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Der erste Schnee

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„Mit einem „Hej!“ sprang ich an einem kühlen Sonntagvormittag Mitte November vor dem kleinen Stall in Gransjö von meinem Fahrrad. Eva Lena, meine Freundin, fand ich in heller Erregung über „Silber“: Er hatte sich in der Nacht von seiner Box losgerissen und war im dunklen Stall wie ein Wilder herumgetobt.

„Als ich heute früh hierher kam, begrüßte er mich an der Stalltüre mit der Striegelbürste zwischen den Zähnen!“ erzählte sie. „Du liebe Zeit, der hatte eine Unordnung gemacht! Den ganzen Vormittag schufte ich schon und putze und räume hinter ihm her.“

Ich lachte. Es war schön, wieder einmal in Gransjö zu sein, bei den Ponys hier war immer etwas los. Und ich liebte diesen Stall, eben weil er so klein und gemütlich war; nur zwei kleine Boxen gab es. In der einen stand Eva Lenas kohlschwarzes Gotland-Pony „Lilleman“, ein rundlicher und robuster kleiner Kerl, mit Beinen wie prächtige Prügel Holz und mit einer dichten, schwarzen Mähne, die allem Bürsten und Striegeln zum Trotz eigenwillig gesträubt blieb. Unter den gelockten Schopfhaaren blitzten zwei lebhafte, mutwillige Augen. Lillemans Nachbar in der anderen kleinen Box war ein lebhafter Junghengst, das schönste Pony, das ich je gesehen hatte. Alles an ihm verriet edles Blut, von dem kleinen Kopf, wie ihn nur Araber haben, bis zu dem stolz getragenen Fasanenschweif. Dieses Pony hieß Silber, denn es war ein herrlich dunkler Grauschimmel. Von seiner Stirn zog sich ein in schmaler Spitze endender Stern bis zu den Nüstern hinunter. Silber war erst anderthalb Jahre alt und deshalb weder zugeritten noch eingefahren. Eva Lenas Großvater, ein ehemaliger Pferdehändler, hatte den kleinen Waleshengst als Fohlen gekauft. Sicher würde er in ein paar Jahren ein wunderbares Reitpferd sein, davon war ich überzeugt lebhaft, bewegungsfreudig, schnell auffassend und immer vornweg. So sah ich Silber in meinen Träumen schon vor mir und pflegte ihn, als sei er mein eigenes Pferd. Dabei wußte ich genau, daß ich diesen herrlich-verrückten Wildfang, der in seinem jugendlichen Unverstand tausend Torheiten beging, wohl nie besitzen würde.

Wir machten uns an das Striegeln der Pferde. Lilleman und Silber hatten schon ihren Winterpelz, sie waren also recht langhaarig, wir hatten unsere liebe Not mit den beiden. Trotzdem machte die Arbeit Spaß, und nebenher plauderten wir munter drauflos. Ich mußte natürlich von der Hubertusjagd unserer Reitschule berichten, die sich auf meinem Lieblingspferd, dem großen, braunschwarzen Rinaldo, mitgeritten war, Eva Lena erzählte, wie es ihr und den Ponys in den letzten Wochen ergangen war.

„Aber so sehr lustig war es nicht, du hast mir sehr gefehlt, Britta“, sagte Eva Lena.

„Das glaube ich dir“, neckte ich sie. „Du mußtest in dieser Zeit ja beide Pferde allein pflegen!“

„Willst du nett sein? Geh doch mal hinaus und sieh nach dem Wetter! Ob es am Ende regnet, oder ob wir die Pferde hinausführen können“, bat Eva Lena und klopfte zum letztenmal den Staub aus der Bürste. „Vorhin ist es ja ganz düster geworden.“

Ich schlenderte gemütlich dem Ausgang zu – aber was mußte ich sehen, als ich aus der Stalltüre trat: Große weiße Flocken fielen leise auf die schon schneebedeckte Wiese herab!

„Eva Lena – es schneit!“

Eine Weile standen wir ganz still in der offenen Stalltür und sahen zu, wie die weichen Schneeflocken immer dichter vom Himmel herabfielen und alles weich und zärtlich einhüllten.

„Die Ponys!“ riefen wir dann wie aus einem Munde. „Silber und Lilleman sollen auch den ersten Schnee erleben!“

Also stiefelte ich wieder dem Stall zu, um Silber herauszuführen. Er schien zu spüren, um was es ging; ich konnte kaum sein Halfter aufknüpfen, so aufgeregt schlug er mit dem Kopf.

„Halte still, du kleiner Racker!“ schimpfte ich zärtlich. „Und trample nicht immer auf meinen Zehen herum!“ ermahnte ich ihn, als ich ihn in der schmalen Box wenden ließ.

An der Stalltür blieb Silber jäh stehen und blickte erstaunt auf das weiße Land hinaus. Dann zog er die frische Luft tief in die Lungen ein und war mit einem mächtigen Satz auf dem Hof draußen. Wieder blieb er mit steifen Beinen stehen, schnaubte verwirrt, und stieß Luft durch die Nüstern. Dann versuchte er ein paar trippelnde Schritte, als fürchte er, all dies Weiße und Kalte halte seinen Hufen nicht stand. Bald aber wurde er mutiger, beugte den Kopf und schnupperte am Schnee. Dabei wirbelte er ein paar Schneeflocken auf, sie flogen ihm entgegen und kitzelten ihn an den Nüstern. Wieder schnaubte er, begann zugleich mit den Vorderfüßen den Boden aufzuwühlen und immer mehr Schnee aufzuwirbeln. Helle Freude glänzte in seinen Augen, er legte sich auf den Boden und rollte sich hin und her, bekam Schnee in die Ohren, in die Augen und in die Nüstern, flog wieder hoch, schnaufte, schnaubte und wieherte, legte sich von neuem auf den Erdboden und rollte sich im Schnee. Eva Lena und ich brachen in lautes Lachen aus.

Nun holten wir auch Lilleman heraus. Weitaus selbstsicherer als Silber trabte er auf den Plan, seine Augen blitzten vor Unternehmungslust. Ihm war es genug, nur ein wenig mit den Vorderhufen den Boden zu kratzen, dann legte auch er sich hin und wälzte sich, einmal von links nach rechts und einmal von rechts nach links. Schließlich nahmen wir die beiden Pferde auf einen langen Spaziergang durch den Wald mit. Lilleman trabte munter dahin, Silber aber tanzte durch den Neuschnee, daß es rund um ihn nur so wirbelte.

Unsere Reithalle lag am Stadtrand, drei Kilometer von Gransjö entfernt. Sie war alt und schon recht baufällig, aber wir alle, die wir dort zur Reitstunde gingen, kümmerten uns wenig darum, wenn es manchmal durchs Dach regnete. Wir fanden auch nichts daran, daß auf der Empore nur ein einziger Stuhl stand. Wichtig waren uns nur die Kameraden und die Pferde – vor allem die Pferde, denn durch sie allein waren wir verbunden und fühlten uns hier zu Hause. Der Mittelpunkt aber war natürlich Onkel Magnus, unser beliebter Reitlehrer und außerdem ein berühmter Rennreiter. Im Ausland kannte man seine beiden Springpferde Don Dinero und Djinn ebenso gut wie in Schweden.

Unsere Reitstunden waren immer lustig, und ich ging nun schon seit ein paar Jahren mit denselben Kameraden zum Unterricht. Gunnel, Lasse, Helena und ich, wir hielten stets zusammen. Gunnel, Onkel Magnus’ Tochter, war die älteste. Sie ritt auch am besten von uns allen. Natürlich hatte sie ihr eigenes Pferd, eine feine, zierliche braune Stute; sie hieß „Trixi“ und hatte an den Hinterfüßen weiße Fesseln.

Lasse, siebzehn Jahre alt, war groß und hatte dunkles Haar. Auch er ritt sehr gut; am liebsten ritt er den schönen Fuchs „Mister“. Helena war ein Jahr jünger als ich, also dreizehn; die Glückliche – auch sie hatte ein eigenes Pferd, „Hexe“, ein ganz köstliches, ungestümes Tier, dessen Mähne lustig nach allen Himmelsrichtungen stand. Hexe warf jeden Reiter ab, so schnell es nur ging, auch Helena. Aber Helena lachte nur darüber.

Zu unserer Gruppe gehörten im Unterricht auch Marita und Anna. Marita ritt meist auf „Rex“, Anna auf „Fuchs“. Rex war schon recht alt und hatte steife Beine; niemand konnte begreifen, daß Marita so gern auf ihm ritt. Fuchs war das genaue Gegenteil: ein großes, elegantes Pferd. Er paßte sehr gut zu Anna, die sich ja auch groß vorkam und immer in elegantem Reitdreß erschien. Wir mochten Anna nicht.

Mein Lieblingspferd war Rinaldo, ein kräftiges, dunkelbraunes Tier, lebhaft und doch folgsam, weich im Galopp und herrlich zum Springen – ein ideales Pferd. Onkel Magnus sagte zwar immer wieder, ein guter Reiter müsse auf jedem Pferd reiten können. Natürlich wußte er, daß jeder von uns sein Lieblingspferd hatte, aber er war gar nicht damit einverstanden, wenn wir es jede Reitstunde wieder haben wollten. Wir bekämen weit mehr Erfahrung im Reiten und mit Pferden überhaupt, wenn wir immer wieder ein anderes Pferd ausprobierten, meinte er. Er hatte auch sicher recht – kein Zweifel –, als er eines Donnerstags sagte, ich solle diesmal nicht Rinaldo, sondern Fuchs im Unterricht reiten. Innerlich protestierte ich wild dagegen, vor allem, weil Anna meinen Rinaldo bekam! Fuchs war viel zu hoch für mich, für meine kurzen Beine. Als ich dann mit einem Riesenschwung doch im Sattel saß, kam ich mir recht verloren vor. Obwohl ich mich bemühte, ihn ebenso weich wie Rinaldo zu reiten, und ich auch ganz bei der Sache war, so ging doch alles verkehrt. Mir jedenfalls kam es so vor: Die Wende auf der Hinterhand mißlang; Onkel Magnus machte ein höchst kritisches Gesicht. Als wir galoppieren sollten, brauchte ich eine halbe Runde durch den Saal der Reitschule, bis ich Fuchs endlich im Galopp hatte. Und wie immer sah Onkel Magnus jeden Fehler.

„Der Fuchs liegt falsch im Galopp!“ stellte er fest. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mein Pferd wieder in Trab zurückzunehmen und dann nochmals zum Galopp überzugehen.

Die Unterrichtsstunde war beinahe zu Ende, als wir alle über ein Hindernis an der Längsseite des Reitsaales springen sollten. Anna sollte anfangen; sie sah recht verbissen drein, als sie auf die Spur hinausritt. Vielleicht war ihr Rinaldo ebenso fremd, wie mir ihr Fuchs – aber dieser Gedanke kam mir erst viel später.

Wenn ich jetzt auf Rinaldo säße! dachte ich in diesem Augenblick. Hoffentlich wirft er sie ab!

Ob man jemals anderen Böses wünschen würde, wenn man glaubte, es könne in Erfüllung gehen? Anna fiel tatsächlich vom Pferd. Sie nahm die Kurve an der Querseite viel zu schnell, kam zu plötzlich an das Hindernis; Rinaldo rutschte aus und stürzte. Anna wurde im Sturz abgeworfen und hatte ein Bein unter dem schweren Körper des Pferdes.

Irgend jemand schrie auf – vielleicht ich – und dann war es unheimlich still im ganzen, großen Tattersall. Rinaldo lag unbeweglich und stöhnend am Boden, Anna jammerte leise. Schließlich kam das Pferde wieder auf die Beine; es schien unverletzt und hatte nur durch den Sturz die Luft verloren. Aber Anna rührte sich nicht. Onkel Magnus war mit einem Satz neben ihr: sie war ohnmächtig, und der eine Fuß, der unter dem schweren Pferd eingeklemmt worden war, stand in einem sonderbaren Winkel von ihrem Bein ab.

„Gunnel, du übernimmst hier die Aufsicht, ich fahre Anna sofort in die Klinik, ich glaube, sie hat sich den Fuß gebrochen.“ Onkel Magnus’ Stimme klang ernst und befehlend. Aus den Reihen der Zuschauer lösten sich einige Leute und halfen Onkel Magnus, die Bewußtlose ins Auto zu tragen.

Aus dem Springen wurde für uns nichts mehr. Wir saßen ab, alle sehr bedrückt, und bezahlten Gunnel unsere Reitstunde. Sie hatte nun die Pferde für die nächste Unterrichtsstunde einzuteilen und begann kurz danach mit der nächsten Gruppe. Von unserer Gruppe blieb nur ich zurück; ich mußte unbedingt wissen, wie es Anna ging, ich mußte auf Onkel Magnus warten.

Ich kann doch wirklich nichts dafür, ich meinte es nicht so! versuchte ich mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Oh, wie konnte ich nur wünschen, daß sie vom Pferd fallen solle?

Nach einer halben Stunde kam Onkel Magnus zurück, und ich lief ihm sofort entgegen.

„Was ist mit Anna los, wie geht es ihr?“ Ich fühlte mich elend und spürte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich.

„Sie hat sich das Fußgelenk gebrochen und wird wohl eine Zeitlang nicht reiten dürfen, sonst aber scheint alles in Ordnung zu sein.“ Onkel Magnus sah mich nachdenklich an: „Aber was ist denn mit dir los, du bist ja ganz weiß im Gesicht? Anna ist ja nicht gerade deine beste Freundin, soviel ich weiß?“

„Nein – aber gerade deshalb! Ich … ich wünschte ihr nämlich, sie solle fallen.“ Ich wagte es nicht, Onkel Magnus anzusehen, bemerkte aber doch ein leises Lächeln in seinen Mundwinkeln.

„Was geschehen ist, hat Anna sich ganz und gar selbst zuzuschreiben. Sie ritt viel zu schnell und nachlässig in die Kurve hinein – das weißt auch du. Deshalb sollst du dir über ihren Sturz keine Vorwürfe machen … und wenn du dich ehrlich fragst, dann hast du es doch gar nicht ernsthaft gewollt. Stimmt es nicht, was ich sage?“

„Natürlich habe ich es nicht gewollt.“ Voll Dankbarkeit sah ich zu ihm auf. Wie gut er uns immer verstand.

Britta und ihr Pony

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