Abend zurvor.

Mit den Händen in den Hosentaschen schritt Jörg energisch im Zimmer auf und ab. »Es ist eine Frechheit, dermaßen unsensibel vorzugehen.«

»Vielleicht haben sich die Leute vom Jugendamt gedacht, daß die Mädchen wieder ausrücken, wenn sie ihr Kommen vorher angekündigt hätten.«

»Das spielt doch keine Rolle. Um acht Uhr rufe ich diese Frau Arnecke an und werde mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden.«

»Es war nicht sie, die gestern abend mit den Polizeibeamten vor der Tür stand«, berichtigte Ilona.

Er schnaubte verächtlich. »Ich kann mir schon vorstellen, warum sie sich vor dieser Aufgabe gedrückt hat. Es reicht mir jetzt, wie die alle mit dir und den armen Kindern umspringen!«

Ilona hob erstaunt den Kopf. So wütend hatte sie Jörg noch nie erlebt!

Barbara Arnecke war verblüfft, als Jörg sie tatsächlich frühmorgens aus dem Bett klingelte. »Es tut mir leid, Herr Schlicht, ich hatte keine Ahnung von der Aktion.«

»Und das soll ich Ihnen glauben?« rief Jörg zornig in den Hörer. »Meine Schwägerin ist am Rande eines Nervenzusammenbruches – und wie es meinen Nichten geht, wage ich mir gar nicht erst vorzustellen.«

»Bitte, Herr Schlicht, beruhigen Sie sich. Ich werde mich sofort umhören, in welcher Abteilung des Städtischen Waisenhauses die Mädchen untergebracht sind, und Erkundigungen einziehen, wie es ihnen geht.«

»Tun Sie das«, erwiderte Jörg kurz angebunden und warf den Hörer hart auf die Gabel.

Ilona stand gleich neben ihm. »Frau Arnecke wußte wirklich nichts davon, nicht wahr?«

»Das behauptet sie jedenfalls.«

»Ach, wenn ich doch nur verheiratet wäre, um den Mädchen das Heim zu ersparen«, flüsterte Ilona und brach erneut in Tränen aus. »Ich würde jeden heiraten, um die Kinder wiederzubekommen.«

Einen Moment schwieg er. Dann fragte er zaghaft: »Auch mich?«

Sie hob erstaunt den Kopf. »Dich? Aber du…«

»Ich bin in wenigen Monaten geschieden und schon eine ganze Weile in dich verliebt. Das ist auch der Grund, daß mir die Trennung von Susanne nichts ausmacht. So, jetzt ist es heraus – und es liegt an dir, dich zu entscheiden.«

Trotz der bedrückenden Situation begannen Ilonas Augen hinter den Tränen zu glänzen. »Und du willst mich nicht nur wegen der Kinder heiraten?«

»Nein, bestimmt nicht – auch wenn es bei dir vielleicht so wäre.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich…, auch ich habe mich in dich verliebt. Damals wußte ich noch nicht, daß deine Ehe nicht mehr zu retten war, und ich schämte mich für meine Gefühle.«

»Ist das wahr?«

Als Antwort nickte sie freudestrahlend und legte ihre Arme um seinen Hals. Nach einem nicht enden wollenden Kuß fragte sie: »Wollen wir zum Jugendamt fahren und denen sagen, daß Miriam und Rebecca bald neue Eltern haben werden?«

*

Ein halbes Jahr später siedelten Ilona und die Kinder nach Nürnberg über, und wenige Wochen später fand die Hochzeit statt.

Die Augen der Mädchen strahlten mit denen ihrer neuen Mama um die Wette, als sie stolz in ihren Spitzenkleidchen vor dem Brautpaar die Kirche verließen und bunte Blumenköpfe auf den Weg streuten. Vergessen war die Vergangenheit – nur noch die Zukunft zählte nun für die kleine glückliche Familie, die da in den hellen Sonnenschein hinaustrat…

Mami Staffel 15 – Familienroman

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