Читать книгу Malik - Lisa W. Barbara - Страница 3
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ОглавлениеMein Leben war wie jedes andere. Nichts Besonderes, nichts Spannendes, nichts Aufregendes. Ich stand jeden Tag um exakt 5:45 Uhr auf, ging duschen, frühstückte nicht, trank meinen Kaffee schwarz und fuhr zur Arbeit.
Wie gesagt, nichts was einem aufregendem Leben am nächsten kam.
Was gibt es noch groß über mein Leben zu erzählen? Ich war Single, hatte eine gute Kindheit gehabt, war nun eine erwachsene Frau mit einem gut bezahlten und sicherem Job.
Klar, gab es auch in meinem Leben etwas, was mich verändert hatte, was mein früheres Leben verändert hatte, so wie bei jedem Menschen.
Versteht mich nicht falsch, ich mag mein Leben so wie es ist, diese Struktur, das war es, was alles leichter machte. Aber manchmal, in meinen besonders schwachen Momenten fragte ich mich, kann das denn alles sein?
Vielleicht sollte ich den Job wechseln, irgendwas verändern. Oder vielleicht auch wieder umziehen. Ja klar, es ist ein Traum in München zu wohnen, ich liebte es, aber meine Heimat vermisste ich noch mehr.
Wie kannst du nur jemals aus dem Paradies hier weggehen?, hatte mich meine Schwester immer gefragt. Sie hatte gut reden. War mit einem reichen Schauspieler verheiratet, wohnte in Venedig in einem alten Palast und flog jedes Jahr dreimal für fünf Wochen (jeweils) in den Urlaub. Wobei, Urlaub kann man das auch nicht nennen, denn ihr Leben bestand eigentlich nur aus Urlaub.
Sie hatte nie arbeiten müssen, hatte nur einmal ihre Haare zurück- und dem tollen, sehr sexy und sehr reichem Schauspieler ein Lächeln zuwerfen müssen, und schon war sie bis zu ihrem Lebensende versorgt. Stellt euch das mal vor, wenn sie einfach älter wird, dann zahlt er ihr die Schönheits-OPs und schwupps, hat sie sich für die nächsten 10 Jahre abgesichert. Und was interessierte es sie schon, wenn er noch fünf Geliebte nebenher hatte, immerhin nahm sie es mit der Treue auch nicht so genau.
Aber genug zum Leben von meiner Schwester, das definitiv nichts für ich war. Wie gesagt, ich war komplett das Gegenteil.
Klar wäre es schön, wieder nach Venezien zu ziehen. Ich liebte es dort und jeder Gedanke daran stach mir ins Herz. Wie wir früher immer die Ausflüge auf unserem Boot in der Lagune von Venedig gemacht hatten. Im Winter auf dem Markusplatz mit den Schneeflocken um die Wette getanzt hatten. Da war alles noch gut gewesen.
Aber alles ändert sich und am schnellsten ändern sich die guten Dinge, die, die man liebte.
Jedenfalls war der heutige Tag auch nichts Besonderes. Ich wachte auf, um genau 5:45 Uhr, bis mir auffiel dass es ja Samstag war und mein Wecker erst um 08:00 Uhr klingeln würde. So etwas war mir ja noch nie passiert. Ich war ein bisschen verwirrt, kroch nochmal ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Also versuchte ich mich an meinen Traum zu erinnern, was mir nur so halb gelang. Früher hatte ich mich immer sehr gut an meine Träume erinnern können, hatte immer ein kleines Notizbuch neben meinem Bett liegen gehabt und immer aufgeschrieben, was ich geträumt hatte. Dann hatte ich Kurzgeschichten draus gemacht. Meine Mutter hatte sie geliebt.
Aber heute war das nicht mehr so. Schon lange hatte ich nichts mehr geschrieben, mich nicht mehr an meine Träume erinnert.
Ich seufzte, und gab mich wieder dem Alltag hin.
Stand auf, wenn auch nicht um 08:00 Uhr, sondern um 06:07 Uhr, was wie gesagt, sehr untypisch für einen Samstag war.
Dann zog ich meinen Terminplaner her, schlug ihn auf und strich mit den Fingern über den heutigen Tag. Was stand an? Einkaufen fahren, die Kleider aus der Reinigung holen, Sina treffen.
Stimmt, hätte ich beinahe vergessen. Mir fiel der morgige Tag ins Auge, Großeltern anrufen, Geburtstag. Achja, morgen war mein Geburtstag, 23 Jahre, nichts Besonderes, keine außergewöhnliche Zahl, kein außergewöhnliches Alter.
Einfach ein ganz normaler Tag.
Genauso wie heute, ein Samstag wie jeder, außer dass es Vorweihnachtszeit war und ich durch meine ganzen Pläne die ich mir machte, vergaß, dass es da immer zuging als würde morgen der dritte Weltkrieg ausbrechen und keiner mehr was einkaufen konnte. Na super.
Stau, nichts für mich, denn das brachte meinen ganzen Plan durcheinander. Aber ich war ja schließlich eine strukturierte Frau, also kam ich auch damit zurecht.
Ich ging duschen, zog mich an, bürstete mir die Haare genau 30 Mal, legte das selbe Make-Up auf wie jeden Tag, nahm meine schon gepackte Tasche, zog meine schwarzen Stiefel an, meine schwarze Jacke und verließ das Haus. Mit geraden Schultern und erhobenem Kinn ging ich zu meinem Auto, einem grauen Mercedes, ein Spießerauto, wie meine Schwester es immer nannte. Dann fuhr ich los, nahm den gleichen Weg wie jeden Tag und fuhr auf die Autobahn. Aus dem Radio erklang dieselbe Musik wie immer, ich seufzte, hielt den genauen Sicherheitsabstand zu dem blauen BMW vor mir ein und zog mein Handy hervor. Klar, ich weiß, Handy weg am Steuer, aber auch ich musste mal die Regeln brechen und außerdem schaltete ich den Motor ab.
Komisch, ich hatte gar nicht gehört dass ich eine Nachricht bekommen hatte.
Facebook. . . Warum ich mich nicht schon längst abgemeldet hatte, wusste ich selbst nicht so genau, aber gut, ich wollte immer über meinen Gegenüber informiert sein, oder über die Leute, mit denen ich zusammenarbeitete, wofür sich Facebook ziemlich gut eignete. Ich hasste es, unvorbereitet zu sein.
Ich tippte die Nachricht an, die von einem Malik stammte.
Ich verbrachte fast zwei Minuten damit, fieberhaft in meinem Gehirn zu suchen, wer das sein könnte. Natürlich kam ich zu keinem Schluss, was mich ärgerte, denn normal wusste ich immer über jeden Bescheid, mit dem ich etwas zu tun hatte, oder gehabt hatte.
´Hallo´, schrieb er. Toll, wie einfallsreich und aussagekräftig.
Die Vernunft holte mich wieder ein, ich legte mein Handy zurück in meine Tasche, drehte die sanften Klaviertöne lauter und sah aus dem Fenster.
Wann war ich nochmal mit Sina verabredet? Ich versuchte mich an meinen Terminplaner zu erinnern, den ich daheim vergessen hatte. Was war denn nur heute los? Zuerst wachte ich zu früh auf, dann stand ich im Stau, war noch nicht mal beim Supermarkt und in der Reinigung angekommen und dann auch noch Nachrichten von diesem ominösen Kerl.
Apropos, mein Handy gab ein leises Pling von sich und ich schaute widerwillig zu dem Beifahrersitz, auf dem mein Handy oder besser Smartphone (das Topaktuellste, ja so war ich, ich brauchte immer das Neueste und Beste) wieder vorschriftsgemäß in meiner Tasche steckte. Widerwillig griff ich danach. Es blinkte schon wieder grün.
Ich öffnete die Nachricht und dieser Malik hatte mir schon wieder geschrieben.
´Hallo, bitte antworte mir doch!´, stand da. Er hatte sich also doch nicht in dem Chat verirrt.
Ich fragte mich, warum er ausgerechnet mir schrieb und sah mir sein Profil an.
Er kam aus Brasilien und arbeitete bei einem Kunden meiner ehemaligen Firma. Ich hatte noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt, das wusste ich nach einigem Überlegen. Klar hatte ich viele Kunden kennengelernt, als ich in der Vertriebsabteilung meiner ehemaligen Firma gearbeitet hatte, aber an ihn konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Ich klickte wieder zurück und sah, dass er online war. Er schrieb gerade etwas und auch schon sah ich seine Nachricht.
´Ich seh doch, dass du online bist. Bitte antworte mir´.
Hinter mir hupte jemand und ich sah hoch. Es war ein gutes Stück weitergegangen und ich legte den ersten Gang ein und schloss zu dem Auto vor mir auf.
Dann sah ich wieder auf mein Handy und Malik hatte mir drei Fragezeichen geschickt.
Eigentlich wollte ich den Spinner ignorieren, bitte versteht mich nicht falsch. Ich bin absolut tolerant gegenüber ausländischen Mitbürgern, wirklich. Ich bin ja schließlich selbst eine. Mutter aus Kanada, Papa aus Italien, Großmutter aus Deutschland, Großvater aus Island, geboren in Italien. Ja ein echtes Mischlingskind.
Jedenfalls tippte mein Finger ausversehen (und die Betonung liegt eindeutig auf ausversehen) einen Punkt und anscheinend hatte er gesehen, dass ich etwas schrieb, denn nach dem ich den Punkt wieder gelöscht hatte kam sofort zurück: "Schön dass du lebst."
Ich seufzte und überlegte kurz, ob ich ihm erklären sollte, dass das, wie schon gesagt, ein Versehen war. Also tippte ich:
´Tut mir leid, aber kenne ich dich?´
´Ich glaube nicht, aber ich würde gerne dein Freund sein.´
Ich sah perplex auf und fuhr automatisch ein Stück weiter. Was sollte das denn?
´Warum?´
´Muss ich dir einen Grund dafür sagen, dein Freund sein zu wollen?´
Ich war überrascht, was für ein gutes Deutsch er schrieb.
´Woher kennst du mich?´
´Von einem Kollegen aus Deutschland.´
Jetzt wurde ich neugierig. Wen kannte ich, der meinen Namen an einen brasilianischen Jungen verriet?
´Von wem?´
´Ist das denn wichtig, Josephina?´
Ich war nicht gewohnt, dass jemand mich mit meinem vollen Namen ansprach, denn es gab viele Abkürzungen für meinen Namen und nicht mal meine Großeltern nannten mich so.
´Okay, aber was willst du von mir?´, schrieb ich und ich merkte, dass das ein bisschen unfreundlich war, also fügte ich noch hinzu: ´Ich möchte ja nicht unfreundlich sein, aber das ist ein bisschen komisch.´
´Was ist komisch?´
´Dass du mir schreibst.´
Er antwortete mir fast eine Minute nicht und ich blickte wie gespannt in mein Handy. Was war denn nur los mit mir? War heute ein Rückfall? Ich war doch sonst nicht so, hielt mich immer genau an das, was ich kannte, meine Pläne und das auch aus gutem Grund. Mein Psychologe hatte mir das geraten, mir Pläne zu machen, mein Leben zu strukturieren. Was auch notwendig gewesen war, denn ich war am Ende gewesen. Und nicht nur so ein Ende, von wegen, keiner mag mich, ich existiere nicht denn ich bin ein Einhorn, ich bin nicht so hübsch oder blabla, sondern richtig am Ende. Meine Eltern waren vor meinen eigenen Augen ermordet worden, nicht nur ermordet, sondern kaltblütig hingerichtet, danach meine Mutter vergewaltigt (eher die Leiche meiner Mutter) und dann meine Schwester, und zu guter Letzt ich selbst. Warum sie mich und Tatiana am Leben gelassen hatten, das konnte sich keiner erklären. Tatiana hatte das ganze besser weggesteckt wie ich. Sie feierte Partys, suchte sich nur noch lauter reiche Schnösel und ließ mich vollkommen im Stich. Und ich fiel in mein tiefes Loch. Zuerst hatte das keiner gemerkt, wie es mir ging, ich wusste es ja selbst nicht genau. Und dann überlebte ich den Selbstmordversuch, in dem ich mich vor eine S-Bahn schmiss aber wie durch ein Wunder tötete sie mich nicht. Ausgerechnet ich. Und dann hatte ich mir geschworen, meinen Psychologen zu heiraten, ja, der gute alte Herr Schweiger. . . Denn er war der einzigste Mensch gewesen, der mich gesehen hatte, der mir zugehört hatte und mir wirklich helfen konnte. Mir dabei helfen konnte, so zu werden wie ich jetzt war, was um Meilen weit besser war wie die leere Hülle, die ich nach dem Mord an meinen Eltern war.
Es hupte jemand hinter mir und ich fuhr weiter, immer noch in Gedanken an meine Eltern. Natürlich verdrängte ich das, was mir sonst auch immer gut gelang, aber wie schon gesagt, heute war der große Rückfall-Tag.
Der Stau ging nun zähfließend dahin und ich konnte nicht mehr die ganze Zeit auf das Handy starren.
Normalerweise ignorierte ich so etwas geflissentlich aber irgendwas an diesem Malik machte mich neugierig. Ich hatte keine Ahnung, was es war und mir lief plötzlich ein Schauer über den Rücken.
Um die Stille, das schaurige Gefühl und die kalten, toten Augen meiner Mutter und meines Vaters zu vertreiben, kramte ich in meiner Tasche nach Müsliriegeln, von denen ich mich quasi ausschließlich ernährte.
Ich blickte auf die Uhr und es war halb zehn. Ich würde nicht mal Zeit haben, noch in die Reinigung zu fahren, wenn ich es rechtzeitig bis um zwei Uhr schaffen wollte. Ich hatte noch nicht mal ein Drittel des Weges zurückgelegt und das ewige Stop and Go ging mir dermaßen auf die Nerven.
Dann ertönte ein Ton, ein kurzes Pling und ich wusste, dass er mir wieder geschrieben hatte.
Ich fuhr dem blauen BMW fast hinten drauf, weil ich die Nachricht lesen wollte, doch als ich eine Vollbremsung hinlegte, beließ ich es dabei und würde die Nachricht später lesen, auch wenn ich schon ganz unruhig wurde.
Als wir zehn Minuten später wieder standen, öffnete ich die Nachricht auf meinem Handy.
`Was ist daran komisch, Josephina?´
Ich tippte so schnell ich konnte: ´Naja ich bin hier in Deutschland und du offensichtlich in Brasilien.´
´Ja, ich komme aus Rio, aber ich möchte etwas sagen.´
Als ich nichts tippte, obwohl er bestimmt darauf wartete, schrieb er: ´Ich mag dich wirklich.´
Okaaay, das wurde ja immer schöner. Eigentlich sollte ich jetzt aufhören, ihn blockieren und nicht mehr daran denken, aber ich ignorierte die Alarmglocken in meinem Gehirn und antwortete: ´Aber du kennst mich ja gar nicht. Du kannst doch keine Menschen mögen, wenn du sie gar nicht kennst.´
Er ließ sich wieder Zeit mit seiner Antwort und als nichts mehr kam, fuhr ich wieder weiter.
Ich bekam ganz schwitzige Hände, wieder etwas neues.
´Manche Menschen fühlen sich zu anderen hingezogen, wenn sie ihr Gesicht sehen oder ihre Stimme hören.´
Stimme hören? Wann hatte er meine Stimme gehört. Während ich weiterfuhr überlegte ich wieder fieberhaft, kramte in meinem Gehirn nach einem Anzeichen von ihm. Natürlich nach dem Mord und meinem Selbstmordversuch. Immerhin war davor mein Leben wie im Paradies gewesen, mit einer liebenden und vor allem lebendigen Familie. Nicht dran denken, nur nicht dran denken.
Ich fand ihn in meinem Kopf. Es hatte bei einem Kunden meiner Firma einen Produktionsstillstand gegeben und ich musste den Kunden anrufen, welche Ersatzteile er brauchte und da hatte ich mit einem Malik telefoniert. Er hatte perfekt Englisch gesprochen, ich natürlich auch, wie so vieles, das ich nach der Kehrtwende in meinem Leben gut konnte.
Es bot sich keine Gelegenheit, ihm zu antworten und ich fuhr auf einen kleinen Parkplatz an der Autobahn, was ich sonst auch nie tat. Aber ich brauchte jetzt Frischluft.
Ich stieg aus, streckte mich erst einmal und atmete tief durch. Es fröstelte mich ein bisschen in meinem kurzen schmal geschnittenen Kleid in schwarz. Früher hatte ich immer Farbe getragen. Vor allem rot und pink, da meine Mutter fand, dass das meine Haare zum leuchten brachte. Sie hatte meine Haare geliebt. Und ich hatte alles an ihr geliebt.
Aber seitdem sie alle weg waren trug ich nur noch dunkle Farben. Natürlich einerseits, um meine Seriosität zu unterstreichen und andererseits, um auch noch das letzte bisschen Freude und Glück aus meinem Leben zu verbannen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Normalerweise rauchte ich nie, aber ab und zu brauchte ich einfach eine. Und was das komische war, in der letzten Zeit öfter. Ich sollte unbedingt wieder zu meinem Psychologen gehen. Mist, warum hatte ich meinen Terminplaner nur zu Hause gelassen? Diese neue Unstrukturiertheit und Vergesslichkeit machte mich ganz wahnsinnig und verwirrte mich.
Ich lehnte mich gegen mein Auto, zog an der Zigarette und antwortete Malik: ´Okay, und jetzt? Was erwartest du von mir?´
Er kam sofort wieder online, las die Nachricht, aber antwortete wieder nicht. Ich stapfte wütend mit dem Fuß auf und steckte das Handy weg, während ich mich verstohlen umsah. Hoffentlich hatte keiner meinen kleinen Ausraster gesehen.
Danach fuhr ich weiter zum Supermarkt, kaufte alles streng nach meinem Plan ein und fuhr wieder nach Hause. Es war fast ein Uhr nachmittags, als ich die Wohnungstür aufschloss. Also hatte ich doch noch ein bisschen Zeit, vor allem Zeit, um mich umzuziehen, denn irgendwie fühlte ich mich unwohl. Was sehr seltsam war, denn ich trug normalerweise nie was anderes als Businessoutfits und Bluse, Blazer, Röcke und Kleider in A-Linie und gerade geschnittene Hosen. Was war nur los mit mir? Lag das an diesem Malik?
Ich überlegte sorgfältig, während ich die Einkäufe verstaute, dann das Kleid auszog und es in den Wäschekorb legte. Ich warf nie etwas, ich legte immer alles sehr sorgsam irgendwohin. Ich weiß, ich bin einfach nur seltsam, aber ich musste das tun. Nur nicht abweichen vom Plan.
Aber dennoch, dieser Malik veranstaltete etwas in mir, obwohl wir nur ein paar Zeilen geschrieben hatten. War es vielleicht deswegen, weil sich seit Jahren mal wieder jemand richtig für mich interessierte? Klar, da waren Männer gewesen, die alles gegeben hätten, um nur ein Lächeln von mir geschenkt zu bekommen, doch ich ließ sie alle kalt abblitzen. Ein Mann war nicht das, was in meinen Plan passte.
Immer noch ein bisschen verwirrt und in Gedanken versunken, besah ich mir die Post, die noch von gestern ungeöffnet auf dem Tisch lag. Es waren ein paar Weihnachtskarten von irgendwelchen Modegeschäften, eine von meiner besten Freundin Sina, Rechnungen. Ich legte alles auf den Tisch. Dann kam ein größerer Brief und es stand kein Absender drauf.
Ich öffnete ihn und da war eine kleine Karte: Von Oma und Opa. Die Schrift passte nicht so recht zu der von meiner Oma und ich fragte mich ob mein Opa die Karte geschrieben hatte. Wieder sehr komisch das Ganze. Ich bekam von ihnen eigentlich nie Post. Ich kniff die Augen zusammen, als ich einen Gegenstand aus dem Umschlag nahm, eine Kette, eine wunderschöne silberne Kette. Der Anhänger war ein Fotoamulett und war vorne mit kleinen glitzernden Steinen bedeckt.
Ich besah sie mir kurz, und Emotionen kochten auf einmal schlagartig in mir hoch. Das war sie. Die Kette meiner Mutter, die sie eigentlich immer hatte. Wie war das nur möglich? Ich erinnerte mich, dass sie sie auch an dem Abend getragen hatte, als sie ermordet wurde. Natürlich erinnerte ich mich daran. Ich erinnerte mich an jedes noch so kleine Detail aus dieser Nacht, obwohl ich so oft versucht hatte, es zu vergessen, was ich irgendwann enttäuscht aufgab. Ich kämpfte mit den Tränen, als ich mir die Kette ganz genau besah. Es musste die Kette sein.
Irgendwie wusste ich nicht so recht, was ich tun sollte, also hängte ich sie mir ohne groß nachzudenken um. Es war ein komisches Gefühl, fast so als würde meine Mutter mit ihren Fingerspitzen über meine Haut streifen. Öffnen konnte ich sie nicht, das würde ich nicht verkraften. Ich schloss die Augen und stellte sie mir widerwillig vor, nicht wie sie an jenem Abend ausgesehen hatte, sondern wie sie früher war. So wunderschön mit ihren dichten schwarzen Locken und den schönen, eisblauen Augen. Ihr Lächeln. . . Ich riss die Augen wieder auf und merkte, dass ich weinte. So lange hatte ich nicht mehr geweint. Was war nur los mit mir?
Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen, murmelte ich immer wieder vor mich hin, straffte dann die Schultern und ging kurz ins Bad, wusch mir das Gesicht und legte einen dezenten Nudelook auf. Für mehr hatte ich keine Lust. Ja, tatsächlich, keine Lust. Normalerweise versteckte ich mich immer hinter einem Haufen Make-Up, was mir irgendwie Sicherheit gab.
Dann ging ich zum Schrank und wusste wirklich nicht, zum vielleicht ersten Mal seit Jahren, was ich anziehen sollte. Ich strich über die schönen, sorgfältig gebügelten Blusen, über meine Blazer. Ich musste doch irgendwo noch eine Jeans haben, das kann doch nicht sein. Hatte ich wirklich alle weggeworfen?
Aber nein, so war ich nicht, denn ich hatte immer für alles einen Plan B. In diesem Fall bestand er aus einer bestimmt viel zu kleinen Jeans, die ganz unten im Stapel mit den Schlafanzughosen lag. Stimmt, die hatte ich mir mal von Sina geborgt.
Ich zog sie heraus, dann über meine nackten Beine und irgendwie fühlte es sich gut an. Sie war zwar eng, sehr eng, doch erstaunlicherweise gab mir nun die enge Jeans Sicherheit, so wie meine ganzen Regeln. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und kürte in Gedanken diesen Samstag zum Tag der Ausnahmen, holte noch einen dunkelgrünen (wirklich sehr sehr dunkelgrünen, fast schwarzen) Pullover heraus, den ich ebenfalls anzog.
Ich packte mein restliches Zeug zusammen, zog meinen schwarzen Mantel und meine schwarzen Stiefel an, überprüfte nochmals, ob ich alles hatte und schaute beim Rausgehen flüchtig in den Spiegel. Wer war das? Eine völlig fremde Person starrte mir entsetzt entgegen. Sie sah anders als ich aus, irgendwie gut, aber auch erschrocken und ein bisschen erstaunt. Die Röte auf ihren Wangen unterstrich ihre perfekt geformten Wangenknochen und die hellen Locken lösten sich aus dem sonst so strengen Dutt. Noch erstaunter sah sie mich an, als ich die Nadeln aus dem Dutt löste und den Kopf schüttelte, bis die Locken ihr leicht und ein bisschen zerzaust über die Schultern hingen.
Fast ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich getraut hatte, vom Plan abzuweichen, warf ich der Frau im Spiegel einen letzten Blick zu und verließ meine Wohnung.
Ich war immer noch ein bisschen aufgeregt und musste immer wieder an mein Spiegelbild denken. Ich zuckte mit den Schultern. Was soll´s schon, einmal darf sogar ich das. Einfach mal frei sein und nicht ich sein. Irgendwie zauberte mir der Gedanke daran ein Lächeln auf die Lippen, sodass ich mir sogar erlaubte, mit der S-Bahn zu fahren. Ich fuhr sonst nie mit der S-Bahn. Nie, denn ich fand öffentliche Verkehrsmittel einfach nur ekelhaft und unpünktlich und ich hasste beides. Aber heute war ein anderer Tag.